Waldfrieden (Ostp.): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 14. Dezember 2022, 21:33 Uhr
Waldfrieden ist ein mehrfach besetzter Begriff. Zu weiteren Bedeutungen siehe unter Waldfrieden. |
W a l d f r i e d e n Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) |
Hierachie:
Regional > Deutsches Reich > Ostpreußen > Regierungsbezirk Gumbinnen > Landkreis Insterburg > Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) >Waldfrieden (Ostp.)
Gemeinde, Dorf und Moorbad | |
Waldfrieden (Ostp.) | |
Kirchspiel Aulenbach (Ostp.) | |
Provinz : | Ostpreußen (nördliches) |
Regierungsbezirk : | Gumbinnen |
Landkreis : | Insterburg [6] |
Amtsbezirk : | Buchhof (Juckeln) [7] |
Gegründet : | um 1660 |
Frühere Name : | Plicken (vor 1730) Gerlaugken (nach 1736) Gerlauken (vor 1928) |
Einwohner (1905) : | 219 |
Orts-ID : | 61842 (nach D. Lange) |
Geographische Lage | |
Koordinaten : | N 54° 46′ 08″ - O 21° 45′ 56″ |
Einleitung
G e m e i n d e, Dorf und Moorbad im Kirchspiel Aulowönen, Schule am Ort, Amt Buchhof, Standesamt und Gendarmerie Aulenbach / Aulowönen, Post Aulenbach über Insterburg 2. Bei dem Dorf handelte es sich um mehrere kleine Höfe und Gehöfe. Ca. 1 km westlich liegt das zur damligen Zeit bekannte Moorbad (Moorbad Waldfrieden) ein Kur- und Erholungsort.
Am 30.09.1928 bilden Gerlauken, Weidlauken und Gründann (Ostp.) unter Fortfall ihres Ortsnamens, die Gemeinde Waldfrieden (Ostp.)
Allgemeine Information
Ortsbeschreibung
(Waldfrieden) bis 1927 ... Gerlauken 1), D.(orf), Pr.(eußen), Ostpr.(eußen), RB. (Regierungsbezirk) Gumbinnen, Lkr. (Landkreis), AG (Amtsgericht), Bkdo (Bezirkskommando) Insterburg, StdA (Standesamt), P.(ost) Aulowönen, A.(mt) Juckeln, E.(isenbahn): Gründamm; 152 E.(inwohner) ; E.(isenbahn) P.(unkte) Klbn((Kleinbahn). Insterburg-Skaisgirren - Dazu Gut Weidlauken, E.(isenbahn)1 km Grünndamm, 35 E.(Inwohner) "aus: Meyer Orts- und Verkehrslexikon (1912)" [1].
Die Gemeinde lag in ”Preußisch Litauen "[2] oder ”Klein Litauen” (Lithuania minor), dem nordöstlichen Teil des alten Ostpreußen.
Seine Einwohner waren nach der Reformation überwiegend evangelisch.
Ortsnamen
- Deutsche Ortsbezeichnung (Stand 1.9.1939): Gemeinde Waldfrieden (Ost.)
- Vorletzte deutsche Ortsbezeichnung (vor der Umbenennung 1928) : Gerlauken Krs. Insterburg
- Feststellung der Schreibweise nach 1736: Gerlaugken
- Namensänderung vor 1730 : Plicken
Das kölmische Gut Gründann (Ostp.) ist unter diesem Ortsnamen ein Ortsteil der Gemeinde Waldfrieden. Am 16.7.1938 erhält das frühere Gut Weidlauken den Ortsnamen Gut Weiden und ist unter diesem Namen ebenfalls ein Ortsteil der Gemeinde Waldfrieden.
Zu Waldfrieden gehört das Moorbad Waldfrieden, ein zur damligen Zeit bekanntes Kurhaus. Waldfrieden existiert nach 1945 unter dem Namen Fjodorowo ( Фёдорово ). Der Siedlungsplatz war nach 1945 zunächst besiedelt, wurde dann aber aufgegeben. Ortsinformationen aus der Zeit vor der Umbenennung (1928) siehe unter Gerlauken.
Mein Heimatdorf Waldfrieden
Waldfrieden hieß bei meiner Geburt Anfang September 1928 noch Gerlauken und war ein recht kleines Dorf mit nur sieben Höfen/Gehöften im Ortskern und sieben Abbauten. Erst als es Ende desselben Monats in Waldfrieden umbenannt wurde, kamen noch die beiden Güter Weidlauken und Gründann als Ortsteile hinzu. Bei der Wahl des Namens spielte sicherlich das am Waldrand gelegene, über Ostpreußens Grenzen hinaus als heilkräftig bekannte „Moorbad Waldfrieden“ eine entscheidende Rolle, wodurch das Dorf an Bedeutung gewann.
Geschäfte, Restaurants oder etwas in der Art hatte das Dorf nicht vorzuweisen. Um einzukaufen, fuhren wir hauptsächlich nach Aulenbach, aber hin und wieder auch nach Insterburg, wo wir natürlich eine größere Auswahl wie z.B. an Bekleidung und Schuhwerk vorfanden. Für den Erwerb von Lebensmitteln und Getränken standen uns nicht nur die Läden von Rautenberg, Götz oder Knackstädt in Aulenbach zur Verfügung, sondern auch die etwas näher gelegenen von Haeske in Mittel-Werkau oder Kunz in Tobaken. Das waren alles Kolonialwarengeschäfte mit einem„Krug“ (Gastwirtschaft), wo sich die Männer nach Erledigung ihrer Geschäfte zu treffen pflegten, um dort in geselliger Herrenrunde ein Bier oder einen Schnaps zu trinken und sich untereinander auszutauschen. (Nun, bei nur einem Schnaps oder einem Glas Bier ist es selten geblieben, denn sobald einer der Herren eine Tischrunde „schmiss“ (ausgab), war es für die anderen doch Ehrensache, es ihm gleichzutun!)
Übrigens fuhr ein Bäckerauto täglich durch Waldfrieden, um das Moorbad mit Backwerk zu versorgen. Von den Dorfbewohnern machte aber meines Wissens nach nur die Lehrerfrau Hüber von dem Service Gebrauch und hängte ihren Brötchenbeutel zum Füllen/Wechseln an den Hofzaun zur Straßenseite hin. Im Allgemeinen backte man ja als „Eigenversorger“/„Selbstversorger“ selbst, wie man auch selbst schlachtete und somit den Fleischer nur sporadisch aufsuchte, vorwiegend für den Erwerb von Frischwurst wie Fleischwurst und Würstchen. Überhaupt war unser Einkauf seit Beginn des Krieges durch der Einführung von Lebensmittelkarten sowie Bezugsscheinen für Bekleidung, Schuhwerk und dergleichen stark begrenzt.
In einem Punkt lag Waldfrieden hinter den anderen Ortschaften weit zurück: Es hatte keinen Stromanschluss. Bei der Abstimmung über das Für und Wider der Verlegung einer Stromleitung hatte sich seinerzeit die Mehrheit aus Kostengründen dagegen ausgesprochen. Mein Stiefvater träumte davon, gleich nach dem Krieg (dem gewonnenen, versteht sich!) auf eigene Rechnung die erforderliche Zuleitung von dem etwa 1 km entfernten Transformatorenhäuschen zu unserem Gehöft legen zu lassen, wie es das Moorbad und das Gut Weidlauken bereits getan hatten.
Telefone? Das einzige Telefon, das es bis etwa Mitte der 30-er Jahre im Dorf gab, war das „Öffentliche Telefon“. Das hatte aber mit den heutigen (und fast schon wieder überflüssigen) Telefonhäuschen absolut nichts gemeinsam. Es handelte sich lediglich um einen in der Lehrerwohnung installierten Telefonapparat, auf den am Schulhaus ein entsprechendes Schild hinwies. Diese Nummer konnte man auch von auswärts anrufen bzw. anrufen lassen, wenn man eine dringende Nachricht an einen Dorfbewohner auszurichten hatte. In Waldfrieden war es die Lehrerfrau, die die Anrufe entgegennahm und die Botschaft dann zuverlässig überbrachte, egal, wie weit der Fußweg (Abbauten!) auch sein mochte.
Um die Straßenverhältnisse war es in Waldfrieden schlecht bestellt. Bei der Hauptverbindungsstraße von Insterburg über Aulenbach nach Tilsit handelte es sich zwar um eine Asphaltchaussee, doch lief diese in einer Entfernung von ca. 2 km an Waldfrieden vorbei. Alle anderen Wege waren unbefestigt und dementsprechend bei Nässe schwer oder kaum befahrbar. Die einzige Ausnahme bildete eine Kies-Chaussee, die von der Asphaltchaussee an der Abzweigung Guttawutschen über Schacken/Schackenau und Tobaken durch das Dorf Waldfrieden zum Moorbad führte. Diese feste Verbindungsstraße hatten wir sicherlich nur der Existenz des Moorbades zu verdanken. So war Waldfrieden nun auch bei durch Regen oder Schneeschmelze aufgeweichtem Untergrund nicht völlig von „der großen, weiten Welt“ abgeschnitten. Nun ja, es passierte schon mehr als einmal, dass mein Stiefvater auf dem Weg von unserem Gehöft zu dieser Kies-Chaussee mit dem Auto stecken blieb und von Pferden abgeschleppt werden musste, oder dass er sich vorsichtshalber gleich zwei Pferde vorspannen ließ. Man war es gewohnt, mit schwierigen Situationen umzugehen.
Im Sommer waren ja die Landwege mit ihren dichten, Schatten spendenden Bäumen zu beiden Seiten der Straße recht idyllisch, und auch im Winter bei Schnee und Frost eigneten sie sich vorzüglich zum Schlittenfahren. Voraussetzung aber war ein ebener Untergrund. Daher ließen die Bauern vor dem ersten Nachtfrost i h r Wegstück zum Dorf oder zur Chaussee „abschleppen“: Ein dicker Baumstamm, von Pferden gezogen, walzte den Boden glatt. Hielt die Frostperiode nicht an, wurde die Prozedur zu gegebener Zeit wiederholt. Das war Ehrensache, schon der anderen Bewohner wegen.
Überhaupt wurde aufeinander Rücksicht genommen. Jeder respektierte die Rechte des anderen und nahm seine Verantwortung den Mitbewohnern gegenüber ernst. (Natürlich keine Regel ohne Ausnahme.) Ebenfalls pflegte man einen recht regen geselligen Verkehr untereinander. Abgesehen von den normalen Einladungen an Festtagen waren Besuche auch ohne vorherige Absprache üblich und jederzeit willkommen, natürlich stets in der eigenen Gesellschaftsschicht. Generell spielten die Gesellschaftsschichten, die sich nach Besitz oder Rang/Stand richteten, eine bedeutende Rolle in unserem Leben. Erst unter Hitler konnte auch jemand aus den unteren Schichten bei bestimmten Voraussetzungen eine Führungsposition erreichen z.B. bei der Partei oder Wehrmacht.
Veranstaltungen irgendwelcher Art gab es im Ort zwar nicht, doch hatten wir ja das Moorbad, wo an Sommersonntagen stets ein geselliges Treiben herrschte und an jedem zweiten Sonntag eine Kapelle zum Tanz aufspielte (solange erlaubt). Nicht weit war es auch zu Haeskes in Mittel-Warkau. Die zwei an das Kolonialwarengeschäft und Gasthaus angebauten Säle, der eine sogar mit einer Bühne, eigneten sich nicht nur für nationalistische Veranstaltungen, sondern auch für Tanzabende, Filmvorführungen und Theateraufführungen einer Laiengruppe, deren Mitspieler man ja gut kannte und es dementsprechend recht familiär zuging. Ebenso gerne fuhren wir zu Rautenberg nach Aulenbach, wenn dort außer den Versammlungen der SA oder anderer Organisationen Tanzveranstaltungen, Filmvorführungen, Laien-Theateraufführungen und Heimabende angesagt waren. Wollte man allerdings einen bestimmten Film sehen, musste man sich schon nach Insterburg — drei Filmtheater mit fast täglich je drei Vorführungen — auf den Weg machen, was verständlicherweise wegen des Zeitaufwandes und der Kosten für Bahn und Kinokarte nicht oft geschah.
Der Friedhof lag ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes an der Bahnstrecke Waldfrieden - Tannenfelde, nur durch eine Landstraße von dem Bahndamm getrennt. Abgesehen von den dreimal am Tag vorbeifahrenden Zügen war diese kleine, von hohen Laubbäumen umgebene Anhöhe ein recht friedvolles Plätzchen, zu dem es mich des öfteren auch alleine hinzog. Die Gräber waren gepflegt, die Bepflanzung natürlich dem Klima entsprechend, d.h. für den Sommer setzte man Blumen, doch für den Winter deckte man die Grabstellen nur mit Tannengrün und einem Grabgesteck ab. Während der warmen Jahreszeit ging man an jedem Samstag auf den Friedhof, brachte einen frischen Blumenstrauß hin und harkte den Boden um das Grab herum. Die alteingesessenen Einwohner nannten ganze Grabreihen ihr eigen, die für sie auch immer reserviert blieben. Manche waren durch kunstvoll geschmiedete Zäune wie eine kleine Oase vom übrigen Teil abgegrenzt. Ganz alte Gräber dagegen hatten noch keine Grabeinfassung. Da wurden die Grabhügel nur durch immergrüne Bodendecker gehalten.
Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, Oktober 2016
Das Moorbad Waldfrieden gehört zu Waldfrieden (Ostp.). Anfang 1900 wurde auf dem Besitz der Eheleute Krüger die wohltuende Wirkung des dortigen Moores entdeckt. Der Aulowöner Arzt Dr. Rogage ließ die Heilkraft feststellen. Besitzer Krüger baute darauf erst eine Bretterbude am Moor, setzte eine Badewanne hinein und seine Frau betätigte sich als Heilsgehilfin.
1912 wurde dann das erste Bettenhaus eingeweiht, die "Olgabahn" eine von der Stute "Olga" gezogene Pferdebahn, brachte die Patienten und Gäste von der Kleinbahnhaltestelle "Gerlauken-Waldfriede" zum Moorbad. Der 1. Weltkrieg 1914-1918 unterbrach die Weiterentwicklung. Nach dem 1. Weltkrieg kaufte Dr. Becker, Insterburg, die Anlage und errichtete dort ein 140 Bettenhaus mit allen Neben- und Betriebsräumen, mit Badearzt und dem notwendigen Personal. Moorbad Waldfrieden als einzige Einrichtung dieser Art in Ostpreußen, erfreute sich gutem Zuspruch, auch bis weit "in Reich" hinein. Im Jahre 1930 z.B. wurden über 13.000 Heilbäder verabreicht. [3]
Geschichte
- 1785 - Gerlauken oder Plicken, Chatouldorf, 11 Feuerstellen, Landrätlicher Kreis Tapiau, Amt Lappönen, Patron der König
- 1815 - Chatouldorf, 11 Feuerstellen, 64 Einwohner; bis zum 30.04.1815 zum Königsberger Departement gehörig, dann zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen
Nach 1945 berichteten Heimkehrer : Grundstück Mosel, Wohnhaus abgebrannt, andere Gebäude abgebrochen: Fritz Krüger´s Wirtschaft steht, Grundstück Leinert, Wohnhaus abgebrannt; Petrautzki und die Schule stehen, Schulgarten verwüstet, Höfe Lörchner und Schüßler stehen, sind aber vollkommen ausgeplündert. Zum Moorbad wird folgendes berichtet : Altes Kurhaus abgebrannt, alle anderen Gebäude sind nur Ruinen, im Badhaus alles demoliert, darüberliegende Wohnungen der Familien Borchert und Chielinsky zerstört. [3]
Berichte zum Moorbad Waldfrieden im Insterburger Brief : (Jahrgang / Seite ) : 2/10 und 11 ; 9/59 "Wir fahren nach Waldfrieden-Gerlauken"; 9/33 : Frieda Magnus-Unzer "Aus Gerlauken wurde das bekannte Moorbad Waldfrieden": 25/182 : Meta Weichert; "Schwarze Schafe im Moorbad Waldfrieden".
Politische Einteilung
Zugehörigkeit
Provinz : Ostpreußen
Regierungsbezirk : Gumbinnen
Landkreis : Insterburg [8]
Amtsbezirk : Buchhof [Juckeln] [9]
Landgemeinde : Waldfrieden (ab 30.09.1928)
Kirchspiel : Aulenbach (Ostp.). [Aulwowönen]
im/in : nördlich des Pregel
bei : 16,8 km nordwestlich v. Insterburg
Weitere Informationen
Orts-ID : 61842
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung : Фёдорово
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung (Lautschrift):
russischer Name : Fëdorovo, Fjodorowo
Kreiszugehörigkeit nach 1945 : Черняховский р-н (Tschernjachowskij Rayon, Insterburg)
Bemerkungen aus der Zeit nach 1945 :
weitere Hinweise :
Staatszugehörigkeit : Russisch
Ortsinformationen nach D. LANGE, Geographisches Ortsregister Ostpreußen (2005) -- [10]
Kirchliche Einteilung / Zugehörigkeit
Evangelische Kirche
Der Ort Waldfrieden gehört zum Kirchspiel Aulowönen, die evangelische Kirche befand sich in Aulowönen. Das Kirchspiel war überwiegen, auch bedingt durch die Migration der Salzburger um 1732 evangelisch. Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar:
- Kirchspiel Aulenbach (Ostp.) --> Kirchenkreis Insterburg --> Kirchenprovinz Ostpreußen --> Kirchenbund Evangelische Kirche der altpreußischen Unionon.
Kirchenbuchbestände existieren und können - jedoch gebührenpflichtig - bei www.ancestry.de unter Gross Aulowönen online eingesehen werden. Sie sind jedoch nicht immer vollständig.
- Heiraten und Tote 1737-1839
- Heiraten und Tote 1766-1866
- Taufen 1736-1775
- Taufen 1809-1817
- Taufen 1818-1839
- Taufen, Heiraten und Tote 1604-1860
- Taufen, Heirate, Tote und Index 1788-1808
Außerdem befinden sich einige Kirchenbuchunterlagen, verfilmt auf Microfiche im Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leibzig, hierbei handelt es sich um die Bestände der ehemaligen Deutschen Zentralstelle für Genealogie (DZfG).
Katholische Kirchen
Eine katholische Kirche existierte nur in Insterburg (Ostp.). Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar: Landgemeinde Aulowönen --> Kirchspiel Insterburg --> Katholische Kirchengemeinde Insterburg --> Dekanate Tilsit --> Katholische Kirche in Ostpreußen.
Über den Verbleib von Kirchenbüchern liegen keine Informationen vor.
Neuapostolische Kirche
In Aulowönen gab es einen Betsaal der Neuapostolischen Kirche. Die Gemeinderäume befanden sich in Haus der Familie Herzigkeit Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar: Bezirk Tilsit --> Apostelbezirk Königsberg (Ostp.)
Amtliche Zählungen / Zensus
Haushalte
- 50 (1939)
Einwohner
- 208 (1933)
- 215 (1939) davon männlich 96
1939 sind in der Gemeinde Waldfrieden gezählt : 50 Haushalte, 215 Einwohner (in 1933 208) 96 männlich, 29 unter 6 Jahren, 24 zwischen 6-14, 142 zwischen 14-65, 20 über 65 Jahre; es sind tätig 121 in der Land- und Forstwirtschaft, 10 in Handwerk und Industrie, 2 in Handel und Verkehr; mit Angehörigen ohne eigenen Beruf waren 22 selbständig, 20 mithelfende Familienmitglieder, 5 Beamte und Angestellte, 144 Arbeiter [3]
Folgende Einwohner sind im Einwohner- und Ortschaft-Verzeichnis des Landkreises Insterburg (1935) unter Waldfrieden genannt : Gemeinde Waldfrieden. Gebildet aus den früheren Ortschaften Dorf Geraumen, Gut Gründann. Postanstalt Aulowönen Ibg. (Insterburg) 2. 17,7 km entfernt von Insterburg. Größe 434,98 ha. 181 Einwohner. Kirchspiel Aulowönen. Schulverband Waldfrieden. Amtsgericht Buchhof. Landjägerei Gr. Warkau. Standesamtsbezirk Aulowönen. Gemeindevorsteher: Perlbach i.B.
- Albeluhn, Albert, Wirtschafter.
- Ball, Erich, Arbeiter.
- Borchert, Emil, Bademeister.
- Brandstädter, Ella, Bäuerin.
- Ebersch, Sebastian, Landhelfer.
- Eckensteher, Ernst, Deputant.
- Fleiß, Emil, Bauer - mit Familie: -, Anna, ohne Beruf; -, Arthur, Arbeiter; -, Friedrich, Altsitzer.
- Fuhrmann, Hildegard, Lehrwirtin.
- Gassen, Johannes, Kutscher.
- Götz, Leopold, Kaufmann.
- Haller, Wilhelm, Landwirt - mit Ehefrau: Gertrude, ohne Beruf;
- Jörgens, Helene, Direktorin.
- Karvelies, Wilhelm, Deputant.
- Klein, Wilhelm, Deputant.
- Kloweit, Maria, Hausmädchen.
- Kluwe, Otto, Kutscher.
- Krüger, Eugen, ohne Beruf.
- Krüger Friedrich, Kriegsinvalide.
- Lochner, Angelika, Sekretärin.
- Leinert, Friedrich, Altsitzer.
- Loerchner, Ernst, Landwirt - mit Familie: -, Alfert, ohne Beruf; -, Ernst, Landwirt; -, Ilse, ohne Beruf.
- Lindemann, Johanna, Landhelferin.
- Ludwig, August, Deputant.
- Murowski, Gustav, Deputant.
- Mosel, Karl, Bauer - mit Ehefrau: -, Dora, ohne Beruf;
- Nötzel, Paul, Melker;
- Nolde, Friedrich, Deputant.
- Ohlendorf, Berta, Wirtin - mit Familie: -, Frida, ohne Beruf;
- Otterberg, Fritz, Deputant.
- Perlach, Martha, Landwirtin - mit Familie: -, Adolf, Landwirt; -, Eduard, Landwirt; -, Emma, ohne Beruf; -, Franz, ohne Beruf; -, Helene, ohne Beruf; -, Ida, ohne Beruf; -, Johann, Arbeiter; -, Luise, ohne Beruf; -, Margarethe, ohne Beruf; -, Maria, ohne Beruf; -, Minna, ohne Beruf; -, Robert, ohne Beruf.
- Petrauski, Franz, Landwirt.
- Prawitz, Fritz, Deputant.
- Prawitz, Gustav, Deputant.
- Raschpichler, Johanna, Hausmädchen.
- Rieser, Meta, Dienstmädchen.
- Rimkus, Emil, Kutscher.
- Ritter, Heinz, Schmied.
- Rimkus, Emil, Kutscher.
- Rudat, Berta, ohne Beruf - mit Familie: -, Arthur, Arbeiter; -, Martha, Hausmädchen;
- Rimkus, Emil, Kutscher.
- Salöwski, Margarete, Küchenleiterin.
- Sarunski, Friedrich, Arbeiter.
- Schlack, Minna, Altsitzerin.
- Schmidt, Ella, Hausmädchen.
- Schneidereit, Helene, Hausmädchen.
- Schröder, Arthur, Freiarbeiter.
- Schüssler, Karl, Bauer - mit Familie: -, Ernst, ohne Beruf; -, Fritz, Landwirt;
- Schulz, Lina, Dienstmädchen.
- Seeger, August, Volksschullehrer. - -, Michael.
- Seidenberg, Max, Freiarbeiter.,
- Semmling, Lieselotte, Schwester.
- Sinnhuber, Max, Landwirt.
- Stegemann, Albert, Melker - mit Familie: -, Lina, ohne Beruf;
- Ströhl, Max, Untermelker.
- Szerlinski, Erich, Gärtner.
- Szillat, August, Freiarbeiter.
- Szillat, Franz, Invalide.
- Tiel, Maria, ohne Beruf.
- Titt, Franz, Melker.
- Wachholz, Natalie, Hausangestellte.
- Zaussra, Bruno, Stellmacher.
- Zwillus, Fritz, Schlosser.
- Zimmerman, Erich, Kutscher.
Wirtschaft
In Niekammer’s landwirtschaftliche Güter-Adreßbücher, (Band III) 1932 Seite 167 [11]
Waldfrieden, Aulowönen P(ost) T(elegraph) Gründann E(isenbahn) 1 (km)
- Hof Karl Mosel: 75 ha, davon 35 Acker, 6 Wiesen, 25 Weiden, 4 Holzungen, 4 Hofstelle, 1 Wasser, 10 Pferde, 42 Rinder, davon 12 Kühe, 10 Schweine; Telefon: Aulowönen Nr. 72, Stutbuch
- Abbau Jonas Schlack: 39 ha, davon 26 Acker, 4 Wiesen, 6 Weiden, 2 Hofstelle, 1 Wasser, 4 Pferde, 22 Rinder, davon 10 Kühe, 10 Schweine; Telefon: Aulowönen Nr. --
- Gut Gründann Erich Schwaak: 110,5 ha, davon 56 Acker, 37,5 Weiden, 13 Holzungen, 2,5 Hofstelle,1,5 Wasser, 10 Pferde, 50 Rinder, davon 25 Kühe, 6 Schweine; Telefon: Aulowönen Nr. 23, Herdbuchvieh., Raupenschleppen, Anerkannter Lehrgeflügelhof der Landwirtschaftskammer
- Gut Weidlauken Ernst Lörchner: 130 ha, davon 89 ha, 32 Weiden, 3 Holzungen, 5 Hofstelle, 1 Wasser, 20Pferde, 72 Rinder, davon 32 Kühe, 20 Schweine, Telefon: Aulenbach 28
Die Schadensberechnung Landwirtschaft Betriebsliste Gemeinde Waldfrieden (Stand 1945 - erstellt 1955) nennt folgende landwirtschaftliche Betriebe:
Gemeindehektarsatz : 690,-- Reichsmark, Gemeindefläche 654 ha, Durchschnitt der Betriebshektarsätze : 512,-- ha.
- A1. Kaufmann, Otto, 6,95 ha + 1,00
- B1. Brandstädter, Ella und Schlack, Edeltraut, 48,34 ha
- 2. Dr. Becker, Hugo, 22,50 ha -15,00
- 3. Haller, Otto, 18,00 ha
- 4. Kubert, Erbengemeinschaft, 115,00 ha -115,00
- 5. Loerchner, Ernst, 116,24 ha
- 6. Mosel, Herbert u. Ehefrau, 75,03 ha
- 7. Perlbach, Erbengemeinschaft, 23,83 ha
- 8. Perlbach, Helene, -,-- ha +0,18
- 9. Schüssler, Carl, 25,00 ha
- 10. Sinnhuber, Max,-,-- ha +115,00
- 11. Zerulla, Martha 2,10 ha
- Bisher nicht angemeldete Betriebe :
- 12. Fleiß, Emil, 12,00 ha
- 13. Petrautzki, Franz, 4,00 ha + 2,50
- 14. Schule, 2,00 ha - 2,00
Zahl und Größe der landwirtschaftlichen Betriebe (1939)
- 2 zwischen 0,5 - 5 ha [3]
- 1 zwischen 05-10 ha [3]
- 3 zwischen 10-20 ha [3]
- 4 zwischen 20-100 ha [3]
- 2 über 100 ha [3]
Höfe - Besitzer und Beschreibungen
Höfeverzeichnis
Stand: ca. 1944 [4]
- B: Bahnhof / Haltepunkt
- 1: Hof Brandstäter (Ella Brandstäter und Edeltraut Schlack)
- 2a: Besitzer: Dr. Becker - Pächter: Nolde, Kallweit, Naujoks, Sarunski, Pierags
- 2b: Besitzer: Dr. Becker - Pächter: Szillat, Krink
- 2c: Besitzer: Dr. Becker - Pächter: Altsitzer Leinert, Zwillus, Schwatz
- 3: Hof Haller, Otto
- 4: Besitzer: Kubert, Erbengem. - Pächter: Max Sinnhuber (Gut Gründann)
- 5: Hof Lörchner, Ernst (Gut Weidlauken)
- 6: Hof Mosel, Herbert
- 7: Hof Perlbach, Erbenges.
- 8: Hof Krüger
- 9: Hof Schüssler, Ernst
- 10: siehe 2 b
- 11: Hof Zerulla, Martha(geb. Perlbach)
- 12: Hof Fleiß, Emil, Bürgermeister
- 13: Hof Petrauske, Franz
- 14: Schulhaus, Wohnhaus Hüber
- 15: Moorbad Waldfrieden - Besitzer: Dr. Becker
Die Höfe und Ihre Bewohner
Erben bedeutet hier, dass die Eltern/Erblasser schon zu Lebzeiten ihren Besitz an den Erben abgaben, also ihn auf dessen Namen überschreiben ließen.
B. BAHNHOF:
(Nummerierung analog Höfeverzeichnis) Haltepunkt der Insterburger Kleinbahn, der wohl wichtigste Platz des Dorfes. Dort brachten die Kurgäste und die vielen an Sommersonntagen angereisten Besucher des Moorbades etwas frischen Wind in den Ort. Das Wartehäuschen war eine Wellblechbude, aufgeteilt in einen offenen Warteraum für Fahrgäste und einen verschlossenen Lagerraum, in dem Rollgüter wie Öl- und Benzin-Fässer bis zur Abholung gelagert wurden.
HOF 11:
Dem Bahnhof direkt gegenüber lag Perlbachs kleiner, schmucker Hof, auf dem zu meiner Zeit aber nur noch Martha Perlbach mit ihrer Mutter wohnte. Wie bei kleinen Anwesen üblich, gab es außer dem Wohnhaus nur noch ein Wirtschaftsgebäude mit Stall und Scheune. Abgesehen vom üblichen Federvieh hielten sich die beiden Damen lediglich eine Kuh und ein paar Schweine, für die sie das Futter direkt hinter dem Hof anzupflanzen pflegten. Besonders die Rüben und Wrucken waren bei unseren weidenden Kühen sehr beliebt (siehe meinen Bericht „Kühe hüten“). Als Martha im schon etwas fortgeschritteneren Alter den verwitweten Oberinspektor Otto Zerulla vom Rittergut Buchhof heiratete und nach dort in das Inspektorenhaus zog (Mutter schon gestorben?), vermietete sie das Haus an eine Frau Hübner (nicht Hüber!) und deren Mutter. Beide Damen waren ortsfremd und fast ohne Kontakt zu den Dorfbewohnern. Nur der Lehrertochter Hannelein gelang es, zur gepflegten Kaffeestunde im Garten eingeladen zu werden, wozu sie mich als ihre beste Freundin mitnahm. Frau Hübner war die Ehefrau eines Offiziers und wartete in Waldfrieden lediglich auf dessen Heimkehr aus dem Krieg.
Es war wohl im Sommer 1944, als überraschenderweise Martha Zerulla mit ihrem Mann in ihr Elternhaus zurückkehrte und im Spätherbst wie mein Stiefvater dem Evakuierungsbefehl nicht Folge leistete. Am 19. Januar 1945 wurde dann das Ehepaar von uns mit auf die Flucht genommen, da es ja selbst kein Pferdefuhrwerk besaß. Irgendwo unterwegs erblickten sie auf einem Bahndamm einen Zug, der — oh Wunder — abfahrbereit unter Dampf stand. Doch noch ein Zug? Der letzte? Kurzentschlossen nahmen sie ihr Gepäck vom Wagen und rannten den Bahndamm hoch. Zwar wollten sie auch mich mitnehmen, doch ich lehnte ab und blieb lieber im Treck bei meinen Eltern.
Nach dem Krieg wohnten Zerullas in München-Riem und besuchten uns auch in der Pfalz. Wir verblieben bis zu ihrem Tod in „treuer, heimatlicher Verbundenheit“.
Nr 14 - SCHULHAUS:
Perlbachs/Zerullas gegenüber stand das Schulhaus. Als Nachfolger von Lehrern Migge und Lehrer Seeger kam Albert Hüber 1935 mit Frau Helene und Stieftochter Hannelene (Hannelein) nach Waldfrieden (siehe auch Bericht „Volksschule Waldfrieden“). Das Schulhaus bestand aus einem großen Klasrsenzimmer und der Lehrerwohnung. Es war das einzige Gebäude im Dorf, das an nationalistischen Feiertagen beflaggt wurde. Zum Schulhaus gehörte ein Wirtschaftsgebäude mit Scheune und Stallungen für Schweine, Hühner und eine Kuh, und gleich hinter den Bahngleisen lagen die 2 ha Gemeindeland, die jedem Lehrer zur Nutzung zustanden und bei dessen Bearbeitung die Bauern unentgeltlich mithalfen.
Helene Hüber war eine hervorragende Hausfrau und hielt mit Hilfe eines Hausmädchens alles gut in Schuss. Mit den Hausmädchen war es bei vielen Lehrerfamilien so, dass sie eine gute Schulabgängerin aus Arbeiterkreisen einstellten, meistens für die Dauer eines Jahres. Die Mädchen waren froh, gleich in so jungen Jahren, erst vierzehnjährig und ohne jede Ausbildung, eine Anstellung zu bekommen, bei der sie nicht nur behutsam in das Arbeitsleben eingeführt wurden, sondern auch Gelegenheit hatten, etwas „an Benimm“ wie gute Manieren und Tischsitten dazuzulernen. Denn in einem Lehrerhaushalt ging es üblicherweise sehr gepflegt zu. Ich war bei Hübers oft zu Gast und genoss die ganze Atmosphäre. So betätigte Frau Hüber z.B.beim Mittagessen ein an der Hängelampe befestigtes Glöckchen, um der Hausgehilfin in der durch den Flur etwas abseits gelegenen Küche zu signalisieren, den nächsten Gang aufzutragen.
Durch Frau Hüber kamen auch ein paar neue Bräuche nach Waldfrieden, z.B. der Nikolaustag — bei uns bis dahin gänzlich unbeachtet — mit einem Nikolausteller mit Königsberger Marzipanherzen und dergleichen guten Süßigkeiten. Ebenfalls nicht üblich waren Adventskränze. Frau Hüber nun flocht die schönsten Kränze und hängte uns stets einen ganz besonders großen Kranz, kunstvoll mit rotem, breitem Band und den obligatorischen vier Kerzen geschmückt, an die Decke unseres Klassenzimmers. (Herr Hüber pflegte dann seine Geige aus dem Schrank zu holen, doch leider, leider war sein Spiel kein Ohrenschmaus.)
Bei der Evakuierung Waldfriedens im Spätherbst 1944 — Herr Hüber war Soldat — gingen Frau Hüber und Hannelein nicht nach Mohrungen, sondern zu Verwandten nach Elbing. Von dort aus wollte uns Hannelein noch nach dem 5. Jan. 1945 besuchen, kam jedoch nur bis Insterburg, wo ihr Soldaten dringend rieten, sofort umzukehren. Der nachfolgende Brief meiner Mutter an Frau Hüber, geschrieben acht Tagen vor der Flucht, beschreibt die Verhältnisse in Waldfrieden in jenen Tagen.
Abschrift: Waldfrieden, den 10.I.(19)45
Liebe Frau Hüber! Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Brief und für Ihren lieben Glückwunsch zu meinem Geburtstag. Gott sei Dank ist es uns noch vergönnt, hier in Waldfrieden zu sein. Auch wir haben still und mit wehem Herzen das Weihnachtsfest und meinen Geburtstag verlebt. Hier im Dorf gibt es nur unerfreuliche Neuigkeiten. Frau Szilllat hat furchtbares Heimweh, und auch die anderen wären lieber daheim. Denn von Frau Haller ist alles Zurückgebliebene verschwunden und auch Frau Fleiß und Frau Zwillus klagen sehr, daß vieles verschwunden ist. In den Wohnungen von Haller, Krink und Szillat hausen Polen (Bahnarbeiter und Dreschkommando). Im Moorbad wird ein Feld-Lazarett eingerichtet, und in Ihren Räumen hat der Oberarzt Quartier bezogen. Ihr Telefon ist nicht gesperrt, da es zur öffentlichen Benutzung freigegeben werden mußte, und deshalb darf mein Mann die Tafel nicht entfernen. Zwecks Kräfteeinsparungen sollen die Telefone der übrigen Teilnehmer abgebaut werden. Frau Scherreiks schickte den Pullover schon in der vergangenen Woche, und Traute ist froh, daß es so gut geklappt hat. Wir haben in diesen Tagen darauf gewartet, daß Sie uns aufsuchen werden. Denn wie Hannelein schrieb, haben Sie doch die Absicht gehabt, nach dem 5.1. hier einmal nach dem Rechten zu sehen. Unsere Kleinbahn fährt nur noch Munition. Wir können deshalb nur morgens von Buchhof nach Insterburg fahren und dann am Abend bis dahin zurückkommen. Oft trifft der Abendzug erst am Morgen zwischen 4-5 Uhr ein. Sonst ist es hier ruhig, denn selten hören wir ein Flugzeug. Heute fährt der Waldfriedener Treck von Mohrungen nach Waldfrieden ab, aber die Frauen und Kinder bleiben dort.
In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen sendet Ihnen sowie Ihrer Schwägerin und Hannelene recht herzliche Grüße Ihre Ella Brandstätter - Auch mein Mann und Traute senden herzliche Grüße.
Anmerkung: In Waldfrieden herrschte damals eine eigenartige Atmosphäre, für die ich nicht die passenden Worte finde: die meisten Häuser im Dorf verlassen; in der großen Küche von Hallers trafen sich die polnischen und französischen Kriegsgefangenen mit den zwangsrekrutierten polnischen und weißrussischen Dienstmädchen und tanzten zu Akkordeon-Musik eines unserer französischen Kriegsgefangenen, den wir „Musikus“ zu nennen pflegten. Da auch unsere anderen fünf französischen Kriegsgefangenen und die beiden „Weißrussen-Mädchen“ dort waren, wagte ich mich einmal in Hallers Küche. Mein Besuch war beklemmend kurz. Man gab mir deutlich zu spüren, dass ich, die Deutsche, unerwünscht war.
Nach dem Krieg wohnten Hübers in Gettorf bei Kiel. Herr Hüber, der nie Mitglied in der Partei gewesen war, durfte sofort wieder als Lehrer arbeiten. Hannelein ging nach Kiel, später nach Hamburg, wo sie u.a. in großen Geschäften als Werbedame für bestimmte Artikel, aber auch als Fotomodell und Statistin bei Filmaufnahmen arbeitete. Sie besuchte uns mit ihrer Mutter in Baden und kam nach deren Tode auch allein zu uns. Unsere enge Freundschaft währte bis zu ihrem Tod.
HOF 12:
Neben dem Hof von Perlbach/Zerulla lag das Anwesen von Emil Fleiß, der bis zu seiner Einberufung zum Militär die Stelle des Bürgermeisters von Waldfrieden innehatte. Das Wohnhaus war noch mit Stroh gedeckt. Emil hatte zwei Geschwister: Arthur (Fleiß) und Anna (Fleiß), genannt Annchen. Arthur ist der Verfasser des Gedichtes „ Mein Heimatdorf Gerlauken“, aus dem ich in meinem Bericht einige Zeilen zitieren werde. (Gedicht siehe unter Gerlauken). Arthur verließ Waldfrieden. Sein Aufenthalt blieb unbekannt. Und Annchen, die zusammen mit Emil, dem Hoferben, den Hof bewirtschaftete, ging nach Berlin, als dieser die geschiedene Schneiderin Martha Radzuweit geb. Schwarz (mit Sohn Alfred) heiratete. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Günter und Christel.
Emil Fleiß ist vermisst. Seine Frau und die Kinder wohnten nach dem Krieg in Mecklenburg. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass Frau Fleiß drei Monate unter den Russen war, wie man es zu umschreiben pflegte, und viel gelitten hat.
OHNE NR.:
Zwischen der Kies-Chaussee und dem Anwesen von Otto Haller wurde etwa Mitte der dreißiger Jahre eine Baracke erbaut, die auf dem Messtischblatt nicht eingezeichnet und über deren Verwendung meines Wissens noch nichts veröffentlicht worden ist. Anfangs diente sie den Maiden des Reichsarbeitsdienstes als Unterkunft, danach einer anderen Arbeitsgruppe, bis eines Tages dort Juden untergebracht, sprich eingesperrt, wurden. Die mussten bei Wind und Wetter, selbst bei Eiseskälte, das Flüsschen Droje verbreitern, bewacht von einem Soldaten mit Gewehr. Darüber an anderer Stelle mehr. Eines Tages war die Baracke leer: Die Juden waren in einer Nacht- und Nebelaktion abtransportiert worden.
HOF 3:
Das letzte Anwesen auf dieser Straßenseite war das Gehöft von Hallers. Sie hatten zwei Kinder: Otto Haller und Gertrud (Yrude) Haller ,wovon natürlich der Sohn der Hoferbe wurde. Das Wohnhaus hatte durch einen verandaartigen Windfang etwas sehr Einladendes, und der riesengroße Walnussbaum an der Hofeinfahrt übte auf uns Kinder eine große Anziehungskraft aus. Als kleines Mädchen bin ich oft mit meiner Oma Schlack bei Hallers zu Besuch gewesen — solche Nachmittagsbesuche waren beliebt und verliefen wie folgt: Während sich meine Oma mit Oma Haller im Wohnzimmer unterhielt, nahm mich Trude bei der Hand und führte mich in die Küche mit den Worten: „Trautchen, wir zwei machen jetzt mal Kaffee!“ Und dort setzte sie sich dann auf einen Stuhl, klemmte sich die handbetriebene Kaffeemühle zwischen die Knie und begann die Kaffeebohnen zu mahlen. (Wir hatten ja keinen elektrischen Strom.) Hin und wieder durfte auch ich die Kurbel drehen. Herrlich, wenn das erste Kaffeearoma aus der Mühle aufstieg! Wie unpersönlich dagegen die heutige Zubereitung! — Gertrud heiratete einen Angestellten der Landmaschinenwerkstatt Bajorat, den Elektromonteur Kaufmann, und zog zu ihm nach Aulenbach. Otto vermählte sich mit Johanna Erdmann. Diese Hochzeit war ein großes Fest mit vielen festlich gekleideten Gästen.
Otto Haller lebte nach dem Krieg mit seiner Familie in Niedersachsen und verstarb 1975 in Zeven. Seine Schwester Gertrud Kaufmann trafen wir überraschenderweise im Flüchtlingslager Oksbøl/Dänemak wieder. Sie fungierte dort als Zeugin bei einem Dokument, das der ehemalige Aulenbacher Standesbeamte Flötke für uns ausfertigte.
HAUS 2b:
Der Baracke gegenüber gab es das zweite strohgedeckte Wohnhaus, Eigentum von Dr. Becker (Vorbesitzer Gustav Steppat mit Altsitzerin Johanna Bernecker). Das kleine, schon recht alt aussehende Haus war in zwei Wohnungen unterteilt und an die beiden Arbeiterfamilien Szillat und Krink vermietet. Beide Männer wurden als tüchtige, ehrenhafte Tagelöhner nicht nur gerne von meinem Vater, sondern auch von anderen Bauern beschäftigt. Frau Rosa Szillat stammte aus der Schweiz und war eine sehr sangesfreudige, lebensbejahende und in allen Arbeiten geschickte Person. Besonders bei den tagelangen Vorbereitungen für größere Feste wollte meine Mutter nicht auf ihre Mithilfe verzichten. Der Sohn Hein Szillat in der Schule zwar nicht der Klügste, war ansonsten doch ein recht gewieftes Bürschchen und von meinem Bruder Egon als Kumpel sehr geschätzt.
Für Herrn Albert Szillat begann mit der Belegung der Baracke durch die Juden ein neuer Lebensabschnitt. Der stark übergewichtige Mann wurde als eine Art Koch mit der Verpflegung der erbarmungswürdig halb verhungerten Juden betraut. Nein, man schaute nicht genau hin! Nach deren Abtransport bekam Herr Szillat eine neue Aufgabe und zwar die eines Aufsehers — oder was? Man hat es nie genau erfahren — in dem nach dem Polenfeldzug neu errichteten „General-Gouvernement“. Stolz zeigte er bei seinen Heimatbesuchen goldene Uhren und Armbänder herum und brüstete sich damit, alles beschaffen zu können. Ich wollte ihn auf die Probe stellen, und tatsächlich, er brachte mir ein Paar Lederstiefel mit, angefertigt nach meinen Maßen. Das war etwas, das ich in jenen Kriegsjahren in Deutschland nicht mehr bekommen hätte. Eines Tages war Herr Szillat tot — erschlagen. Seine Leiche wurde nicht nach Waldfrieden überführt.
Nach dem Krieg lebte Frau Szillat eine Zeitlang in der Schweiz, bevor sie mit Sohn Heinz, der den Krieg als Soldat überstanden hatte, in Waldshut sesshaft wurde. Als ich 1958 in jene Gegend kam, habe ich sie als damals Dreißigjährige besucht und staunte, wie sehr die einstigen doch großen Standesunterschiede zusammengeschrumpft waren. Sie lebten in einer schönen, großen Wohnung, ausgestattet mit geschmackvollen Möbeln und gutem Porzellan, und die Bewirtung war hervorragend. Heinz hatte eine gute Arbeitsstelle, eine flotte, tüchtige Frau und zwei erfolgreiche Töchter.
HAUS 2a:
Hinter Szillats/Krinks kam ein kleines Gehöft mit Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude, das einst dem Fleischermeister Otto Grotzeck gehörte. Als es Dr. Becker kaufte, richtete er in dem Haus fünf Wohnungen ein und vermietete sie an die Arbeiterfamilien Nolde, Kallweit, Sarunski, Pierags (Briefträger) und Naujoks. Einer der Vormieter war eine Familie Seidenberg, die sich 1935 ein eigenes Anwesen in Schwägerau kaufen konnte. Auf dem Hof ging es mit den vielen Kindern immer recht lebhaft zu.
Nach dem Krieg wurde einer von Noldes Söhnen Lehrer in der ehemaligen DDR. Herr Naujoks ist als Soldat vermisst, seine Tochter Renate, jetzt Becken, wohnt in Rudolstadt.
HOF 13:
Um mit unserem Heimatdichter Arthur Fleiß zu sprechen: „Am Ausgang des Dörfchens man noch ein Häuschen fand, da wohnt Frl. Ettig, auch Blumenlieschen genannt.“ 1929 kaufte Franz Petrauske den Hof. Als Kriegsinvalide aus dem 1.Weltkrieg mit einem Holzbein hatte er Schuhmacher gelernt, und so betrieb er auch in Waldfrieden eine Zeitlang eine Schuhmacherei, bis er sich ganz der Landwirtschaft zuwandte und seinen kleinen Besitz durch Pachtland und Landzukauf (2,5 ha vom Gut Weidlauken) vergrößerte. Petrauskes hatten zwei Kinder, Kurt Petrauske und Elli Petrauske, und lebten äußerst zurückgezogen. Sie gehörten der neuapostolischen Gemeinde an, die in Aulenbach) ihren Gemeindesaal hatte. Interessant, aber von der Umwelt als Spielerei angesehen, war der hinter dem Hof errichtete „Windmotor“, der, wie ich erst heute von Elli erfuhr, in der Lage gewesen sein soll, ausreichend Strom für den Eigenverbrauch zu erzeugen. Kurt war der begabte Konstrukteur desselben. Er hatte in der Landmaschinenwerkstatt Bajorat in Aulenbach) gelernt und eine Flugmodellbauschule besucht. Er scheint wirklich ein cleverer Tüftler gewesen zu sein, denn er war auch der einzige im Dorf, der sich aus Brettern so etwas wie Skier anfertigte und damit bei Schnee mangels geeigneter Abhänge durch die Gegend stapfte, was uns in unserem Flachland zu damaliger Zeit doch recht „exotisch“ vorkam.
Bei der Evakuierung Waldfriedens nach Mohrungen im Spätherbst 1944 mussten sich Petrauskes von meinem Vater ein Pferd leihen, da sie selbst nur eins besaßen. Herr Petrauske kam noch einmal nach Waldfrieden zurück; denn auf einen wahnwitzigen „Befehl von oben“ musste er sich wie alle Männer mit einem Fuhrwerk am 10. Januar 1945 dem sogenannten „Dreschkommando“ anschließen, das nach Hause zum Dreschen zurückkehren sollte, während Frauen und Kinder in Mohrungen zurückblieben. Nun, zum Dreschen kam es nicht mehr. Herr Petrauske hatte gerade noch Zeit, einiges aus dem Haus und von den im Herbst vorsorglich vergrabenen Sachen auf das Fahrzeug zu werfen, bevor er wieder umkehren musste — der Russe stand kurz vor Aulenbach. Der Russe stand nicht nur kurz vor Aulenbach, sondern kurz darauf auch vor Mohrungen, wo Frauen und Kinder nun ohne Pferd und Wagen dastanden und verzweifelt auf die Rückkehr der Männer warteten, so auch Frau Petrauske mit Tochter Elli. (Sohn Kurt war Soldat.) Die Züge waren überfüllt, es gab kein Wegkommen. Als sie wieder einmal vom Straßenrand aus auf den vorbeiziehenden Treck starrten, entdeckten sie unter den vielen Wagen plötzlich auch den ihren … Sie kamen bis Mecklenburg.
Kurt fiel im Herbst 1944 bei den Kämpfen um Stallupönen/Ebenrode. Elli, jetzt Elli Bendig, vier Kinder, lebt noch heute, 94-jährig, in Gadebusch,Mecklenburg. Ich stehe mit ihr in Verbindung.
HOF 1:
(siehe auch Bericht "Leben auf einem ostpr. Bauernhof - Hof Brandstäter 1930 - 1945)
- „Im Osten des Dorfes, wo der Himmel so blau,
- da wohnt der Nachbar P A N S E G R A U.
- Weil das Grundstück nicht nach seinem Geschmack,
- vertauscht er es mit Gutsbesitzer S C H L A C K.“
So heißt es in dem Gedicht „ Mein Heimatdorf Gerlauken“, und tatsächlich tauschten 1927 meine Eltern Jonathan (Jonas) und Ella Schlack ihr Gut Olschöwen/Kamen, Kreis Angerburg gegen den Hof Pansegrau in Gerlauken/Waldfrieden. Der Grund hierfür wäre wieder eine Geschichte für sich. Jedenfalls haben meine Eltern den Differenzbetrag/Ausgleichsbetrag in Höhe von 20.000,- RM, den Pansegraus meinen Eltern schuldeten und der als Hypothek auf ihr Grundstück, nun Gut Olschöwen/Kamen, eingetragen war, nie bekommen. Als meine Mutter den Betrag 1950 bei der Berechnung des Lastenausgleichs geltend machte und auch den Hypothekenbrief vorlegte, teilte das Lastenausgleichsamt Kusel ihr mit, diese Forderung könne n i c h t mehr bestanden haben, nachdem Pansegraus in die U m s c h u l d u n g gegangen seien.
Es waren drei Generationen der Familie Schlack, die 1927 nach Gerlauken kamen: meine Eltern, meine beiden Brüder Herbert (6 J.) und Egon (4 J.) und meine Großeltern Heinrich Schlack und Wilhelmine Schlack. Letztere erhielten Altenteil. Sie waren stets ein wichtiger Teil der Familie. Es wurde zusammen gearbeitet und gefeiert, zusammen gelacht und getrauert.
Zusammen getrauert? 1932 verunglückte mein Vater (34 J.) tödlich mit seinem Motorrad vor der Mühle Schiemann in Aulowönen. Damals wie heute: Nach einem Todesfall sind viele Dinge zu erledigen. In Ostpreußen musste gleich mit den Vorbereitungen für die Bewirtung der vielen, vielen Trauergäste begonnen werden. Der Sitte entsprechend, kamen die Frauen aus dem Dorf sofort zum Kondolieren und brachten Backzutaten wie Eier und Butter mit. Es war eine große Beerdigung. Kameraden des „Stahlhelms“ eskortierten den Leichenzug und trugen den Sarg.
Zwei Jahre danach heiratete meine Mutter den 38-jährigen, noch ledigen Max Brandstäter, Besitzer eines kleinen Grundstücks in Tannenfelde, der sich auch als selbständiger Bauunternehmer zu betätigen pflegte und sofort damit begann, unsere Stallungen in Waldfrieden zu vergrößern. Nachdem seine pflegebedürftige Mutter (Altenteil!) ebenfalls bei uns ein neues Zuhause gefunden hatte, wurde das Haus in Tannenfelde von zwei Familien bewohnt, die bei Bedarf bei uns arbeiteten, aber auch wie Deputanten Getreide und Land zum Anbau von Kartoffeln und dergleichen bekamen, inklusive Stall- und Gartennutzung. Die Felder wurden von Waldfrieden aus bearbeitet.
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, kam mein Stiefvater dem Evakuierungsbefehl im Spätherbst 1944 nicht nach. Somit feierten wir das Weihnachtsfest 1944 noch zu Hause, wobei „feiern“ wirklich nicht der richtige Ausdruck ist. Unsere Familie war klein geworden: meine beiden Brüder gefallen — Egon 1942 kurz vor seinem 19. Geburtstag in Russland, Herbert 1944 auf dem Rückzug in Italien — und Oma Schlack, die nach dem Tode ihres Ehemannes noch einmal geheiratet hatte, lebte nun in Insterburg. Am 19. Januar 1945 dann die überstürzte Flucht …
Im Flüchtlingslager Oksbøl in Dänemark, wo wir 3 ½ Jahre „hinter Stacheldraht“ lebten, trafen wir auch eine unserer Arbeiterfrauen aus dem Haus Tannenfelde wieder. Welch eine Überraschung: Diese Frau, die in Ostpreußen so stark gestottert hatte, dass es fast weh tat, ihr zuzuhören, stand uns hier recht selbstbewusst gegenüber und — oh,Wunder! — stotterte plötzlich nicht mehr! Jetzt waren wir ja alle arm, jetzt besaßen wir alle nicht mehr als höchstens zwei Koffer, eine Tasche und eine Decke, jetzt standen wir alle mit einem „Blechnapf“/Kochgeschirr bei der Essensausgabe vor der großen Lagerküche an.
Bei unserer Rückführung nach Deutschland (Herbst 1948) wurden wir in die Pfalz (französische Zone) eingewiesen, wo es meinem immer rührigen Stiefvater gelang, ein Wirtschaftsgebäude preisgünstig zu erwerben und in Eigenregie in ein nettes, kleines Wohnhaus umzubauen. 1966 zogen meine Eltern dann zu mir nach Baden und waren wie früher die Altsitzer in Ostpreußen ein wichtiger Bestandteil unseres Drei-Generationen-Haushalts (jetzt aber ohne Altenteil).
Meine Großmutter Schlack/Kömling, hatte der Krieg an die Küste von Schleswig-Holstein gespült, während ihr 2. Mann auf der Flucht gestorben war. Als ich 1950 das nötige Fahrkartengeld beisammen hatte, machte ich mich sofort zu ihr auf die Reise und habe auch später mit meiner Familie jeden Sommerurlaub bei ihr an der Eider-Mündung verbracht. Oma blieb sich bis zu ihrem Tode mit 94 Jahren treu: Wie in Ostpreußen sparte sie jeden Pfennig für die Nachkommen, und das war in diesem Falle ich als ihr letztes Enkelkind.
HOF 7:
In einer Entfernung von etwa zwölf Gehminuten vom Dorf lag an der Kies-Chaussee in Richtung Tobacken das Gehöft der GESCHWISTER PERLBACH. Es handelte sich um eine Erbengemeinschaft, über die wohl niemand in Waldfrieden etwas Näheres wusste. Denn die Schwestern und Brüder (wie viele eigentlich?) waren menschenscheu, im wahrsten Sinne des Wortes, und ließen keine Kontaktaufnahme zu. Sobald sich jemand ihrem Hof näherte, versteckten sich die Frauen flugs im Haus, während einer der Männer den Besucher schon am Hofeingang abfertigte. Ich kann sagen, dieses ist das einzige Anwesen in Waldfrieden, das ich nie betreten habe bzw. durfte.
HOF 8:
Hinter dem Besitz der Geschwister Perlbach in Richtung Tobacken befand sich Schüsslers schönes Gehöft, abgetrennt von der Kies-Chaussee nur durch einen von einer dichten Hecke umschlossenen Garten. Dieser Garten mit den schönen Äpfeln und den vielen Bienenkörben zog mich immer an. Die Bienenzucht war das Hobby des alten Herrn Carl Schüssler. Harald Müllerbuchhof nennt ihn in seinen Memoiren „Onkel Bienert“.
Schüsslers hatten zwei Söhne: Ernst und Fritz. Ernst war der Hoferbe, und ich nehme an, dass er deshalb als Soldat erst einmal in Waldfrieden zum Einsatz kam: In Uniform und mit umgehängtem Gewehr musste er die Juden bewachen, die die Droje zu verbreitern hatten. Ein Zufluss der Droje führte ja auch durch unser Land und sogar unmittelbar hinter unserer Scheune vorbei. Es war nun Ernst Schüssler, der es „übersah“, wenn mein Bruder Herbert beim Vorbeifahren aus einem absichtlich geöffneten Sack Kartoffeln für die Juden vom Wagen rollen ließ. Und als die Armen dann direkt hinter unserer Scheune arbeiteten, „übersah“ es Ernst auch, wenn sich einige von ihnen in die warme Futterküche schlichen, um sich zu wärmen und sich ein paar gekochte Kartoffeln aus dem Kartoffeldämpfer zu nehmen. — Nachdem die Juden abtransportiert worden waren, wurde Ernst an die Front geschickt und gilt als vermisst.
Seiner Frau Elli Schüssler mit vier Kindern und Schwiegervater gelang es, mit Hilfe ihres französischen Kriegsgefangenen bis nach Mecklenburg zu kommen. Als es dann später den Bürgern der DDR, vornehmlich den Rentnern, gestattet wurde, nach Westdeutschland auf Besuch zu kommen, machte Frau Schüssler davon regen Gebrauch und besuchte uns mehrmals in der Pfalz. (Übrigens zahlte die Bundesrepublik damals jedem Besucher aus der DDR ein sogenanntes Begrüßungsgeld in Höhe von 30,- DM, um solche Besuche zu erleichtern; denn die DDR-Bürger durften nur 70,- (Ost-)Mark ausführen.) Bei einem dieser Besuche lernten wir auch die sehr netten Kinder kennen. Tochter Marlies, später Lehrerin in der DDR, schickte mir danach wiederholt sehr schöne Handarbeiten und hielt mich auch später auf dem Laufenden, als ihre Mutter schon zu krank war, um noch selber schreiben zu können.
Fritz Schüssler, Soldat, nach Beendigung des Krieges nach Westdeutschland entlassen, besuchte uns um 1950 herum in der Pfalz. Er war inzwischen in der Lüneburger Heide verheiratet und befand sich nun auf der Suche nach einer neuen Heimat. Wir wohnten zu der Zeit in der „Rehweiler Mühle“/ Kreis Kusel, und Fritz erhielt von der Mühlenbesitzerin die Erlaubnis, sich im Dachgeschoss des zweistockigen Wohnhauses eine Wohnung auf eigene Kosten auszubauen. Obgleich wir selbst sehr beengt in nur zwei Räumen lebten, war es für meine Eltern selbstverständlich, den ehemaligen Nachbarn aufzunehmen, um es ihm so zu ermöglichen, sein Vorhaben auszuführen. (Er schlief in unserer Küche auf einem Klappbett.) Als die Wohnung nach wochenlanger, knochenharter Arbeit fertig war, holte Fritz seine Frau Gesche, seine Stieftochter Gerda und auch seinen Vater Carl Schüssler nach.
Einige Jahre darauf gelang es Fritz, ein kleines Grundstück in Hertlingshausen, bei Grünstadt in der Vorderpfalz zu erwerben. Klar, jeder Ostpreuße strebte danach, etwas Eigenes zu besitzen!
HOF 6:
Im Westen des Dorfes, an der Straße nach Schuppingen, lag in Nähe des Waldes (Moorbad) das schöne Anwesen von Karl Mosel. Es war der größte Bauernhof des Ortes und hatte auch ein Insthaus. Von den drei Kindern, zwei Jungen und ein Mädchen, war Herbert der Hoferbe und bekam somit noch zu Lebzeiten der Eltern den Besitz überschrieben. Bei Besuchen meiner Eltern war ich immer dabei, denn obgleich Herbert Mosel und seine Frau Dora noch keine Kinder hatten, schloss eine Einladung stets die ganze Familie ein. Am nachhaltigsten imponierte mir der Schaukelstuhl, in dem der alte Herr Mosel in seinem Zimmer zu ruhen pflegte, als er schon zu schwach war, um an der allgemeinen Gästetafel zu sitzen. Wie schon öfter gesagt, blieben die alten Herrschaften immer ein geschätzter Teil der Sippe, und als Gast versäumte man nie, auch sie aufzusuchen.
Wie bei Insthäusern üblich, war auch auch bei Mosels das Insthaus durch eine Straße von den Hauptgebäuden getrennt. Das Haus hatte vier Wohneinheiten, in denen zu meiner Zeit die Deputanten-Familien Kaun, Stegmann und Perlbachlebten. Nach dem Gedicht von Arthur Fleiß kann die vierte Familie Lörchner, Sternberg oder Migat geheißen haben.
HOF 8:
Am Waldrand, in unmittelbarer Nähe des Moorbads, befand sich ein schmuckes Häuschen, das Fritz Krüger gehörte. Er war der Sohn des Ehepaars Friedrich Krüger, das das Moorbad gegründet und später an Dr. Becker verkauft hatte. Bei ihm wohnte BERTHA OHLENDORF. Mein Stiefvater hielt mit beiden Verbindung, konnte er sich doch noch an die Anfänge mit der einfachen Moorwanne im Freien erinnern. Das Moorgebiet lag ja zwischen seinem Heimatdorf Papuschienen (Tannenfelde) und Gerlauken (Waldfrieden). Außerdem war Fritz Krüger in seinem Alter, während Martha Ohlendorf (geb.1873) wie er in Papuschienen (Tannenfelde) auf die Welt gekommen war. Wenn wir zum Moorbad gingen, schauten wir öfter auch bei ihnen vorbei.
Nach der Flucht lebte Fritz Krüger in Niedersachsen.
HAUS 2c:
- „Dann geht man weiter über Berg und Höh’n,
- da ist das Grundstück des Herrn P R E U S S zu seh’n,
- und bei ihm mit frohem Sinn,
- leben noch Altsitzer L E I N E R T darin.“
In diesen Zeilen von Arthur Fleiss liegt sehr viel dichterische Freiheit. Denn wo gab es in Waldfrieden Berge und Höhen? Natürlich ist selbst in einem Flachland ein Feld mal etwas höher oder tiefer gelegen, doch der einzige Abhang in Waldfrieden war der „Rodelberg“ auf dem Schulland zur Droje hin. Nein, das Grundstück des Herrn Preuss lag an der Kies-Chaussee in Nähe des Moorbads und wurde zu meiner Zeit nur Leinerts Grundstück genannt. Dass der neue Besitzer DR. BECKER hieß, spielte bei der Namenzuordnung anscheinend keine Rolle und wäre wegen der anderen zwei Höfe, die Dr. Becker in Waldfrieden erworben hatte, auch nicht eindeutig gewesen.
Ausser dem Altsitzer-Ehepaar LEINERT wohnten in dem Haus die Familien ZWILLUS und SCHWARZ. Herr Zwillus und Herr Schwarz waren Tagelöhner, die bei Bedarf auch bei uns arbeiteten. Eine Tochter des Ehepaars Schwarz, MARTHA RADZUWEIT mit Namen, war Schneiderin, und zwar eine ideenreiche, gute Schneiderin, zu der ich gerne gegangen bin. So tat es mir fast leid, dass sie Emil Fleiß heiratete und dadurch ihren Beruf aufgab.
Nr. 15 - MOORBAD WALDFRIEDEN
war das Prunkstück Waldfriedens. Die hellen Gebäude hoben sich weit sichtbar vom dunklen Grün der hohen Tannen ab. Hier suchten Rheuma- und Gichtkranke Besserung oder sogar Heilung und, wie es hieß, mit recht gutem Erfolg. Wie es dazu gekommen ist, dass in dieser Abgeschiedenheit ein über Ostpreußens Grenzen hinaus bekanntes Heilbad entstanden ist, lese man bitte in den entsprechenden Veröffentlichungen nach. Ich will es hier nur aus meiner Sicht schildern.
Während die Kurgäste wochentags ganz unter sich waren und neben den Wannenbädern mit dem radiumhaltigen Moor und der anschließenden Ganzmassage des Bademeisters Borchert die gute Waldluft und den tiefen Frieden genossen — nein, Abwechslung irgendeiner Art gab es nicht — , strömten an sommerlichen Sonntagen Erholungssuchende aus allen Richtungen herbei, hauptsächlich mit dem 11 Uhr-Zug aus Insterburg. Zu Fuß ging es durch das kleine Dorf und dann ca. 15 Minuten weiter auf der Kies-Chaussee zum Moorbad. Abends dann alles in entgegengesetzter Richtung, um den Bimmelzug der Kleinbahn um 17:30 Uhr zu erreichen. Das Moorbad hatte eine eigene Anbindung, die Olga-Bahn, die das Moorbad mit dem Haltepunkt Waldfrieden der Insterburger Kleinbahn verband.
Das Moorbad zog natürlich auch uns Anwohner an. Voller Stolz wurde es jedem unserer Sonntags-besucher präsentiert. Es war der einzige Platz, wo „etwas los war“, und ich — oh Wonne! — meine obligatorische Flasche Limonade und Tafel Schokolade bekam. Was habe ich doch als kleines Kind meine Eltern an Sonntagen, an denen wir keine Gäste erwarteten, gequält, mit mir hinzugehen! Schon morgens begann ich damit, sie mit folgendem Verschen zu animieren:
- „In Waldfrieden ist es heiter, in Waldfrieden ist es schön,
- darum rat’ ich einem jeden, nach Waldfrieden hinzugeh’n!“
Das Moorbad war wirklich ein schönes Fleckchen Erde. Mich begeisterte besonders der kleine Tierpark mit Affen, Eulen, Eichhörnchen, Fasanen, Füchsen, Mardern und Iltissen (oh, wie es stank!). Dann gab es noch das Freigehege mit Hirschen und Rehen. Nicht unerwähnt lassen will ich das große, begehbare Vogelhaus in Art eines Wintergartens an der Giebelseite des Restaurants. Obligatorisch war ein Waldspaziergang. Ich lese: “Auf sauber angelegten Wegen schritt man auf dem weichen Teppich des leise, fast unmerklich schwankenden Moorbodens tiefer und tiefer in den ursprünglichen Wald. Oft sah man auf beiden Seiten das unheimlich schwarze Wasser ungewisser Tiefe.“ Nun, soweit sind die Kurgäste wohl nie gekommen, und auch die Sonntagsspaziergänger verließen selten die bequemen Rundwege; denn dahinter erwartete einen tatsächlich eine beängstigende Stille und eine tiefe, tiefe Einsamkeit. Zu beiden Seiten der nun schmalen Pfade stand das bedrohende Dunkel des Moorwassers. Es galt, über Querhölzer zu balancieren, die je nach Witterung glitschig sein konnten. Jedesmal, wenn ich versuchte, allein diesen Teil zu erkunden, packte mich plötzlich die Angst, und ich flüchtete zurück in den hellen, belebten Bereich des Moorbades.
Im Dachgeschoss des Badehauses befand sich die Wohnung des Bademeisters Emil Borchert. Das Ehepaar hatte drei Kinder. Außer Waltraud und Werner gab es eine behinderte Tochter, die weder gehen noch sprechen konnte und mit 14 Jahren in einem Heim verstarb. Borchers gehörten zu unserem Freundeskreis, und wenn wir sonntags oder abends, also außerhalb der Behandlungszeit, auf Besuch waren, durften wir Kinder im ganzen Badehaus wie die Wilden herumtollen. Es war ein einmaliger Spaß, dort auf dem langen Flur mit den vielen Räumen „Fangen“ zu spielen. Durch eine Tür ging es in das Bad mit der schwarzen, hölzernen Moorwanne und der Dusche, durch eine Verbindungstür in den sich angrenzenden Ruheraum mit der Massage- und Ruheliege, und durch eine zweite Tür wieder hinaus auf den Gang. — Leider starb Frau Borchert sehr früh. Herr Borchert heiratete noch einmal. Auch seine 2. Frau war sehr liebenswert und den Kindern eine gute Stiefmutter.
Neben dem Badehaus wohnte der Verwalter und Gärtnermeister Herr Czielinsky(?) mit Frau und Tochter, während Gastwirt Goetz der Pächter des Restaurants und des „Waldhauses“ war. Die Namen der Beschäftigten in Küche, Badebetrieb, Stallungen usw. sind mir nicht bekannt.
Die Kriegsereignisse wirkten sich auch auf das Moorbad aus. Die erste große Umstellung gab es vor dem Russlandfeldzug, als im Frühsommer 1941 in Ostpreußen die Truppen aufmarschierten und — wie man uns glauben machte — das Moorbad zum F ü h r e r h a u p t q u a r t i e r werden sollte. Die Kurgäste mussten abreisen, die Bewohner wie Borchers, Czielinskys, Rudats (Post) wurden zwangsumquartiert und die ganze Anlage zum Sperrgebiet erklärt. Meine Freundin Hannelein und ich wagten uns einmal bis an dessen Rand vor, doch was wir erspähten, war enttäuschend: ein mit Tarnnetzen und Tannenzweigen abgedeckter Panzer, ein paar in Stellung gebrachte Geschütze und ein MG auf dem Dach des „Sonnenhauses“ (zur Fliegerabwehr?). Wo sollte eigentlich der Fieseler Storch landen, den man ja immer mit Hitler in Verbindung brachte? — Erst heute, 75 Jahre nach jenen Ereignissen, erfahre ich glaubhaft von kompetenter Seite, dass man den Anwohnern Waldfriedens seinerzeit ein Märchen erzählt habe. Es habe sich keineswegs um das Führerhauptquartier gehandelt, sondern lediglich um das Hauptquartier einer Armeegruppe. Fest steht, dass dieses Hauptquartier, für was auch immer gedacht, nie genutzt wurde und die Bewohner wieder ins Moorbad zurückkehren durften. Irgendwann danach war das Moorbad ein Erholungsheim/Genesungsheim für Soldaten. Die Dorfbewohner tuschelten darüber, dass außer den Ehefrauen auch die Freundinnen dort übernachten durften.
Als die Luftangriffe auf Insterburg stärker zu werden begannen, verlegte man einen Teil des Städtischen Krankenhauses ins Moorbad. Da sich auch unsere Hausschneiderin unter den Patienten befand, hatte ich einen Anlass, bei einem Besuch meine Neugierde zu stillen. Der Chefarzt Dr. Wilcke war ein gern gesehener Gast in meinem Elternhaus, und da er meine Liebe zu Hunden bemerkt hatte, schenkte er mir zu meiner Konfirmation an Ostern 1944 einen Dackel.
Nach der Evakuierung Waldfriedens im Spätherbst 1944 diente das Moorbad als Feldlazarett. Wie erstaunt waren wir, als wir am 17. Januar 1945 zu einer kostenlosen Filmvorführung nach dort eingeladen wurden, hatte es doch bis dahin keinerlei Kontakt mit den Verwundeten gegeben. In jener trostlosen Zeit bin ich nur zu gerne hingegangen, aber natürlich nicht allein, sondern in Begleitung unseres deutschen Dienstmädchen Erika und der „Milchschmeckerin“ — einer jungen Frau, die gerade die Milchmenge und den Fettgehalt der Milch unserer Kühe zu prüfen hatte. Zu meiner Verwunderung zeigten sich die Verwundeten unbesorgt, es herrschte keinerlei Aufbruchstimmung — und das alles zwei Tage vor unserem Schicksalstag, dem 19. Januar 1945!
Nach der Flucht hatte Herr Borchert zusammen mit seinem Sohn Werner einen Massagesalon in Hamburg. Seine 2. Frau war während der Flucht in Kopenhagen gestorben. Werner machte sich auch auf Sylt selbständig, wählte aber wegen finanzieller Schwierigkeiten den Freitod. Waltraud Borchert, jetzt Waltraud Paeger, war in Pohlheim/Hessen verheiratet und hatte zwei Söhne und eine Tochter. Da sie drei Jahre älter als ich war und über ein gutes Gedächtnis verfügte, konnte ich viele Informationen von ihr bekommen. Wir blieben Freundinnen bis zu ihrem Tode im Jahre 2012. Mit ihrer Tochter Gisela Willert in Pohlheim, stehe ich noch in Verbindung.
Nr. 5 - GUT WEIDLAUKEN:
Im Norden Waldfriedens, etwa 15 Gehminuten vom Dorf entfernt, lag das Gut Weidlauken, später zwar umbenannt in Gut Weiden, doch fand dieser neue Name keinen Einlass in unseren Sprachgebrauch. Der Besitzer dieses großen, schönen Anwesens war Ernst Lörchner. Seine Schwester Ilse Lörchner heiratete den verwitweten Gutsbesitzer Franz Scharffetter aus Kallwischken. Abgesehen von den Schulkindern der Deputanten aus den beiden Insthäusern lag das Gut Weidlauken außerhalb unseres Dorfgeschehens. Lörchners pflegten mit niemandem im Dorf gesellschaftlichen Verkehr, gehörten sie doch einer höheren Gesellschaftsschicht an. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Herrn Lörchner, wie er mit umgehängter Flinte (Jagdpächter) in Begleitung seines Windhundes über die Felder schreitet, oder wie er am Bahnhof Waldfrieden auf den Zug wartet, jetzt zwar ohne Flinte, aber doch in Begleitung seines Hundes, und dann stets auch auf mich ( Fahrschülerin) zukommt, mir die Hand gibt und ich meinen obligatorischen Knicks mache. (Später als Jungmädel-Führerin werde ich es sicher bei einem Händedruck belassen haben.) Gefreut hat es mich, dass mir Lörchners zu meiner Konfirmation ein Geschenk schickten.
Nach der Flucht wohnten Lörchners bei Bremen.
Nr. 4 - GUT GRÜNDANN:
Ein Stück hinter dem Gut Weidlauken befand sich das Gut Gründann. Es lag schon auf der Höhe von Tannenfelde, nur durch die Bahnstrecke vom Dorf getrennt. Der Besitzer des Gutes war die Erbengemeinschaft Kubert, der Pächter Max Sinnhuber. Sinnhubers hatten zwei Söhne und eine Tochter, mit denen ich manchmal gespielt habe. Sie waren aber jünger als ich.
Max Sinnhuber hatte in den letzten Kriegsjahren das Amt des Bürgermeisters inne, da Emil Fleiß eingezogen worden war. Das bedeutete, dass wir nun bei Sinnhubers sowohl die Lebensmittelkarten als auch Genehmigungen für Schlachtungen und Bezugscheine für Schuhe und Bekleidung abholten. — Ich erinnere mich an die Weihnachtszeit 1943, als meine Eltern und ich mit der Lehrerfamilie Hüber bei Sinnhubers zu Besuch waren. Klar, dass Hannelein und ich von der Gastgeberin aufgefordert wurden, ein Weihnachtsgedicht aufzusagen. Hannelein wählte ein herkömmliches, ich ein zeitgenössisches mit nationalsozialistischem Gedankengut und war mir sicher, damit gut anzukommen. Irrtum: Das herkömmliche Gedicht mit christlichen Motiven fand mehr Beifall.
Nach dem Krieg wohnten Sinnhubers in der Gegend von Bremen. Als ich gestern versuchte, die älteste Tochter Brigitte anzurufen, um von ihr mehr Informationen für diesen Bericht zu bekommen, kam die Telefonverbindung nicht mehr zustande: Brigitte ist vor etwa vier Wochen verstorben.
Geschichten & Anekdoten rund um Waldfrieden
Volksschule Waldfrieden
Im Jahr 2013 verfasste Edeltraut Tauschmann, geb. Schlack einen Bericht "Die Voksschule in Waldfrieden (Kreis Insterburg)" der interessante Informationen über das Schulleben in den 1930iger Jahren in Waldfrieden enthält. Der Bericht (siehe rechts) kann auch runtergeladen werden (siehe rechts).
- Die Volksschule in Waldfrieden war einklassig, d.h. alle Schüler der Klassen eins bis acht wurden in einem Raum von nur einem einzigen Lehrer unterrichtet. Um einen Unterricht überhaupt möglich zu machen, waren die Klassen drei und vier sowie die Klassen fünf bis acht in Lerngruppen zusammengefasst. Auch die Erstklässler bildeten schon nach ein paar Wochen in einigen Fächern eine Einheit mit den Zweitklässlern. Die Kunst des Lehrers bestand nun darin, stets zwei bis drei Blöcke mit schriftlichen Arbeiten wie Abschreiben, Schönschreiben und Rechenaufgaben zu beschäftigen, während er sich selbst dem letzten widmete. Eine große Hilfe waren ihm dabei die Besten der achten Klasse: Sie halfen bei den Kleinen aus oder ließen die Größeren draußen im Flur Diktate schreiben. Bei dieser Methode konnte der einzelne Schüler natürlich nicht die gleiche Förderung erhalten wie ein Stadtkind in einer achtklassigen Schule, doch war es für Begabte durchaus nicht uninteressant, während der Erledigung von schriftlichen Aufgaben gleichzeitig zu hören, wie z.B. Gedichte vorgetragen wurden oder der Lehrer über die Norddeutsche Tiefebene referierte.
- Zu dem Einzugsbereich der Waldfriedener Volksschule gehörten auch Schüler folgender Anwesen: Burba in Mittel-Warkau, Max Brandstäter in Tannenfelde (an der Bahnstation Tannenfelde/Gründann gelegen), Schmidtke in Schuppinnen und ein an Zigeuner vermietetes Haus hinter dem Schuppinner Torfmoor. Die Schule hatte insgesamt 30 bis 40 Schüler. Während des Unterrichts herrschte eiserne Disziplin. Oberstes Gebot war, nicht zu schwatzen. Da gab es gleich ein paar hinter die Löffel. So bezog auch ich in der ersten Klasse eine Ohrfeige, obgleich ich in der "Beschäftigungsstunde" nur versucht hatte, meiner Banknachbarin die schriftliche Aufgabe zu erklären, die sie nicht verstanden hatte. Der Lehrer nahm sich nicht die Zeit, nachzufragen. Sich umgedreht und mir eine runtergehauen, das war eins. Diese Ohrfeige habe ich Herrn Kemmeries, der zu der Zeit neben seiner eigenen Schule in Buchhof die Vertretung in Waldfrieden übernommen hatte, nie verziehen.
- Ohrfeige? Ja, es gab sie noch, die Prügelstrafe, und zwar in verschiedener Form. Ohrfeigen waren da ziemlich harmlos. Die wurden mit lockerer Hand so ruck-zuck ausgeteilt, egal, wo man sich gerade befand. Schlimmer war es mit den Rohrstockhieben auf die ausgestreckte Hand, vorne vor den ganzen Klassen. Die härteste Bestrafung waren zweifellos die Schläge auf den "Allerwertesten“. Was für eine Erniedrigung! Während der arme Sünder am Lehrerpult wartete, schritt der Lehrer gemächlich zum Klassenschrank, suchte sich von mehreren Stöcken den geeignetsten aus, indem er sie nach hinten bog und wieder zurückschnellen ließ, nahm dann auf seinem Stuhl Platz, der Schüler musste sich bücken oder wurde gar übers Knie gelegt und ... Meiner Beobachtung nach richtete sich die Art der Bestrafung nicht allein nach dem Grad des Vergehens, sondern auch nach dem Ansehen des betreffenden Kindes bzw. seiner Eltern. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe!
- Und wofür wurde man nun außer Schwatzen bestraft? Man brauchte nicht unbedingt etwas angestellt zu haben, nein, es genügte schon, seine Hausaufgaben nicht gut gemacht zu haben oder etwas nicht zu können wie z.B. das Einmaleins. Die Lehrer vergaßen bei dieser "Hau-drauf-Methode" zum einen, wie wenig Zeit sie selbst dem einzelnen Schüler gewidmet hatten und auch in Zukunft würden widmen können, und zum anderen den Umstand, dass viele Kinder außerhalb der Schulstunden schon arbeiten mussten und dann abends zum Lernen einfach zu müde waren. Nach dem zu urteilen, was ich aus Gesprächen erfahren oder selbst erlebt habe, waren sich in diesem Punkt wohl alle Dorfschullehrer Waldfriedens gleich, egal, ob es nun Herr Migge war, der bis 1929 den Schuldienst versah, oder sein Nachfolger Herr Seeger (1929 bis 1935) oder Herr Hüber, der letzte der Genannten. Herrn Kemmeries aus Buchhof habe ich ja schon oben erwähnt.
- Übrigens, die Einschulung war damals nicht nach den Sommerferien, sondern schon zu Ostern, und es gab weder eine Schultüte noch irgendeine Feier. ( Die Schultüte, die die Lehrertochter Hannelein Hüber auf dem Foto vor dem Schulgebäude trägt, ist nur eine Erinnerung an ihre zurückliegende Einschulung im Memelland.) Zu den Utensilien eines ABC-Schützen gehörten neben Fibel und Rechenbuch eine Schiefertafel mit Schreiblinien auf der einen und Rechenkaros auf der anderen Seite. Seitlich waren an zwei langen Bändern ein Schwämmchen und ein Lappen befestigt oder aus Kostenersparnis auch nur zwei Lappen. Auf jeden Fall hatte eines der beiden immer feucht zu sein, um damit das Geschriebene fortwischen zu können. Mit dem anderen schnell trocken gewischt, war die Tafel dann gleich wieder einsatzbereit. Der Lehrer überprüfte hin und wieder die Feuchtigkeit des Schwammes/Lappens, aber wenn er nicht hinsah, tat's auch Spucke, und bei einem einzelnen Buchstaben war der schnell im Mund nass gemachte Finger sowieso präziser einzusetzen. Außerdem fingen die feuchten Wischer bald an zu stinken - eine wirklich unhygienische Sache! - und mussten durch neue ersetzt werden.
- Geschrieben wurde mit einem Griffel aus Schiefer. Er war etwa so lang wie ein Bleistift, aber dünner, und da er keine Holzummantelung besaß, war er leider nicht bruchsicher. Angespitzt wurde er mit einem scharfen Messer, aber verständlicherweise nur von Erwachsenen. Deshalb war es ratsam, morgens gleich mehrere gut angespitzte Griffel in seinem hölzernen Griffelkasten zu haben, die dann beim Laufen vernehmlich im Tornister (Schulranzen) klapperten, während die beiden seitlich heraushängenden Läppchen - oft im Verein mit den Zöpfen - lustig hinterher flogen.
- In der zweiten Klasse begannen wir, Bleistift und Hefte zu benutzen, in der dritten Federhalter und Tinte. O weh, das war eine Wissenschaft für sich! Jeder Schüler hatte an seinem Platz ein eingelassenes Tintenfass, das der Lehrer aus einer großen Flasche füllte. Immer drei Schüler teilten sich eine Bank, die fest mit der Tischplatte verbunden und deshalb nicht individuell einstellbar war. (Wie oft hat mich Herr Hüber ermahnt, grade zu sitzen!) Geschrieben wurde mit einem Federhalter aus Holz, in den man vorne eine Schreibfeder aus Stahl steckte. Die Federn waren lang, spitz und in der Mitte gespalten. Die Kunst war nun, mit der Feder gerade die richtige Menge Tinte aufzunehmen, um gut schreiben zu können, aber keine Kleckse zu machen. Und falls man die Spitze zu fest aufs Papier drückte, spaltete sie sich und gab kleine Spritzer ab, oder sie verbog sich und wurde unbrauchbar.
- Also, die Tinte und ich standen auf Kriegsfuß. Mein Heft war stets voller Kleckse, manchmal auch die Tischplatte. Einmal stieß ich aus Versehen so heftig gegen die Bank-Tisch-Konstruktion, dass die Tinte aus dem Tintenfass herausschoss und meine schön bestickte Schürze über und über beschmutzte. Der Lehrer durfte die Tintenfässer also nicht bis zum Rand zu füllen, denn ich war nicht die einzige, der mit dem vollen Behälter ein Malheur passierte. Nun ja, als ich in der 4. Klasse endlich den so heiß ersehnten Füllfederhalter bekam, löste sich das Problem, zumindest das meine, von selbst.
- Was machten wir in den Pausen? Da der Schulhof sehr klein war und außerdem zwischen ihm und den Bahngleisen nur ein Graben lag, vergnügten sich die Jungen auf der Dorfstraße. Meistens spielten sie dort Schlagball. So blieb der Schulhof weitgehend den Mädchen überlassen. Glücklicherweise gab es Schülerinnen der oberen Klassen, die mit den Kleinen Singspiele machten wie "Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh' , "Es geht ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Kreis herum", "Ziehe durch, ziehe durch durch die gold'ne Brücke" etc. Ich liebte diese Kreisspiele über alles, aber natürlich hat alles seine Zeit. So habe ich später mit den anderen auf der Dorfstraße Fangen gespielt, wobei es immer in halsbrecherischem Tempo über einen breiten Graben ging. Da kam es schon mal vor, dass man nasse Füße bekam, doch wen kümmerte das! Zu der Zeit war bereits die sehr flinke Hannelein Hüber dabei, die meine beste Freundin wurde.
- Herr Hüber hatte seine Stieftochter neben mich gesetzt, auf den zweiten Platz. Hannelein beneidetet mich glühend um meinen e r s t e n Platz. Nun, gegen Überlassung von einigen hübschen Glanzbildern tauschte ich mit ihr. Selten habe ich Herrn Hüber so in Rage gesehen! Er packte Hannelein am Schopf und setzte sie ziemlich hart auf die ihr zugewiesene Position zurück, und mich bedachte er mit einer Rüge. Was war denn das Besondere an den Plätzen? Nun, es gab zwar keine Zeugnisse, doch wusste man an Hand der Sitzordnung genau, wo man mit seinen Leistungen im Klassenverband stand, allerdings nur innerhalb seines eigenen Geschlechts. Denn spätestens ab dem 3. Schuljahr wurde streng aufgeteilt: die Mädchen rechts, die Jungen links vom Gang. Die hinterste Reihe jeder Klasse bzw. jedes Blocks war "OBEN", und die Beste/der Beste bekam dort ihren/seinen Platz am Mittelgang. Selbst der Schulrat war bei seinen gelegentlichen Besuchen mit dieser Methode vertraut.
- Sport im eigentlichen Sinne gab es nicht. Wir hatten weder eine Turnhalle noch einen brauchbaren Sportplatz, ja, wir besaßen nicht einmal Turnkleidung und wussten auch nicht, an welchem Tag der Lehrer eine Turnstunde einlegen würde. Es hing zwar ein Stundenplan im Klassenzimmer, aber anscheinend nur für den Schulrat. Man nahm halt jeden Tag seinen gesamten Besitz an Schulbüchern und Heften mit und wartete ab. In der sogenannten Turnstunde spielten wir Treibball oder Völkerball, und wenn es dann tatsächlich einmal einen Wettlauf gab, dann mit voller Kleidung auf der harten Dorfstraße. Im Winter gingen wir rodeln. Zum Schulland gehörte nämlich ein Abhang, der sich gut dafür eignete. Das war überhaupt der einzige Rodelberg in der ganzen Umgebung. So hatten wir bei Schnee stets unsere Schlitten dabei und rodelten nach Möglichkeit auch in der großen Pause, die Herr Hüber dann nach Gutdünken verlängerte. (Niemand von uns Schülern besaß eine Uhr.)
- Das Highlight meiner Volksschulzeit waren drei Schulausflüge. Zusammen mit 2 bis 3 benachbarten Schulen ging es einmal nach Rossitten und ein anderes Mal nach Tilsit. Normalerweise durften nur Schüler ab der 3. Klasse mitfahren; doch da meine Eltern zu Hübers engen Freunden zählten, war ich schon als Erstklässlerin in Begleitung meiner immer unternehmungsfreudigen Oma Schlack mit von der Partie. Die dritte Tour will ich näher beschreiben. Das Ziel war der Insterburger Flugplatz, wo Kunstflieger ihr Können zeigen sollten. Obgleich es mitten in der Getreideernte war, stellte mein Vater ein Pferdefuhrwerk mit Kutscher zur Verfügung. Wie transportiert man so viele Kinder und ein paar Erwachsene? Nun, mit einem Leiterwagen, auf dem man mit Hilfe von Brettern Sitzplätze geschaffen hat! Ein paar Kinder konnten auch auf dem Boden und an dem hinteren Wagenende hocken und die Beine herunterbaumeln lassen. (Dieses"Beine-herunter-baumeln-lassen" auf einem Leiterwagen war sowieso immer das Größte für mich. Allein dieses Vergnügens wegen bin ich oft zum Feld mit rausgefahren, selbst wenn ich dann nach Hause zurücklaufen musste.)
- Wie lange wir für die 17 km nach Insterburg und den Weg durch die ganze Stadt und zum abgelegenen Flugplatz brauchten, kann ich nicht sagen. Wer besaß denn damals schon eine Armbanduhr? Ich habe die Fahrt nur als lang, aber durch unser Herumalbern auch als lustig in Erinnerung. Die Vorführung der Piloten war mehr als enttäuschend. Inmitten einer unübersehbaren Schar von Schulkindern lagerten wir auf einer riesengroßen Wiese und warteten, warteten ... Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Sommerhimmel auf uns herab, mein rotes Proviantköfferchen war bald geleert und die Flasche Limonade längst ausgetrunken. Zu kaufen gab es nichts. Es wurden nicht einmal ein paar Eimer Wasser gegen den Durst hingestellt. Warten! Als wir schon fast die Hoffnung auf das Erscheinen der Flieger aufgegeben hatten, da plötzlich: Flugzeuggeräusche! Drei bis vier Maschinen tauchten auf, donnerten über uns hinweg, kehrten wieder um. Na, jetzt würden wohl die Kunststücke kommen! Nein, nichts! Sie überflogen uns noch einmal und verschwanden ...
- Ich möchte es nicht unterlassen, das Lehrerehepaar Hüber näher zu schildern, war Herr Hüber doch nun gar kein Dorfschullehrer, der sich nach dem gängigen Bild von damals Pfeife rauchend seiner Bienenzucht widmete, liebevoll seine Blumen pflegte, meditierend über seine Felder schritt und am reservierten Tisch des Gasthauses mit den Honoratioren des Dorfes bei einem Glas Wein oder Bier über Gott und die Welt diskutierte. Nichts von alledem, wobei letzteres auch gar nicht möglich gewesen wäre. Denn Waldfrieden hatte weder ein Gasthaus, noch einen Pfarrer, noch Arzt, noch... Herr Hüber verbrachte die meiste Zeit lesend an seinem Schreibtisch im Herrenzimmer.
- Als Pädagoge war er absolut humorlos. Am Faschingsdienstag z.B. pflegten wir unsere Tornister in der großen Pause in seinem Gartenhäuschen zu verstecken und an die Wandtafel zu schreiben: „Die Raben sind gekommen und haben uns die Bücher weggenommen!“ Natürlich konnte er uns von seinem Studierzimmer aus im Garten herum huschen sehen und auch an den Fußspuren im Schnee erkennen, wo wir gewesen waren. Doch wenn wir gehofft hatten, er würde wenigstens einmal in den ganzen Jahren fröhlich das Klassenzimmer betreten, dann hatten wir uns geirrt. Jedes Mal erfolgte die strikte Aufforderung: „Bücher raus!“ Wir zeigten dann auf die Wandtafel, ohne Erfolg. Streng befahl er uns, unsere Schulranzen reinzuholen. Und zur Strafe mussten wir alle aufstehen und gemeinsam im Chor die Zehn Gebote aufsagen und danach das kleine Einmaleins, einmal komplett „1 mal 1 ist 1“ etc., und dann die Reihen „2-4-6-“ etc. ,wobei natürlich die guten Schüler des letzten Jahrgangs führten, während die Kleinen nachzuplappern versuchten.
- Die herausragende Persönlichkeit im Hause Hüber war Frau Hüber. Sie war diejenige, die alles in Bewegung hielt und mit ihrer Hausgehilfin Kuh, Schwein, Hühner und die acht Morgen (2 ha) Gemeindeland versorgte, die jedem Schulmeister neben seinem Gehalt zur Verfügung standen. Natürlich half mein Vater mit unseren Leuten und Geräten bei der Feldbestellung mit. Solche Hilfe wurde in Ostpreußen grundsätzlich als Gefälligkeit angesehen. Niemand dachte da an Bezahlung oder Trinkgeld. - Übrigens war Frau Hüber mit ihrer Gehilfin auch für das Putzen des Schulraumes verantwortlich und im Winter für das Beheizen des großen Kachelofens, dessen Wärme oft nicht ausreichend war.
- Sicherlich musste Frau Hüber mit dem Brennmaterial, das für die Befeuerung des Ofens zur Verfügung gestellt wurde, gut haushalten, um dadurch durch den Winter zu kommen. Ich erinnere mich: Wenn die jährliche Lieferung eintraf, hatten alle Schüler mitzuhelfen, sie vom Hof in den Holzstall zu transportieren. Während die größeren Jungen die Briketts und die Kohlen hineintrugen, bildeten wir anderen eine lange Kette und reichten die Holzscheite von Hand zu Hand weiter. Niemand von uns empfand dieses gemeinsames Tun als erniedrigend, im Gegenteil, wir freuten uns, so einer Unterrichtsstunde zu entkommen.
- Ob es nun an der Menge des verwendeten Brennmaterials oder an einer schlechten Funktion des alten Kachelofens lag, dass wir bei strengem Frost froren, kann ich nicht beurteilen. Nun ja, in Bezug auf Heizung waren wir auch von zu Hause aus nicht verwöhnt. Im Winter war in allen Häusern der beste Platz am Ofen! So forderte uns Herr Hüber bei extrem strenger Kälte auf, unsere Bänke u-förmig in Nähe des Kachelofens zu rücken, was aber nicht viel half: vorne warm, hinten kalt! Um nun wenigstens unsere Seele zu wärmen, ließ er uns dann im Chor das Gedicht HOFFNUNG von Emanuel Geibel aufsagen, dessen erste Strophe lautet: "Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden, und streut er Eis und Schnee umher, es muss doch Frühling werden!" Selbst nach nun 75 Jahren erinnere ich mich daran, mit wie viel Inbrunst ich diese Zeile rezitierte: " ES MUSS DOCH FRÜHLING WERDEN!"
- Als ich in der 4. Klasse war, kam die Sprache auf die "höhere Schule". Das war keineswegs selbstverständlich auf dem Land, denn die Schulen kosteten Schulgeld (monatlich 10,. RM für die Mittelschule und 20,- RM für die Oberschule für Mädchen oder das Gymnasium für Jungen). Dazu kamen Fahrkartengeld, evtl. sogar für Pension, ferner Ausgaben für Lernmaterial sowie Taschengeld, und außerdem entfiel man ja als Arbeitskraft. Und wenn schon höhere Schule, dann vorwiegend für Jungen, denn "Mädchen würden ja sowieso heiraten"! Ein großes Dankeschön also an meinen Stiefvater, für den es feststand, dass ich eine höhere Schule besuche, auch wenn ich selbst lieber in meinem schönen, mir so vertrauten Waldfrieden geblieben wäre. Zu meinem Glück hatte ich Hannelein Hüber als Weggefährtin, und Hübers waren es denn auch, die einer Stadtschule in Insterburger den Vorzug vor der Aulenbacher Privatschule gaben.
- Als Vorbereitung bekamen Hannelein und ich Zusatzaufgaben: Wir mussten seitenlange Schreibübungen in lateinischer Schrift machen, weil man die für Englisch brauchte. Die normale Schrift war nämlich die "Deutsche Schrift", fälschlich auch "Sütterlin-Schrift" genannt. So habe ich also in der ersten Zeit in Insterburg zwei Schreibschriften benutzt, bis ich dann dem Trend und ab 1941 dem Erlass der Reichsleitung der NSDAP entsprechend, ganz zur lateinischen überging. Die Aufgabe meiner in 6 Schuljahren entwickelten persönlichen Handschrift empfand ich damals fast als kleinen Identitätsverlust.
- Nachsatz: Nach dem Krieg war Herr Hüber Lehrer in Gettorf bei Kiel. Frau Hüber und Hannelein besuchten uns hier in Bischweier. Die freundschaftliche Verbindung blieb bis zu deren Ableben bestehen. Heute habe ich noch Kontakt zu einer ehemaligen Schülerin der Waldfriedener Volksschule
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, Mai 2013
Leben auf einem Bauernhof in Waldfrieden
Ergänzend zu dem unten nachfolgenden Bericht verfasste Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack im Jahre 2021 noch einen Bericht über das Leben auf "Ihrem" ostpreußischen Bauernhof, dem Hof Brandstäter in der Zeit 1930 - 1945. Dieser Bericht erhält weitere interessante Details und kann auf der separaten Seite Hof Brandstäter abgerufen werden.
- Unser Bauernhof lag ein beträchtliches Stück vom Dorf entfernt, war also ein Abbau. Das bedeutete, wir wohnten allein auf weiter Flur, umgeben von unserem eigenen Land und ohne direkte Nachbarn. Von der Landstraße führte ein mit Birken eingefasster Privatweg zu unserem Gehöft. Die Hauptgebäude standen wie bei allen Bauernhöfen im Geviert um einen freien Platz, den Hofplatz, kurz Hof genannt. (Die Bezeichnung „Hof“ bedeutete also sowohl Hofplatz als auch Gehöft/Bauernhof.) Dem Wohnhaus gegenüber stand die Scheune, rechts und links befanden sich die Ställe für Pferde, Kühe, Schweine und Federvieh. So konnte man vom Wohnhaus aus den ganzen Hof überblicken.
- Außerhalb des Hofkarrees befanden sich eine Schmiede sowie eine Holz- und Wagenschauer. Letztere diente sowohl als Lagerplatz für Brennmaterial wie Holz, Kohlen, Briketts und Grude als auch als Unterstellplatz für Kutschwagen, Gig, Schlitten und dergleichen. Ebenfalls war dort eine große Tischlerwerkbank mit Schraubstock und allem Drum und Dran wie Hobeln, Feilen, Stemmeisen, Sägen, Hammer, Äxten etc. zu finden. Was für ein idealer Platz für uns Kinder, dort ohne Beaufsichtigung herumzuwerkeln!
- Gewiss nicht ganz den Vorschriften entsprechend war dass Auto in einer Remise zwischen Kuhstall und Scheune untergebracht, in der sich auch der Trecker und diverses Ackergerät befanden. Nicht alles hatte Platz, und so lagerte zu meinem Kummer einiges draußen im Freien. Auf der Luftaufnahme und der Fotokopie sieht man ein weiteres Gebäude, von uns Keller genannt. Das untere Stockwerk steckte nämlich tief in einem Erdaufwurf und war somit kühl und ideal für die Lagerung von Hackfrüchten wie Kartoffeln, Rüben, Wrucken und Rote Beten, aber auch Kohlsorten wie Weiß-, Rotkohl und Wirsing. Im vorderen Teil befand sich eine Futterküche (Vorbereitung des Tierfutters). Solche Keller gab es auch auf anderen Gehöften. Für gewöhnlich waren die einstöckig, oft mit Moos überwachsen. Der unsrige besaß ein Dachgeschoss (Kniestock), wo die Hühner und Puten ihr Reich hatten. Über eine verbreiterte, doch für Fuchs, Iltis und Marder unüberwindbare Sprossenleiter konnten sie nach Belieben ein- und ausgehen. Dieser alte Keller war kein Prachtstück, und so ließ ihn mein Stiefvater abreißen und durch je einen Anbau an Schweine- und Kuhstall ersetzen. Dadurch bekamen die Hühner und Puten zusammen mit den Gänsen und Enten einen ebenerdigen Stall, was eines der oben erwähnten Raubtiere leider einige Male zu nutzen wusste.
- Da ich mit Akribie jedes Gebäude aufgezählt habe, darf ich zwei nicht unterschlagen, obgleich ich dieses Kapitel gerne unerwähnt lassen würde. Es handelt sich um die beiden Plumsklos, das eine für die Familie und Besucher, das andere für das Dienstpersonal. Diese hölzernen Herzhäuschen befanden sich bei der Wagen-und Holzschauer, also ein beträchtliches Stück vom Wohnhaus entfernt, wurden sie doch nicht als Vorzeigeobjekt angesehen. Bei Regen und Wind dorthin zu gehen, war nicht angenehm. Was für ein beschwerlicher Gang aber erst an dunklen, eiskalten Winterabenden, wenn man sich mit Taschenlampe oder Laterne bewaffnet auf den Weg machen musste! Wen wundert es da, dass wenigstens für die Nacht unter jedem Bett ein Nachttopf stand, entweder ein einfacher aus Emaille oder ein kunstvoll verzierter aus Keramik für gehobenere Ansprüche! Nein, die „stillen Örtchen“ mit ihrem Überfluss an frischer Luft waren gewiss kein einladender Platz für passionierte Zeitungsleser, was die Verweildauer natürlich erheblich verkürzte. Zeitungen gab es da zwar auch, aber die waren bereits mehrere Wochen alt, bereits in zweckdienliche Stücke geschnitten und an einem Haken aufgehängt. Sie ersetzten schlichtweg das heutige Toilettenpapier.
- Auf unserem Scheunendach befand sich wie bei fast allen Gehöften ein Storchennest.Der „Oadebar“ galt natürlich auch bei uns als Glücks- und Kinderbringer. Ich sah dem lebhaftem Treiben auf dem Dache gerne zu, hasste es jedoch, aufgefordert zu werden, das Sprüchelchen „Storch, Storch, Ester, bring mir eine Schwester“ nachzuplappern. Unser Wohnhaus war an zwei Seiten von einem großen Garten umgeben, an dessen Staketenzäune hohe Bäume als Windschutz standen: Eichen, Ahorn, Buchen, Birken und vor allem Tannen. An der Nordseite des Hauses befand sich ein großer Teich. Da er in regelmäßigen Abständen „entmodert“ wurde (Wasser abgelassen, Schlamm mit Hilfe von Loren und Schienen auf einen Haufen gefahren und nach ausreichender Lagerungszeit als natürlicher Gartendünger genutzt), war das Wasser auch zum Baden geeignet. Leider schmeckten die Fische (Karausche) trotzdem immer etwas moderig.
- Waldfrieden hatten keinen elektrischen Stromanschluss, weil sich einst bei der Abstimmung über das Für und Wider die Mehrheit aus Kostengründen dagegen ausgesprochen hatte. Fließendes Wasser hatten wir ebenfalls nicht. Drei Brunnen auf unserem Gehöft versorgten Mensch und Tier mit dem lebensnotwendigen Nass. Darüber später mehr!
- Wir hatten stets zwei Dienstmädchen, das eine für die Stuben und die Versorgung des Geflügels, das andere für die etwas gröbere Arbeit wie Küche und Fütterung der Schweine. Für die Pferde war ein Knecht verantwortlich, für die Kühe ein Schweizer/Melker. Außer letzterem mussten alle bei Feldarbeiten und sonstigen anfallenden Arbeiten mithelfen. Bei vermehrtem Arbeitsanfall wurden Tagelöhner/-innen aus dem Dorf einbestellt, vorrangig natürlich unsere eigenen Leute, die auf dem Anwesens meines Stiefvaters in Tannenfelde lebten. Bedarf bestand im Frühjahr beim Setzen von Kartoffeln, Rüben und Wrucken, später beim Behacken derselben, im Juni bei der Heuernte, im Sommer bei der Getreideernte, im Herbst beim Ernten von Kartoffeln und den anderen Hackfrüchten, und im Winter schließlich beim Dreschen. Übrigens, beim Kartoffelsammeln verdienten sich die Arbeiterkinder aus dem Dorf gerne eine Kleinigkeit: 50 Pfennig pro Tag und Essen. Eine weitere Hilfe waren mitunter Studenten und „Landhelfer“ aus dem Rhein-Ruhrgebiet, die den ganzen Sommer über bei uns blieben (und mit der Vorstellung nach Ostpreußen gekommen waren, es würde bei uns noch Wölfe geben). In den letzten Kriegsjahren kamen auch HJ-Jungen aus Insterburg zum Ernteeinsatz, doch auf die hätte mein Stiefvater gerne verzichtet. Nur ich hatte Unterhaltung.
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, 15.01.2017
Kühe hüten (1930iger)
- Meine beiden Brüder Herbert und Egon Schlack mussten manchmal unsere Kühe hüten und zwar nach der Getreideernte, wenn der miteingesäte Kleesamen etwa 10 cm friches Grün hervorgebracht hatte. Da sie immer Freunde dabei hatten, mit denen sie sich unterhalten oder Karten spielen konnten, war es nie langweilig und so bin ich ihnen öfters nachgegangen und habe mich dazugesetzt. Bei der Größe und Abgeschiedenheit der Felder war das Hüten keine anstrengende Arbeit. Man konnte das Vieh getrost eine ganze Weile sich selbst überlassen. Problematisch wurde es nur in Dorfnähe. Auf der anderen Seite der Bahnlinie, die unser Land vom Dorf trennte, wohnte nämlich Frau Martha Perlbach und ihre Mutter auf ihrem Altersruhesitz.
- Die beiden Damen, Freunde meiner Familie, besaßen ein winzig kleines Feld, das sie hauptsächlich mit Rüben und Wrucken für ihre Kuh und die paar Schweine bepflanzten. Es war wie verrückt : Unsere Kühe schienen diese Leckerbissen jenseits der Gleise förmlich zu riechen und wenn dann plötzlich eine anfing, danach zu rennen, stürmten alle anderen hinterher und ließen sich von uns durch nichts mehr aufhalten. Wir waren oft so in unser Spiel vertieft, dass wir das sich anbahnende Unheil zu spät bemerkten. Bis wir das Vieh dann wieder aus dem "Paradies-Garten" herausgetrieben hatten, war schon viel aufgefressen worden.
- Martha Perlbach, inzwischen mit dem ehemaligen Oberinspektor Zerulla vom Gut Müllerbuchhof verheiratet, besuchte meine Eltern in den 1950iger Jahren in der Pfalz und erzählte zu meiner Bestürzung, dass ich seinerzeit als kleine Marjell (kleines Mädchen) auf ihre Vorhaltungen "Trautchen, sieh nur, war eure Kühe getan haben und wir haben doch wenig Land !" einfach geantwortet hätte : "Ich werde mir wegen der krätschen Biester doch nicht die Hacken abrennen"
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, 30.11.2012
Winterfreuden
- Beim ersten Schneefall schon wurden die Rodelschlitten hervorgeholt, die uns dann den ganzen langen Winter hindurch begleiteten. Jede noch so kleine Anhöhe wurde ausprobiert, doch der Abhang auf dem eingezäunten Wiesengrundstück des Schullands war und blieb der einzige, der eine rasante Abfahrt ermöglichte. Wenn dann noch ein Stück des Drahtzaunes als Durchlass für uns entfernt wurde, ging es über hart gefrorene Ackerschollen weiter bis an den Rand der Droje. So traf sich dort nachmittags die Waldfriedener Dorfjugend und selbst Lehrer Hüber gesellte sich öfter dazu und griff ein, wenn wir zu waghalsige Kunststückchen ausprobieren wollten.
- Ein Wintervergnügen der besonderen Art spielte sich auf den zugefrorenen Teichen ab. Wir selbst hatten vier Teiche auf unserem Land. Drei von ihnen befanden sich in den Rossgärten als Wasserstellen für Pferde und Vieh, und einer in Hausnähe. Es war der letztere, der im Winter auf uns Kinder die größte Anziehungskraft ausübte. Selbst als ich noch als zu klein für die Anschaffung von Schlittschuhen befunden wurde, hatte man mir einen dicken Draht kufenartig unter Holzklumpen befestigt, mit denen ich dann munter neben den Schlittschuhläufern auf der blanken Eisfläche herum schlittern konnte. Erwähnen muss ich hier, dass meine beiden Brüder fünf und sieben Jahre älter waren als ich und immer eine Menge Freunde um sich hatten. Was habe ich Angst um sie ausgestanden, wenn sie mir zu wagemutig oder leichtsinnig erschienen! Mein Flehen, von ihrem Vorhaben abzulassen, stieß stets auf taube Ohren.
- Da war zum Beispiel das „Biegeeis“, das sie auf dem soeben zugefrorenen Teich machten. Wenn die dünne Eisdecke ihr normales Gewicht noch nicht tragen konnte, liefen sie nacheinander - der Mutigste als erster - mit schnellen, leichten Schritten von einem Ufer zum anderen, und tatsächlich, das Eis wurde geschmeidig und bog sich in Wellenbewegungen unter ihren Füßen und zerbarst nicht. Das Experiment gelang aber nur, wenn sie den richtigen Zeitpunkt abgepasst hatten: nicht zu früh, denn dann brachen sie ein, und nicht zu spät, denn dann blieb die Eisdecke starr.
- Wenn die Eisschicht dick genug war, installierten uns die Männer eine „Krängel“ (krängeln = kringeln = sich drehen). In Teichmitte wurde ein Loch durch das Eis geschlagen und ein dicker Pfahl in den Untergrund gerammt, oben versehen mit einem Metallbolzen mit Schraubgewinde, in den eine lange Stange mit Ringhalterung eingehängt und durch eine Schraube gesichert wurde. An das äußere Ende der Stange kam ein speziell dafür gezimmerter, schwerer Schlitten, wieder abgesichert durch Querverbindungen. Man kann sich kaum vorstellen, was für eine Geschwindigkeit das Gefährt erreichte, wenn die Stange in Pfahlnähe herumgedreht wurde, wozu natürlich auch Erwachsene höchst willkommen waren. Waren meine Brüder allein die „Anschieber“, spielten sie hin und wieder ein höchst gefährliches Spielchen: Sie lösten beim Drehen unbemerkt die Schraube und hoben die Stange aus der Halterung, wodurch diese durch die Fliehkraft aus ihren Händen gerissen und mitsamt Schlitten und dem darauf sitzenden Fahrer gegen die Uferböschung geschleudert wurde. Gott sei Dank ist nie etwas Ernsthaftes passiert.
- Zum Ende des Winters gab es ein anderes Spielchen auf dem Teich: Wenn die Schneeschmelze die ca. 20 cm dicke Eisschicht platzen ließ und die Eisschollen sich teilweise übereinander schoben, sprangen die Jungen von Scholle zu Scholle oder fuhren später auf den kleiner werdenden Schollen mithilfe einer Holzstange auf dem Wasser herum. Mehr als einmal ist es vorgekommen, dass so eine Eisinsel auseinander brach, und sie hineinfielen. Nass zu werden, war nicht so schlimm. Wir hatten Übung darin, in die warme Dämpferküche (Futterküche für die Schweine) zu schleichen und dort die Sachen auszuziehen, während einer von uns unbemerkt aus dem Haus trockene Kleidung beschaffte. Was mir Angst machte, war der Gedanke, einer meiner Brüder könnte unter die Eisdecke geraten und ertrinken.
- Erschienen im Insterburger Brief 1/2 2015, aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann geb. Schlack
Meine Zeit als Fahrschülerin (1940-1944)
Aufgrund der Schulstrukturen im Kirchspiel Aulenbach teilte Edeltraut Schlack aus Waldfrieden das Schicksal einiger Kinder des Kirchspiels, die zu weiterführenden Schulen nach Insterburg mit der IKB (Insterburger Kreisbahn) fahren mussten. Der Bericht beschreibt in wunderbarer Weise die Gegebenheiten der damaligen Zeit und ist als Download verfügbar (siehe rechts).
- Meine Fahrschülerzeit mit der Insterburger Kleinbahn von meinem Heimatdorf Waldfrieden zur Schule nach Insterburg erstreckte sich über einen Zeitraum von vier Jahren: von 1940 bis zum abrupten Abbruch im Sommer 1944. Die Größe und Zusammensetzung unserer Fahrschülerschar änderte sich natürlich mit jedem neuen Schuljahr durch Abgänge der Älteren und Neuzugänge der Jüngeren oder einzelner Aulenbacher Privat-schüler, die nach Beendigung der Privatschule die Mittlere Reife oder das Abitur in Insterburg machen wollten. Nicht unerwähnt lassen darf ich die ein oder zwei Jungen der Handelsschule, die ebenfalls zu unserem Kreis gehörten. Wir fuhren stets im letzten Wagen, doch handelte es sich dabei nicht immer um den gleichen Wagentyp. Es gab sowohl Waggons mit einem langen durchgehenden Abteil, in dem wir Schüler nur einen Teil der Fahrgäste ausmachten, als auch welche mit zwei abgetrennten kleineren Coupés, die schon mehr unserem Geschmack entsprachen.
- Der Clou aber war ein ausrangierter ehemaliger Schaffner-/Gepäckwagen, mit dem uns unser lieber Schaffner Breitmoser zu guter Letzt erfreute. Mit den kleinen hochgelegenen Fenstern wirkte er von außen nun wirklich nicht einladend auf die Erwachsenen, sodass wir e n d l i c h einen Platz für uns hatten. Vorne befand sich nur ein Stehpult, und an der Rückwand bildeten u-förmig eingebaute Bänke zwei einladende Sitzecken. Es gab auch einen Ofen, der bei Bedarf von einigen der flotten Schüler befeuert wurde.
- Ein D-Zug war unsere Kleinbahn nun wirklich nicht. Um so viele Dörfer wie möglich mit der „großen weiten Welt“ zu verbinden, hielt sie alle zwei bis drei Kilometer, wurde wegen des eingleisigen Schienen weges auf zwei Bahnhöfen (Buchhof und Horstenau) mit den Zügen aus Liebenfelde bzw. Birken zusammengekoppelt und musste auf zwei Haltestellen (auf der Hinfahrt in Luxenberg, auf der Rückfahrt in Georgenburg) andere Züge vorbeizulassen, wodurch es zu Wartezeiten und unliebsame Verspätungen kommen konnte. So war die Wandschmiererei eines Witzboldes „Blumen pflücken während der Fahrt verboten“ gar nicht so widersinnig. Tatsächlich stiegen wir im Sommer manchmal aus, um auf der Böschung in Georgenburg Erdbeeren oder Blumen zu pflücken, sehr zum Kummer unseres guten Schaffners.
- Die fahrplanmäßige Fahrzeit von 1 1/4 Std. für die rund 20 km weite Strecke von Waldfrieden nach Insterburg konnte nicht immer eingehalten werden. Daher waren es wohl nur die Schüler der Knaben-Mittelschule, die stets rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn da sein konnten. Die anderen Schulen (Mädchen-Mittelschule, Gymnasium, Oberschule für Mädchen, private Handelsschule) lagen viel weiter von der Haltestelle entfernt, und das bedeutete, öfter zu spät zu kommen.
- Insterburg hatte vier Haltestellen: Luxenberg , Below Kaserne, „Kremp“/Gumbinner Straße und den Kleinbahnhof.
- Zur Mädchen-Mittelschule und zum Gymnasium war der Weg vom Kleinbahnhof aus durch den Stadtpark - Treppen runter, Treppen rauf - zwar der kürzeste, aber nicht der schnellste. Denn für die 1,4 Kilometer von „Kremp“ bis zum Kleinbahnhof brauchte die Bahn eine „kleine“ Ewigkeit: Die Gleise lagen auf der Verkehrsstraße, ein Bahnarbeiter lief Streckenweise mit Fahne und Bimmelglocke voraus.
- Sobald sich der Zug morgens der Haltestelle „Kremp“ näherte, begaben sich schon viele der Schüler verbotswidrig auf die Plattform, um so früh wie möglich abzuspringen und los zu rasen.
- Ach, was war der weite Weg zur Schule mit der schweren Tasche, zu der sich bei mir später auch das Akkordeon gesellte, doch beschwerlich! Und selbst bei Wind und Wetter trug ich keinen Regenschutz. Regenkleidung besaß ich nicht, und ein Schirm hätte mich nur beim Laufen behindert. So bin ich oft durchnässt und mit aufgeweichten Schuhen in der Schule angekommen. Ich muss abgehärtet gewesen sein, denn krank bin ich dadurch nicht geworden.(Oder doch? Häufig entzündete Mandeln?)
- Sehr nachteilig wirkte sich das Zuspätkommen bei Klassenarbeiten in der ersten Stunde aus. Da fieberte ich schon von Station zu Station: Werden die anderen Züge pünktlich zum Ankoppeln oder Durchfahren da sein? Die älteren Schüler gingen das Problem viel cooler an, und vor allem die Gymnasiasten fanden es unter ihrer Würde zu laufen. Gegen dieses „Entschuldigen Sie bitte, mein Zug hatte Verspätung!“ konnte sowieso kein Lehrer etwas ausrichten.
- Die Kleinbahn fuhr morgens um 6,30 Uhr in Waldfrieden ab. Von zu Hause bis zur Bahnstation hatte ich etwa 12 Minuten zu gehen oder 8 Minuten zu laufen - und ich musste fast immer laufen. Woran das lag? Sicherlich werde ich das so frühe Aufstehen um 5.30 Uhr hinausgezögert haben. Oft sah ich beim Verlassen des Hauses schon den Dampf der Lokomotive aufsteigen, wenn sie aus dem ca. 2 km entfernten Bruch in Gründann/Tannenfelde Wasser aufnahm. Dann aber nichts wie ab, mitunter quer über die Felder! Trotzdem würde ich manchmal die Bahn nicht mehr erreicht haben, hätte nicht der liebe Schaffner Breitmoser nach mir Ausschau gehalten. Oh weh, und wenn ich dann noch wegen des Dreckweges „Schneeschuhe“ trug (hohe Überziehschuhe aus Gummi mit Druckknopfverschluss), die ich erst ausziehen und auf dem Bahndamm in die „Eisbeerhecke“ werfen musste! Herr Breitmoser stand nervös mit der Trillerpfeife zum Abpfiff bereit, und ich fummelte an diesen blöden Dingern herum...
- Als ich in Pension war und außer den Wochenendfahrten nur noch mittwochs nach Hause fuhr, um meiner Verpflichtung als Jungmädel-Führerin nachzukommen, wurde ich zumindest im Winter mit Pferdeschlitten oder Pferdefuhrwerk zum Bahnhof gebracht. Auch da war ich immer spät dran. Der Kutscher fuhr vor, und ich ließ kostbare Minuten verstreichen. So ließ mich der Zug einmal tatsächlich zurück. Entsetzt sah ich ihn hinter einer Biegung verschwinden, schrieben wir doch gerade an diesem Montag drei Klassenarbeiten. Ich musste hin! Also sagte ich dem Kutscher, einem französischen Kriegsgefangenen, er solle der Bahn zur nächsten Station Buchhof nachjagen, wo sie wegen des Zusammenkoppelns mit dem Schienenfahrzeug aus Liebenfelde ein wenig Aufenthalt zu haben pflegte. Mein Gott, die unbefestigte Landstraße neben den Bahngleisen führte durch einen Hohlweg, absolut zugeschneit und nicht befahren, der Schnee reichte den Pferden bis zur Brust, sie keuchten und waren klatschnass, der Kutscher weigerte sich weiterzufahren, war doch eine Stute hochtragend - ich bestand auf meinen Willen, wir näherten uns dem Bahnhof, wo die beiden Züge im Begriff waren abzufahren, ich schreie, der Schaffner sieht mich, wartet - und mit letzter Anstrengung jagt der Franzose das Gespann über die Gleise, gerät aber ungünstig zwischen die Schienen, der Schlitten kippt um, wir fliegen beide heraus, meine anscheinend nicht geschlossene Schultasche im hohen Bogen hinterher, der ganze Inhalt von Schulbüchern über Brote zu anderen privaten Dingen ergießt sich über die Straße, die aus dem Fenster herausschauenden Schüler lachen, ich raffe alles zusammen, springe ins Abteil - und der Zug fährt ab!
- Na, was war ich auf dieses Husarenstückchen stolz! Als ich jedoch am folgenden Samstagnachmittag abgeholt wurde, zufällig von dem gleichen Franzosen, war der mehr als wortkarg: Der Chef sei sehr böse gewesen, die Stute hätte fast verfohlt (das Fohlen verloren) ... So wütend wie mein Vater diesmal auf mich war, hatte ich ihn noch nicht erlebt - und das nach einer Woche Zeitabstand!
- Wie schon erwähnt, fuhren wir Fahrschüler stets im letzten Wagen und bildeten im Laufe der Jahre eine feste Gemeinschaft. Herr Breitmoser ließ uns manchen Streich durchgehen. Dass er uns aber mit Recht verbot, aus dem fahrenden Zug zu springen oder uns während der Fahrt auf der nur mit zwei eingehängten Ketten abgesicherten Plattform aufzuhalten, mussten meine Cousine Ursel und ich am eigenen Leibe erfahren. Mein Cousine fiel am 4. Juni 1944 bei „Kremp“ auf die Straße und zog sich einen Schädelbasisbruch zu, der im Krankenhaus wegen der nächtlichen Bombenangriffe nicht gänzlich ausgeheilt werden konnte. Sie leidet noch heute unter den Folgeschäden.
- Ich hatte mehr Glück im Unglück. Ich stand verbotenerweise während der Heimfahrt auf der Plattform, mit dem Rücken gegen die primitiv befestigte Kette gelehnt, als die sich plötzlich ausklinkte und mich rücklings herausfallen ließ - auf eine etwa 6 m hohe Böschung knapp vor der hohen, langen Brücke über das weite Instertal zwischen Luxenberg und Georgenburg (oranger Pfeil).
- Zum Glück rollte ich nicht den steilen Hang hinunter, sondern blieb auf dem Rücken auf dem Bahndamm liegen, und - was für ein Wunder! - ich war unverletzt. Geistesgegenwärtig sprang ich auf die Füße, um den anderen Schülern zu zeigen, dass ich o.k. sei. Natürlich dachte ich, der Zug würde sofort anhalten, doch er fuhr weiter.
- Anscheinend hatten weder der Schaffner, noch der Lokomotivführer meinen Sturz bemerkt und die Kameraden den Mund gehalten. Entgeistert sah ich mein Bähnchen hinter einer Biegung verschwinden - mitsamt meiner Schultasche. Da stand ich nun auf freier Strecke ohne Fahrkarte und ohne einen Pfennig Geld. Weit und breit kein Haus und keine Straße in Sicht. Denn gerade hier machte die Bahn einen ganz großen Schlenker durch unbebautes Gebiet. Was nun? Zurück in die Stadt? Bis zu meiner Oma, die an der westlichen Stadtgrenze wohnte, wäre es bestimmt ein Fußmarsch von zwei Stunden gewesen, und das in der sommerlichen Mittagshitze. Zudem hatte ich ja keine Schulsachen für den nächsten Tag dabei, um bei ihr übernachten zu können. Also: Vorwärts, dem Zug nach! Gewöhnlich hatte er in Georgenburg wegen des Gegenzugs einen etwas längeren Aufenthalt, und außerdem glaubte ich ganz fest, er würde nicht ohne mich abfahren.
- Aber erst einmal lag vor mir die langgestreckte Kleinbahnbrücke mit einem Verbotsschild (Sperrgebiet?), und tatsächlich hielt vor der gleich daneben liegenden Großbahnbrücke ein Soldat mit Gewehr Wache. Soldaten behandelten uns Mädchen normalerweise freundlich und zuvorkommend; doch dieser Landser war durch mein Auftauchen aus dem Nichts aufs Äußerste irritiert und misstrauisch. Ich war nur ein paar Schritte in Richtung Brücke marschiert, als mich sein scharfer Anruf zum Stehen brachte. Nein, meine Geschichte nahm er mir nicht ab. Er konnte einfach nicht glauben, dass ich auf der ihm abgewandten Seite aus dem Zug gefallen war und nicht einmal eine Schramme vorzuzeigen hatte. Ebenso unglaublich erschien ihm mein Bestreben, der Bahn nachlaufen zu wollen. Nach vielem Hin und Her - ach, dieser Zeitverlust! - ließ er mich endlich diese verflixte Brücke betreten, doch o weh, sie lag so hoch über dem Fluss, und ich musste von Schwelle zu Schwelle Riesenschritte machen, denn zwischen den Schwellen war nichts - nur tief unten das Wasser. Unter normalen Umständen wäre ich da nie und nimmer hinüber gegangen! Als ich es endlich geschafft und die nächste Biegung erreicht hatte, von wo aus ich die Haltestelle Georgenburg überblicken konnte, sah ich meinen Zug gerade abfahren.
- Nun packte mich wirklich die Verzweiflung. Wo konnte ich jetzt Hilfe erwarten? Der Weg zurück - nun vielleicht doch zu meiner Großmutter - war mir durch die Brücke versperrt, und die vor mir liegende Bahnstation lag mitten auf freiem Feld, also kein Haus, kein Telefon, und ob nun mit oder ohne Fahrkarte, die nächstmögliche Bahnverbindung wäre sowieso erst am Abend gewesen (bis Buchhof) ... Da fiel mir ein, dass ja zwischen dem Bahnhof Georgenburg und Insterburg das Gut Georgenburg mit seinem großen Pferdegestüt lag, wo mein Vater einmal Heiratsvermittler gespielt und den verwitweten Gestütsmeister mit einer Jugendfreundin meiner Mutter zusammengeführt hatte. Also auf! Es war mir zwar äußerst peinlich, mich zu deren Wohnung durchzufragen und als Bittstellerin vor der Tür zu stehen, doch wurde ich auf das herzlichste aufgenommen. Die Frau - Johannchen hieß sie - informierte meine Eltern über das Gutstelefon, und als ich schließlich und endlich um 20.00 Uhr zu Hause ankam, war sogar meine Schultasche da. Vera Haeske aus Mittel-Warkau hatte sie freundlicherweise von der Bahnstation Blüchersdorf aus auf ihrem Fahrrad mitgenommen und mir dann nach Hause gebracht (zusätzliche 2 km je hin und zurück).
- Am folgenden Morgen ging der Schaffner suchend durch die Waggons. Wie war er erleichtert, mich wohlbehalten vorzufinden! Wie ernsthaft hat er mir aber auch die Leviten gelesen!
- Zur Vervollständigung meines Berichtes gehören die schneereichen ostpreußischen Winter, die auch unserer Kleinbahn zu schaffen machten. So konnte es durchaus vorkommen, dass unser Bähnchen trotz der an bestimmten Stellen aufgestellten Schneefangzäune in den Schneemassen stecken blieb und vom Zugpersonal freigeschaufelt werden musste. Ich erinnere mich an einen besonders schneereichen Winter, in dem wir einmal über Stunden zwischen Horstenau und Georgenburg festsaßen und sogar einige Fahrgäste zu Spaten und Schaufel griffen. Selbst ich wollte helfen, hielt ich es aber draußen bei dem eisigen Wind nicht lange aus. Leider wurde es auch im Abteil kälter und kälter...
- Es muss in demselben Winter gewesen sein, als ich meine Insterburger Schulfreundin Waltraud übers Wochenende nach Waldfrieden mitgenommen hatte und gerade da die Bahnverbindung über mehrere Tage hindurch unterbrochen wurde. Nichts ging mehr, auch nicht der Bus auf der asphaltierten Hauptstraße Aulenbach-Insterburg. So waren wir wirklich von der Welt abgeschnitten. Leider konnte meine Freundin, ein Stadtkind, nicht verstehen, dass dadurch nun auch sie gezwungen war, den Schulunterricht zu versäumen. Was war ich daher froh, als nach etwa 3 Tagen wenigstens der Busverkehr wieder einsetzte und mein Vater sie mit dem Pferdeschlitten zu der ca. 5 km entfernten Haltestelle Guttaweitschen (Abzweigung von der Asphaltchaussee nach Schackenau) bringen konnte!
- Im Winter waren die Bahnfahrten doch recht beschwerlich. Daher blieben einige der Fahrschüler während der kalten Jahreszeit in der Stadt und fuhren nur zum Wochenende nach Hause. Nachem ich im ersten Jahr „alle Freuden“ der winterlichen Zugfahrt erlebt hatte, „überwinterte“ auch ich in Insterburg, und zwar bei meiner Oma in der Siehrstraße.
- Überhaupt war die Bahnverbindung für uns Fahrschüler der Haltestellen zwischen Buchhof und Kreuzingen höchst unbefriedigend. Es verkehrten nur zwei Zugpaare, die täglich je einmal hin- und zurückfuhren:
- ZUG I. (von uns Schülern benutzt)
Haltepunkt | Uhrzeit | Haltepunkt | Uhrzeit | |
---|---|---|---|---|
Kreuzingen | ab 05:36 Uhr | Insterburg | ab 13:35 Uhr | |
Waldfrieden | ab 06:30 Uhr | Waldfrieden | ab 15:00 Uhr | |
Insterburg | an 07:48 Uhr | Kreuzingen | an 15:45 Uhr |
- ZUG II.
Haltepunkt | Uhrzeit | Haltepunkt | Uhrzeit | |
---|---|---|---|---|
Insterburg | ab 09:05 Uhr | Kreuzingen | ab 12:05 Uhr | |
Waldfrieden | ab 10:21 Uhr | Waldfrieden | ab 13:02 Uhr | |
Kreuzingen | an 11:17 Uhr | Insterburg | an 14:21 Uhr |
- Nach dem Mittagszug um 13,45 Uhr hatten wir also keine Verbindung mehr nach Hause. Es gab zwar einen Abendzug, doch handelte es sich um den nach Liebenfelde, und der bog bereits in Buchhof in Richtung seines Heimatbahnhofs ab. Benutzte ich diese Schienenfahrzeug in dringenden Fällen, musste ich demnach schon eine Station vor Waldfrieden aussteigen und die restlichen Kilometer zu Fuß gehen: auf einem absolut einsamen, abgelegenen Bahndamm ohne Rufnähe zu irgendeinem Gehöft. Ja, ich hatte Angst, hauptsächlich bei Dunkelheit und ganz besonders nach der Ermordung eines Ehepaares in Lindenhausen durch einen Kriegsgefangenen.
- Keine geeignete Zugverbindung am Abend zu haben, bedeutete, an keiner Nachmittagsveranstaltung der Schule oder der Klassenkameradinnen teilnehmen zu können wie Schulturnen, Schwimmen, Kathechumenen-/ Konfirmandenunterricht, Besuch der Eisdiele oder des Kinos und vieles mehr. Besonders ungünstig war das Fehlen bei den Sportstunden. So mussten wir Fahrschüler einmal den vorgeschriebenen 50 m–Lauf nach Schulschluss in normaler Kleidung auf dem harten Boden des Neuen Marktes absolvieren.
- Um es kurz zu machen: Nachdem meine Waldfriedener Jugendfreudin Hannelene schon lange in Pension gegangen war und mir von den Vorteilen des Stadtlebens vorschwärmte, suchte auch ich mir eine passende Bleibe: nicht zu weit von der Stadtmitte entfernt und mit Mädchen meines Alters. Es traf sich gut, dass die Mutter einer Klassenkameradin eine Schülerpension in der günstig gelegenen Belowstraße hatte, wo bereits vier andere Schülerinnen wohnten. Insgesamt waren wir nun ein Kreis von sechs unternehmungslustigen Mädchen. Der Pensionspreis betrug 72,- RM, auch während der Ferien zu zahlen.
- Ob nun „ in Pension“ oder nicht, ich blieb immer ein Teil der Fahrschülergemeinschaft, die sich in dem ehemaliigen Schaffner-/Gepäckwagen äußerst wohl fühlte. Die Gruppe war klein geworden. Viele der älteren Fahrschüler/-innen waren nicht mehr da und bereits Soldat oder anderweitig dienstverpflichtet. Doch: Je kleiner der Kreis, desto größer der Zusammenhalt. Es bildeten sich Freundschaften.
- Völlig unerwartet endete die Fahrschülerzeit im Sommer 1944. In den Sommerferien wurden wir von der Nachricht überrascht, dass der Insterburger Schulbetrieb nach Ende der Ferien nicht mehr aufgenommen werden würde. Und es dauerte nicht lange, bis wir infolge der Kriegsereignisse in alle Himmelsrichtungen verstreut wurden. Es gelang mir aber überraschenderweise nach Kriegsende, ein paar der Ehemaligen wieder zu finden, und ich schätze mich glücklich, zu zweien von ihnen noch heute nach rund 70 Jahren in echt freundschaftlicher Verbindung zu stehen.
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, 06.2013
Konfirmation ( 1944 )
- Während Volksschüler schon mit vierzehn Jahren konfirmiert wurden - die Konfirmation war auch das Ende der Schulzeit - konnten Schüler höherer Schulen ihre "Einsegnung" nach Belieben ein bis zwei Jahre hinausschieben. Von dieser Möglichkeit machte ich Gebrauch, ebenso meine beste Freundin Hannelene Hüber, Tochter des Waldfriedener Dorfschullehrers.
- Da ich in Insterburg nicht nur zur Schule ging, sonder dort auch "in Pension" war und nur am Wochenende zu meinen Eltern nach Waldfrieden fuhr, absolvierte ich den Konfirmandenunterricht an der Insterburger Lutherkirche, die als einzige Kirche auswärtige Schüler aufnahm und sie dann auf Wunsch zur Konfirmation in die jeweilige Heimatkirche entließ. Meine Heimatkirche war die in Aulenbach, wo ich auch die sonntäglichen Gottesdienste besuchte. Zwei Kirchenbesuche pro Monat waren Pflicht. Die Anwesenheit musste in einem Heftchen nachgewiesen werden.
- Der kürzeste Weg von Waldfrieden nach Aulenbach war ohne Zweifel der knapp fünf km lange Bahndamm, der trotz Verbotes von Fußgängern und Radfahrern benutzt wurde, so auch von mir. Nein, als Konfirmandin bin ich nicht gerne nach Aulenbach in die Kirche gefahren, nicht nur, weil mich beim Durchqueren des Gründanner Wäldchens immer ein unbehagliches Gefühl beschlich, sondern weil ich in der Kirche (auf der linken Empore) stets ganz allein saß. Meine Freundin Hannelene ging nämlich zu den "Pflichtgottesdiensten" in die Insterburger Lutherkirche, und zu den zwei Jahre jüngeren Konfirmanden von Aulenbach hatte ich keinen Kontakt
- Der Konfirmandenunterricht erstreckte sich über zwei Jahre. Ostern 1944 nahte und Hannelene und ich mußten beim Aulenbacher Pfarrer wegen der Konfirmation vorstellig werden. Superintendent Bernecker lehnte es ab, uns zwei fast Sechzehnjährige in die Reihe seiner Konfirmanden einzureihen, denn wir hätten mit ihnen ja nichts Gemeinsames gehabt und würden weder im Alter noch in der Kleidung zu ihnen passen. er erklärte sich jedoch bereit, uns seperat an dem davorliegenden Sonntag einzusegnen.
- Der Sitte entsprechend, hatten Hannelene und ich für die Konfirmation weiße und für die Prüfung und das erste Abendmahl (Lutherkirche) dunkle Kleider bekommen. Es gab jedoch auch Mädchen, die zu allen drei Anlässen in Schwarz gingen. In Aulenbach trugen in diesem Jahr alle Konfirmanden Schwarz, und so war es eine kluge Entscheidung des Pfarrers, uns zwei allein zu konfirmieren
- Hannelene und ich fuhren recht "herrschaftlich" zur Kirche, Hübers in dem von uns samt Kutscher ausgeliehenen "Landauer", wir selbst in einem von meinem Stiefvater Max Brandstäter für diesen Anlass organisierten Coupé, also in einem geschlossenen Wagen, in dem es recht heimelig war. Denn an Ostern pflegte es in Ostpreußen noch kalt zu sein, und Aulenbach lag rund sechs Kilometer entfernt. Der Gottesdienst war gut besucht. Hannelene und ich hatten da vorne am Altar die ganze Aufmerksamkeit der Gemeinde für uns alleine. Leider, leider musste ich bei den an mich gerichteten Worten des Pfarrers vor lauter Rührseligkeit anfangen zu weinen und konnte vor lauter Schluchzen kaum meinen Einsegnungsspruch aufsagen. Superindendent Bernecker kannte meine Familie. Was gab es nicht alles anzuführen : meine Taufe in dieser Kirche, die Beerdigung meines Vaters, die zweite Eheschleßung meiner Mutter, die beiden Konfirmationen meiner Brüder, der Gedenkgottesdienst für meinen gefallenen Bruder Egon - und nun auch mein zweiter Bruder Herbert als Soldat im Krieg ....
- Meine Konfirmation im März 1944 war das letzte große Fest in Waldfrieden. Natürlich reichte es bei weitem nicht an die Konfirmation meiner Brüder 1935 und 1937 heran, doch boten meine Eltern noch einmal alles auf, was im 5. Kriegsjahr möglich war. Zu den Gästen zählte auch Dr. Wilcke, der Chefarzt der ins Moorbad Waldfrieden verlegten Außenstelle des Insterburger Kreiskrankenhauses. Eine echte Fröhlichkeit konnte aber nicht aufkommen, dafür waren schon zu viele Soldaten gefallen oder vermisst und die Frontnachrichten zu bedrückend.
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, 30.11.2012
Eine Reise in die Gegenwart - Über Riga auf Spurensuche in Waldfrieden
- Nachdem ich 1999 völlig orientierungslos in der Wildnis zwischen Buchof und der Droje die Suche nach etwaigen Resten meines Heimatdorfes Waldfrieden abgebrochen hatte, wollte ich es im Sommer 2012, jetzt 84-jährig, noch einmal wagen, diesmal aber mit Kompass, Landkarte und Google Maps besser ausgerüstet. Die treibende Kraft und der Planer der zehntägigen Reise war mein Schwiegersohn Uwe, der übers Internet alles bestens organisieren konnte. So bin ich mit viel Gottvertrauen Ende Juli mit Tochter Anja, besagtem Schwiegersohn und siebenjährigem Enkel von Baden-Baden per Flugzeug nach Riga / Lettland geflogen, dem Ausgangspunkt unserer Reise.
- Die Suche nach "meinem" Waldfrieden war das Ziel, aber auch die größte Herausforderung dieser Reise. An Georgenburg vorbei (Hotel ausgebucht) ging es mit einem russischen Mietauto in Richtung Aulenbach. Auf der ca. 15 km langen Strecke begegneten wir keinem Fahrzeug und sahen keine Menschen. Plan A über Mittel-Warkau nach Waldfrieden zu kommen, gaben wir auf, als uns bewußt wurde, dass die ehemaligen, größtenteils doch unbefestigten Wege, wegen der Baumreihen zu beiden Seiten nach so vielen Jahren nun besonders dicht, zugewachsenes, unpassierbares Gelände waren, was wir auf den Google Maps nicht erkannt hatten. Auch Plan B, zu Fuß von Buchhof über den Bahndamm nach Waldfrieden zu kommen, war wegen undurchdringbaren Gestrüpps nicht durchführbar. Also Kehrtwende nach einigen Metern.
- Jetzt blieb nur noch Plan C über die einstige Kies-Chaussee von Tobacken nach Waldfrieden. Chaussee? Schon nach 50m ging es mit dem Auto nicht mehr weiter. So kämpften wir uns zu Fuß durch Pfützen und Gestrüpp, trotz Besprühens mit Autan verfolgt und gestochen von einem Heer von angriffswütigen Mücken und Bremsen - in der Nacht zuvor hatte es nämlich geregnet, alles war nass. Es galt, den einzigen Übergang über die Droje und somit einzigen Anhaltspunkt für Waldfrieden zu finden, nämlich eine kleine, von Moos und Stäuchern überwucherte Steinbrücke.
- Plötzlich Wasser neben uns : die Brücke! Wir hatten Waldfrieden erreicht! Nun meiner Erinnerung nach etwa 30m geradeaus, wo früher eine Kreuzung gewesen war, dann nach rechts abgebogen und weiter durch nasses, mannshohes Unkraut, das uns jede Sicht nahm - immer nur meinem Gespür folgend: rechts war früher das Schulhaus gewesen, links hatten Fleiß´ und Perlbachs / Zerullas gewohnt, dann der Bahnhof, der Bahndamm, dahinter unser Land .... Erschütternd: von dem ehemaligen Waldfrieden konnten wir nichts, aber auch gar nichts mehr wahrnehmen. Ausgelöscht! Da - ein Wunder! - plötzlich vor uns ein einzelnes Weizenfeld, gerade dort, wo einst unsere Felder gewesen sein müssen. Wir können es nicht fassen! Es war und wird uns wohl ein Rätsel bleiben, wie diese einsamme Weizenfeld in diese so verlassene Wildnis kam.
- Doch war es gerade dieses nicht sehr hohe, darum überschaubare Getreidefeld, das es uns ermöglichte, bei dem nun stärker einsetztenden Regen weiter nach dem Platz meines ausradierten elterlichen Bauernhofes (Brandstäter/Schlack) zu suchen. Es war vor allem mein Schwiegersohn, stets mit dem 7-jährigen im Gefolge, der nicht aufgeben wollte und der , eifrig Messtischblatt und Google Map mit dem Gelände vergleichend, tatsächlich hinter Gebüsch den Zufluss der Droje fand, der früher direkt hinter unserer Scheune entlang geflossen war. Der Verlauf des Bächleins überzeugte mich: Hier hatte unser Bauernhof gestanden! Hier hatte ich am 19. Januar 1945 die an der Droje entlang laufenden deutschen Soldaten gesehen, die mir zuriefen, dass der Russe bereits in Aulenbach sei und wir nicht mehr wegkämen!
- Aufgeschrieben von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack, 30.11.2012
Bildmaterial
Wir suchen noch Fotos von Gerlauken, Waldfrieden (Kreis Insterburg) oder Moorbad Waldfrieden für eine Veröffentlichung an dieser Stelle. Sollten Sie Bilder oder interessante Informationen haben, würden wír uns über eine Kontaktaufnahme freuen :
info@kirchspiel-aulenbach.de
Der vorherigen Ortsplan und die Skitze von Waldfrieden im Jahre 1939 wurden von ehemaligen Bewohnern aus dem Gedächtnis erstellt, die vorliegenden Pläne (rechts) stammen aus dem Besitz von Edeltraut Tauchmann, geb. Schlack. Sie hat diesen Ortsplan Mitter der 1990iger Jahre erstellt, bei den Namen der Bewohner waren Ihr Elli Bender, geb. Petrauski (Dorf Waldfrieden) und Waltraud Paeger, geb. Borchert (Tochter des Bademeisters Borchert) eine massgebende Hilfe. Die Ortspläne sind nicht Maßstabsgetreu und die Namenslisten können unvollständig sowie fehlerhaft sein.
Kartenmaterial
Dokumente
Ortsverzeichnis Kirchspiel Aulowönen/Aulenbach (Ostp.)
Genealogische und historische QuellenQuellen
[Koordinaten:] * Lindicken (Ostp.) Ksp. Aulowönen auf der Webseite Google maps 2014
Standesamtunterlagen / Zivilstandsregister (ab 1874)Das für Waldfrieden zuständige Standesamt war ab 1888 gemäß der Zuordnung des AGOFF das StA Gross Aulowönen. Die Bestände sind teilweise, trotz Kriegseinwirkungen, erhalten und seit 2015 digitalisiert worden. Sie können gegen Gebühr (Mitgliedschaft) bei Ancestry unter StA Gross Aulowönen eingesehen werden.
KirchenbuchbeständeDie für Lindicken zuständige evangelische Kirchengemeinde war Aulowönen / Aulenbach (Ostp.). Viele Bestände wurden im Digitalisierungsprojekt “Archion” der deutschen evangelischen Kirchen online gestellt, leider keine Bestände aus Aulowönen. Es gibt jedoch ebenfalls gegen Gebühr (Mitgliedschaft) bei Ancestry unter Gross Aulowönen einsehbare Bestände. Außerdem befinden sich einige Unterlagen im Sächsischen Staatsarchiv in Leibzig, siehe auch Ostpreußen/Genealogische Quellen/Kirchbuchbestände Landkreis Insterburg
Adressbücher
Bibliografie
Genealogische Bibliografie
In der Digitalen Bibliothek
Verschiedenesnach dem Ort: Waldfrieden (Ostp.)
WeblinksOffizielle WebseitenGOV-Kennung : WALDE2KO04VS [12]
ZufallsfundeOft werden in Kirchenbüchern oder anderen Archivalien eines Ortes Personen gefunden, die nicht aus diesem Ort stammen. Diese Funde nennt man Zufallsfunde. Solche Funde sind für andere Familienforscher häufig die einzige Möglichkeit, über tote Punkte in der Forschung hinweg zu kommen. Auf der folgenden Seite können Sie Zufallsfunde zu diesem Ort eintragen oder finden. Bitte beim Erfassen der Seite mit den Zufallsfunden ggf. gleich die richtigen Kategorien zuordnen.
Private Informationsquellen- und SuchhilfeangeboteAuf der nachfolgenden Seite können sich private Familienforscher eintragen, die in diesem Ort Forschungen betreiben und/oder die bereit sind, anderen Familienforschern Informationen, Nachschau oder auch Scans bzw. Kopien passend zu diesem Ort anbieten. Nachfragen sind ausschließlich an den entsprechenden Forscher zu richten.
Daten aus dem genealogischen Ortsverzeichnis<gov>WALDE2KO04VS</gov>
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