Benutzer:Arend/Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie/E-Book

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Lehrbuch


der gesammten wissenschaftlichen


Genealogie.


Stammbaum und Ahnentafel

in ihrer

geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen

Bedeutung


von


Dr. Ottokar Lorenz

Professor der Geschichte.



<VERLAGSSIGNET>



Berlin.

Verlag von Wilhelm Hertz

(Bessersche Buchhandlung).

1898.

Vorwort.




      Vor mehr als hundert Jahren hat Gatterer in Göttingen zum Gebrauche seiner Vorlesungen ein Lehrbuch der Genealogie geschrieben. Seitdem hat dieser Gegenstand, abgesehen von einigen encyklopädischen Artikeln und einigen auf den praktischen Betrieb familiengeschichtlicher Studien gerichteten Anweisungen und Behelfen, keine systematische Behandlung mehr erfahren. Vielmehr sind selbst die noch bis etwa in die Mitte des Jahrhunderts hie und da fortgesetzten Vorlesungen über Genealogie an den Universitäten ganz außer Gebrauch gekommen. Endlich ist auch in der Litteratur, wie im Unterricht, alle genealogische Grundlegung geschichtlicher Entwickelungen, oft bis zur vollständigsten Vernachlässigung selbst des einfachsten Zusammenhangs von Generationen und Familien, aufgegeben worden.

      Indem ich den Versuch gemacht habe, die Genealogie als Wissenschaft in ihren gesammten Beziehungen zu historischen, gesellschaftlichen, staatlichen, rechtlichen und vor allem auch naturwissenschaftlichen Fragen und Aufgaben systematisch darzustellen, muß ich es dem Leser des Buches selbst überlassen, sich ein Urtheil über den bemerkten Mangel jetziger und über die zu erwartenden Aussichten und Vortheile künftiger Studien in dieser Richtung zu bilden.

      Wenn man indessen nach den Ursachen forschen wollte, welche den Fortschritt des genealogischen Studiums hauptsächlich

verhinderten, so dürfte man nicht leugnen, daß dieselben auch zum großen Theile in der Art und Weise der Behandlung dieser Disziplin zu suchen waren. Sie ist zweimal im Laufe ihrer litterarischen Entwicklung auf Abwege gerathen, durch die sie Dienerin thörichter Vorurtheile geworden ist. Die genealogische Gelehrsamkeit hat zuweilen dem Schwindel politischer und persönlicher Eitelkeit nachgegeben und ist zum andernmal zu einem Spielzeug unkritischer Liebhabereien herabgesunken. Manche haben behauptet, daß selbst bedeutende Familien durch falsche genealogischen Lehren zu politischen Irrthümern verleitet worden seien, und andere haben auf die Gefahren aufmerksam gemacht, welche dem Ernst der Wissenschaft durch den Dilettantismus eines der Geschichte verwandten Studiums drohen könnten.

      Indessen sind Abwege auch bei der Geschichte anderer großer Disciplinen, wie etwa Astronomie und Chemie, wahrzunehmen gewesen. Wird es heute jemand einfallen, die Berechnung der Nativitäten, oder die Goldmacherkunst, die selbst von den größten Gelehrten betrieben wurden, zu einem Vorwurf gegen diese Wissenschaften selbst auszubeuten? Wenn sich aber in angesehenen biographischen Werken etwa von einem Manne, wie Philipp Spener, eine in jeder anderen Beziehung zu rühmende Darstellung findet, in der jedoch nur seiner genealogischen Verdienste eben mit keinem Worte gedacht ist, so muß man vermuten, daß dieser Wissenschaft in einem großen Kreise der gelehrten Welt die ihr gebührende Würdigung nicht mehr zu Theil wird.

      Und dennoch ist man in mannigfachen Zweigen psychologischer und naturwissenschaftlicher, sowie soziologischer Disziplinen heute ohne Zuthun des historischen Betriebs mehr und mehr in einer genealogischen Richtung thätig. Von Vertretern eben dieser

Wissenschaften sind Wünsche ausgesprochen worden, mehr historisches Material zu besitzen, um die Aufgaben lösen zu können, die sich von ihrem Standpunkte erheben. Ich leugne nicht, daß zunächst meine Hoffnungen eben auf diese Kreise am meisten gerichtet sind, wenn ich erwarte, daß den genealogischen Studien ein neues Zeitalter sich eröffnen werde und müsse.

      Bis dahin kann man indessen jenen Bestrebungen nicht genug Dank und Aufmerksamkeit zuwenden, welche in selbstgewählter Thätigkeit und durch private Veranstaltungen sich bemühen, dem genealogischen Studium Arbeiter und Freunde zu erwerben, wie die beiden Vereine „Adler“ in Wien und „Herold“ in Berlin, welchem letzteren ich dieses Werk seit Jahren zugedacht habe und hiermit auch zueigne. Möchte das gute Beispiel, welches in diesem Augenblicke in Berlin durch die von der Adelsgenossenschaft veranstalteten Vorlesungen über Genealogie gegeben worden ist, recht befruchtend wirken! In nicht allzuferner Zeit werden sich ja doch Regierungen, die für die Interessen der Wissenschaft thätig sind, entschließen müssen, das dicke Scheuleder der Fakultäten zu durchbrechen und etwas für die Wiederaufnahme genealogischer Studien zu thun.

      Von meinem Theile kann ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen ohne zu bekunden, daß ich bei zahlreichen Vertretern wissenschaftlicher Zweige, deren ich in vielen einzelnen Fällen annerkennungsweise zu gedenken hatte, und die ich bitte, hier ein für allemale meinen Dank entgegen zu nehmen, auch heute schon ein sehr entschiedenes Interesse für die Fragen wahrgenommen habe, zu deren Lösung die Genealogie einiges beitragen möchte.

      Auch fand mein Versuch bei einem jungen tüchtigen Vorkämpfer genealogischer Forschung, Ernst Devrient, mitarbeitende Theilnahme.

      Und so geht dieser genealogische „Gatterer“ nach hundert Jahren neuerdings mit Wunsch und Erwartung in die Welt, im nächsten Jahrhundert doch noch eine Renaissance zu sehen.

      Rom, im December 1897.

 
O. Lorenz.

Inhalts-Verzeichniß.




Einleitung.

Genealogie als Wissenschaft.
  Seite
Begriff der Genealogie
Stellung der Genealogie in den Wissenschaften überhaupt
Genealogie und Geschichte
Genealogie, Staatswissenschaft, Gesellschaftslehre, öffentliches und privates Recht
Genealogie und Statistik
Genealogie und Naturwissenschaft
Genealogie und Zoologie
Genealogie, Physiologie und Psychologie
Genealogie und Psychiatrie
Die Genealogie und der historische Fortschritt
Schlußbetrachtung


Erster Theil.

Die Lehre vom Stammbaum.
Erstes Capitel. Genealogische Grundformen [GWR 1]
Zweites Capitel. Die Stammtafel in formaler Beziehung
  A. Abstammung
  B. Generationsfolge der Stammbäume
  C. Thatsächliche Mittheilungen auf der Stammtafel in Bezug auf die einzelnen Personen
  D. Genealogische Bücher
  Nachtrag zu Seite 92–94
Drittes Capitel. Der Inhalt der Stammtafel
  Die Verwandtschaftsverhältnisse des Stammbaums
  Verwandtschaftsberechnung
  Die individuellen Verhältnisse des Stammbaums
  Auswahl des Stoffes und besondere Arten
    a) Historisch-politische Stammtafeln
  b) Rechtliche und standschaftliche Stammbäume
  c) Stammbäume zum Gebrauche der Naturwissenschaft
Viertes Capitel. Von dem Beweise der Genealogischen Tafeln
  1. Urkunden
  2. Den Urkunden gleichgeachtete Schriften
  3. Denkmäler
  4. Geschlechts-, Geschichts-, Wappen- und andere Bücher
  Besondere kritische Fragen
  I. Allgemeine Erwägungen
  II. Rechte und Titel, aus ständischen Verhältnissen hergeleitet
  III. Personen- und Familiennamen
  IV. Hülfswissenschaften
  Alphabetisches Verzeichniß von Wörtern, die Abstammung, Verwandtschaft u. dgl. bestimmen
  Beispiele für Aufstellung von Stammtafeln




Zweiter Theil.

Die Ahnentafel.
Erstes Capitel. Form und Inhalt der Ahnentafel
    Abweichungen im Gebrauch und in den Formen der Ahnentafel
  Allgemeine wissenschaftliche Ahnentafeln
  Ueber eine zweckmäßige Bezifferung der Ahnen
Zweites Capitel. Ahnenprobe und Ebenbürtigkeit
  A. Die Ebenbürtigkeit im gemeinen deutschen Rechte
  B. Der Stiftsadel
  C. Die Ahnenprobe in Ritterorden und bei Hofe
  D. Hausgesetze
  E. Staatsverträge
  Schlußbemerkung über die heutige Lage
  Beilage I. Instruction für die Legung der Ahnenprobe bei dem hohen Deutschen Ritterorden
  Beilage II. Deduction bei der Ahnentafel von 16 Ahnen des um die Aufnahme in den hohen Deutschen Ritterorden aspirirenden Herrn Eduard Grafen und Freiherrn von Steinberg und Kroissenbach
Drittes Capitel. Das Problem des Ahnenverlustes [GWR 2]
  Beschreibung der Ahnentafel Kaiser Wilhelm II.
Viertes Capitel. Bevölkerungsstatistik und Ethnographie [GWR 3]

Dritter Theil.

Fortpflanzung und Vererbung.
    Probleme. Seite
Erstes Capitel. Vater, Mutter und Kinder
  Schematische Darstellung des Befruchtungsvorganges
  Abstammung und Kinderzeugung
Zweites Capitel. Erblichkeit und Variabilität [GWR 4]
Drittes Capitel. Vererbung und Familie (Familienbegriff)
Viertes Capitel. Psychische und moralische Vererbung
Fünftes Capitel. Vererbung pathologischer Eigenschaften
Sechstes Capitel. Leben und Tod
  A. Ueber den Begriff der Inzucht
  B. Aussterben der Geschlechter






Einleitung.


Genealogie als Wissenschaft.




Begriff der Genealogie.

      Die Erkenntnis von dem Zusammenhange lebender Wesen in Folge von Zeugungen der einen und Abstammung der andern kann im allgemeinsten Sinne als die Grundlage alles dessen angesehen werden, was unter Genealogie zu verstehen ist. Sie umfaßt in dieser weiten Bedeutung des Wortes die gesammte geschlechtlich fortgepflanzte Thierwelt und findet ihre Anwendung in Bezug auf alle Gattungen und Arten derselben. Für die objektiv wissenschaftliche Betrachtung bietet sich jedes geschlechtlich erzeugte Wesen als Gegenstand genealogischer Forschung dar und jede Erforschung des Lebens erlangt unter diesem Gesichtspunkte den Charakter einer genealogischen Wissenschaft. Indessen ergiebt sich zwischen den Objekten der auf Zeugung und Abstammung gerichteten genealogischen Betrachtung ein wesentlicher Unterschied in Folge des Bewußtseins des Zusammenhangs zwischen Erzeugern und Erzeugten. Das Thier erkennt seine Eltern vermöge des Bedürfnisses der eigenen Lebenserhaltung während eines Zeitraums, dessen Dauer von der Höhe der Entwicklung seiner Gattung abhängig ist, aber erst beim Menschen beginnt eine von dem unmittelbaren Trieb des Lebens unabhängige Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Eltern und Kindern: In der Stufenfolge organischer Wesen gelangt man endlich zu gewissen Arten von Menschen, welche sich durch das allgemein vorhandene genealogische Bewußtsein von den Thieren und wahrscheinlich auch von andern Arten deutlich unterscheiden lassen, die nach sonstigen Eigenschaften ihnen menschlich nahe verwandt erscheinen mögen. Eine sichere anthropologische Kenntnis davon, bei

welchen Arten von Menschen, unter welchen Rassen und Himmelsstrichen das genealogische Bewußtsein sich entwickelte, ist zur Zeit nicht vorhanden. Man kann nur sagen, daß überall da, wo sich unter Menschen Erinnerungen an vergangene Menschen bewahren, genealogisches Bewußtsein vorhanden ist, und daß daher die ältesten geschichtlichen Ueberlieferungen, die bei den verschiedensten Völkern gefunden wurden, meistens genealogischer Natur waren. Die Genealogie im engeren und eigentlichen Sinne setzt mithin das Vorhandensein des genealogischen Bewußtseins jener besonderen Wesen voraus, deren Zusammenhang unter einander auf Erzeugung und Abstammung erkannt werden soll. Die Genealogie als Wissenschaft kann nur von denjenigen Lebewesen gedacht werden, die die Vorstellung von Eltern und Kindern in der Besonderheit der Fälle zu erhalten gewußt haben. Sie setzt voraus, daß das Individuum in seiner Abstammung von Individuen erkannt worden ist und begnügt sich nicht mit einer Erkenntnis des Zusammenhangs und der Entwicklung von Arten überhaupt.

      Im Gegensatze zu dem Gattungsbegriff und seiner Evolution steht die Genealogie auf dem Individualbegriff und alle von ihr zu beobachtende Entwicklung kann nur im collectiven Sinne verstanden werden. Sie hat es nicht mit dem Menschen überhaupt, sondern mit den geschichtlich handelnden, durch Zeugungen fortgepflanzten Personen zu thun, die sich des Zusammenhanges von Eltern und Kindern bewußt geworden und zur Erkenntnis einer Reihe zeitlich entwickelter Thatsachen gekommen sind, welche durch die Geburt und den Tod jedes einzelnen Individuums deutlich erkennbar begrenzt sind. In dieser Abfolge von Ereignissen bilden sich die Erinnerungen des geschichtlichen Menschen als Wirkungen von Lebensaltern oder Generationen, und das sich erhaltende und stets erneuernde Bewußtsein von Abstammungsreihen, die Erkenntnis immer wiederholter und neu geborener Generationen von Vätern, Söhnen und Enkeln ist hinwieder das Kennzeichen von gewissen Menschenarten, die man zum Unterschiede von allen andern Lebewesen den Geschichtsmenschen nennen darf. Wo immer der Naturforscher in Rücksicht auf die Eigenschaften der gesammten Thierwelt das unterscheidende in den Arten aufsuchen und feststellen mag,

unter allen Umständen wird er an eine Grenze gelangen, wo das genealogische Bewußtsein unter den Menschenarten zuerst auftritt und die Erkenntnis der Geschlechtsreihen im Gegensatze zur Thierwelt in lebendiger Vorstellung forterbt. Kann er in den natürlichen Vorgängen der Fortpflanzung zwischen den geschlechtlichen Zeugungen keinen wesentlichen Unterschied bemerken, so tritt in dem Bewußtwerden des genealogischen Begriffs ein Individuum hervor, dessen Wirkungen mit denen keiner andern Art von Lebewesen vergleichbar sind. In diesem Sinne erscheint das Auftreten des genealogischen Bewußtseins unter den Menschen nicht bloß als ein Hilfsmittel, welches die geschichtliche Erinnerung begleitet oder erleichtert, sondern vielmehr als die Ursprungsquelle alles geschichtlichen Lebens und Denkens.

      Es ist daher ganz richtig, wenn schon der alte Gatterer, der sich rühmen durfte, der erste gewesen zu sein, welcher ein systematisches Buch über die Genealogie geschrieben, sagte: „Genealogie gab es eher unter den Menschen als Geschichte.“ Und mit gleichem Rechte hob er es als besonders merkwürdig und bezeichnend hervor, daß man, sobald der Gedanke von Genealogie in der Menschenseele erwacht war, sofort darauf verfiel, Stammtafeln der Götter zu machen, bevor man noch Stammtafeln der Menschen besaß. Selbst die Weltschöpfung, die man personifizirte, konnte nur genealogisch gedacht sein; in der That eine frühzeitige Ahnung der Völker davon, daß hier etwas notwendiges und gesetzliches zu Grunde liege, welches keinen anderen historischen Vorstellungen und Erinnerungen in gleichem Maße zuzukommen schien. Denn was man auch von Menschen und ihren Erlebnissen und Handlungen sonst wissen und erzählen konnte, etwas gleich sicheres, stets wiederkehrendes, durchaus gesetzmäßiges, wie Geburt und Tod, wie die Aufeinanderfolge der Geschlechter, wie Zeugung und Abstammung ist bei Beobachtung aller den Menschen betreffenden und vom Thun der Menschen abhängigen Ereignissen nicht zu erkennen gewesen. Seit den urweltlichen Zeiten des entstandenen menschlichen Bewußtseins drängte sich die genealogische Erkenntnis als ein etwas der Erfahrung auf, das sich als dauerndes im Wechsel der Erscheinungen erweisen mußte. In diesem Sinne gehörte die Genealogie zu

den ältesten Erfahrungen des Menschengeschlechts, denen in der Einfachheit ihrer Sätze der Charakter einer Wissenschaft nicht abzusprechen war, denn was sie feststellte, beruhte auf der allgemeinen und unbedingten Giltigkeit ihrer Erkenntnisse, gleichwie die Wahrheiten des Sternenlaufes und die Beobachtungen an Sonne und Mond. Gleichwie sich die astronomischen Wissenschaften als Erbtheil der ältesten Völker aus der Beobachtung des Weltalls ergeben haben, so entwickelte sich die Genealogie als ein Ergebnis der Betrachtung des menschlichen Daseins. Es bedarf nicht erst des Hinweises auf das Schriftthum, das seit Moses zu Gebote steht.

      Die Genealogie ist in diesem ursprünglichsten Sinne mithin die Wissenschaft von der Fortpflanzung des Geschlechts in seinen individuellen Erscheinungen. Sie erhält ihren vollen Inhalt und ihr eigentliches Gepräge durch die Beobachtung eben des in seinen persönlichen Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen erkannten Menschen selbst, der in Rücksicht auf seine physischen, geistigen und gesellschaftlichen Eigenschaften einer Reihe von Veränderungen unterliegt, deren Erkenntnis im einzelnen zwar zu den Aufgaben anderer selbständiger Wissenszweige gehört, an deren Grenzen jedoch die Genealogie diejenigen Ursachen und Wirkungen untersucht, welche sich auf Zeugung und Abstammung des Individuums in seiner Besonderheit beziehen.


Stellung der Genealogie in den Wissenschaften überhaupt.

      Eine sehr verschiedene Bedeutung gewinnt die Genealogie durch ihre Beziehungen zu der Gesammtheit der Wissenszweige. Auf sich selbst gestellt und in sich beruhend erscheint die Genealogie nur da, wo sie in der Darstellung lediglich die Thatsachen individueller Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse berücksichtigt. Wendet sie sich dagegen zur Betrachtung der Natur und des Wesens der Erzeugten, so tritt sie in vielfache Beziehungen zu einer Reihe von Wissenschaften, deren Untersuchungen sich nur zum Theile mit den Aufgaben der Genealogie decken werden, denen sie jedoch

überall hilfswissenschaftlich zur Seite stehen kann. So läßt sich die Genealogie ihrem Begriff und Wesen nach in zwei Hauptrichtungen gliedern, je nachdem man ihre formale Seite in der Nachweisung thatsächlicher Geschlechtsverhältnisse ins Auge faßt, oder aber stofflich und inhaltlich die Beziehungen untersucht, die sie zu andern Wissensgebieten darbietet.

      In ersterer Rücksicht – man mag den Ausdruck formaler Genealogie, wenn er auch nicht sehr bezeichnend ist, der Kürze und Bequemlichkeit wegen nicht misbilligen – handelt es sich um Darstellung von Abstammungsverhältnissen und Verwandtschaften einer gewissen Anzahl persönlich zu bezeichnender Menschen in aufsteigenden und absteigenden Zeugungs- oder Geschlechtsreihen. Bei dieser ein für allemale wichtigsten, grundlegenden Thätigkeit kommt es in der genealogischen Wissenschaft zunächst darauf an, die durch Zeugung und Abstammung bedingten Verhältnisse von bestimmten Personen zu bestimmten Personen richtig zu erkennen und klar nachzuweisen. Man gelangt auf diesem Wege zu einem System von reihenweis fortschreitenden, aufsteigenden oder absteigenden Linien, aus welchen sich der Begriff der Generationen entwickelt. In diesem eigentlichen und besonderen Sinne fällt der Genealogie die Aufgabe zu, die Vielheiten menschlicher Zeugungsakte unter einheitliche Gesichtspunkte des Abstammungsverhältnisses von bestimmten Menschenpaaren zu bringen, welche in ihrer zeitlich begrenzten Wirksamkeit als Urheber von bestimmt bezeichneten, ebenfalls zeitlich begrenzten durch die gleiche Abstammnng geschwisterlich vereinigten Personen erkannt sind und in immer neu sich bildenden Reihen zu Stammeltern eines im Zeitenstrom sich fortentwickelnden Geschlechts werden. Die Genealogie beschäftigt sich in elementarer Arbeit zunächst mit dem Generationsbegriff als Ausfluß unmittelbar nachzuweisender Zeugungen und kann zunächst von der Frage absehen, inwiefern auch im weiteren Sinne von Generationen gesprochen werden kann, bei denen aus zeitlich zusammenfallenden Lebenswirksamkeiten gleichsam auf eine Stammvaterschaft idealer Art und auf eine Zusammengehörigkeit von Abstammungsreihen geschlossen werden kann. Im weitesten Sinne des Begriffs fällt die Vorstellung von Generationen aus dem Rahmen genealogischer

Nachweisung selbstverständlich heraus, beruht eigentlich auf der Hypothese einer Abstammung von einem Elternpaar und erhält ihre Bedeutung erst in ihrer Anwendung auf anderen Gebieten historischer Erscheinungen.

      Indessen sind die Aufgaben, welche der Genealogie schon auf ihrer untersten Stufe in dem Nachweise bloßer Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse gestellt sind, schwierig genug zu erfüllen. Denn das Erinnerungsvermögen der Menschen ist in Bezug auf diese ohne Zweifel natürlichsten Vorgänge, auf denen ihr Dasein doch beruht, wenngleich besser als bei den Thieren, doch im ganzen und großen ebenfalls ein außerordentlich geringes und ungewisses. Die sichere Kenntnis von Abstammungsverhältnissen setzt nicht nur einen hohen Grad erlangter ethischer Kultur, sondern auch den ausgedehnten Gebrauch der Schrift voraus. Ohne diese giebt es so wenig eine Genealogie, wie eine Geschichte, diese vielleicht noch eher, als jene. Aber auch das schriftliche Zeugnis ist nur ein, wenn auch unentbehrlicher Nothbehelf in genealogischen Dingen, sobald man denselben in größerem Umfange nachgeht. Das Erinnerungsvermögen in Bezug auf Abstammungsverhältnisse reicht bei den Menschen bis zu den Großeltern und in besonders günstigen Verhältnissen bis zu den Urgroßeltern. Die mündliche Ueberlieferung kann ganz zuverlässige Mittheilungen über einzelne Linien von Vorfahren darbieten, aber für die Erkenntnis von Geschlechtsreihen reicht kein Gedächtnis aus. Und selbst das schriftliche Zeugnis unterliegt einem gewissen Skepticismus in genalogischen Dingen, der trotz selbstverständlicher Anwendung aller jener Mittel und Methoden, die man in den geschichtlichen Wissenschaften überhaupt besitzt, vermöge der eigenthümlichen Natur genealogischer Thatsachen unbesiegbar sein mag. Trotz aller Feinheiten geschichtlicher Untersuchung, trotz aller Fortschritte des historisch-kritischen Geistes unserer Zeit, wird der Genealog immer nur Sätze auszusprechen vermögen, zu deren Annahme die Bereitwilligkeit des Glaubens und Vertrauens gehört. Zu einer exakten Wissenschaft, die sich auf dem[GWR 5] Standpunkt des experimentellen Beweises befände, kann es die Genealogie nicht bringen, da sie Geheimnisse in sich verbirgt, die keine Kritik enträthseln kann. Der verbreitete Hochmuth des historischen

Calculs kommt sicherlich nie öfters zu Falle, als selbst bei den sorgfältigst erforschten Thatsachen dieses menschlich so unsicheren Gebietes. Ob die genealogische Wissenschaft aus sich selbst heraus zu Methoden vorzudringen vermöchte, nach welchen ihre dunklen Seiten mehr zu erhellen wären, dies erfordert eine Ueberlegung, die weit schwieriger sein wird, als die handwerksmäßigen Erörterungen über Geburtszeugnisse und Sterberegister.

      Indem sich die wissenschaftliche Genealogie diese weit über das Gebiet ihrer formalen Aufgabe hinausschreitende Frage vorlegt, steht sie mitten in den Beziehungen, die sich ihr aus der stofflichen Betrachtung ihrer Gegenstände zu den mannigfaltigsten Zweigen historischer, politischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen ergeben werden. So lange sie auf dem Standpunkt der formalen Feststellung der Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse stehen bleibt, brauchten sich ihre Ergebnisse wenig von einander zu unterscheiden, sei es, daß sie sich mit menschlichen oder thierischen Individuen beschäftigt; indem sie aber daran geht, die natürlichen und qualitativen Veränderungen derselben mit zu beobachten, erhebt sie sich zu einer Wissenschaft vom Menschen und seiner Geschichte im Besonderen. Auf diesem Wege ersteigt sie den Gipfel ihrer Einsicht in der Erkenntniß der individuellen Unterschiede der sich fortpflanzenden Geschlechter, und betheiligt sich auf dieser Höhe ihrer Forschungen an der Lösung von Fragen, die von den verschiedensten Seiten her wissenschaftlich angestrebt wird. Sie wandelt auf den Grenzlinien des geschichtlichen und naturwissenschaftlichen, wie des staats- und rechtswissenschaftlichen Gebiets. Will man sie als Hilfswissenschaft bezeichnen, so versteht sich dies im weitesten Umfange der Disziplinen des sogenannten Natur- und Geisteslebens. Indem sie sich den mannigfaltigsten Wissenschaftsgebieten anzuschmiegen und zu unterordnen vermag, unterscheidet sie sich jedoch in ihrer Art von allen übrigen zugleich dadurch, daß sie niemals von dem individuellen Charakter ihrer gesammten Betrachtungen abzusehen und abzugehen vermag. Sie beschäftigt sich immer mit dem Einzelnen und gestattet keine Verallgemeinerung nach Art jener Wissenschaften, die durch die Abstraktion zur Erkenntnis gesetzlich festgestellter Thatsachen vordringen. Die Genealogie geht von dem

einzelnen Fall aus und behandelt auch nur den einzelnen Fall. Was allen Fällen gemeinschaftlich ist, ist nichts als ein leeres Schema, eine Form, eine Voraussetzung für Erkenntnis von Gesetzen, welche vielleicht die Geschichte, die Gesellschafts- und Staatswissenschaft, wahrscheinlich die Biologie und Anthropologie, jedenfalls die Physiologie und Psychologie auszudenken und aufzustellen im Stande sein werden.


Genealogie und Geschichte.

      Wenn die ältesten geschichtlichen Erinnerungen der meisten Culturvölker genealogischer Natur waren, so erweiterte sich alsbald die Genealogie zur Geschichte der Völker selbst, indem sie in das Knochengerüste ihrer Geschlechtsreihen den gesammten Inhalt des historischen Lebens derselben willig und gleichsam unwillkürlich aufnahm. Das genealogische System trat in Concurrenz mit dem der Chronologie und ergänzte das letztere. Auf dem Standpunkte der Entwickelung astronomischer Beobachtungen vermochte die Annalistik sich auszubilden, die vorherrschend genealogische Betrachtungsweise förderte die epische Erzählung unter wesentlicher Vernachlässigung chronologischer Momente. Die eigentliche Geschichte konnte sich nicht entwickeln ohne gleichwertige Betrachtung und gleiche Bewertung der chronologischen wie der genealogischen Grundlagen des wirklichen Geschehens. Wenn sich nun aber die Geschichte erzählend und berichtend zu immer reinerer Darstellung der Handlungen und Wirkungen erhebt und das gesammte Interesse auf das Gegenständliche der Entwicklung hinleitet, so büßt die Genealogie ebenso wie die Chronologie ihre leitende Stellung mehr und mehr ein und sinkt zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft herab. In dieser Form begleitet sie in Zeiten hoher Vervollkommnung den geschichtsforschenden Geist fortgeschrittener Nationen und je mehr die Kunstgebilde historischer Darstellung verfeinert in der Litteratur erscheinen, desto weniger scheint die Stammtafel noch einen in sich ruhenden Werth besitzen zu können. Die Genealogie theilt dann das Schicksal des chronologischen Schemas, der Annalistik, welche

von einer abgezogenen Wissenschaftlichkeit bis zur Verwirrung des thatsächlichen vernachlässigt werden konnte.

      Indessen vermag doch alle Geschichtsbaukunst, sei sie auch noch so sehr auf die rein sachlichen Fragen und Gesichtspunkte gerichtet, auch noch so sehr den politischen, litterarischen, culturellen und sozialen Entwicklungen zugewandt, die genealogische Grundlage und mit dieser das genealogische Interesse nicht ganz zu verdrängen. Still und in sich gekehrt behauptet die Geschlechtskunde zunächst im engen Kreise von Familienerinnerungen und da es die Familie ist, die sich als solche im Gange des Geschichtslebens mächtiger und mächtiger zu regen versteht, als solche in der Gemeinde, im Volke, im Staate allgemach entscheidend aufzutreten vermag, so drängt sie sich der Geschichtswissenschaft wieder mit ihrer genealogischen Grundlage bedeutend auf und nötigt den Erzähler von Heldenthaten und Geistesschlachten, ebenso wie den Erklärer von Staatseinrichtungen, Verfassungen und Kunstwerken sich wieder in den Dienst der Genealogie zu stellen und ein gutes Stück von Weisheit und Kraft aus dem Mark und den Thaten von Stammvätern und Vorfahren herzuleiten, die wieder nur aus der Ahnentafel erkannt werden können.

      Das Verhältnis, in welches die Genealogie zur Geschichte sich stellt, ist äußerlich genommen leicht verständlich und in hilfswissenschaftlichem Sinne im allgemeinen nicht unbeachtet geblieben; aber indem sich die genealogischen Fragen im Hinblicke auf das, was der Sohn vom Vater, die absteigenden Geschlechter von den Vorfahren überkommen haben, mächtig in den Aufbau geschichtlicher Ursachen und Wirkungen hineinschieben, befindet sich die Forschung auf einem Gebiete, welches zu größerer Erhellung aufzufordern scheint. Daß alles menschliche Wollen und Thun aus Quellen fließt, die in einem genealogisch zu erforschenden Boden liegen, kann wol an keiner Stelle von dem Geschichtsforscher verkannt werden, wenn auch eine Erkenntnis einzelner Umstände in dieser Beziehung schwierig, zuweilen unmöglich sein mag. Aber die Geschichte darf von der Genealogie Aufklärungen erwarten, die vielleicht noch mehr nach dem zu beurtheilen sind, was sich als Aufgabe darstellt, als was darin bereits geleistet worden sein mag.

Die mannigfaltigsten Erscheinungen des geschichtlichen Verlaufs der Dinge im Staat und in der Gesellschaft, wie in der Litteratur und Kunst sind Wirkungen nicht nur von einer Person und nicht nur von einer Reihe gleichzeitig lebender Menschen, sondern auch Ergebnisse der Thätigkeit einer Anzahl hintereinander auftretender Generationen, die sich, weil Väter, Söhne und Enkel in einem geistigen wie körperlichen Zusammenhange stehen, nur als Produkte genealogisch wirkender Kräfte erfassen lassen. Der klare Begriff des geschichtlichen Werdens ergibt sich aus dem, was durch die sich fortpflanzenden und erneuernden Geschlechtsreihen hervorgebracht worden ist, was von den einen erworben und erlangt, von den andern übernommen und an's Ende geführt worden ist. Keine geschichtliche Betrachtung kann von dem Zusammenwirken der in Familie, Stamm und Volk verbundenen und in gewissen genealogisch festzustellenden Verbindungen thätigen Persönlichkeiten absehen; alle Geschichte ist Familien-, Stamm- oder Volksgeschichte und kann als solche den Begriff der Generation nicht entbehren. Der Familienstammbaum theilt sich nach der Abfolge von Eltern und Kindern und verzweigt sich nach den von den Geschwistern ausgehenden Linien und der Stammbaum des Volkes schreitet in Generationen fort, welche als ein ideales Schema für die Gesammtheit der in Familien, Stämmen und Völkern vereinigten Menschen gedacht werden, aus welchen jedoch die Genealogie nur einzelne durch Persönlichkeit ausgezeichnete Bestandtheile darstellend herausgreift. Je bestimmter sich aber der einzelne Stammbaum als Typus der historisch wirksamen Generationen erfassen läßt, desto sicherer wird er dem Historiker als Grundlage für seine Beobachtung der Entwicklung gelten dürfen. Der geschichtliche Prozeß schreitet generationsweise fort und findet sein zeitliches Maß in den genealogisch erkennbaren Geschlechtsreihen bestimmter Personen und namentlich festzustellender Abstammungen. So mannigfaltig auch der Begriff der Generation von den verschiedensten Wissenschaften, bald von der Statistik und Bevölkerungslehre, bald von der Philosopie der Geschichte, bald von der Zoologie und Anthropologie gefaßt werden wollte, eine sichere Grundlage erhält derselbe nur durch die Genealogie, denn er bedeutet nichts anderes als das durch den

Stammbaum persönlich ausgefüllte Schema der menschlichen Zeugungen und Fortpflanzungen. In dieser abgezogenen den realen Zusammenhängen der einzelnen Familien entnommenen Bedeutung bietet der Begriff der Generation dem Geschichtsforscher den sicheren Wegweiser, welchen der alte Weltweise schon mit dem Satze bezeichnet: Der Mensch ist das Maß aller Dinge.

      Indessen ist die Beziehung der Genealogie zur Geschichte keineswegs durch die Erklärung dessen, was man die Generationslehre nennen darf, erschöpft. Und obwol Ranke der Idee einer generationsweisen Entwicklung die grundlegende Stellung gesichert hat, so bezeichnet dieses Ziel genealogischer Studien doch mehr die Aufgaben geschichtlicher Zukunftswissenschaft, als die gewohnten Beziehungen des wissenschaftlichen Betriebes. Dagegen ist die Genealogie in ihrer Bedeutung für die politische Geschichte zu allen Zeiten im wesentlichen richtig erkannt worden. Der Zusammenhang genealogischer und politischer Dinge ist dem Erzähler von Weltbegebenheiten klar gewesen, so lange es Volkshäupter und Herrschergeschlechter gegeben hat, und so lange ständische Gliederungen von was immer für einer Art, führende Persönlichkeiten unterscheidbar machten. Die Staatengeschichte kann so wenig von der Kenntnis ihrer genealogischen Voraussetzungen losgelöst werden, wie die Geographie von der Landkarte. Es giebt eine Behandlungsweise des genealogischen Stoffes, die mit der politischen Geschichte vollständig zusammenfällt und es gibt staatsgeschichtliche Vorgänge, die überhaupt nichts als genealogische Fragen sind. Die Geschichtsforschung und Geschichtserzählung aller Völker läßt einen nicht seltenen Wechsel in der Wertschätzung der genealogischen Verhältnisse wahrnehmen, die Staatsformen und Verfassungseinrichtungen, die sich dem Geschichtsforscher darbieten, nehmen einen im Gegenstand begründeten Einfluß auf die genealogische Behandlung der Geschichte selbst; die Betrachtung monarchischer und aristokratischer Entwickelungen nöthigt in bestimmterer Weise zur Berücksichtigung des genealogischen Momentes, als die Darstellung republikanischer und demokratischer Einrichtungen. Aber seit man erfahren, daß auch die römische Republik ihren genealogischen Grundzug behalten und ihre Geschlechtergeschichte zum Verständnis

der Staatsverhältnisse unerläßlich war und seit man weiß, daß das große Parteiwesen Englands auf vorherrschend genealogischen Grundlagen ruhte, würde es als eine Thorheit betrachtet werden müssen, diesen freiesten Völkerentwicklungen ohne die Leuchte der Genealogie nahen zu wollen.

      Die Geschichte der Staaten der neueren Zeit ist in Absicht auf ihre geographische Existenz und in Betreff aller Dinge, die unter den Gesichtspunkt internationaler Verhältnisse fallen, überhaupt genealogischer Natur und da man von Geschichte im höchsten und eigentlichsten Sinne doch eben nur bei jenen Culturvölkern zu sprechen pflegt, die sich in den neueren Zeiten bethätigt haben, so versteht sich von selbst, daß thatsächlich alle moderne Geschichtsdarstellung sich im Geiste der Autoren theils bewußt, theils unbewußt auf dem Schema, wie auf dem persönlichen Aufbau der Stammbäume emporheben konnte; es ist immer nur eine methodische Frage für den Historiker, ob er die natürliche Grundlage des menschlichen Daseins und mithin auch alles menschlichen Thuns, das genealogische Gerüst der Familien und der Gesellschaft ganz oder nur theilweise aufgedeckt dem Hörer oder Leser seiner Erzählungen vorführen will. Im Bestreben, den von der Geschichte zu meldenden Thatsachen eine möglichst objektive Giltigkeit zuzuerkennen, ist der genealogische Bestand des geschichtlichen Stoffes gerade durch die vollkommeneren Beiträge der Historiographie immer mehr zurückgedrängt worden. Den künstlerischen Aufgaben geschichtlicher Darstellungen sagte die zum Theil eintönige Betrachtung von Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen oft weniger zu, als die gleichsam innerlich begründete Verknüpfung der Ereignisse der Weltgeschichte selbst. Und wiewol es stets ein Beweis ganz besonderen Talents war, wenn Geschichtsschreiber in weiser Oekonomie ihrer Mittheilungen das persönlich genealogische in sichere Verbindung mit dem objektiv thatsächlichen zu setzen verstanden haben, so kann man doch nicht verkennen, daß der Gang der historiographischen Entwicklung der genealogischen Erkenntnis im letzten Jahrhundert weniger günstig war, obgleich doch auf der einen Seite die genealogische Forschung bei gänzlicher Abseitsstellung in Betreff einzelner Familienbesonderheiten große Fortschritte aufzuweisen

und andererseits die Geschichtsforschung in Betreff alles thatsächlichen der Begebenheiten und in der Erkenntnis des Zuständlichen einen ungeheuren Aufschwung genommen hat. Die starke und mächtige Verknüpfung zwischen den genealogischen und staatsgeschichtlichen Momenten ist dagegen zurückgetreten und in einige Vergessenheit gerathen. Als der bedeutendste Schöpfer und Lehrer einer genealogisch begründeten Staatsgeschichte stand vor fast zweihundert Jahren Johann Hübner in Hamburg auf, einer der größten und gewaltigsten Geschichtsdenker im historiographischen Salon der Zurückgewiesenen und Vergessenen. Er hat nicht nur die umfassendsten Grundlagen für die Genealogie im speciellen geschaffen, sondern auch den rechten Weg für eindringendes Verständnis und Studium der politischen und Rechtsgeschichte gewiesen. In Folge seiner vortrefflichen Methoden besaß das 18. Jahrhundert eine sehr sichere staatsgeschichtliche Thatsachenkenntnis ohne jede Phraseologie und aufdringliche Hervorkehrung der idealen Beziehungen. Wiewol nun zuweilen hierin eine, große Geister, wie Voltaire oder Friedrich den Großen beleidigende Steifheit der Auffassung erreicht worden sein mag, so kann man doch sagen, daß besonders der praktischen Staatskunst diese sichere genealogische Geschichtskenntnis zu Gute kam und die große Zahl eminenter diplomatischer Talente des 18. Jahrhunderts ohne Frage mit dem trefflichen auf der Genealogie beruhenden Geschichtsunterricht zusammenhing. Die Göttinger historische Schule und besonders Pütter war sich dieses Zusammenhangs und dieses Erfolgs des genealogisch-staatswissenschaftlich-geschichtlichen Lehrvortrags dann auch vollkommen bewußt. Derselbe beruhte eigentlich auf dem von Johann Hübner begründeten System genealogischer Erklärung der Staatsgeschichte, welches derselbe in dem Werke: „Kurtze Fragen aus der Genealogie nebst denen darzu gehörigen Tabellen zur Erläuterung der politischen Historie“ darlegte. Gatterer und Pütter schlossen sich in ihren Vorlesungen noch ganz genau diesem System an und des letzeren Tabulae genealogicae ad illustrandam historiam imperii blieben lange Zeit das unentbehrlichste und benützteste Hilfsmittel historischen Unterrichts. Wenn seit Schlosser und Johannes Müller dieselbe Methode wenigstens in der Litteratur

der Lehrbücher zurückzutreten schien, so möchte man der Vermutung Raum geben können, daß diese Männer den Gebrauch der Stammtafel vermöge des von ihnen noch genossenen Unterrichts als etwas so selbstverständliches betrachteten, daß sie sich auf die älteren Werke ausreichend stützen zu können meinten. Leider hielt aber das genealogische Studium selbst im weiteren Verfolg der historiographischen Entwicklung nicht gleichen Schritt. Einzelne Darsteller der Weltgeschichte, wie Damberger, waren noch von der Nothwendigkeit der genealogischen Tafeln überzeugt und ein ebenso gelehrter wie ausgezeichneter Forscher, wie J. Richter machte sogar noch den gewagten Versuch, durch ein genealogisches Werk von hervorragendster Bedeutung zur römischen Geschichte die der Genealogie besonders abgeneigten Philologen für das ältere System zu gewinnen, aber er scheiterte bereits an der Gleichgültigkeit der neuen Gelehrten für diese Dinge und fast ist es dahin gekommen, daß das Bewußtsein des Zusammenhangs von Genealogie und geschichtlicher Entwicklung in der großen Menge der historischen Litteratur verloren ging. Das von Oncken herausgegebene Werk der Weltgeschichte lieferte endlich den Beweis, daß in einer gewaltigen Zahl von Bänden eine Reihe von Gelehrten sich vereinigen konnte, die mannigfaltigsten künstlerischen Hilfsmittel herbeizuziehen, um das Verständnis geschichtlicher Dinge zu erleichtern, aber nicht eine einzige Stammtafel beizufügen für nötig fand! Auch haben die zahlreichen Akademieen und gelehrten Gesellschaften, die in den letzten fünfzig Jahren unendliche Summen für zum Theil recht unbedeutende Publicationen ausgegeben haben, nicht ein einziges Werk genealogischen Inhalts und Charakters zu Tage gefördert oder unterstützt, obwohl doch die großen Leistungen der älteren Zeit zu Fortsetzungen aufgefordert hätten, die sicher nur durch die Thätigkeit von gelehrten Körperschaften zu Stande kommen konnten. Der Verfasser des vorliegenden Werkes hat seit längerer Zeit in Schrift und Wort für die Notwendigkeit der Wiederaufnahme genealogischer Studien und Arbeiten zum Zwecke der Herbeiführung entsprechenderer geschichtlicher Kenntnisse gestritten, hat aber fast nur Widerspruch von Seiten der historischen Gelehrsamkeit und insbesondere von den ihm meist feindseligen, tonangebenden, die

öffentlichen und privaten Mittel der verschiedensten Gesellschaften verwaltenden Leitern historischer Unternehmungen erfahren. Die genealogisch-historische Forschung sieht aber auf eine große Vergangenheit zurück und wird als wichtiges Gebiet historischer Forschung im zwanzigsten Jahrhundert ohne Zweifel wieder auferstehen.

Genealogie, Staatswissenschaft, Gesellschaftslehre, öffentliches und privates Recht.

      Der große Staatsrechts- und Geschichtslehrer Johann Stephan Pütter, dessen Lehr- und Handbücher bis auf unsere Tage unübertroffen geblieben sind und dessen Methode unerschüttert feststeht, wie der Polarstern, hat schon vor mehr als hundert Jahren jedem seiner Schüler die ebenso einfache als zuverlässige Wahrheit eingeschärft, daß sich in Staatssachen und Rechtsverhältnissen seit die Menschen Eigenthumsbegriffe mit Erbschaftsbegriffen verbunden hätten, ohne genealogische Grundlage keinerlei Wissenschaft und keinerlei Rechtssystem entwickeln konnte. In seinem schon erwähnten Werke zur Erläuterung der Rechtsgeschichte weist er besonders darauf hin, daß das öffentliche Recht überhaupt und das besonders in Deutschland ausgebildete Fürstenrecht ohne Einsicht und Studium der Genealogie nicht verstanden werden können. Aber auch das von den Römern ausgebildete Privatrecht nötigte zu der genauesten Erwägung genealogischer Fragen und brachte eine genealogische Systematik hervor, die ihrerseits wiederum auf die Entwicklung der Genealogie als Wissenschaft zurückwirkte. Den Erbschaftsfragen des Privatrechts steht die Erbfolgefrage des öffentlichen Rechts zur Seite und die juristische Entscheidung des Streitfalles setzt den Nachweis und die Sicherstellung genealogischer Thatsachen im Privatrecht wie im öffentlichen voraus. Die Vernachlässigung der genealogischen Studien schien im Beginn des Jahrhunderts mit den Einflüssen der französischen Revolutionsideen auf die Rechts- und Staatsentwicklung im Zusammenhange zu stehen. Eine gewisse Theilnahmslosigkeit für Fragen des Fürstenrechts und in Folge dessen eine geringe Kenntnis der Erbfolgefragen zeigte sich sowohl in den Staatsangelegenheiten,

wie auch in der geschichtlichen Behandlung vergangener Erbfolgefragen. Aber der eherne Bestand gewisser unveräußerlicher Rechte wurde dadurch nicht berührt und das zu Ende gehende Jahrhundert läßt genealogische Streitfragen zur Entscheidung kommen, von denen mancher Politiker geglaubt hat, daß sie nicht leicht mehr eine praktische Bedeutung haben könnten. Die Vorstellung, daß die Genealogie nur rückwärts gekehrt für vergangene Jahrhunderte eine Hilfswissenschaft bilden werde, zeigt sich als ein Irrthum der sozialdemokratischen Lehre, die sich von den natürlichen Grundlagen des menschlichen Daseins, wie der Gesellschaft emancipiren zu können meint. Das genealogische Bewußtsein der Gesellschaft ist vielmehr durch die Erkenntnis natürlicher Vorgänge und durch den steigend naturwissenschaftlichen Geist der Zeit trotz aller entgegengesetzten Theorien lebhafter erwacht, als jemals seit den Zeiten der französischen Revolution. Die Auffassung der Gesellschaftszustände zieht heute ihre Nahrung weniger aus der Hochachtung vor den ständisch gegliederten Classen, welche in der Genealogie zum Ausdruck kommen, als vielmehr aus der Erkenntnis der natürlichen Beschaffenheit und den genealogisch entwickelten Eigenschaften der Geschlechter. Unter diesem Banner kämpft die wissenschaftliche Genealogie heute gegen die sozialen Lehren, wie ehemals die Aristokratie gegen die Demokratie. Das was gleichwertig geblieben ist, ist die Vorstellung von der Wichtigkeit der genealogischen Verhältnisse für den Aufbau und Bestand der Gesellschaft; die genealogischen Verhältnisse sind nur ehedem mehr in ihrem mehr äußerlichen politischen und ständischen Charakter und heute mehr von ihrer biologisch-physiologischen Seite gewürdigt worden. Der genealogisch zu erkennende Grundcharakter aller Gesellschaftslehre – die genealogische Wissenschaft in ihrem Wesen bleibt unberührt von allen zeitlichen Wandlungen dessen, was die Geschlechter als solche jeweils für das wertvollere und wichtigere gesellschaftliche Moment erachtet haben. Kein Mensch kann aus seinen Zeugungs- und Abstammungsreihen herausspringen, mag er sich diese oder jene soziale Theorie zurechtmachen. Auf den Verhältnissen seiner Vorfahren und Nachkommenschaft beruht die Stellung, die er in der Gesellschaft einnimmt, er kann sich körperlich und geistig noch viel weniger als

ständisch und politisch davon befreien. Wenn er sich als gesellschaftliches Wesen betrachtet, so sitzen ihm Vorfahren und Nachkommen (d. h. seine Genealogie) wie die Kobolde auf dem Nacken, sie begleiten ihn wie den Bauer, der sein Haus verbrannt hat in der Meinung sich von ihnen befreien zu können.

      In geschichtlicher Zeit spielten die durch die politische Standschaft bedingten Gesellschaftsverhältnisse die Hauptrolle und stellten der wissenschaftlichen Genealogie eine Reihe der vornehmsten Aufgaben. Eine ständisch gegliederte Gesellschaft war ohne scharfes genealogisches Bewusstsein nicht denkbar und die Wissenschaft trat ganz in den Dienst der praktischen Interessen; bald in gutem und bald in schlechtem Sinne wurden genealogische Forschungen angestellt und je mehr und sicherer die Abstammung zum Maße aller gesellschaftlichen und politischen Rechte gemacht worden ist, desto entscheidender waren die Ergebnisse des genealogischen Beweises. Kenntnis der Vorfahren, Wissenschaft von der Reihenfolge und Verzweigung der Geschlechter beherrschte vollkommen das gesellschaftliche und politische Leben. Erinnerungen und Nachweise über Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, waren in den meisten und wichtigsten Momenten des Lebens nötig; sie wurden bei der Geburt eines Menschen sorgfältig in Betracht gezogen, sie wurden bei dem Eintritt in ein Standesverhältnis berechnet, sie entschieden über die Satisfaktionsfähigkeit, sie gaben den Ausschlag bei der Eheschließung und bestimmten die Stellung des Mannes wie der Frau nach individueller Bewertung. Die Genealogie repräsentirte in gewissen Zeiten, wenn sie auch nicht die bedeutendste Wissenschaft war, doch das vornehmste Wissen, welches zu vielen Dingen befähigte, die dem Stammbaumlosen verschlossen waren. Und nicht erst in der französischen Revolution haben die unteren Stände den Kampf gegen das genealogische Bewußtsein in der Gesellschaft begonnen. Dem heutigen communistisch gerichteten Classenhaß steht der Bauernkrieg gegen die Ahnentafel und den Stammbaum als durchgreifende Analogie zur Seite. „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann“ sangen die englischen Landarbeiter im vierzehnten Jahrhundert. Aber sie wußten nicht, daß sie sich gegen einen Begriff erhoben, der zwar in seiner zeitlichen Erscheinung in der menschlichen Gesellschaft

zur Handhabe des politischen Vorrechts wurde, aber in seinem Wesen und seiner eigentlichen Grundlage eine naturgesetzliche Erkenntnis bedeutet, welcher jedermann unterworfen ist. Der Unterschied zwischen den einen und den andern liegt nicht darin, daß der eine einen Besitz hat, der dem andern mangelt, sondern nur darin, daß der eine eine individuelle Erinnerung und Kenntnis verwertet, welche dem andern abhanden gekommen ist. Das Wesen der Genealogie zeigte sich auch auf dem Standpunkt ihrer praktischen Verwertung darin, daß sie lediglich als individualisirte Wissenschaft Nutzen bringen konnte und daß dem Bauern des vierzehnten Jahrhunderts kein Vortheil daraus entsprang, daß er im allgemeinen voraussetzte, alle Menschen stammten gleichermaßen von Adam und Eva ab.

      Das individualisirte genealogische Bewußtsein wurde in früheren Zeiten Adel genannt, aber mehr und mehr ist eine Trennung dieser Begriffe vor sich gegangen. Es giebt Adel ohne Stammbaum und Stammbäume ohne Adel. Die Kenntnis der Geschlechterabfolge in Rücksicht auf die persönliche Qualität eines Individuums übt aber ihre Wirkung völlig unabhängig von der Frage, ob in der politisch organisirten Gesellschaft durch dieselbe Stellung, Standschaft, Bevorrechtung, materieller Vortheil erworben worden ist oder nicht. Das ideale Moment des genealogischen Bewußtseins hat eine viel höhere, allgemeinere Bedeutung als das politische. Man kann vielmehr sagen dieses ist jenem untergeordnet, so gut wie das gesammte Dasein des Menschen ein Produkt von Zeugungen bestimmter vorhergegangener Geschlechter war. In der Erkenntnis und in dem Nachweis der individuellen Qualitäten liegt das Geheimnis der genealogischen Wissenschaft. Auch dem Adligen, der seine Ebenbürtigkeit nachzuweisen hatte, konnte es nichts nützen, so und so viele Namen als Vorfahren und Erzeuger zu beschwören, sondern durch die nachgewiesenen Eigenschaften derselben erlangte er erst die durch seine Abstammung ermöglichten gesellschaftlichen Vortheile. Auch das die Standschaft bewirkende genealogische Bewußtsein kann des idealen Moments nicht entbehren, welches bald eine ausgedehntere, bald eine einseitigere Bedeutung haben mochte, stets aber darauf beruhte, daß eine Reihe von Personen durch den Besitz gewisser

vortheilhafter und die Abwesenheit gewisser nachtheiliger Eigenschaften bekannt und ausgezeichnet gewesen ist. Hierin lag zu allen Zeiten der fruchtbare Kern jedes aristokratischen Prinzips in der Gesellschaft und es ist klar, daß man auf derselben genealogischen Basis jede Art von Aristokratie begründet denken kann: geistige und militärische, priesterliche und handwerkszünftige, landwirtschaftliche und grundbesitzende und in manchen Zeiten und Städten gab es eine Hausbesitzer- und Bierschanksaristokratie. Was die zu erlangenden Eigenschaften allgemeiner Bildung betrifft, so giebt es keine irgenwie erkannte oder erkennbare genealogische Regel, die so einfach wäre, wie die Bestimmungen mancher vormaliger geistlicher Körperschaften über die Bedingungen für eine Domherrnstelle, aber es gibt niemand, der nicht die stille Voraussetzung macht, daß auch in den geistigen Productionen der menschlichen Gesellschaft genealogische Gesetze walten, und daß dem Dichter und dem Gelehrten und Künstler Abstammungsverhältnisse zu gute kommen.

Genealogie und Statistik.

      Daß die Genealogie Beziehungen zu der Statistik gewinnen könne, ist erst in neuester Zeit klarer erkannt worden, und es ist das Verdienst des geistvollen Freiherrn du Prel, auf den Zusammenhang einer ganzen Reihe von merkwürdigen Problemen der Bevölkerungsstatistik mit Fragen, die sich nur aus der Genealogie beantworten lassen werden, zuerst in überzeugender Weise hingewiesen zu haben. In allgemeinerer Entwicklung wurden die Veränderungen in den Bevölkerungsverhältnissen schon früher in einem interessanten Buche von Hansen in Neuburg untersucht und erörtert, wobei sich gezeigt hat, daß in den Abstufungen der Bevölkerung ein Wechsel vor sich geht, der auf das innigste mit genealogisch zu erklärenden Thatsachen zusammenhängt. Statistische Erhebungen, welche Hansen mit größter Sorgfalt im städtischen Gemeinwesen angestellt hat, führten zu dem Ergebnis, daß bei der Annahme von drei Stufen der Bevölkerung eine stetige Ergänzung der oberen Stufen aus den unteren stattfindet und notwendigerweise vor sich

gehen mußte, wenn diese nicht im Laufe einer gewissen Zeit verloren gehen sollten. Die ganze städtische Bevölkerung zeigt sich als ein Produkt neuerer Zeiten, da der Familienwechsel hier unendlich rasch vor sich geht und der sogenannte Mittelstand lediglich durch Heiraten aus den unteren Ständen sich zu behaupten vermag. Es handelt sich also hierbei um den Nachweis von Geschlechtsveränderungen und um die Erscheinung, daß der Familienbestand der städtischen Bevölkerungen lediglich auf eine gewisse Zahl von Generationen beschränkt ist. Soll nun diese aus Namenverzeichnissen der Bürgerschaften eines Orts zu erschließende und von Hansen erschlossene Thatsache im einzelnen sichergestellt werden, so ist es klar, daß es sich um eine genealogisch durchzuführende Arbeit handelt und du Prel hat mit dem ihm eigenthümlichen Scharfblick auch sofort erkannt, daß man zur völligen Klarstellung der Abwandlungen in den Bevölkerungsverhältnissen durchaus zu dem Studium der Stammbäume wird greifen müssen; ja der gelehrte und energisch thätige Mann hat nicht versäumt, sich sofort an die Untersuchung solcher genealogischer Verhältnisse zu machen, zu denen ihm zahlreiche Ahnenproben ein treffliches Material gaben. Man darf behaupten, daß sich durch diese Betrachtungen ein ganzer Zweig genealogischer Thätigkeit eröffnet hat und es ist zu hoffen, daß eine große Zahl einsichtsvoller Arbeiter auf dem Gebiete der rasch und erstaunlich emporgekommenen statistischen Wissenschaften mehr und mehr zu genealogischen Untersuchungsmethoden fortschreiten werden. Alsbald wird sich auch auf diesem Felde die Erkenntnis aufdrängen, daß die genealogischen Ueberlieferungen viel zahlreicher und inhaltsreicher sind, als man vielfach anzunehmen geneigt schien, und daß der sich auch den Statistiker hier massenhaft darbietende Stoff so gut wie garnicht benutzt zu werden pflegt.

      Gewisse, der Genealogie verwandte und auf ihren Erfahrungen beruhende Fragen sind ohnehin schon von der Statistik mehr oder weniger zum Gegenstande eigener Untersuchungen gemacht worden. So sollte neuerdings durch Gelehrte dieses Wissenszweiges der von Rümelin[GWR 6] geistvoll, aber wol zu allgemein erörterte Begriff der Generationen auf dem Wege familiärer Einzelforschung zu sicherer Feststellung gebracht werden. Vielleicht wäre ein sorgfältiges

Studium der nach tausenden zählenden ohnehin vorhandenen Stammbäume aus allen Jahrhunderten ein noch einfacheres Mittel gewesen, zum Ziele zu gelangen. Denn die Generation im Sinne der Bevölkerungsstatistik wird immer nur eine abstrakte Vorstellung und ein formaler Begriff bleiben können, der erst durch die Beobachtung der wirklichen Zeugungsresultate einer Reihe von aufeinanderfolgenden Abstammungen zeitliche Grenzen und eigentlichen Inhalt erlangen kann (s. oben). Will also die Statistik den Begriff der Generation ihrerseits nicht entbehren, so ist sie auch in Folge dieses Zusammenhanges ihrer Aufgabe zur Verwendung genealogischer Ueberlieferungen gezwungen und dürfte sich auf eine ausgebreitete Mitwirkung bei den genealogischen Studien in der Zukunft hingewiesen sehen. Sobald sie sich auf die Erforschung nicht bloß der gegenwärtigen, sondern auch der vergangenen Zustände in ihrer Folgewirkung auf die jeweils nachkommenden Zeiten verlegt, sobald sie mit andern Worten historisch und zeitenvergleichend vorgeht, so kann sie, wie alle Geschichte überdies nicht den genealogischen Standpunkt entbehren, sowenig die Topfkunst von den Töpfern und die Malerei von den Malern abzusehen vermag. Das genealogische Problem ist in Wahrheit auch von der Statistik heute bald von dieser, bald von jener Seite angeschnitten worden, wenn dabei nicht immer systematisch genug verfahren zu werden pflegt, so liegt ohne Zweifel eine Ursache davon darin, daß die genealogische Wissenschaft selbst nicht in sich gefestigt und nicht genug wissenschaftlich erkannt und nutzbar gemacht ist.

      Indessen giebt der in der statistischen Wissenschaft hervortretende stark historische Gesichtspunkt die Zuversicht einer bedeutenden Unterstützung, die den genealogischen Studien von dieser Seite wird zutheil werden müssen, weil alles, was über Bevölkerungsverhältnisse früherer Zeiten gedacht werden kann, lediglich auf dem Wege der Ahnentafel und der Ahnenprobleme zu erschließen ist und diejenigen, die sich auf diesem Gebiete nicht deutlicher individualisirter Vorstellungen erfreuen, in die größten Irrthümer verfallen müssen. In dem Fortschreiten und im Rückgang der Bevölkerungszahlen, in dem Auf- und Niedergang von Nationalitäten, in der Ausgleichung von Rassenunterschieden stecken wesentlich genealogische

Probleme. Auf welchem Wege man sich der Lösung derselben zu nähern haben wird, ist eine Frage genealogischer Methode. Die Lehre von den Ahnenverlusten behandelt Gegenstände, deren Tragweite in Bezug auf die Entstehung von Nationen und Volksabstammungen noch gar nicht ermessen werden kann. Das genealogische Verfahren ist vermöge seiner Natur und Wesenheit auf das einzelne so sehr hingewiesen, daß man noch kaum gewagt hat, aus der ungeheuren Masse der bekannt gewordenen Abstammungsverhältnisse einzelner Menschen Schlüsse auf die Entwickelungen zu machen, die sich aus dem Zusammensein der Vielen ergeben. Die Abstammung der Familien, der Völker, der Menschheit wird seit Jahrtausenden in ein sagenhaftes und mythologisches Gewand gehüllt, welches auf genealogische Grundlagen gestellt erscheint, ob aber die wissenschaftliche Genealogie den Weg rückwärts beschreitend zur Entdeckung des Ursprungs der Völker gelangen könne, oder nicht, ist eine wol aufzuwerfende Frage, die vorerst kaum noch angeregt worden ist. In allen diesen Punkten steht unsere heutige genealogische Wissenschaft auf einem jungfräulichen Boden, dessen Bearbeitung die ungeahntesten Resultate erwarten läßt.


Genealogie und Naturwissenschaft.

      Die modernen Naturwissenschaften haben einen so überwältigenden Einfluß auf die Gedankenwelt gewonnen, daß man berechtigt zu sein glaubt, die meisten Vorstellungen und Ansichten über Sein und Leben auf diese zurückzuführen, wie man die Lösung der sich dabei ergebenden wissenschaftlichen Fragen umgekehrt auch nur von der Naturwissenschaft erwarten zu können meint. Wenn irgendwo von Ahnenforschung, Entwicklungslehre, Vererbung die Rede ist, so wird vorausgesetzt, daß man sich in Gebieten bewege, über welche der Naturforscher ausschließlich zu herrschen im Stande ist. Von gewissen zum Gemeingut gewordenen Begriffen, wie Kampf um das Dasein, wie Vererbung und Anpassung, wird heute in den meisten Wissenschaften Gebrauch gemacht und selbst das Drama und der Roman bemächtigen sich dieser Vorstellungen, um

Charaktere zu zeichnen, die ohne dieselben kaum mehr ernsthaft genommen, sondern bloß Bedauern oder Heiterkeit erregen könnten. Indem man sich aber den Theorien anzuschließen scheint, von welchen die Naturwissenschaften hauptsächlich getragen sind, erhalten selbst die entferntesten Beziehungen eine gewisse Weihe, deren man sich selbst da zu bemächtigen sucht, wo vielleicht die betreffenden Voraussetzungen nur Verwirrung stiften können. Betrunkene Leute galten der älteren Schauspielkunst fast nur als Motive der Posse, unter den Gesichtspunkten der modernen Biologie und Vererbungslehre sind sie aber sogar zu tragischen Helden geworden.

      Merkwürdigerweise hat sich die Geschichtswissenschaft verhältnismäßig am wenigsten von den Anschauungen der heutigen Naturforschung beeinflussen lassen. Wo man vielmehr gewisse gemeinsame Gesetze oder Betrachtungsarten aufsuchte, wurde eine starke Gegnerschaft aufgerufen. Und obwol die Geschichte nicht ungern und nicht selten mit dem Entwicklungsbegriff arbeitet, wie die moderne Naturforschung von dem Evolutionsprinzip beherrscht zu werden pflegt, so besteht doch vielfach eine gewisse Gegeneinanderstellung zwischen diesen Wissenschaften, die sich beide vorzugsweise für historisch halten. Während alle ältesten Geschichtserzählungen in Phantasieen von Weltschöpfungen schwelgten, ist die Naturforschung ehemals systematisch und beschreibend zu Werke gegangen, und da diese heute sich ganz geschichtlich und evolutionistisch verhält, hat sich jene immer mehr in sich abgeschlossen und abgesperrt und verabscheut oft den Umgang mit ihrer jüngeren Schwester. Ja es kann vorkommen, daß die leisesten Anklänge an Fragen der natürlichen Entwicklungslehre den Jüngern Klios Sorgen und Aerger bereiten, weil sie meinen, die altehrwürdige Geschichtsmethode wolle sich erniedrigen, bei den Naturwissenschaften in die Schule zu gehen. Wenn der Verfasser dieses Lehrbuchs einmal von Genealogie und Abstammung sprach, so ist es ihm wol begegnet, daß ihm bedeutet wurde, die Geschichte könne sich nicht gefallen lassen, durch Darwin und Genossen belästigt zu werden. So gänzlich hat man zuweilen vergessen, daß die Idee von der Fortpflanzung der Geschlechter, auf welcher alle

körperliche und geistige wie gesellschaftliche Entwicklung beruht, durchaus als das früheste Eigenthum der Geschichtswissenschaft gelten muß, und daß hierin nicht die Geschichte bei der Naturwissenschaft, sondern jene bei dieser in die Lehre ging. In der That liegt hier ein unzweifelhaft sachlicher Zusammenhang vor, der von der Willkühr, Laune oder dem subjektiven Bedürfnis des Forschers ganz unabhängig ist. Wenn vermöge der Natur der zu erforschenden Sache zwischen der gefundenen historischen Betrachtung und den verschiedensten Zweigen der Naturwissenschaft die mannigfaltigsten Beziehungen sich darbieten, so liegt der Grund davon darin, daß das Objekt der Forschung der Mensch ist, der zwar von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann, aber in der Einheit seines Wesens immer derselbe ist. Darin also kann unmöglich etwas auffallendes gesucht werden, weder etwas stolzes noch etwas demütigendes, wenn die auf den Menschen bezüglichen Naturwissenschaftszweige sich bei der Lösung ihrer Probleme ganz nahe mit der Geschichte berühren und die Aufgaben bis zu einem gewissen Grade zusammenfallen. Was die Geschichtsforschung sucht, sind Aufklärungen über menschliche Handlungen, die sich auf die gesellschaftlichen und staatlichen Zustände der Gesammtheit beziehen; was die Naturwissenschaft in Bezug auf den Menschen erstrebt, ist die Erkenntnis seiner Herkunft, Entwicklung, Beschaffenheit und Wesenheit selbst. Der geschichtliche Mensch kann aber doch nicht von dem natürlichen Menschen getrennt werden, und es hat noch keinen Historiker gegeben, der vermocht hätte, bei den von ihm erzählten Handlungen von dem Menschen und der menschlichen Natur abzusehen. Kann und will der Geschichtsforscher sich nicht mit abstracten Schemen, sondern mit dem wirklichen Menschen beschäftigen, sind es Persönlichkeiten, und lebende Wesen, die er darzustellen unternimmt, so bleibt ihm allerdings nichts übrig, als eine Strecke seines Weges den Naturforscher neben sich einherschreiten zu sehen, glücklich, wenn er findet, daß er mit ihm Hand in Hand zu gehen vermag.

      Die Brücke, auf welcher sich die geschichtliche und Naturforschung begegnen und begegnen müssen, ist die Genealogie. Indem diese die Entwicklungsreihen der menschlichen Zeugungsprodukte ins

Auge faßt, bestrebt sie sich an dem besondern und einzelnen genau das zu erkennen, was der Forscher auf dem Gebiete des animalischen Lebens überhaupt beobachtet. So nahe berühren sich hier die Ziele dieser Wissenschaften, daß es weitmehr darauf ankommen wird, die Gebiete säuberlich auseinanderzuhalten und von einander zu trennen, als sich für ihre Verbindungen zu bemühen, die sich dem Unbefangenen ohnehin nur zu sehr aufdrängen, denn viel Verwirrung und Unheil kann hier durch Verwechslung der Aufgaben entstehen, die einerseits der auf Grund der Genealogie entwickelten Geschichte und andererseits der den geschichtlichen Hergang des natürlichen Werdens beobachtenden Forschung zugewiesen sind. Ein erheblicher Fehler ist es die Grenzen zu verkennen, die diesen verschiedenen Wissenszweigen sachgemäß gesteckt sind. Der Historiker widerstrebt zuweilen vermöge seiner methodischen Vorstellungen der Naturbeobachtung an sich und der Naturforscher scheint nicht selten zu glauben, daß die Geschichte zur Naturwissenschaft gemacht werden müßte, um völlig exakt und gesichert zu sein. Aber es ist durchaus nicht richtig, daß der Historiker nur von dem Naturforscher empfangen kann, man kann im Gegentheil behaupten, dieser hätte sehr vieles von jenem zu erfahren und zu lernen. Gar vieles, was die Naturforschung mit dem Messer und dem Mikroskop zu gewinnen sucht, bietet die historische Ueberlieferung zwar nicht dem Auge aber dem ahnenden Verständnis. Die Genealogie, historisch erforscht, macht Mittheilungen über Entwicklungsverhältnisse, welche sich den Methoden der Naturfoschung völlig entziehen. Wenn andererseits die Naturforschung an die Geschichte der Erdrinde herantritt, so bereitet sie dem Historiker seinen Boden vor, sie lehrt die Umstände kennen, unter welchen das Leben der Menschen möglich geworden ist. Vom Uebel ist es jedoch, wenn man die Grenze verschiebt, welche diese Wissenschaften von einander scheidet. In einer früheren Epoche der Historiographie glaubte man die geologischen Vorbedingungen des historischen Daseins so wenig für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungen entbehren zu können, daß der sogenannte weltgeschichtliche oder universalhistorische Standpunkt die Grenze zwischen den geologischen und historischen Ereignissen und Thatsachen

geradezu aufheben zu müssen glaubte. Unsere Universalhistoriker fielen immer wieder in die Aufgaben zurück, die sich Moses und Hesiod gestellt haben und die der Philosoph seit dem vorigen Jahrhundert heranzog, um den in der Menschheit ruhenden Entwicklungsplan zu erkennen und zu enthüllen; aber alle Bemühungen, die Grenze dieser verschiedenen Wissenszweige zu verschieben oder zu beseitigen, haben nur wenig zur Lösung jener Fragen beitragen können, welche in ihrer Besonderheit der einen und der andern Wissenschaft gestellt sind. Ohne Zweifel kann vom Menschen und seiner fortzeugenden Entwicklung nur die Rede sein im Hinblick auf die feste Erdrinde und unter den Veränderungen derselben wird Leben geweckt und begraben bis auf den heutigen Tag. Alle Handlungen fortschreitender Generationen – der gesammte Gesellschaftszustand – ist, wenn der Vergleich gestattet wird, wie der Leibeigene an die Scholle gebunden, aber der hieraus entstandene Willenszwang erscheint als eine in der geschichtlichen Welt ein für allemal gegebene Größe, die für den historischen Act keine das einzelne erklärende Bedeutung hat und daher auch keiner allgemein erklärenden Einführung bedarf. Der gegebene Naturzustand ist die selbstverständliche Voraussetzung für alles geschichtliche[GWR 7] Menschendasein. Soweit sich die Gebiete berühren, kann die Erkenntnis des einen nicht ohne die des andern bestehen, aber im besondern bleiben sie getrennt und die Naturforschung bedient sich des Begriffs der Geschichte nur in einem übertragenen Sinne, wie die Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung gerade so weit bedarf, um die Handlungen des geschichtlichen Menschen aus seiner Erzeugung und Abstammung begreifen und erklären zu können. In dieser Beziehung stellt sich die wissenschaftliche Genealogie in ein besonderes Verhältnis zu den verschiedensten Zweigen der Naturwissenschaft und erhält von denselben sehr verschieden wirkende Belehrungen.


Genealogie und Zoologie.

      Als sehr auffallend könnte es auf den ersten Blick fast erscheinen, daß gerade zwischen denjenigen beiden Wissenszweigen, die

scheinbar am verwandtesten sind, weil sie sich beiderseits mit der Fortpflanzung und Entwicklung von geschlechtlich erzeugten Arten von Lebewesen beschäftigen, so gut wie gar keine näheren Beziehungen bestehen. Die Genealogie im Sinne einer historischen Wissenschaft und die moderne Zoologie berühren sich in den Objekten ihrer Forschung genau nur so, wie die Geschichte überhaupt mit der Astronomie und Geologie. Die Zoologie ist da wo der historische – der genealogisch überlieferte Mensch seinen Anfang nimmt, am Ende ihrer Betrachtungen angelangt. Wenn man gleichnisweise sprechen wollte, so dürfte man sagen, der heutige Historiker übernimmt den von ihm beobachteten Menschen als fertiges Individuum aus der Hand des Naturforschers, gleichwie Homer seine Helden aus den Irrfahrten der Götterwelt empfangen hat. Und die Menschenkinder, die Prometheus im Trotz gegen die Götter nach seinem Sinne gebildet hat, sind für die Genealogie im historischen Sinne des Wortes die ersten und einzigen Gegenstände ihrer Forschung, mag der Naturforscher bemerkt haben, daß die Stoffe, aus welchen sie entstanden sind, Steine, Pflanzen oder die Urzelle gewesen sind. Der Genealog mag an die Entwicklungsreihen des modernen Naturforschers seine Beobachtungen über die aufeinanderfolgenden Geschlechter der Menschen anschließen und er wird vielleicht dem Gedanken derselben fortzeugenden Natur ein offenes aufgeklärtes Auge zuwenden, aber die Thatsachen, die sich ihm zur Erforschung und Erklärung aufdrängen, brauchen durchaus nicht mit Notwendigkeit aus einer natürlichen Schöpfungsgeschichte hervorgegangen zu sein, die Nachkommen von Adam und Eva sind völlig individualisiert auf sich gestellte genealogische Objekte, für welche die zwischen Moses und Darwin schwebende Streitfrage durchaus sekundärer Natur ist.

      Es ist daher ein volles Mißverständnis, wenn Leute, die sich in den allerengsten Kreisen bewegen, nicht ohne gewisse Geringschätzung gegen Wissenschaften, deren Größe und geistige Bedeutung ihnen unbekannt ist, die Meinung hegen, daß eine geregelte Betrachtung der Geschlechterentwicklung der historischen Menschheit eine Frucht oder eine Folge der heutigen naturwissenschaftlichen Doctrin sei, man sollte in Wahrheit das umgekehrte behaupten: die Methode

der Naturwissenschaft ist in diesen Zweigen historisch geworden und hat der uralten historischen Genealogie das Handwerk abgelernt. Sie ist es, welche die Ahnenforschung aus der Geschichte der Menschen entlehnt und zu einer Entwicklungslehre des lebenden Organismus überhaupt erhoben hat. Es ist eine wol aufzuwerfende Frage, ob nicht durch eine genauere Beobachtung genealogisch-historisch festzustellender Thatsachen der menschheitlichen Geschichte, welche vielfach sicherere Quellen darbietet, als diejenige des Thieres, auch für die ursprünglichen Stufen der Entwicklung bedeutendere Gesichtspunkte zu gewinnen wären. Wenn der Thierzüchter seine genealogischen Beobachtungen mit Geschick und Fleiß feststellt, so hat er sich Methoden und Gesichtspunkte angeeignet, die durch redende Zeugen und geschriebene Zeugnisse dem Menschengeschlechte längst etwas vertrautes waren, aber es ist umgekehrt ebenso richtig, daß die genealogische Wissenschaft aus der unbewußten Zeugungs- und Vererbungsthatsache, welche die Zoologie kennt, auch ihrerseits Schlüsse ziehen kann. Eine solche Fülle von Wechselbeziehungen eröffnet sich auch da, wo an eine Wechselwirkung noch gar nicht gedacht zu werden braucht, daß wol nichts befruchtender sein kann, als die gleiche Beachtung so nahe verwandter Nachbargebiete. Wie die thierische und menschliche Welt nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich unendliche Analogieen darbietet, so ergänzen sich auch die Gesichtspunkte der genealogischen Forschung wo immer man den Thatsachen der Zeugung und Abstammung nachgeht. Sicherlich wird sowol das eine wie das andere Gebiet Nutzen ziehen können aus der wechselseitigen Beobachtung der Methode und ihrer Ergebnisse. Die Entwicklungslehre der Arten kann aus der Genealogie nicht nur die Mannigfaltigkeit der Zeugungsergebnisse bei gleicher Herkunft, sondern auch die eingreifenden Veränderungen der durch die Ahnenverzweigung bestimmten Abstammung entnehmen, und diese wird aus jener die Bedingungen und Wirkungen des Anpassungsgesetzes der Generationen weit sicherer und zuverlässiger erfahren, als aus den geschichtlich erwiesenen Umständen, die den Menschen kaum einer wesentlichen Veränderung unterworfen erscheinen lassen. Selbst in den formalen Fragen und Darstellungen würde ein genaueres

Studium der Genealogie für die Entwicklungslehre nicht unzweckgemäß sein. So spricht man in der Regel von philogenetischen Stammbäumen, während man eigentlich Ahnentafeln im Auge hat, bei welcher formalen Verwechselung dann aber ein sachlicher Irrthum darin unterläuft, daß man bei einer solchen Ahnentafel von den Geschlechtsunterschieden absehen zu können meint und nur die männlichen Abstammungsverhältnisse berücksichtigt. So kommt es denn, daß die Ahnentafeln, die von der Descendenztheorie aufgestellt worden sind, von Kreuzungs- und Mischungsverhältnissen ganz abzusehen scheinen, während das auf die Entstehung der Arten bezügliche Experiment eigentlich nur von der Kreuzung der Rassen seinen Ursprung nahm. Der Hinweis auf die von der Genealogie untersuchte Ahnentafel mit ihrer strengen, beide Geschlechter gleich berücksichtigenden Gliederung ist vielleicht hier recht am Platze. Die Forschungen im Gebiete der menschlichen Ahnentafel sind von ganz besonderer Fruchtbarkeit für alle naturwissenschaftlichen Fragen, weil sie eine ungeahnte Menge von Fällen in Betracht ziehen und immerhin über ein wol überliefertes Material verfügen, welchem kein anderes vergleichbar sein dürfte. Wenn also auch der von der Genealogie ins Auge gefaßte Mensch keinerlei Auskunft über seine Abstammung im Sinne der heutigen Descendenztheorie zu geben vermag, die beide hier in Betracht kommenden Wissenschaften vielmehr stets als etwas völlig getrenntes erscheinen werden, so mangelt es doch keineswegs an gewissen analogen Vorgängen, welche zwischen der Ahnentafel des einzelnen Individuums und zwischen derjenigen des Menschen überhaupt bestehn. Und außerdem ergeben sich für die Naturforschung aus der Betrachtung der Ahnentafel jedes einzelnen Individuums gewisse Probleme, deren Lösung vielleicht kaum noch in Betracht gezogen ist. Denn wenn die Ahnenforschung des Menschen zu einer unendlichen Vielheit von Individuen führt, so kann der Descendenzlehre umgekehrt die Frage nicht erspart bleiben, wie der Uebergang der Arten von einer Form zur andern gedacht werden kann, wenn die Genealogie doch lehrt, daß jedes Individuum eine unendliche Menge von gleichartigen und gleichzeitig zeugenden Ahnen voraussetzt und die Vorstellung einer Abstammung des Menschen durch Zeugungen Eines

Paares an der unzweifelhaft feststehenden Thatsache scheitern muß, daß jedes einzelne Dasein vielmehr eine unendliche Zahl von Adams und Evas zur Bedingung hat. Die Einheitlichkeit des Abstammungsprinzips steht daher zunächst im vollen Widerspruch zu den genealogischen Beobachtungen.


Genealogie, Physiologie, Psychologie.

      In einer anderen und viel innigeren Beziehung steht die Genealogie noch zu jenen Naturwissenschaften, die sich mit dem Menschen als solchem in seiner Natur und Wesenheit beschäftigen. Es ist klar, daß der seiner genealogischen Verhältnisse sich bewußte Mensch, indem er handelnd und geschichtlich erscheint, sich in der Einheit seines Seins nur als Ganzes begreifen läßt und daher zu seiner Selbsterkenntnis der physiologischen wie der psychologischen Beobachtung gleichermaßen bedarf. Es wäre überflüssig an dieser Stelle die Fragen zu berühren, die sich auf den Zusammenhang der auf Seele und Leib, wie man sonst zu sagen pflegte, bezüglichen Erfahrungen und Wissenschaften beziehen. Für die Genealogie treten die Differenzen, die sich etwa in den Anschauungen über diese Dinge ergeben könnten, gänzlich in den Hintergrund. Das menschliche Zeugungsprodukt erscheint in der Geschichte ohne weiteres mit gleichwertigen Antheilen von Seelen- und Leibesthätigkeiten, und wenn man in historisirender Abstraktion vom Geist spricht, der in der Geschichte waltet, so versteht dies doch niemand anders, als daß dieser nur vermöge der genealogisch verstandenen körperlichen Wesen wirksam sein kann. Der Todte macht keine Geschichte. Auch jene, welche sich die Geistgeschichte in den mannigfachsten Formen thätig denken, als eine philosophische ideale Gesetzeswelt, als weltgöttliche Emanation, oder als gutchristliche Erdenwanderung aufsteigender Engel oder absteigender Teufel, können doch nicht davon absehen, daß alles, was von Menschen geschehen ist, von Wesen herkam, welche geboren wurden und starben. Auch denen, die in den modernen Betrieb der Geschichte so außerordentlich „gesetzeslüstern“ geworden sind, daß sie ohne Aufstellung von allerlei historischen Gesetzen gar nicht mehr ein Geschichtsbuch lesen

mögen, kann man nicht genug die Gesetze des Geborenwerdens und Sterbens empfehlen, da diese doch die einzigen sind, auf deren immer erneute Wirksamkeit der Historiker mit voller Sicherheit rechnen kann, wobei er sich jedoch nicht zu verhehlen braucht, daß die allgemeine Beobachtung auch dieser Gesetze nichts anderes als die Anerkennung einer trivialen Thatsache ist. Indem sich aber die genealogische Wissenschaft auf den Standpunkt der Beobachtung des durch Geburt und Tod in seiner Wirksamkeit begrenzten Individuums stellt, fallen ihre Aufgaben zum großen Theil mit den Untersuchungen jener Wissenschaften zusammen, die den Menschen in seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften überhaupt zum Objekt haben. Die Genealogie kann aber den biologischen Fragen überhaupt zu Hilfe kommen, indem sie sich, soweit ihr die Quellen zu Gebote stehen, zugleich auf jene Erinnerungen und Erfahrungen stützt, die von früheren Individuen auf spätere, also von den Voreltern auf die Nachkommen übergegangen sind. In Folge der Beobachtung des Zusammenhanges der aufeinander folgenden Geschlechter construirt sich in der Genealogie ganz von selbst der Begriff der Vererbung der Eigenschaften durch Erzeugung immer neuer Geschlechtsreihen, deren Wesen und Sein ohne die Erkenntnis ihrer Eigenschaften und Verwandlungen nicht verstanden werden könnte. Der Genealog bietet daher dem Biologen eine Thatsachenreihe dar, die sich auf keinem andern Wege, als auf dem der bewußten Ueberlieferung der Geschlechter erreichen läßt. Wollte man die Beobachtung vererbter Eigenschaften lediglich auf die Vergleichung lebender Wesen begründen, so würde dieser wissenschaftliche Begriff im äußersten Maße beschränkt erscheinen. Es könnte dann im besten Falle nur der Beweis geliefert werden, daß gewisse Eigenschaften erwachsener Menschen auch bei deren Großeltern vorkommen. Wollte man aber sich damit nicht genügen lassen, sondern die Vererbungsfrage auch weiter hinaufsteigenden Generationen gegenüber zur Entscheidung bringen, so befände man sich im Gebiete genealogischer Ueberlieferungen und vermöchte diese nicht einen Augenblick zu entbehren. In Folge dessen läßt sich behaupten, daß jede physiologische und psychologische Untersuchung, die sich auf die Vererbung der Eigenschaften bezieht, genealogisch ist.

      Durch die sichergestellte Kenntnis schon der äußeren Eigenschaften vorhergegangener Geschlechter gelangt man zu dem Schluße, daß der Mensch, den die Wissenschaft heute untersucht, derselbe ist, den Aristoteles gekannt hat, und daß folglich im Wege der Zeugung und Abstammung keine Eigenschaftsveränderung stattgefunden hat. Bildnisse, die vor tausenden von Jahren gemacht worden sind, zeigen, daß die Menschen immer zwei Augen und zwei Ohren und eine Nase von einer Generation auf die andere übertragen haben. In dieser Allgemeinheit ist die Erblichkeit als durchgehendes Prinzip alles organischen Lebens überhaupt ein Axiom, zu dessen Erkenntnis es kaum eines besonderen Beweises bedarf. Die Theorie, welche sich mit der Erklärung dieser Erscheinung des organischen Lebens beschäftigte, bedurfte thatsächlich von Darwin bis Weismann keines besonderen genealogischen Studiums und es wäre lächerlich gewesen zu verlangen, daß die Abstammungsreihen der heutigen Menschen wirklich nachgewiesen sein müßten, um zur Erklärung von Vorgängen der Natur zu schreiten, welche die stetige Wiederholung der gleichartigen Eigenschaften der von einander abstammenden Individuen zur Folge hatten. Die Beobachtungen, welche an den heutigen Eltern und Kindern gemacht sind, dürfen als Voraussetzung einer unendlichen Reihe von gleichzeitigen und in der Zeit vorangehenden Fällen zur Grundlage jeder Vererbungstheorie mit Recht gemacht werden, und es bedarf keiner historisch-genealogischen Untersuchung darüber, ob alle unsere Ahnentafeln auf Adam und Eva zurückgehen oder nicht. Wenn es der Naturforschung gelungen ist, den Vorgang bei der Entwicklung der Arten in einem Falle zu erklären, so ist es klar, daß auch jene Vererbungen und Veränderungen damit erklärlich sind, die bei allen früheren Generationen stattgefunden haben. Die genealogische Wissenschaft braucht sich hier keineswegs einem Forschungsgebiete aufzudrängen, welches in der Umsicht seiner Methoden durchaus auf sich selbst gestellt ist und bleiben wird.

      Und auch die Psychologie, die sich seit Sokrates auf ein und dasselbe Beobachtungsprinzip stützt und in der „Selbsterkenntnis“ den ganzen Umfang ihres Gebietes richtig bezeichnet weiß, bedarf zur Untersuchung der geistigen Lebensvorgänge keineswegs einen

Hinweis auf vergangene Geschlechter und noch niemand hat daran gezweifelt, daß für alle menschlichen Wesen dieselben Denkgesetze galten. Auch hier könnte man daher mit Recht ein eigentliches genealogisches Studium für höchst überflüssig halten, wenn es auch schon sicher ist, daß sich die Psychologie zu allen Zeiten doch genötigt sah ihr Beobachtungsmaterial möglichst zu verbreitern und sich nicht mit den Thatsachen eines Lebens zu begnügen, sondern so mannigfaltig wie möglich in die Erfahrungen vieler Geschlechter und vergangener Zeiten zurückzugreifen.

      Danach aber ist gerade von Psychologen die Forderung in neuerer Zeit gestellt worden, daß die Forschung auf eine gewisse genealogische Basis gestellt werden könnte, um auch hier den Erblichkeitsbegriff besser erfassen zu können, und andererseits ist auch neben dem psychologischen Bedürfnis der Ahnenkenntnis vermöge der pathologischen Vorgänge im Organismus auch die physiologische Betrachtung mehr und mehr dem Stammbaum zugewendet worden.

      So lange es sich mit einem Worte um den allgemeinen Bestand physiologischer und psychologischer Eigenschaften handelt bedarf weder diese noch jene Wissenschaft eines Hinblicks auf genealogisch-historische Thatsachen. Die letzteren können erst von Bedeutung werden, wenn es sich um Veränderungen handelt, die in dem Organismus des Individuums zu beobachten sind. Vom Standpunkt der Erblichkeit betrachtet darf man also sagen, daß sich das genealogische Moment erst da der Forschung aufdrängt, wo es sich hauptsächlich um die Veränderung handelt. Wie in der Natur die Vererbung ohne die Veränderung nicht gedacht werden kann, weil sich trotz aller Gleichartigkeit der Individuen doch nicht zwei völlig gleiche finden, so kann der Begriff der Vererbung der Eigenschaften wissenschaftlich nicht ohne den der Variabilität gedacht werden. Diese aber ist historischer Natur, ein werdendes, welches sich dem gewesenen entgegensetzt. Hier ist der Punkt wo das genealogische Moment sich jeder Art von biologischer Forschung unbedingt und ohne unser Zuthun nicht nur empfiehlt, sondern aufdrängt. Wäre aller natürlich fortgepflanzte Organismus ausschließlich

auf die Erblichkeit gestellt, so hätten auch die höchstentwickelten Wesen keine Geschichte. Wie die verschiedenen Arten der Steine immer in derselben Weise krystallisiren, so würde die vollendete Vererbung der Eigenschaften der organischen Wesen eine Gleichartigkeit zur Folge haben, die selbst eine Verschiedenheit der Thätigkeit des Individuums ausschlösse; indem aber in leiblicher und geistiger Beziehung die Variabilitäten desto größer werden, je entwickelter der Organismus des Individuums ist, so sind auch die Lebensäußerungen derselben einem Wechsel unterworfen, der geschichtliche Entwicklung bedeutet. Alle Geschichte hat Veränderungen in den Eigenschaften der Menschen zur Voraussetzung und die Beobachtung derselben kann nur auf dem Wege genealogischer Forschung geschehen. Die wechselnden Generationen sind ein Produkt der immer gleiches anstrebenden Vererbung und der stets neues zeugenden Varietät. Die Vererbung bewirkt den Begriff der Art und Gattung, die Veränderlichkeit den Begriff der Geschichte. In dem genealogischen Fortgang findet die Wissenschaft von dem einen und dem andern ihr Maß und Ziel.


Genealogie und Psychiatrie.

      Da, wo die Veränderungen am Organismus einen pathologischen Character angenommen[GWR 8] haben, ist es demnach sehr erklärlich, daß die Ursachenforschung den Hinblick auf die Genealogie am allerwenigsten entbehren kann. So ist aus der rückwärts gestellten Beobachtung physischer und psychischer Erkrankungen die Frage der Erblichkeit zu einem genealogischen Hauptproblem der Psychiatrie geworden, in Folge dessen die pathologische Ahnenforschung seit geraumer Zeit einen hervorragenden Zweig ihrer Beobachtungen bildet. Hier berühren sich die Arbeitsgebiete so unendlich nahe, daß es überflüssig erscheint, viel darüber zu bemerken. Es bedarf lediglich einer Betrachtung über die Art und Weise, wie sich die Genealogie für die psychiatrische Wissenschaft am zweckmäßigsten verwenden lassen wird, da über die prinzipielle Seite des Verhältnisses

kaum ein leisester Zweifel vorhanden ist. Der Stammbaum ist im Gebiete der psychiatrischen Theorie und Praxis ein Gegenstand der ausgiebigsten Untersuchungen, aber dennoch wird man gerade nicht behaupten, daß diese nach ihren Ausgangspunkten so gänzlich verschiedenen Wissenschaften sich gegenseitig heute schon sehr stark unterstützt hätten. Man darf vielmehr den Wunsch aussprechen, daß der praktische Nutzen, der hier augenscheinlich aus dem Studium der Genealogie entspringen kann, dazu führen möchte, derselben mehr Freunde und größere Verbreitung gerade im Kreise dieser Forscher zu verschaffen.

      Für die wissenschaftlichen Fragen, welche sich vom Standpunkte physiologischer wie psychologischer und pathologischer Forschung ergeben, wird es ohne Zweifel von unabsehbarem Vortheile sein, wenn einstens die genealogischen Arbeiten in solcher Vollkommenheit vorliegen werden, daß die Vererbungs- und Veränderungsmomente in den Zeugungen einer langen Reihe von Generationen genau festgestellt werden können. Dazu liegt geschichtlich schon jetzt ein sehr großes Material vor, welches lediglich der Ordnung und Bearbeitung bedarf. Andererseits ist zur Aufstellung genealogischer Tafeln in aufsteigender oder absteigender Linie eine gewisse methodische Uebung nötig, durch welche wol mancherlei Fehler des psychologischen und pathologischen Calcüls vermieden werden dürften. Sammlung genealogischer Daten ist zwar unter allen Umständen höchst erwünscht, wenn dieselben aber nicht mit Anwendung strengster historischer Kritik zu Stande gekommen sind, so lassen sich sichere Schlüsse wol schwerlich an dieselben knüpfen. Die Nachfrage persönlicher Art nach den Qualitäten vorangegangener oder überhaupt verwandter Personen läßt dem subjektiven Ermessen und vielleicht dem Urtheil wenig urtheilsfähiger Leute einen zu großen Spielraum. Eine Hilfe mag dem Praktiker auch diese dilettantische Art der Stammbaumforschung darbieten; für eine gesicherte Theorie dagegen können gewiß nur jene ein für allemal historisch erforschten Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse etwas darbieten, bei denen in einer unendlichen Menge von blutsverwandtschaftlichen Beziehungen das ganze Material von Vererbungs- und Varietätsfällen ohne irgend eine Voraussetzung festgelegt worden ist. Die

Erweiterung unserer genealogischen Quellen ist daher eine Hauptaufgabe, an deren Lösung gerade jene Wissenschaften das größte Interesse nehmen sollten, die auf die Untersuchung von Erblichkeitsfragen seit geraumer Zeit schon ein großes Gewicht zu legen pflegen.


Die Genealogie und der historische Fortschritt.

      Der Vererbung individueller Eigenschaften durch Zeugung und Abstammung steht die Veränderung derselben gegenüber und die Genealogie beschäftigt sich mit der Feststellung der im einzelnen überlieferten diesbezüglichen Thatsachen ohne zunächst den Anspruch erheben zu können eine Erklärung für dieselben zu geben. Sie überläßt es vielmehr den verwandten naturwissenschaftlichen Zweigen die Aufgabe zu lösen, die sich aus der nachgewiesenen Vererbung und Variabilität der Eigenschaften ergeben werden. Indem aber die Genealogie ein umfassendes Material der Beobachtung darbietet, kann sie sich ihrerseits nur auf den Standpunkt des Schülers gegenüber der naturwissenschaftlichen und psychologischen Untersuchung und Theorie stellen. Sie darf sich nicht in Widerspruch gegen dieselben setzen und finden lassen, darf aber allerdings die Hoffnung hegen, jenen wissenschaftlichen Zweigen dadurch eine vielleicht unerwartete Unterstützung gewähren zu können, daß sie die Erblichkeits- und Veränderungsverhältnisse im Gegensatze zu einer bloßen Statistik gegenwärtiger Zustände durch viele Generationen rückwärts zu verfolgen und vermöge ihrer genauen Kenntnis der einzelnen Zeugungsergebnisse durch sehr lange Reihen von Geschlechtsfolgen in einer unendlichen Anzahl von überlieferten Fällen das Problem der Erblichkeit in exakter empirischer Weise zu behandeln vermag. Indem sie sich aber auf der Grundlage der Prüfung der einzelnen Fälle zu einer Betrachtung der in immer neuen Reihen sich bildenden Generationen und ihrer Wirksamkeit erhebt, nähert sie sich der Beantwortung einer Frage, die von sehr entgegengesetzten Standpunkten, einerseits von der biologischen Naturforschung, andererseits von den geschichtlichen Wissenschaften her angeregt zu werden pflegt. Alle Entwicklungslehre, wie sie einerseits von der Naturforschung,

andererseits von vielen historischen Denkern mehr oder weniger hypothetisch gefaßt zu werden pflegt, gipfelt in dem Begriff des Fortschritts oder der Vervollkommnung, die man einerseits in den vom Individuum ausgehenden Lebensäußerungen objektiv, andererseits aber auch auf Grund der Eigenschaftsveränderungen desselben in subjektivem Sinne verstanden wissen will. Hiebei nimmt die natürliche Entwicklungslehre der neuesten Zeit im ganzen einen vorsichtigeren Standpunkt ein, als die viel älteren Wissenszweige, welche bald auf historischen, bald auf philosophischen Wegen das Fortschrittsproblem erörterten. Denn die natürliche Entwicklungslehre wie sie insbesondere von Darwin vermöge der besonnenen Bescheidenheit des großen Forschers verstanden worden ist, beschränkt sich durchaus darauf den Begriff und die Entstehung der Arten unter das Entwicklungsgesetz zu stellen, verzichtet aber wol darauf innerhalb der erkannten Stufen aus etwaigen Eigenschaftsveränderungen einzelner Individualitäten auf ein allgemeines Fortschrittsgesetz zu schließen. Und wenn auch in übel verstandener Anwendung der Darwinschen Theorie zuweilen die Schlußfolgerung gezogen worden ist, daß die genealogisch sich entwickelnden Geschlechtsreihen, analog den nachgewiesenen Stammtafeln der niederen organischen Wesen in stetiger innerer Vervollkommnung der Individuen ebenfalls eine aufsteigende Linie des Fortschritts bildeten, so dürfte man doch durchaus nicht behaupten, daß die exakte Naturforschung zu solchen Uebereilungen Anlaß gegeben hätte. Die letztere weiß vielmehr ganz genau, daß ihre auf die Entstehung der Arten bezüglichen thatsächlichen Nachweisungen alle nur unter der Annahme von Zeiträumen denkbar sind, denen gegenüber die kleine Spanne von Jahrhunderten, in welche unsere historisch-genealogischen Beobachtungen des Menschendaseins fallen, als eine minimalste Größe gar nicht in Betracht kommen wird. Zu einer Verwendbarkeit von Entwicklungsgesetzen der Schöpfungsgeschichte – wenn es erlaubt ist diesen Ausdruck zu gebrauchen – für die geringfügigen Variabilitäten der historisch überlieferten Zeiträume, in welche menschliches Dasein fällt, wird sich kaum jemand ernsthaft bekennen wollen, wenn auch, man könnte sagen, eine gewisse Art religiösen Dranges den Wunsch rege machen mag, daß die allgemeinen Gesetze der

Entwicklung eine erfreuliche Analogie auch in den kleinsten Zeiträumen gewissermaßen unsichtbar anzunehmen gestatteten. Zu etwas sicherem aber vermochten Schädelmessungen in historischen Zeiten wol nicht zu führen und wie es scheint, würden selbst nachweisbare Variabilitäten bei ausgegrabenen anatomischen Resten menschlichen Daseins gegenüber der historisch erkennbaren psychischen Größe vergangener Geschlechter – denke man dabei an Semiten oder Japhetiden, an Chinesen, Inder oder Griechen – sich stets hinfällig erweisen müssen. Würde sich aber auch die Naturforschung des Problems in dem Sinne bemächtigen, daß sie den Entwicklungsprozeß an dem historischen Menschen nachzuweisen unternähme, so würde dies am allerwenigsten ohne genaue genealogische Untersuchungen möglich sein, von denen es freilich zweifelhaft wäre, ob das nötige genealogische Material hiefür aus den menschheitlichen Erinnerungen selbst fließen dürfte. Denn wollte man die natürlichen Ursachen der Artenverbesserungen bei dem historischen Menschen exakt zur Darstellung bringen, so würde ohne Zweifel das Studium der Rassen-, Völker- und Familienkreuzungen in die erste Linie zu stellen sein. Alsdann müßte eine Wissenschaft geschaffen werden, die, indem sie auf die Untersuchung der einzelnen Fälle begründet werden müßte, nicht nur eine Ergänzung, sondern geradezu einen Gipfelpunkt aller genealogischen Forschung zu bedeuten hätte. Die Genealogie würde in Folge dessen eine Aufgabe zu bewältigen haben, die erst nach Ablauf einer ganzen Reihe von Generationen, für welche quellenmäßige Nachrichten zu sammeln wären, zu Ergebnissen gelangen könnte. Denn so sehr auch Rassen- und Völkermischungen seit tausenden von Jahren als eine im allgemeinen feststehende Thatsache bekannt sind, so wenig sind dieselben genealogisch genau untersucht, und so lange sie nicht genealogisch genau bekannt sind, werden alle anthropologischen Betrachtungen über eine gewisse Grenze der Beobachtung von einer oder zwei Generationen hinaus zu keiner Sicherheit gelangen können. Selbst die Kreuzungsverhältnisse zwischen schwarzen und weißen Rassen sind heute noch in Dunkel gehüllt, und selbst die auffallendsten physiologischen Merkmale der Vererbung sind durch eine genügende genealogische Quellenforschung nicht gesichert, sondern meist nur auf

ein anekdotenhaftes Material gestützt. Die anthropologische, biologische und physiologische Forschung über Vererbung und Veränderung der menschlichen Eigenschaften bedürfte eines umfassenden genealogischen Studiums, wenn ihre Resultate gesichert werden sollten.

      Möchte die Einsicht in das so deutlich vorhandene Bedürfnis bei dem Entgegenkommen, dessen sich alle Naturwissenschaften heute erfreuen, dazu führen, daß man sich zur Errichtung großer genealogischer Forschungsanstalten entschlösse, die doch sicherlich ebenso viel oder noch mehr Berechtigung haben würden, als diejenigen Beobachtungsstationen, die man den niederen Organismen in so großartigem Maßstabe allerorten zu theil werden läßt! Jedenfalls würde auf diesem Wege einzig und allein das Problem des Fortschritts, beziehungsweise der Vervollkommnung der innerhalb der historischen Zeit lebenden Individualitäten, sowie der sich nach abwärts entwickelnden Generationen der Stammbäume der nächsten Jahrhunderte exakt und nach Analogie sonst gebräuchlicher naturwissenschaftlicher Methoden gelöst werden können.

      Andere Wege und Methoden sind dagegen von philosophischen und historischen Denkern seit den ältesten Zeiten eingeschlagen worden, um dem stets vorhandenen Fortschrittsglauben der Menschheit eine feste Grundlage zu verschaffen und man kann allerdings nicht läugnen, daß nach der Auffassung der meisten geltenden Fortschrittstheorien die Genealogie als solche für die Lösung des Problems überflüssig wäre. Die Philosophie der Geschichte beansprucht seit den Zeiten des Augustin und Eusebius eine gleichsam in sich selbst ruhende Gewißheit und Anerkennung dieses Glaubens, und so verschieden die Formen sind, in welchen der Fortschritt nach der Meinung der verschiedensten Philosophen zur Erscheinung kommt, so bestimmt wird doch dieser selbst als eine petitio principii ohne weiteres vorausgesetzt und so sehr beeinflußt er die allermeisten historischen Darstellungen der bedeutendsten neueren Völker. So ganz hat diese Vorstellungsweise vermöge der Befriedigung, die sie dem menschlichen Gemüte gibt, etwas dogmatisches angenommen, daß man die genealogischen Schwierigkeiten, die sie bietet, von Seiten der meisten Historiker und Philosophen ganz und gar

unbeachtet ließ. In einem der vielen neueren Bücher über Philosophie der Geschichte, worin die Versuche dieser Art trefflich seit ältester Zeit dargelegt sind, in dem Werke von Rocholl, kann man beispielsweise die Wahrnehmung machen, daß alle Versuche, die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte zu läugnen, von vornherein mit der Bemerkung zurückgewiesen werden, daß diese überhaupt eine solche Negation nicht zu beantworten brauchte. Schopenhauer und Goethe müßten freilich von diesem Standpunkte aus für Thoren betrachtet werden. Dagegen dürfte man das Verdienst Rocholls darin nicht für gering anschlagen, daß er mit einer vielen anderen geschichtsphilosophischen Arbeiten fehlenden Aufrichtigkeit dem Fortschrittsproblem in der Geschichte seinen rein dogmatischen Charakter wahrt.

      Alle Versuche zu einer Philosophie der Geschichte zu gelangen, beruhen auf der Vorstellung eines Zweckes oder Zieles, das auf dem Wege ihrer Geschichte von der Menschheit erreicht werden müsse. Die alten christlichen Philosophen waren unbefangen und weise genug, die Erfüllung des Lebenszweckes in eine andere Welt zu versetzen. Sie redeten zu nüchternen Menschen, die sich nicht weiß machen ließen, daß die auf dieser Welt sich vollziehende Geschichte irgend eine wesentliche Veränderung in irgend einem Stücke erkennen ließe. Indem jedes individuelle Leben eine auf sich selbst gestellte unendliche, ewige, unsterbliche Entwicklungsreihe besitzen sollte, war es für die Auffassung des Geschichtsphilosophen von Augustin bis Otto von Freising etwas ganz nebensächliches, ob man sich die erwartete Vollendung diesseits oder jenseits vorstellte. Die Hauptsache war, daß der Lebenszweck, das Ziel erreicht wurde.

      Später hat man die Sache gleichsam umgedreht; da die Leute unchristlich und ungläubig geworden sind, und auf die Geschichtsvollendung im Himmel nicht warten wollten, so erfanden sie sich eine irdische Geschichtsphilosophie und ein diesseits anzustrebendes Paradies, und suchten sich einzubilden, man rücke zusehends von Jahrhundert zu Jahrhundert auf dem Wege der Geschichte in den himmlischen Zustand hinein. Dabei ging allerdings das individuelle Moment verloren und die Vervollkommnung, welche

die christliche Philosophie jedem einzelnen versprach, wurde mehr und mehr zu einem abstracten Zustandsbegriff der Menschheit überhaupt. Die ganze Vorstellungsart, ganz gleichgiltig, ob sie auf dem Wege philosophischer und ethischer, kulturhistorischer oder wiedertäuferischer und sozialistischer Combinationen und Lehren entstanden ist, war und blieb ein dogmatischer Ueberrest, ein materialistisch geformter religiöser Altruismus, weil dem philosophirenden Geschlecht die lebhafte Phantasie der alten christlichen Philosophen, vielleicht der alten Welt überhaupt fehlte, die Zweckbestimmung der geschichtlichen Entwicklung in das Jenseits mit seinen Heiligen und Engeln zu verlegen. Fragt man aber nach der größern Vernünftigkeit dieser ganz verwandten, aber in Betreff der Form des zu erreichenden Zustandes sich völlig ausschließenden Anschauungen, so scheint kein Zweifel zu sein, daß diejenige Ottos von Freising oder Dantes, abgesehen von ihrer poetischen Natur und Verwendbarkeit, jedenfalls um vieles einleuchtender und glaubwürdiger war. Denn daß die Seelen nach dem Tode zur Vollendung und Reinigung kommen werden, vermochte Dante zu versichern, ohne daß es irgend jemand gelingen konnte einen Gegenbeweis zu liefern, während in Betreff des diesseitigen Lebens, der thatsächlichen geschichtlichen Entwicklung jeder Tag einem jeden Menschen den Beweis liefert, wie Geburt und Tod und jede innerhalb dieser Grenzen eintretende individuelle Hinfälligkeit und Elendigkeit ohne die allergeringste Vervollkommnung des Menschen und ohne jede Veränderung seiner Schmerzen in unverändertem Einerlei wechseln. Der Philosoph, welcher der Geschichte einen erkennbaren zu einem Ziele hinstrebenden Plan unterlegt, mag er an Utopia, oder mit den Modernen an Cabets Ikarien denken, lebt also in einer Welt von Phantasie, die ihren Himmel diesseits aufbaut. Immer werden diese Anschauungen und Lehren, welcher Art und Schule sie auch sein mögen, genötigt sein von zwei Dingen abzusehen, von der Zeit und von dem Einzelleben, welches auf Zeugung und Abstammung von einer gleichen Art und gleichen Wesen unabänderlich beruht. So hat diese Art der historischen Abstractionen hauptsächlich dem genealogischen Studium Abbruch gethan, sie hat am meisten die Genealogie geschädigt und gestürzt. Und indem sie sich

des Kunstgriffs bediente vom Zeitbegriff sich ganz zu trennen, tritt die Unwahrheit ihres Systems zu Tage, denn eine Geschichte ohne Zeitmaß ist ein Roman. Nicht alle aber waren so ehrlich wie Thomas Morus, ihre utopistische Philosophie als einen bloßen Roman zu erklären. Die meisten halfen sich mit dem rein formalen Begriff des Fortschritts, welcher über den von der Geschichte unerbittlich geforderten Maßstab der Zeit glücklich hinwegtäuschen konnte.

      Der Begriff des Fortschritts, als oberstes Prinzip der geschichtlichen Entwicklung, ist vermöge seiner unendlichen Bequemlichkeit eigentlich als der Bodensatz aller geschichtsphilosophischen Betrachtungen und Erörterungen anzusehen und zu erkennen. An diese Fortschrittsidee, die dem politischen und dem culturhistorischen Doctrinär gleich willkommen ist, hat sich in heutiger Zeit eine Art Religion gehängt, die dann alle, die sich mit geschichtlichen Dingen beschäftigen, jedes weiteren Nachdenkens zu entheben scheint. Durch den Gedanken an den ewigen Fortschritt ist der Historiker in die angenehme Lage versetzt, immer von einem Zusammenhang und vielleicht auch von einer Notwendigkeit des Laufes der Dinge zu sprechen, da überall wo etwas zu Grunde geht, irgendwo und irgendwie auch etwas neues entsteht oder geschieht und mithin der Fortschritt nachgewiesen zu sein scheint. Daß hiebei unvermerkt der Begriff der Bewegung mit der Vorstellung des Fortschritts verwechselt wird, bleibt unbeachtet. Indem man aber den Begriff einer Fortschrittsentwicklung eingeführt hat, während in Wahrheit nur von Ursachen und Wirkungen geredet werden dürfte, werden die Beobachtungen äußerlicher Thatsachen zu Aeußerungen von innerlich wirkenden Gesetzen umgewandelt, welche den Fortschritt hervorgebracht haben sollen. Ohne Zweifel ist es der Mensch, der den zweiräderigen Karren und auch den Eisenbahnwagen gemacht hat; wenn dieser so viel schneller läuft als jener, so ist dies ein Fortschritt des laufenden Gefährts; der Mensch, der darin sitzt, ist derselbe geblieben, und sein erfindungsreicher Sinn zeigt sich in gleicherweise in der uralten Herstellung des Rades, wie in der complicirten Maschine der Neuzeit. Wollte jemand im Ernste behaupten, daß Plato oder Dante geringere geistige Eigenschaften

besessen hätten als Stephenson, weil dieser ein Bewegungswerkzeug geschaffen hat, von welchem jene sich nicht einmal etwas träumen lassen konnten, so wäre das nicht besser, als die vielfach umgekehrt lautende Folgerung, daß die heutigen Geschlechter physisch schwächer und unvollkommener seien als früher, weil ja die Fabeln von den Titanen, Riesen, Herkules und Siegfried schon vor Jahrtausenden erfunden worden sind. Alle auf die Vervollkommnung der menschlichen Eigenschaftsvererbung gerichteten Fortschrittsideen müssen der Frage gegenüber verstummen, ob irgend jemand im menschlichen Gehirn einen einzigen logischen Vorgang bemerkt habe, den nicht Aristoteles bereits gekannt und beschrieben hätte.

      Auch die Geschichtserkenntnis selbst beruht durchaus auf der Annahme, daß der Mensch der Geschichte, soweit er in seinen Eigenschaftsüberlieferungen von einer Generation auf die andere sich dargestellt hat, immer derselbe war. Daß wir die Menschengeschichte zu verstehen in der Lage sind, und das, was Väter und Vorväter erlebt und gethan haben, nachempfinden können, ist nur dadurch erklärlich, daß wir dem vergangenen Menschen genau dieselben Gedankengänge und dieselben Beweggründe seiner Handlungen zuschreiben dürfen, die wir bei dem gegenwärtigen und lebenden wahrnehmen. Wäre jener in seinem Wesen anders geartet gewesen als wir selbst, so würde jede Sicherheit des Verständnisses seiner Ueberlieferungen aufgehoben sein und es wäre thöricht, zu denken, daß man eine Geschichte Agamemnons oder Karls des Großen zu schreiben im Stande wäre. Die Mittheilungen, die eine Generation der andern zu machen hatte, wären alsdann nicht besser als das Gezwitscher der Waldvögel, welches wir hören und von dem wir wol überzeugt sind, daß es allerlei zu bedeuten hat, denn wir verstehen die Sprachen der Thiere unvollkommen. Denken wir uns den Menschen der Vorzeit, selbst den Pfahlbauer, den Südseeinsulaner, so ist es möglich von ihnen allerlei zu wissen wie man von den Fischen, von den Kohlen, die in der Erde verbrannt liegen, eine sehr merkwürdige Geschichte erzählen kann, aber was man Geschichte im Sinne der Erkenntnis des Wollens und Thuns, des Gelingens und Leidens vergangener Geschlechter zu nennen pflegt, dies alles als Mitempfindung

erlebter und erstrebter Handlungen gedacht, kann nur da auf volles Verständnis rechnen, wo eine Gleichartigkeit ererbter Eigenschaften von Generation zu Generation vorausgesetzt wird. Der wahre Geschichtschreiber entwickelt in dieser Beziehung in sich eine ungemein große Feinfühligkeit. Selbst wenn er von anderen Nationen oder gar von anderen Rassen erzählen soll, so fehlen ihm nicht selten Stimmung, Wahlverwandtschaft, Sinn und Auffassung, man darf sagen das Organ des Verständnisses. Er sucht sich erst auf alle Weise vorzubereiten, er lernt die Sprache fremder Menschen, er studiert die Länder und deren Natur, in der sie wohnen, er nähert sich dem Vorstellungskreise, welchen das nicht verwandte Volk von Vätern auf Söhne vererbt hat und dadurch als etwas selbstverständliches betrachtet. Geschichtserkenntnis im höchsten Sinne ist nicht nur ein Produkt der Beobachtung von Thatsachen, die sich darbieten, wie die Wandlungen der Erdrinde, wie die Eigenschaften der Elemente, die Erscheinungen der Wärme, des Lichts, der Elektricität, sondern auch eine Folge der Vererbung des gleichen Wesens der Eigenschaften in einer langen Reihe von Generationen. Die wesentliche Unveränderlichkeit des geschichtlichen Menschen macht die Geschichte möglich und die Geschichte beweist umgekehrt, daß sich seit Jahrtausenden derselbe im Wesen gleich geblieben ist. Was sich verändert hat, sind Werke seiner Hände, oder wenn man lieber will, seiner Kunst. Er selbst war immer dasselbe werkzeugschaffende Wesen, so lange ihn die Geschichte beobachtet hat, so lange ihm das Bewußtsein seiner Aehnlichkeit genealogisch erkennbar war. Den Fortschritt in den Dingen, die sein Schaffen hervorbringt und seine Kunst in Jahrtausenden geschaffen hat, zu verkennen, wäre dieselbe Täuschung, wie wenn sich jemand nicht überzeugt halten könnte, daß die Berge der Schweiz höher sind als im Harz, weil er sie ja nicht nebeneinander sehen kann. Diese Fortschrittsfrage ist in der That keine Frage, es dürfte davon nicht geredet werden. Ranke hat sofort in der klaren und weltweisen Einfachheit seiner historischen Denkungsart das Wort vom „technischen Fortschritt“ selbstverständlich aus der Reihe allgemeiner Probleme der Geschichte gestrichen; wenn er den Fortschritt überhaupt bezweifelt hat, so dachte er an eine Frage, die

sich auf die durch Zeugung und Abstammung sich vererbenden und verändernden Eigenschaften des historischen Menschen bezog. Wahrlich nicht daran wollte der Altmeister gerührt haben, daß sich das Jahrhundert nicht freuen sollte, daß es das erfindungsreichste gewesen, daß es mit dem elektrischen Funken zu schreiben und zu sprechen versteht; er wollte nur sagen, daß auch das frühere schon verstanden hat, dem Himmel den Blitzstrahl zu entreißen. Wie klein dachten doch jene von dem gewaltigen Kenner menschlicher Größe, wenn sie um ihre vermeintliche Fortschrittsidee zu retten, ihm entgegen hielten, wie herrlich weit wir es gebracht hätten. Für diesen Fortschritt bedarf es keiner besonderen Beweise von Seiten der Geschichte, jeder Fabriksarbeiter stellt ihn dar, wenn er das Eisen hämmert oder die Dampfmaschine in Bewegung setzt. Er vermag mit einem Drucke seiner Hand ungemessene Lasten zu ziehen oder mit dem Wandervogel in Schnelligkeit zu wetteifern, und ist selbst doch wol nicht besser, als der Kohlenbrenner vor tausend Jahren war, der im tiefen Urwald nichts wußte, als daß das Feuer seines Meilers in steter Dämpfung brennen sollte. Was der große Geschichtsdenker den technischen Fortschritt nannte, begleitet in seiner concreten Bedeutung den Gang des Menschen in jeder Epoche, und nichts kann erfreulicher sein, als die gewaltige und erstaunliche Fülle dieser Fortschritte in zusammenfassender Geschichte der Cultur der Menschheit in allen ihren Theilen und Zweigen und Besonderheiten aufzuzeigen. Wollte man aber den Fortschritt im handelnden und thätigen Subject und nicht in den Ergebnissen seiner Arbeit suchen, so müßte der Nachweis gefordert werden, daß im Laufe der Generationen an den Individuen selbst Veränderungen eingetreten seien, die in Rücksicht auf bestimmte vererbte Eigenschaften in physischer, intellektueller oder moralischer Beziehung als Vervollkommnungen aufgefaßt werden könnten. In diesem durchaus genealogischen Sinne hat Ranke das Fortschrittsprinzip verworfen und indem er, der außerordentlichste Kenner der menschlichen Natur, während einer Vergangenheit von mehr als dreitausend Jahren wol berechtigt war zu bekennen, daß er in dieser Beziehung keine wesentlichen Variabilitäten wahrgenommen habe, vermochte er gegenüber den Unklarheiten und

Dunkelheiten des Fortschrittsbegriffs dem ganzen Problem ein für allemal eine exakte Grundlage zu schaffen, von welcher die wissenschaftliche Genealogie nicht mehr abzusehen vermag. Man dürfte heute, wo die Frage auch entfernt noch nicht durch Einzelstudien spruchreif geworden ist, sich keineswegs bei einer blinden Anerkennung und einfachen Wiederholung des Rankeschen Standpunktes beruhigen; historische und naturwissenschaftlich genealogische Beobachtungen der schwierigsten Art müssen ineinander greifen, um zu einigermaßen gesicherten Resultaten zu gelangen, aber auch schon die ganz allgemeinen Erwägungen mögen erkennen lassen, daß man auch das genealogische Problem ohne sorgfältige Analyse der im Begriffe des Fortschritts liegenden Besonderheiten nicht wol lösen könnte.

      Auch vom Standpunkt der reinen Speculation hat schon Kant in der unendlich vorsichtigen Weise, mit der er alle Entwicklungsfragen und besonders diejenigen historischer Zeiten behandelte, dem Fortschrittsproblem eine speziellere Seite abzugewinnen gewußt, wodurch der Annahme einer Vervollkommnung des Individuums in geschichtlicher Entwicklung eine wenigstens denkbare Unterlage gegeben werden sollte. Indem er die Gesellschaftszustände als solche historisch einer Vervollkommnung fähig hielt, die von einem philosophischen Kopf in dem Gange zu einem weltbürgerlichen Ziel erblickt werden könnte, und wonach die Geschichte selbst einem fortschreitenden Gesetze unterstehen würde, dachte Kant das hierbei thätige Individuum – den geschichtlich wirkenden Menschen – in einer fortwährenden Auswicklung der in ihm vorhandenen Fähigkeiten und Kräfte begriffen. Die Vervollkommnung des Gesellschaftszustandes, welche gleichsam durch künstliche Veranstaltung, wie das immer mehr verbesserte Werkzeug, des Werkmeisters hervorgebracht ist, wäre darnach nicht Selbstzweck, sondern müßte als Mittel gedacht werden, um die in der Menschheit im ganzen und in jedem einzelnen vorhandenen Anlagen vollends zur Reife zu bringen. In diesem Verstande müßte also, wenn nicht eine qualitative, so doch eine quantitative Veränderung der Eigenschaften von Geschlecht zu Geschlecht vor sich gehen und in den aufeinanderfolgenden Generationen würde ein For[t]schritt des Könnens und

Vermögens eine Schlußfolgerung auf die Erhöhung und Vermehrung innerer, sei es physischer, psychischer oder moralischer Kräfteverhältnisse gestatten. So schwierig und zweifelhaft selbstverständlich der empirische Nachweis einer solchen von Kant geforderten Auswicklung von Anlagen in den Generationen sein mag, so sicher erhält durch diese Auffassung des Fortschritts die genealogische Forschung eine Aufgabe, der sie sich nicht entziehen könnte. Die ältere Psychologie, die mit dem Begriff der Vermögen hauptsächlich arbeitete, konnte sich freilich leicht mit der Vorstellung eines solchen quantitativen Fortschritts befreunden, während der Versuch etwas meßbares und vergleichbares in dieser Beziehung bei der Bewerthung der von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Eigenschaften zu finden, jedenfalls sehr schwierig sein müßte. Vergleicht man indessen den von Kant aufgestellten Fortschrittsbegriff mit den brutalen Aufstellungen früherer oder späterer Utopisten, so muß man ohne Zweifel erkennen, daß ganz so wie bei dem Geschichtsdenker, so auch bei dem Philosophen die Forderung maßgebend bleibt, nicht bei den äußerlichen Erscheinungen und Wirkungen stehen zu bleiben, sondern in die Frage der Vervollkommnung auf dem Wege der inneren Veränderungen der Menschen selbst einzutreten, d. h. das Problem genealogisch zu fassen.

      Ganz unverständlich wäre dagegen aus dem genealogischen Standpunkt die Annahme einer Gesetzlichkeit des objektiven Fortschritts, bei welcher Vorgänge physiologischer oder psychologischer Natur in den Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen ausgeschlossen wären oder wenigstens ganz außer Betracht bleiben könnten. Wenn das Geschehene, in welchem sich der menschliche Fortschritt als gesetzlich waltende Macht zeigen soll, doch ohne alle Frage den handelnden Menschen voraussetzt, so wird die veränderte Wirkung nicht ohne veränderte Ursache zu Stande gekommen sein und da die sich verändernden Ursachen der historischen Wirkung nur in den Eigenschaften der sich verändernden Generationen liegen können, so wird daraus folgern, daß es kein Fortschrittsgesetz geben könne, welches nicht ein Gesetz der Variabilität der Eigenschaften der als Ursachen wirkenden Menschen wäre. Ob aber eine solche fortschreitende Variabilität überhaupt besteht und nachgewiesen werden

kann, ist wiederum eine Frage der Genealogie und kann ohne die empirische Untersuchung des Verhältnisses von Zeugungen und Abstammungen nicht beantwortet werden.

      Wenn dagegen immer wieder die Versuche gemacht worden sind, abgezogen von den concreten vererbten oder veränderten Eigenschaften der Menschen historische Entwicklungsgesetze aufzustellen, so scheint es begründet zu sein, daß auch der gewöhnliche Historiker, der zunächst gar nicht das genealogische Problem in Rechnung zieht, eine gewisse Abneigung gegen dergleichen Aufstellungen zu haben pflegt. Zunächst wird es ihm bedenklich sein, und wieder ist es Ranke, der diese Vorstellungsweise an der Masse seiner historischen Menschenkenntnis zu corrigiren verstanden hat, daß durch ein solches objektiv wirkendes Gesetz ein Zwang ausgeübt wird, unter welchem alle individuelle Thätigkeit zu einem bloßen Schein herabgedrückt würde. Ranke hat sich nicht gescheut, sogar eine Art von Ungerechtigkeit Gottes in dem vermeintlichen Bestande eines die geschichtlichen Dinge ein für allemal bestimmenden Willenplans zu erblicken. In der That wird eine Geschichtsphilosophie, die sich oder andere glauben machen will, daß alles historische Leben ein für allemal einem feststehenden Fortschrittsgesetze unterworfen sei, den geschichtlich denkenden und empfindenden Forscher bis zu einer Leidenschaft des Abscheus erbittern müssen, weil die Vorstellung der völligen Unfreiheit, unter der die historische Handlung vollzogen sein müßte, das spezifisch geschichtliche Interesse an dem Gegenstande sofort und mit Notwendigkeit aufhebt. So urtheilten Goethe und Alexander von  Humboldt über die Erfindung historischer Gesetze, während sie das lebhafteste Interesse und Auffassungsvermögen geschichtlichen Vorgängen gegenüber besaßen. Und wenn Schopenhauer der geschichtlichen Erkenntnis überhaupt die Möglichkeit bestritt, zu einem Allgemeinen zu gelangen, dem sich das einzelne subsummiren lasse und meinte, daß alles historische immer nur auf dem Boden der Erfahrung weiter krieche, so ist es durchaus falsch ihm vorzuwerfen, daß er dadurch die Geschichte als Wissenschaft herabsetzen wollte, er verwahrte sich bloß gegen den Nebel eines Fortschrittsgesetzes, welches man außerhalb der durch Zeugung und

Abstammung bedingten Individualitäten erkennen zu können vermeinte.

      So wahrhaft glücklich und herzlich froh indessen den echt historisch empfindenden Geist die Beobachtung der Ungebundenheit des handelnden Menschen in der Geschichte machen wird, und so abstoßend die Zwangslage des Weltenplans, des Fortschritts, des Entwicklungsgesetzes auf die größten Geister gewirkt hat, so entfernt ist doch ein jeder davon, zu verkennen und zu leugnen, daß in den objektiv vorliegenden und zu beobachtenden Thatsachen sich fortwährend gewisse Wiederholungen und Regelmäßigkeiten darstellen, die sich durchaus mit dem vergleichen lassen, was der Naturforscher Gesetze nennt. Wenn der Meteorolog eine Beobachtung gemacht hat, nach welcher die Winde sich nach einer gewissen Regel verändern, so findet der Historiker nicht wenig Thatsachen, die auf der Wiederkehr und dem Wechsel von Ideen und Geschmacksrichtungen beruhen, von welchen Individuen, oder ganze Generationen erfüllt sind. Die reiche Fülle von Ergebnissen menschlicher Handlungen, welche die Statistik nachweist, zeigt in der nach Ursache und Wirkung geordneten systematischen Darstellung die größte Aehnlichkeit mit dem, was der Naturforscher ein Gesetz nennt; und wie sich diese Wissenschaft als die Schlußbilanz historischer Erscheinungen in gewissen Zeiträumen bezeichnen läßt, so lassen ihre Gesetze einen Rückschluß auf die Wandlungen der Eigenschaften zu, welche die Personen besaßen, die als Urheber des Zustandes anzusehen waren. Wenn die Statistik ihre genaue Rechnung über Heiraten und Geburten macht, so vermag sie die Ursachen der Vermehrung und Verminderung durch mannigfache Combinationen zu ergründen suchen, darüber aber wird kein Zweifel sein, daß alles von den individuellen Acten einer zeitlich zusammgefaßten Generation, einer gewissen Classe der Bevölkerung, oder einer Familie abhing, deren Eigenschaften hinwieder bestimmt worden sind durch Vererbung derselben von den Vorfahren. Geht man nur demjenigen, was sich als regelmäßige Erscheinung in den historischen Begebenheiten erfassen läßt, tief genug auf den Grund, so darf man wol sagen, daß selbst die scheinbar äußerlichsten und unpersönlichsten Thatsachen, die sich fast wie die

Prozesse der Chemie und Physik zu entwickeln scheinen, Thatsachen des allgemeinen Culturlebens, oder der Verfassung am letzten Ende doch immer nur aus den Erbschaftsqualitäten bestimmter Individuen ergeben, und auf diese zurückgehen, wie der Topf zum Töpfer, wie das Bild des Zeus zu Phidias und der steinerne Moses zu Michelangelo.

      Man kann um Beispiele nicht verlegen sein: die alte Beobachtung des Aristoteles, die sich auf den Wandel der Verfassungsformen bezog, wobei sich der Denker rein in die Form vertiefte, in Grundformen und Nebenformen eine erstaunlich wechselnde Regelmäßigkeit erkannte, scheint auf den ersten Blick fast wie eine Sache mathematischer Abstraction, man glaubt fast jedes Gedankens an eine individuelle Willensaction entrathen zu können, wie wenn es sich um ein Kräfteparallelogramm handelte. Aber als Gervinus fast mit leidenschaftlicher Sicherheit die alte aristotelische Weisheit als Entwicklungsgesetz des 19. Jahrhunderts verkündete, war man weit entfernt sich die Sache als mathematischen Calcül gefallen zu lassen und wie den Pythagoräischen Lehrsatz hinzunehmen, vielmehr war man geneigt den demokratischen Propheten einzusperren und der klagende Staatsanwalt wurde, so thöricht und bedauerlich auch der Prozeß gegen Gervinus war, doch von niemand einer Versündigung gegen die einfachsten Denkgesetze beschuldigt. Und trotzdem wird heute wiederum jedermann gern zugestehen, daß in der Gervinusschen Theorie, nach welcher das Jahrhundert mit einem Siege der Demokratie schließen sollte, immerhin ein Fünkchen Wahrheit gelegen habe; man dürfte nur seine Behauptung nicht in jener großartigen Allgemeinheit fortschrittsgesetzlicher Einbildung, sondern in der bescheidenen Fassung individueller geistiger Veränderungen verstanden haben, vermöge welcher man am Ende des Jahrhunderts allerdings eine Generation lebend und wirkend wahrnimmt, die mit einer überraschenden Masse von demokratischem Oel gesalbt, oder wie andere vielleicht lieber sagen werden, beschmiert ist. Man sieht also, daß Gervinus unter dem Gesichtspunkte großartiger historischer Fortschrittsgesetze nichts zu Stande brachte, als die Fanfaronade einer alten Aristotelischen Beobachtung; auf dem bescheidenen Standpunkte der

Genealogie dagegen wird sich seine Prophezeiung für genugsam begründet erachten lassen, wie die Ziffern beweisen, welche über die Gesinnungen und Ideen der Enkel und Kinder von 1830 und 1848 alljährlich in allen europäischen Ländern Auskunft geben. Genealogisch betrachtet läßt sich gewiß nicht bezweifeln, daß die Denkungweise der seit dem Anfang des Jahrhunderts erzeugten Geschlechter in immer breiteren Massen in ganz Europa den monarchischen Ideen entfremdet wurde, und daß eine Stimmung, eine Pietätsempfindung, mag man sie psychologisch oder physiologisch erklären wollen, sich thatsächlich im Vererbungsprozeß der Generationen verloren hat und eine große Zahl von Söhnen und Enkeln nun hassen, was die Väter geliebt und lieben was diese gehaßt haben. Hätte sich Gervinus bei seiner demokratischen und republikanischen Weissagung damit begnügt auf diesen voraussichtlichen Wechsel der Gesinnungen und Gefühle der europäischen Menschheit hinzuweisen, so würde man ihn wol kaum, wie es nun kleinmeisterliche Weisheit thut, belächeln können, wobei man überdies nicht vergessen dürfte, daß der ruhige Bestand der Republik in Frankreich immerhin auch beweisen kann, daß so ganz thöricht die Beurtheilung des historischen Charakters des 19. Jahrhunderts, Seitens des geistreichen Mannes nicht gewesen ist. Aber sein Irrthum bestand in dem Glauben an die abstrakten Entwicklungsgesetze, an die Fortschrittstheorie. Denn wer von diesen Dingen spricht, darf sich nicht in den Fall gesetzt sehen, daß die Ausnahmen größer sind, als die Regeln, gegen die sich der zufällige Gang der Ereignisse fortwährend sträubt und empört. Was man thatsächlich bemerkt ist ein steter Wechsel von Gesinnungen und Handlungen in den thätigen Generationen der Menschen und in dem speziellen Fall der Verfassungsfragen des 19. Jahrhunderts ein mechanischer Wandel monarchischer und demokratischer Willensäußerungen, ein Wachsthum überlieferter Ideen hier und ein Rückgang dort - der Naturforscher könnte sich leicht bestimmen lassen das ganze unter die Kategorie der Variabilitäten in der Vererbung zu stellen. Doch so rasch wird sich der Genealog vielleicht nicht entschließen können, das große Problem als ehrlich gelöst zu betrachten, denn was in der Geschichte unter den handelnden

Menschen als Resultat hervortritt, sind lauter Produkte von hunderterlei Umständen, bei denen sich keine Empirie für überzeugend genug erwies, um eben Zeugung und Abstammung als erste oder gar als die einzige Ursache der Erscheinungen annehmen zu können. Es ist klar, daß man hier vorsichtig zu Werke gehen muß.

      Bei der objektiven Betrachtung historischer Erscheinungen erregt es unser größtes Erstaunen, daß überall da, wo man gewisse Ueberzeugungen, Gedanken, Gesinnungen - alles was man unter Ideen zu begreifen pflegt - als die Triebfedern der Handlungen wahrnimmt, die mannigfaltigsten Wirkungen aus derselben Ouelle entspringen. Auf die psychologisch zu erklärenden Vorgänge im Leben der Generationen angewendet, ergibt sich aus solchen Erscheinungen eine Art von Charaktereigenschaften, die dem Spiel der Wellen vergleichbar sind. Man denke an die Idee der Volkssouveränetät. Aus ungeahnter Tiefe der Zeiten und der gesellschaftlichen Zustände emporsteigend, hat sie Form und Gestalt oft mannigfaltig gewechselt. Sie hat im fünfzehnten Jahrhundert den Mord des Herzogs von Orleans zu rechtfertigen verstanden, und sie hat mit der Gelehrsamkeit des Jesuitismus den staatskirchlichen Absolutismus eines Philipp II. vertheidigt, sie hat dann durch ein Jahrhundert geschwiegen und in wiedererwachter Gestalt die große Revolution hervorgebracht.

      Auch die Erscheinungen, die man heute mit dem Namen der Frauenemanzipation nicht eben sehr treffend bezeichnet, vermöchte wol kein Kenner vergangener Culturzustände als eine in allen einzelnen Theilen neue Sache zu betrachten. Namentlich ist der Antrieb der Frauen sich der gelehrten Bildung ihrer Zeit zu bemächtigen, im 16. und im 10. Jahrhundert ganz ebenso groß gewesen, wie im 19. Auch der heutige soziale Gedanke den Frauen eine auf sich gestellte Wirksamkeit zu sichern, hat im kirchlichen und Klosterleben vergangener Zeilen seine vollen Analogien. Wenn man nun die Ursachen dieser im Wechsel der Zeiten sich ganz regelmäßig wiederholenden Erscheinungen erforscht, so ist doch unzweifelhaft, daß mindestens einen mächtigen Antheil daran jene Antriebe, jene Bewegungen haben müssen, die in den persönlichen

Eigenschaften eben der nach der sogenannten Emanzipation in ihren verschiedenen Formen und Zeiten strebenden Frauen selbst begründet waren. Indem also die Frauenfrage im Wechsel der Zeiten bald mehr und bald weniger hervortritt, beweist sie für die aufeinander folgenden Geschlechter eine gewisse Wiederkehr frauenhafter Eigenschaften, die in gewissen Epochen unzweifelhaft weit mehr von männischer Art sind als in anderen, wo in denselben Zügen etwas geradezu häßliches erblickt worden ist.

      Dem Wechsel der seelischen Stimmungen, der sich in der Frauenfrage zeigt, innig verwandt sind die allermeisten Erscheinungen aus dem Gebiete des sozialen Lebens. Daß man die vollständige Identität aller jener Bewegungen, die sich in den unteren Schichten der Bevölkerungen gegen die oberen fast in jedem Jahrhundert wiederholen, heute nicht deutlicher zu erkennen und zuzugestehen pflegt, kommt lediglich daher, weil man das, was heute mit weit hochtönenderen Namen bezeichnet wird, in den früheren Zeiten einfach Bauernkriege nannte, wobei man an nichts als an jenen Gegensatz der Arbeiterklassen zu denken pflegte, welche jetzt den gleichen Kampf führen. Einer der wenigen Praktiker, die den gemeinsamen Charakter der „sozialen Frage" am Anfang des 16. und am Ende des 18. Jahrhunderts erkannt hatten, war der erste Napoleon, der von Karl V. meinte, er hätte sich der Bauern gerade so gut zur Aufrichtung einer neuen Macht bedienen können, wie der Tyrann des 19. Jahrhunderts der Demokratie. Die Geschichtsforschung vermag mit immer tieferer Erkenntnis der Dinge nachzuweisen, daß zwischen den wiedertäuferischen Lehren und den sozialistisch-communistischen Theorien kaum noch ein Unterschied in Wesen der Sache, sondern höchstens in den Formen und Mitteln besteht, allein Beobachtungen dieser Art läßt sich der Eigendünkel keiner Zeit gerne gefallen, und so wollen merkwürdigerweise Regierung und Regierte nicht viel davon hören, daß die ganze Comödie der Irrungen, die man heute sozialdemokratisch aufführt, eben uralte Geschichten sind. Nichts destoweniger bleibt es gewiß, daß alle Erscheinungen in dieser Richtung eine Regelmäßigkeit der Wiederkehr erkennen lassen, die sich doch nur dann erklären läßt, wenn man Eigenschaften in Betracht nimmt, die von Geschlecht zu

Geschlecht dem geschichtlich thätigen Menschen anhaften und immer wieder zur Aeußerung gelangen müssen, weil sie auf Zeugung und Abstammung beruhen, und eben vermöge der Vererbung nach ihren äußeren Wirkungen hin den Schein eines objektiv wirkenden Gesetzes erregen. Statt nun in diesem genealogischen Problem den eigentlichen Gegenstand der Forschung aufzudecken, zeigt man mehr Neigung irgend einen Plan zu enthüllen, der in dem Gange der Geschichte zum Ausdruck kommen soll. In Wahrheit sind es aber die in den Menschen forterbenden Gebrechen und Bedürfnisse, welche dieselben Wirkungen erzeugen und wenn die Philosophen des vorigen Jahrhunderts sehr viel von den angeborenen Menschenrechten sprachen, so standen sie damit einer genealogischen Beobachtung eigentlich nicht ganz ferne, sie suchten nur eine Lösung auf einem Gebiete, welches selbst von der dem Menschen angeborenen Natur nicht unabhängig und nicht zu trennen war. Wenn jemand sagen sollte, was sich seit den Zeiten der Jaquerie in den Bewegungen und Kämpfen der unteren Stände gegen die oberen im wesentlichen geändert habe, so wird er zwar in den Gegenständen der Beschwerden und Leiden des einen Theils und in der Natur der Uebergriffe und Sünden des anderen deutliche Unterschiede wahrnehmen können, aber die subjektive Grundlage des ganzen Kampfes müßte er doch als unverändert und unveränderlich anerkennen. Es handelt sich heute nicht um Frohndienste und Leibeigenschaft, nicht um den Fisch im Wasser und den Vogel in der Luft, es handelt sich um Lohn und Arbeitszeit, aber auch um Eigenthum und Erbe. Wo ist der Unterschied? Sind es nicht dieselben angeborenen Eigenthumsbegriffe auf der einen Seite und dieselben menschheitlichen Gleichheitsbegehrungen auf der andern Seite, die mit einander ringen; und was im Laufe der Geschlechtsreihen immer wieder zum Vorschein kommt,ist es nicht eine Regelmäßigkeit, die sich lediglich aus der unveränderten Natur natürlicher Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse erklärt? Was sich davon als äußerliche Wirkung geschichtlich zu erkennen gibt, ist das Auf- und Abwogen dieses sozialen und moralischen Meeres. Welle auf Welle stürzt sich und drängt sich zum Ufer und immer wieder wird sie gebrochen und fällt in sich selbst zusammen, aber wie sagt doch

der Dichter: „Aber das Meer erschöpft sich nicht.“ Wer am Ufer steht und zusieht kann wol eine Art von Gesetz darin finden, wie sich mit mathematischer Sicherheit in gewissem Zeitmaß die Wogen aufeinander folgen. aber indem er sich dieser Beobachtung erfreut, ist seine ganze Weisheit auch schon am Ende. Wenn er die Natur des Menschen betrachtet in dessen Geschlechtsreihen die sozialen Wellen ihr Spiel treiben, so wird er nichts als den tausendjährigen Wunsch und Antrieb nach dem tausendjährigen Reich entdecken. Der Chiliasmus treibt sein Wesen durch alle Zeiten hindurch, er lebt und webt unter mannigfaltiger Standarte, aber irgend etwas anderes, als das Vorhandensein von chiliastischen Träumen in den Seelen unzähliger Generationen ist damit nicht zu ersehen. Wenn der Historiker diesen gesellschaftspsychologischen Zustand untersucht, so stellt er sich eigentlich nur auf den Standpunkt eines nach wissenschaftlichen Erfahrungsgrundsätzen arbeitenden Pathologen; er sollte sich, wie dieser auch nicht durch eine falsche Fortschrittsidee zu der Meinung verleiten lassen, daß es eine Zeit geben werde, wo die Menschen nicht mehr krank sein werden.

      Neben den von Geschlecht zu Geschlecht forterbenden historischen Beweggründen scheinen solche, die nur von Zeit zu Zeit auftreten, genealogisch genommen, fast noch mehr Interesse zu bieten. So spielt der politische Mord in der Geschichte eine Rolle, für welche die objektive Geschichtsforschung in keiner Weise eine Erklärung zu geben vermöchte, wenn sie nicht auf die persönlichen Bedingungen einginge, unter denen solche Thatsachen eintreten und oft völlig veränderte Richtungen in dem Leben eines ganzen Staates zur Folge haben. In Rußland sind seit Peter III. bis Alexander III. von den sieben Monarchen nur drei eines natürlichen Todes gestorben; auf die Staatsoberhäupter von Frankreich sind seit 1815 so viele Attentate versucht worden, daß die stete Wiederholung dieser Thatsachen eine Art von Regel bildet. Vergleicht man ferner die politischen Morde bei den lateinischen Völkern, mit denen bei den germanischen Rassen, seit etwa 600 Jahren, so kann man sagen, es sei eine Charaktereigenschaft der slavischen und romanischen Nationen, die in den politischen Mordthaten und Versuchen zum Ausdruck kommt. Man schließt hier aus der Häufigkeit derselben

politischen Thatsachen auf eine Eigenthümlichkeit der individuellen Beschaffenheit, die sich bei verschiedenen von einander abstammenden Menschen verschieden entwickelt. Die historische Thatsache des häufigen Vorkommens des politischen Mordes bei den einen gegenüber den andern ist mithin nicht objektiv zu erklären und begreifen, sondern es liegt etwas zu Grunde, was auf Vererbung von einem Geschlecht auf das andere beruht.

      Sehr interessant ist die in neuester Zeit wieder hervortretende Neigung, die Vertretungskörper verschiedener Nationen mit tödtlichen Waffen anzugreifen, denn auch dieses seltsame Verbrechen ist in der That in keiner Weise als etwas neues zu betrachten. Die englische Pulververschwörung beweist, daß vor 300 Jahren bereits eine solche Unthat von einer erheblichen Zahl von Genossen als eine politisch erwünschte Handlung angesehen worden ist. Sehr sonderbar würde sich die heule wiederholte Thatsache aber darstellen, wenn man auf diese Vorgänge das beliebte historische Entwicklungsgesetz und die Annahme eines menschheitlichen Fortschritts anwenden wollte. Da müßte der Fortschritt darin gesehen werden, daß die Verschwörer vor dreihundert Jahren soviele Fässer Pulver nötig zu haben glaubten, während der heutige Anarchist seine Bombe vergnügt in seiner Tasche trägt. Wollte man aber auch in dieser technischen Vervollkommnung der Mordwerkzeuge das Wirken des Fortschritts nicht läugnen, so müßte man doch andererseits zugestehen, daß bei den dabei in Betracht kommenden Personen in gewisser Beziehung ein Rückschritt bewiesen werden kann, denn offenbar gehörte ungleich mehr Muth und Ausdauer dazu, das Attentat von 1605 in Szene zu setzen, als eine Bombe in einen Saal voll Menschen zu schleudern. Kaiser Napoleon III. hat einmal die treffende Bemerkung gemacht, daß die Attentäter früherer Zeiten mutigere und entschlossenere Leute gewesen wären als die heutigen, denn indem sie mit dem Dolch auf ihr Opfer losgingen, waren sie demselben wirklich gefährlich und in ihrem Verbrechen fast immer erfolgreich, da sie ihr eigenes Leben einsetzten, während der Bombenwerfer davon zu laufen und sich zu retten beabsichtigt. In der That zeigt nichts deutlicher als die Geschichte der Verbrechen und insbesondere die der politischen Verbrechen, wie wenig

hier mit dem objektiven Entwicklungsgesetz anzufangen sei. Hingegen läßt sich durch die genealogische Betrachtung dieser so steten Wiederholung scheinbar ganz zufälliger Umstände, wie Attentate, das Räthsel leicht lösen, denn durch den immer wieder erwachten tigerartigen Trieb gewisser Charaktere, die zwar als Individuen starben, aber immer neugeboren wurden, ist eine Motivengleichheit erkennbar, die in der nie abbrechenden Vererbung der menschlichen Eigenschaften ausreichend begründet ist.

      Es ist klar, daß man hier an dem Punkte einer ungeheuren Aufgabe steht, welche die Genealogie in Verbindung und im Dienste der Geschichte zu erfüllen hat. Es ist gleichsam nur ein aus dem Dunkel führender Weg, dessen Weite sich vor uns zu entwickeln scheint. Was auf demselben den Sterblichen zu sehen und zu erkennen beschieden sein mag, sind natürlich nur die kleinsten Segmente eines ungeheueren Kreises von Vorgängen, zu deren Erklärung überhaupt nicht eine einzelne Wissenschaft, sondern der Inbegriff alles wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens erforderlich sein würde. Die Geschichtsforschung übernimmt nur aus den Beobachtungen über das gesammte Dasein des Menschen einen kleinen Theil, um denselben zur Erklärung jener historischen Thatsachen zu benützen, denen sie ihr Interesse zuwendet. Sie ist genötigt, das menschliche Wesen mit Rücksicht und Kenntnisnahme seiner mannigfachen persönlichen, physischen und moralischen Qualitäten und im Hinblick auf alle Thätigkeit zu beachten, die von demselben zur Erfüllung seines gesellschaftlichen Zweckes und Daseins ausgegangen ist. Sie macht sich dabei so wenig zum Arzt wie zum Beichtvater des Menschen, aber sie kann seine Eigenart nicht entbehren, wenn sie von seinen Werken mit dem Anspruch des redlichen Verständnisses sprechen soll. Die Geschichtschreibuug ist in dem Falle des Bildhauers, der dem Helden eine Statue setzen soll. Alle Kenntnis von den Thaten desselben kann dem Künstler nichts nützen, wenn er von seinem darzustellenden Feldherrn nicht weiß, ob er eine lange Nase gehabt oder einen Bart getragen habe. Wer in diesen Stücken das Porträt verkehrt gemacht hat, wird sich über harten Tadel nicht beklagen können, wenn er die Geschichte der Thaten des Helden auch noch so gut

studiert hätte, die ungenügende Kenntnis der Nase, des Mundes und der Ohren reicht hin um sein Standbild völlig verfehlt erscheinen zu lassen. So hat auch der Geschichtsforscher nur die Hoffnung, in die Motive Einblick zu gewinnen, wenn er den Urheber der Ereignisse in seinen Eigenschaften erkannt hat, und da in einer Reihe von Begebenheiten, welche die Lebenszeit eines einzelnen weit übersteigen, die Eigenschaften vieler Generationen in Betracht zu ziehen sind, so entspricht dem Laufe der Jahrhunderte eine Reihe von Vererbungen vieler aufeinander folgender Zeugungen.

      Es ist richtig, daß diese Art von Forschung, welche im strengsten Sinne des Wortes rein genealogisch vorgehen müßte, lange Zeiträume hindurch nicht durchführbar wäre. Es gibt unzählige werthvolle Ueberlieferungen der Geschichte, welche nichts als Thatsachen mittheilen, wie Virgil in Dantes Inferno massenhaft Schatten zeigt vom Namen getrennt. So wandern in vielen Epochen Thatsachen auf Thatsachen dahin, hinter denen sich nur die Schattenumrisse von Menschen zeigen, welche die Ereignisse hervorgebracht haben. Alle Feldzüge und Eroberungen Attilas geben von dem Hunnenkönig nicht den leisesten persönlichen Begriff, und wenn ihn Raphael malte, so ist sein Bild ein Produkt seiner Phantasie, aber auch nicht schlechter als das, welches der gelehrteste Historiker von ihm entwerfen mag. Alle Geschichte nimmt erst dann eine concrete Gestalt an, wenn sie genealogisch wird. Sie zeigt alsdann Personen, die unter uns zu wandeln scheinen, weil sie von vielen gekannt und beschrieben wurden und in dem Rahmen eines Porträts auf die Nachwelt gekommen sind, welches inmitten einer Ahnengallerie alle Merkmale individueller und familiärer Beurtheilung darbietet. Es versteht sich von selbst, daß die Geschichte jener Zeiträume, von denen uns fast nur Thatsachen und keine Personenreihen überliefert sind, nicht im mindesten weniger merkwürdig, oder werthloser ist. Es ist ganz berechtigt, daß das Interesse der Geschichtsforscher oftmals desto größer zu sein pflegt, je mehr man sich den dunkeln Jahrhunderten nähert, aus welchen wenig persönliches, außer verworrenen Nachrichten von tödtlichen Speerwürfen und tapferen Streichen gegen den Feind überliefert ist. Indem sie mit größtem Fleiße und tiefem Scharfsinn nach

den „Zuständen“ forschen, vermögen sie vielleicht, eben weil der schwer zu berechnende Faktor der Wesenseigenschaften. aus denen sich das Produkt entwickelte, bei Seite geblieben ist, die objektiv vorliegenden Thatsachen in eine desto bessere Ordnung und in ein System zu bringen. Allein darüber kann keine Täuschung stattfinden: die Fortschrittsfrage kann auf diesem Wege nie und nimmer gelöst werden, weil alle Vervollkommnungen, von denen die Zustände noch so beredtes Zeugnis ablegen, nur zeigen können, daß das Produkt der menschlichen Hand ein besseres geworden, die Hand selbst aber die gleiche geblieben ist.

      Anders stände es natürlich mit der Frage des Fortschritts, wenn man durch Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse belehrt werden könnte, daß der Mensch in seinen physiologischen, psychologischen und moralischen Eigenschaften selbst eine Verbesserung erfahren habe. Hier ist der Punkt, wo sich die genealogische Forschung auf die vollste Höhe naturwissenschaftlicher Bedeutung erheben würde, wenn es ihr gelänge, auch nur die kleinsten Resultate auf erfahrungsmäßigem Wege festzustellen. Daß sie dabei durchaus vom einzelnen ausgehen würde und nur aus der Sammlung von vielen einzelnen Fällen zu Schlüssen allgemeiner Art gelangen könnte, würde ihr dabei nicht zum Schaden gereichen, so lange der Triumphzug der inductiven Logik der neueren Wissenschaften nicht als eitle Täuschung angesehen werden wird. Indem die Genealogie mit ihrem wesentlichen Erkenntnisprinzip auf dem Grunde der Erblichkeit der Eigenschaften ruht, betrachtete sie das Fortschrittsproblem lediglich unter dem Gesichtspunkt einer Variabilität, die sie als eine Vervollkommnung des individuellen Wesens nachzuweisen und mithin als die Möglichkeit einer solchen in Absicht auf die Menschheit überhaupt zu erschließen vermöchte. Und wenn in dieser ohne Frage größten Sache menschlicher Wißbegierde die Genealogie auch nur eine leiseste Unterstützung anderen Wissenszweigen bieten könnte, so würde sie dadurch schon auf einen sehr hohen Standpunkt gehoben sein.

      Es kann selbstverständlich in einleitenden Worten nicht davon die Rede sein, daß die sich so gewaltig darstellenden Aufgaben einer gleichsam jungfräulich dastehenden Wissenschaft ohne weiteres erfüllbar

seien, aber eine gewisse Vorstellung davon wird man sich doch bilden müssen, wie man sich der Lösung des Problems nähern könne. Hierbei darf es der Genealog ohne Zweifel den physiologischen und psychologischen Untersuchungen vollständig überlassen, wie die Vorgänge zu denken und erklären seien, die den als Eigenschaften erscheinenden Einzelwirkungen des Menschen zu Grunde liegen. Indem sich diese aber eines Theils auf das Gebiet materieller, anderntheils auf das Gebiet äußerlich unmeßbarer Kraftverhältnisse beziehen, so wird der Genealog von jenen anderen Wissenschaften auch jene Eintheilungen übernehmen dürfen, nach welchen die Eigenschaften in ihrer Vererbung von einem Individuum auf das andere, theils als physische, theils als intellektuelle, theils als moralische bezeichnet zu werden pflegen. Man kann wol behaupten, daß die Genealogie bei der Beurtheilung der physischen und moralischen Eigenschaften, soweit ihre Quellen reichen, ein weit leichteres Spiel haben dürfte, als in Bezug auf die intellektuellen, und man dürfte sich einer vollen Zustimmung zu erfreuen haben, wenn man behauptete, daß das vielberührte Fortschrittsproblem eigentlich in der Frage einer Vervollkommnung der letzteren Qualitäten wesentlich begrenzt erscheint. Indessen ist selbst in Betreff der physischen Kraftverhältnisse menschlicher Generationen, so viel auch darüber hin und hergeredet worden ist, und so vielerlei Vermutungen darüber ausgesprochen zu werden pflegten, eine gründliche historisch-genealogische Untersuchung niemals angestellt worden und wenn sich die einen einbilden, daß die Schwabenstreiche in den Kreuzzügen, die Uhland besungen hat, viel gewaltiger gewesen seien, als die der Kürassiere bei Mars la Tour, so weiß man solche kaum mit guten Gründen zu widerlegen, obwol es sich doch hier um ein Problem handelt, welches allen Ernstes zu untersuchen, vom Standpunkt vieler Wissenszweige sehr wichtig wäre. Aber hier fehlt es wiederum an der richtigen genealogischen Methode. Wer sich aus ein paar kulturhistorischen Momenten, erhaltenen Rüstungen, Waffen, Werkzeugen und dergl. über die Stärke und Schwäche der Menschen, sei es ein günstiges oder ungünstiges Urtheil, bilden möchte, indem er in den verschiedenen Zeiträumen der Welt umherspringt und bald da, bald dort eine Notiz erhascht,

kann sich unmöglich einbilden über die Fortschrittsfrage etwas auszusagen, da sie doch ihrer Natur nach nur etwas stetiges sein kann und dabei die Voraussetzung gelten wird, daß in der Vererbung ein Gleichmaß der Zunahme oder Abnahme geherrscht haben müßte. Ganz anders würde aus dem genealogischen Wege verfahren werden, denn auf diesem gibt es keine Sprünge von einem Jahrhundert in das andere, alles kann nur von Vater ans Sohn und Enkel übergehen; diese Methode hält sich entweder an die Vergleichung von Abstammnngsreihen, oder sie existirt überhaupt nicht, denn nur aus der wirklichen Beobachtung der Väter und Söhne vermag sie Schlüsse zu ziehen. Nun könnte man freilich sagen, auch für die nächsten vergangenen Generationen werde man nicht im Stande sein, die physischen Kräfte mathematisch zu bestimmen, weil es darüber an den nötigen Experimenten im 19. Jahrhundert ebenso sehr mangelt, wie zu den Zeiten der Kreuzzüge, aber diese Einwendung läßt es nur bedauerlich erscheinen, daß ähnliche Forschungen von Geschlecht zu Geschlecht nicht schon früher unter den civilisirten Völkern begonnen haben, aber sie besagt nichts gegen die genealogische Methode, als solche, vielmehr fordert sie bloß auf dafür zu sorgen, daß man in diesen Fragen künftig mehr genealogisches Material sammelt und überliefert, da das bis jetzt vorliegende in nötigem Umfang nicht vorliegt; aber mit ähnlichen Schwierigkeiten haben die meisten Wissenschaften, die Statistik, die Hygiene und viele andere zu kämpfen. Hier kommt es nur darauf an zu zeigen, daß die genealogische Prüfung der physischen Kraft des Menschen der einzige Weg sein wird, um bestimmen zu können, ob eine leise Ab- oder Zunahme vorzukommen pflegt.

      Merkwürdigerweise liegt heute schon etwas mehr Material zur Beurtheilung der moralischen Fortschrittsfragen vor. Die Statistik, die sich glücklicherweise vermöge ihrer Ouellen ganz bestimmt an die Beachtung der nächsten Generationen zu halten genötigt war, hat in Bezug auf die negative Seite der moralischen Eigenschaften ganz zahlreiche Beobachtungen anzustellen begonnen, wobei häufig die Frage der Vererbung nicht unbeachtet blieb. Es muß aber zugestanden werden, daß auch hier aus geschichtlichen

Quellen noch vieles nachzuholen sein wird. Indessen ist das Problem des sogenannten moralischen Fortschritts so sehr mit dem gesammten Gesellschaftszustand verknüpft, daß die Aufgabe der Genealogie in dieser Beziehung – da sie sich immer nur an den concreten Einzelfall halten kann – vielfach zurücktreten wird. Die Eigenschaften, die Gegenstand moralischer Bewertung sind, werden, wenn sie collektiv in ihren Wirkungen zusammengefaßt sind, dem Statistiker ein gewisses Bild der Zunahme oder Abnahme darbieten, aber seine Beobachtungen werden individuell genommen, nur dann für den genealogischen Fortschritt in Betracht kommen, wenn er jemals das Verschwinden gewisser Eigenschaften nachweisen könnte. Aber so lange die Qualitäten, mit denen die Moralstatistik zu thun hat, immer dieselben bleiben, kann es wol eine genealogische Vererbungsfrage in Bezug auf die individuellen Fälle, aber keine Fortschrittsfrage im allgemeinen geben, weil die Zunahme und Abnahme des Verbrechens überhaupt nicht den einzelnen charakterisirt, sondern nur den gesellschaftlichen Zustand im ganzen. Es ist daher von verschiedenen Seiten her oft behauptet worden, daß das Moralprinzip an sich eine Veränderung nicht erfahren kann. Auf dem genealogischen Wege können daher wol große Erfahrungen darüber gesammelt werden, in wie weit gewisse auf die Moral bezügliche Eigenschaften erblich seien u. dergl., aber wenn von einem Fortschritt in moralischer Beziehung die Rede sein soll, so kann damit nichts anderes gemeint sein, als daß eine gewisse Art von Tugenden, oder eine gewisse Art von Gebrechen in einer gewissen Classe von Menschen, oder in einer ganzen Nation, oder in einer zufälligen Staatsgemeinschaft häufiger, oder seltener zur Beobachtung gekommen sind. Die Eigenschaften, die hier wirksam waren, dürften wol kaum von jemand in Bezug auf das Individuum in ihrer vollen Unveränderlichkeit verkannt werden können. Denn wenn jemand an Kleptomanie leidet, so kann er zwar nach der Größe des Diebstahls stärker oder schwächer bestraft worden sein, aber wenn man die Fortschrittsfrage der Menschheit nach den Objekten der verbrecherischen Handlungen beurtheilen wollte, so käme man zu den sonderbarsten Schlüssen. Für den Genealogen, der etwa in der Lage war, Kleptomanie in einer Reihe von Abstammungen nachzuweisen,

wird es ganz gleichgiltig sein, ob der Großvater nur kleine Summen und der Enkel dem heutigen Zustand gemäß eine Million entwendet hat; er wird sich doch dadurch nicht bestimmen lassen von einem moralischen Rückgang oder in einem umgekehrten Fall von einem Fortschritt zu sprechen. Die individuelle Eigenschaft, welche genealogisch in Betracht kommt, ist immer dieselbe, und so lange der Nachweis geliefert werden kann, daß es gute und böse Menschen gegeben, dürfte in der That die Fortschrittsfrage im Gebiete der Moral nur in Rücksicht auf gewisse kollektivistische Wirkungen zu Resultaten führen.

      Viel schwieriger aber auch lehrreicher gestaltet sich das Problem in Betreff der den Menschen innewohnenden intellektuellen Eigenschaften, in Bezug auf welche ohne Zweifel der Genealogie ein großes Feld, vielleicht der bedeutendste Antheil an seiner Bearbeitung, eröffnet zu sein scheint. Daß dies der Fall ist, haben auch die hervorragendsten Vertreter neuerer psychologischer Wissenschaften vollständig anerkannt. Denn man kann sagen, daß alle Entscheidung der Frage, ob es einen inneren Fortschritt der in der Geschichte wirkenden Individualität gebe oder nicht, von der Beobachtung über die Zunahme des Intellekts in aufeinanderfolgenden Generationen abhängt. Daß die Behauptung als solche oftmals aufgestellt und mit vieler Gelehrsamkeit vertreten worden ist, beweist, daß man den Punkt unzweifelhaft richtig zu bezeichnen gewußt hat, um welchen sich das Fortschrittsproblem überhaupt dreht. Die Schwierigkeit liegt eben nur darin, den empirisch herzustellenden Beweis von der Vermehrung, und man darf gleich hinzufügen von Vermehrbarkeit, Verbesserlichkeit, Erhöhung des Intellekts zu liefern. Es braucht nicht wiederholt zu werden, wie sehr sich die Naturwissenschaften von den äußerlichen Schädelmessungen angefangen bis zu den sorgfältigsten Untersuchungen der Gehirnsubstanz seit lange bemüht haben, um greifbare Beweise für ein Postulat zu erbringen, welches sich aus dem Satze zu ergeben scheint, daß größerer Arbeitsleistung auch eine größere Kraft entsprechen müsse. Indessen vermag sich die Forschung doch nicht bei einer so formalen Entscheidung zu beruhigen, sie wünscht durchaus auch im Einzelnen den Fortschritt in seinen sichtbaren

Eigenschaften, sei es in realem oder idealem Sinne, nachzuweisen. Die Genealogie wird sich nicht vermessen, hier das letzte Wort sprechen zu wollen, aber wenn sie in dieser Richtung ein schon vielfach vorbereitetes Thatsachenmaterial nach Gesichtspunkten dieser Art geordnet haben wird, wie es keiner anderen Wissenschaft zu Gebote steht, so wird man sich wundern, daß nicht von allen Seiten mehr geschehen ist, um das brach liegende Feld zu bearbeiten.

      Auf den ersten Blick ist es ja richtig, daß die genealogische Beobachtung wenig Förderung zu geben scheint. Sie zeigt uns Väter von größter Gelehrsamkeit, deren Kinder immer wieder von neuem beginnen müssen, Dichter, welche keine dichterisch veranlagten Söhne haben, freilich auch Maler und Musiker wiederum, die eine ganze Generationenreihe gleicher Talente, eben Maler und Musiker, hervorbringen, – wo ist da der Fortschritt? – im allgemeinen steht es ja fest, daß niemand den Mutterlaut der Sprache mit auf die Welt bringt, daß das deutsche Kind in Frankreich ein Franzose wird und unter den Chinesen bloß chinesisch sprechen lernt. Könnte man vermöge dieser Beispiele, die hundertfältig zu vermehren wären, an der Vererbung des besondern Intellekts überhaupt vielleicht verzweifeln, wie wollte man die um soviel schwierigere Fortschrittsfrage auf diese Art zu lösen sich vermessen? Und doch gibt es Erwägungen, welche den genealogischen Weg der Beobachtung für wichtig genug erscheinen lassen. Man trete zunächst den Erscheinungen der Thierwelt, welche vermöge ihrer einfachen Lebensäußerungen zuverlässigere Schlüsse zuzulassen scheint, etwas näher. Das Pferd, welches im wilden Zustand mit dem Lasso eingefangen und nur durch die schwersten zum Theil grausamsten Zwangsmittel den Zwecken des Menschen dienstbar gemacht werden kann, verändert in der häuslichen Züchtung seine Natur so sehr, daß der Stallmeister die Abkömmlinge guter Reit- und Fahrpferde, sobald sie in dem entsprechenden Alter stehen, durch die einfachsten Erziehungsmittel an den Sattel zu gewöhnen oder an den Wagen zu spannen vermag. Die Züchtung der Jagdhunde besorgt der Jäger mit solcher Vorsicht in der Auswahl der Eltern, daß er sich der Talente seiner Zöglinge versichert weiß, bevor er noch den

ersten Erziehungsversuch gemacht hat. Alle unsere heutigen Hausthiere lassen im Vergleiche mit den wilden Spielarten derselben Rasse schon von der Geburt an Eigenschaften erkennen, die jenen durchaus mangeln. Schließlich dürfte kaum jemand gegen die Annahme etwas einzuwenden haben, daß die wilde Katze und die Hauskatze, obwol sie derselben Art angehören, eben doch nur ihres gleichen zur Welt bringen. Darin liegt vielleicht für die Frage der Variabilität in Bezug auf Fortschritt mehr Beweiskraft, als in den vielen Fällen, welche durch die Zuchtwahl festgestellt sind. Denn bei dieser handelt es sich um ein durch physische Umstände herbeigeführtes Produkt; bei der Beobachtung des gezähmten Thieres, welches eben nur gezähmte Nachkommenschaft erzielt, liegt dagegen der Fall vor, daß sich Eigenschaften im Wege der Vererbung nachweisen lassen, die im psychischen Sinne unzweifelhaft für erworben gelten können. Und diese Ueberlegung ist deshalb für die Fortschrittsfrage besonders wichtig, weil vom Standpunkt physiologischer Betrachtung der Begriff der erworbenen Eigenschaften weit schwerer zu fassen ist und eine Uebereinstimmnng darüber, was unter einer solchen im physischen Sinne zu verstehen, nicht eigentlich vorhanden zu sein scheint. Ueberhaupt ist ja die Variabilität der sogenannten körperlichen Eigenschaften in der gesammten Lebewelt - ganz abgesehen davon, ob sie einen Fortschritt bezeichnet oder nicht - viel schwerer nachweisbar, als jene erwähnten Aeußerungen der civilisirten Thiere, die wir der Kürze halber psychisch nennen wollen. Das oft citirte Beispiel der sechsfingerigen Hand - wobei es unentschieden bleiben mag, ob es ein Fortschritt heißen müßte, wenn mir 12 Finger hätten - ist jederzeit eine vereinzelte, genealogisch unfruchtbare Erscheinung geblieben. Und wie viele Dinge ähnlicher Art ließen sich bemerken. In den letzten Capiteln dieses Werkes wird gezeigt werden, in welcher Weise man vermittelst der genealogischen Methoden sich der Entscheidung dieser Frage zu nähern vermöchte.

      Betritt man das Gebiet menschlicher Empfindungsvererbungen, so scheint die Geschichte der Musik eines der vorzüglichsten Capitel in Betreff der fortschreitenden Eigenschaften bilden zu können. Denn wenn die Aeußerungen der schönen Künste, welche dem Wesen

der menschlichen Natur entspringen, vermöge der unmittelbaren Betheiligung der Sinnesorgane an den Hervorbringungen des Malers, des Bildners, des Tondichters überhaupt geeignete Objekte der Untersuchungen über psychische Vererbung sein dürften, so sind die in der Musik unzweifelhaft hervortretenden „Compositionstechnischen“ Fortschritte noch besonders geeignet Rückschlüsse auf die inneren Veränderungen der musikalischen Empfindungsorgane zu gestatten. Man weiß, daß die heute lebenden Kulturvölker noch vor verhältnismäßig ganz kurzer Zeit nur homophone Musik gekannt haben; die allmähliche Entwicklung, in welcher die Harmonie mehr und mehr dem menschlichen Ohr als wolthuende Wirkung akustischer Vorgänge erschien, ließe sich als eine historische nach allen Seiten hin genau bestimmen, wenn man die Generationen rückwärts zählen wollte, die unter dem Einfluß der Accorde ihre Nerventhätigkeit entwickelt haben. Wahrscheinlich handelt es sich um nicht mehr als zwei oder dritthalb Dutzend Vorväter Richard Wagners, welche sich allmählich von dem Wolgefallen des Einklangs zu der Polyphonie seines Parsifal hindurchgerungen und emporgehoben haben. Ob der musikalische Abt Hermann von Reichenau toll geworden wäre, wenn man ihn unmittelbar aus seinem Grabe in das Bayreuther Parterre hätte setzen können, läßt sich nicht sagen, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß er die Tonwirkung der polyphonen Musik für nichts anderes, als ein Nebeneinanderlaufen von Tonreihen dreier, vier oder mehrerer Personen und Instrumente empfunden haben würde, wie wir etwa nach verschiedenen Seiten hinhören, wenn gleichzeitig drei oder vier Musikchöre aus der Ferne schallen. Erwägt man die verschiedenen Resultate, welche die neuere Tonpsychologie durch Experimente mit gleichzeitig lebenden Menschen zu Tage gefördert hat, so kann historisch-genealogisch betrachtet wol kaum ein ernster Zweifel bestehen, daß unser zwölfter Großvater musikalisch anders organisirt war, als der Besucher des Bayreuther Theaters. Worin diese Variabilität bestand oder vielmehr bestehen konnte und als denkbar sich zeigen dürfte, läßt sich ja bekanntlich durch kein Experiment feststellen, und es ist dies freilich überhaupt der Mangel aller historischen Erfahrung, allein die vordringende Kenntnis der Vorgänge des menschlichen Organismus kann es möglicherweise

dahin bringen, die qualitative Veränderbarkeit – die Abänderungsfähigkeit gerade jener Organe aufzuzeigen, die beim musikalischen Empfinden hauptsächlich betheiligt sind. Die Genealogie muß, kann und wird hier dem forschenden Physiologen oder Psychologen sicherlich unter die Arme greifen, um das Fortschrittsräthsel zu lösen. Ist nun darüber kein Zweifel, daß der Fortschritt der Musik in der polyphonen Ausgestaltung gleichzeitiger Tonwirkungen lag, so muß dieser äußeren Thatsache eines Fortschritts der „Technik“ allerdings auch eine fortschreitende Variabilität der vererbten Eigenschaften entsprechen. Die Schwierigkeit liegt fürs erste wahrscheinlich nur darin, daß zunächst in der äußeren Einrichtung des das musikalische Empfinden bedingenden Organs physiologisch betrachtet im Laufe geschichtlicher Zeiten gewiß keinerlei Veränderung erkennbar war; vielmehr weist alles, was man vom menschlichen Ohr durch Darstellungen und Abbildungen wie durch Beschreibungen seit tausend Jahren erfahren hat, auf eine völlige Unveränderlichkeit hin. Wenn also dennoch dem heutigen Menschen in der Polyphonie der Musik angenehme Empfindungen erregt sind, die den früheren Geschlechtern mindestens unbekannt waren, wahrscheinlich unangenehm gewesen wären, so stellt sich die Annahme von einer stattgefundenen Veränderung der neuerdings angeborenen Eigenschaften doch als ein logisches Postulat dar; und wenn die Beobachtung einer solchen Veränderung an den Organen der musikalischen Empfindung selbst nicht möglich war, so würde man vielleicht auf die älteren psychologischen Anschauungen gestützt sagen dürfen, daß jene Veränderungen, auf denen der Fortschritt der musikalischen Empfindungen beruhte, in den imponderabeln Oualitäten des Menschen gesucht werden könnten, die dem Messer und Mikroskop unerreichbar zu sein scheinen.

      Wie man auch die colossalen Wirkungen der Polyphonie auf das menschliche Empfindungsvermögen erklären mag, darüber kann kein Zweifel sein, daß der Vererbungsbestand von dem, was man heute im Gegensatze zum homophonen Tonsystem als Musik bezeichnet, ein völlig verschiedener ist. Die erlangte Fähigkeit des Verständnisses der Harmonie setzt unbedingt eine angeborene Variabilität der Eigenschaften voraus, welche bei den Tonempfindungen

maßgebend sind. Und damit ist ein Beispiel gegeben, daß den in den äußern Erscheinungen als technisch zu bezeichnenden Fortschritten auch ein die inneren Qualitäten betreffende Veränderung entspreche. Würde bei der genealogischen Betrachtung sich nun ein Beweis führen lassen, daß dieser innerliche Fortschritt in Geschlechtsreihen zur Erscheinung kommt, so wäre ein wesentliches Moment in der Frage des historischen Fortschritts gegeben. Freilich würde die Genealogie damit noch immer nicht den Schluß zu ziehen gestatten, daß ein solches Fortschreiten etwas indeterminirtes sei, vielmehr ist es wahrscheinlich, daß die Veränderlichkeiten nur innerhalb gewisser Grenzen stattgefunden haben, und daß diese ebensogut in anderen Generationsreihen zu einem Rückschreiten führen könne, wie sie zunächst einen musikalischen Fortschritt zu erweisen schienen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß man auf dem Gebiete der Malerei bei Erscheinungen der Farbenwirkung gcnerationsweise Variabilität der Vererbung ebenfalls wahrnehmen könnte.

      Wie immer aber auch das Problem des qualitativen Fortschritts in der Geschichte gelöst werden mag, gegen einen Irrthum kann ganz sicher nur die Genealogie sicheren Schutz gewähren: gegen die Vorstellung von sogenannten Forschrittseinwirkungen, die sich aus der abstracten Theorie von allen in der Weltgeschichte vorgekommenen, oder nachgewiesenen, in Zeit und Ort verschiedenen Entwicklungen technischer Leistungen zu ergeben schienen. Ein Fortschritt dessen subjektive Rückwirkung überhaupt nicht als Vererbungsprinzip begriffen und durch Zeugung und Abstammung erwiesen werden kann, darf überhaupt kein Gegenstand einer Entwicklungslehre sein. Hier wird das genealogische Studium jederzeit eine Controlle für voreilige Schlüsse, oder allzukühne Vermutungen sein.

      Ganz besonders bedenklich und beschwerlich wird es für den Genealogen bleiben die Forschrittsfrage auch auf dem Gebiete des menschlichen Intellekts zu verfolgen, wo es sich um einen erhöhten Grad von Denkoperationen oder um eine tiefere Einsicht in die gemachten Erfahrungen einer Gesammtheit von untereinander durch Zeugung und Abstammung zusammenhängender Individualitäten handelt. Daß hier die Erblichkeit eine Rolle spiele, ist eine der am meisten umstrittenen Fragen und doch darf

behauptet werden, daß alle Fortschrittstheorien als gescheitert zu betrachten sein werden, wenn nicht im Intellekt der auf einanderfolgenden Geschlechter Vervollkommnungen angeboren sein sollten, die den staunenswürdigen objektiven Leistungen des modernen geistigen Lebens entsprechen. Sind wir darauf angewiesen den Fortschritt der Wissenschaften nur in der Vermehrung der Bibliotheken, in der Verbesserung der Mikroskope, in der Entdeckung immer neuer Reagentien zu erblicken, oder entspricht diesen technischen Entwicklungen auch ein von Geschlecht zu Geschlecht vererbter Fortschritt des geistigen Vermögens?

      Die Genealogie steht hier bekanntlich in einem Kampfe mit der Pädagogik und Methodologie der Wissenschaften selbst. Daß von dem genealogischen Prinzip ganz abgesehen werden könnte, scheint indessen doch auch die optimistischste Erziehungskunst nicht zu behaupten und kaum jemand wird der Meinung sein, daß man in den Schulen Afrikas dieselben Resultate erzielen könnte, wie in denen von Europa. Es handelt sich daher auch nicht darum, die Frage selbst zu lösen, sondern lediglich um den Antheil, der der Erblichkeit des geistigen Vermögens an den Resultaten der Erziehung zugesprochen werden darf. Für die Feststellung der genealogischen Aufgaben genügt es. wenn die Möglichkeit des Fortschritts im Intellekt nicht ausgeschlossen ist; und daß dies wirklich nicht der Fall, darüber mögen einige Erwägungen zum Schlusse wol am Platze sein.

      Jedermann weiß, daß alle erworbenen Kenntnisse der Väter den Söhnen verloren gehen; von den Sprachen, die jene sprachen, von den Naturgesetzen, die sie beherrschten, von dem ganzen Erfahrungskreis, der ihnen zu Gebote stand, ist nichts auf diese übergegangen, selbst das Einmaleins müssen die Kinder immer von neuem wieder lernen. Wenn also durch unzählige Beispiele, von denen in den späteren Capiteln dieses Buches zu sprechen sein wird, dennoch nachgewiesen ist. daß Vererbungen geistiger Qualitäten stattfinden, so ist es klar, daß es sich nicht um eine materielle Uebertragung von irgendwelchen erworbenen Fähigkeiten, Vermögen oder Kräften gehandelt haben könne, sondern um eine Eigenschaft, welche dem Kinde möglich macht, das von den Eltern erworbene

ebenfalls zu erwerben und zwar in einer graduell und virtuell erhöhten Weise. Das Fortschrittsmoment kann nur darin gesucht werden, daß die von den Eltern schon erworbenen Fähigkeiten von den Kindern vermöge der ererbten Anlage dazu so nutzbar geworden sind, daß eine Erhöhung der Leistungen in jeder nächsten Generation ermöglicht worden ist. Das subjektive Fortschrittsprinzip des Intellekts stellt sich aber bei dieser Betrachtung in wesentlicher Analogie zu den vervollkommten Tonempfindungen der späteren Geschlechter, als eine erhöhte Disposition dar, den intellektuellen Productionen nachzukommen.

      Man sage nicht, daß mit dieser Ueberlegung nicht viel gewonnen wäre, wenigstens auch von medizinischen Autoritäten wird es ja zuweilen anerkannt, daß die Wissenschaft der Pathologie trotz aller bewunderungswürdigsten Forschungen über die Ursachen der Krankheiten nicht ohne die Annahme von Dispositionen auszukommen vermöchte. Wenn es den genealogischen Studien gelänge durch methodische Entwicklung dieser Wissenschaft zu zeigen, daß sich von Geschlecht zu Geschlecht nicht bloß der Normalbestand des intellektuellen Vermögens, sondern auch jene Variabilitäten zu vererben vermögen, die eine erhöhte geistige Production und eine vermehrte Thätigkeit der die Welt der Begriffe bedingenden physischen und psychischen Organe ermöglichen, so wäre damit allerdings auf empirischem Wege der Beweis hergestellt, daß der von ’’Kant’’ geahnte Fortschritt im Sinne der Auswicklung der menschlichen Fähigkeiten thatsächlich vorhanden sei. Freilich würde aber die Einschränkung gemacht werden müssen, daß dieser Fortschritt außerhalb jener Abstammungsreihen, die auf Zeugung und Vererbung beruhen, keineswegs gedacht werden könnte. Eine in weltbürgerlicher Absicht gedachte bloße Form äußerer Zustände könnte diese Auswicklung beziehungsweise diesen Fortschritt unmöglich hervorbringen, solange nicht Rückwirkungen auf das Subjekt in den veränderten Eigenschaften der Vererbung auch genealogisch zum Ausdruck gekommen sind. Der naturwissenschaftlichen Forschung wird es vorbehalten sein die sichtbaren Merkmale solcher Veränderungen in der Aufeinanderfolge der Geschlechter zu entdecken, die Genealogie wird sich immer darauf

beschränken Thatsachen zu bezeichnen, die das subjektive Fortschrittsmoment in der Zeugung und Abstammung, d. h. eine höher entwickelte Befähigung, eine fortschreitende Disposition als etwas wahrscheinliches – wenn man will als ein logisches Postulat erkennen lassen. Sie liefert damit die allerwichtigsten Beiträge zur Frage des historischen Fortschritts, aber sie sichert zugleich auch vor jeder falschen Schlußfolgerung, welche in einer Anwendung des Begriffs des Fortschritts auf die dunkle Abstraction der sogenannten „Menschheit“ gesucht zu werden pflegt, indem sie keinen Augenblick von den Nachweisungen der Zeugung und Abstammung im einzelnen und besonderen abzusehen vermag.


Schlußbetrachtung.

      So vielfältig sind die Bande, welche die Genealogie mit dem größten Theile aller historischen und naturwissenschaftlichen Gebiete verknüpft, daß man die Erwartung aussprechen dürfte, sie werde sich in naher Zeit außerordentlich entwickeln und erweitern. Im Sinne einer Hilfswissenschaft gefaßt, wird sie kaum länger als ein bloßes Anhängsel politischer oder sozialer Geschichte gedacht werden können, sie wird vielmehr von denjenigen Wissenszweigen mehr und mehr herangezogen werden müssen, welche kurzweg in dem Begriffe der Biologie sich zu einer gewissen Einheit zu gestalten scheinen. Wer den Gang des modernen Wissensbetriebes unbefangen bedenkt, wird zugleich in den aufgedeckten Beziehungen eines Gebietes, welches zuweilen nur als eine Antiquität aus überwundenen Zeitläuften, als ein Ueberbleibsel feudaler Vorstellungen angesehen worden ist, die beste Gewähr seines Aufblühens erkennen, und man kann nicht zweifeln, daß die zahlreichen Interessen und die reichen Mittel, welche sich allen naturwissenschaftlichen Disziplinen zuwenden, früher oder später auch der Genealogie zu gute kommen werden. Das Material, welches diese Wissenschaft zu bewältigen hat, ist ein ungeheuer ausgedehntes und welche Masse von Beobachtungen aus den aufgespeicherten Schätzen genealogischer Ueberlieferungen zu gewinnen sein wird, ist heute nur erst zu ahnen.

Um dieses Meer von erkennbaren Thatsachen aber mit Nutzen auszuschöpfen, dazu dürfte viel gemeinsame Arbeit nötig sein, bei der es darauf ankommen wird, daß sich die Vertreter der verschiedensten Disziplinen mit aller Strenge nur jener Methoden bedienen, welche aus der Natur des Gegenstandes selbst hervorgegangen sind.

      Dazu sollte der Inhalt der folgenden Capitel dienen und helfen.




Erster Theil.


Die Lehre vom Stammbaum.




Erstes Capitel.




Genealogische Grundformen.

      Alle genealogische Forschung beruht auf einer doppelten, sehr verschiedenartigen Betrachtung von Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen. Wenn man eine bestimmte Persönlichkeit in die Mitte einer Reihe von Geschlechtern gestellt denkt, so lassen sich Beziehungen derselben entweder zu vorhergehenden oder zu nachfolgenden Generationen erkennen und darstellen. Indem man nun die innerhalb eines bestimmten Zeitraums vorsichgegangenen Zeugungen und Abstammungen verfolgt, die das Leben dieses Individuums bedingten und hervorbrachten, oder aber von diesem selbst ihren Ursprung und Ausgangspunkt genommen haben, ergibt sich eine vollständig verschiedene Ausfassung und Ansicht von dem genealogischen Problem. Im erstern Falle werden aus den in der Zeit vorhergegangenen Geschlechtern diejenigen Elternpaare zur Beobachtung kommen, die in stets sich verdoppelnder Art die Abstammung eines Individuums bewirkten, während im andern Falle die von einem Elternpaare ausgegangenen Zeugungen in absteigenden Linien an den sich vermehrenden Nachkommen verfolgt und nachgewiesen werden. Die Genealogie berücksichtigt mithin in besonderen Aufgaben Vorfahren, deren Zeugungen zusammengenommen das Dasein eines Individuums bestimmen, und Nachkommenschaft, die in ihrem Dasein von den Zeugungen eines Individuums bedingt war.

      Diese beiden Betrachtungsarten des genealogischen Stoffes sind etwas grundverschiedenes. Von dem deutlich erkannten Bilde ihres ganz verschiedenen Characters hängt alles richtige genealogische Verständnis und Denken ab.

      In darstellender Form wird jene Betrachtungsweise, welche von dem Individuum aufwärts steigend die sich verdoppelnden Elternpaare aufsucht, die „Ahnentafel“ genannt, während die Nachweisung der von einem Elternpaare abstammenden Nachkommenschaft den Namen der „Stammtafel“ trägt. Jede Verwechslung beider Begriffe, oder auch nur der Bezeichnung derselben , erschwert das richtige genealogische Verständnis und gibt Anlaß zu ganz falschen Folgerungen und Irrthümern aller Art.

      Der Begriff der Stammtafel umfaßt nur solche Darstellungen von Blutsverwandtschaften, die sich im Kreise der Descendenten d. h. jener Geschlechtsreihen bewegen, die vom Elternpaare ausgehen, die abstammenden Kinder aufzeichnen und diese immer wieder in ihren elterlichen Eigenschaften als Väter oder Mütter neuer Geschlechtsreihen betrachten. Auch die Bezeichnung „Stammbaum“ gebührt eigentlich durchaus nur dieser Art genealogischer Vorstellung, doch ist der Gebrauch dieses Wortes ein so vielfältiger, daß die erwünschte Einschränkung des Ausdrucks auf den bezeichneten Begriff der Stammtafel wol nicht leicht zu erreichen sein mag.

      Im Gegensatze zur Stammtafel stellt sich der Begriff der Ahnentafel als die Darstellung der Ascendenten dar, d. h. der Väter und Mütter eines oder mehrerer durch geschwisterliche Bande verbundener Individuen, und zwar in der Weise, daß die Eltern des Elternpaares, und immer wieder in aufsteigenden Linien deren Väter und Mütter zur Kenntnis gebracht werden.

      Wenn man zur Unterscheidung dieser beiden Grundformen aller genealogischen Wissenschaft die Bezeichnung Stammtafel und Ahnentafel gewählt hat, so ist zwar nicht zu läugnen, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch in der Anwendung dieser Worte wenig genau und streng zu sein pflegt[1] und daß auch in älteren Zeiten

bei der Bezeichnung genealogischer Verhältnisse viel willkürliches und unklares ausgesprochen wurde, allein in der Sache waren sich alle, die sich wissenschaftlich mit genealogischen Dingen beschäftigten, doch stets sehr klar über die Grundverschiedenheit der Betrachtungsweise, die einerseits der Ahnentafel und andererseits dein Stammbaum zukommt. Bei den alten Völkern erscheint die Stammtafel, wie die Ahnentafel zunächst in einer so vereinfachten Form, daß für diese von den genealogischen Systematikern der Name der „Stammlisten“ angewendet wird, doch ist es klar, daß auch die ältesten Nachrichten bei den verschiedensten Culturvölkern im vollen Bewußtsein des sachlichen Unterschiedes der beiden Grundformen genealogischer Betrachtung verfaßt sind. Wenn man von einem Stammbaum Jesu sprach und diese Bezeichnung in jedem Schulbuche leider fortführt, so versteht man selbstverständlich die Ahnentafel Marias darunter, und niemand läßt sich durch den wissenschaftlich unstatthaften Ausdruck in der Ueberzeugung beirren, daß Jesus keine Nachkommen hatte. Will man jedoch Sorge tragen, daß die genealogische Terminologie nicht zu unheilvollen Irrungen Anlaß gebe, so ist wissenschaftlich zu fordern, daß die Begriffe scharf getrennt werden und daß alle Darstellungsformen, die sich im Kreise der Descendenz bewegen, ausschließlich mit der Bezeichnung von Stammbäumen wie jene, die sich auf die Ascendenten

beziehen, lediglich mit der von Ahnentafeln belegt werden. Was aber nebenher mit dem Ausdruck „Stammlisten" bezeichnet werden sollte, stellt sich unter dem Gesichtspunkte wissenschaftlicher Terminologie nur als eine Vereinfachung des Begriffs von Stammtafel und Ahnentafel dar. indem man unvollständige, und beziehungsweise nur aus väterliche Ahnen oder Nachkommen beschränkte Verzeichnisse der Kürze wegen mit dem Namen von Stammlisten ganz passend bezeichnen kann.

      Hält man indessen an den beiden wissenschaftlichen Grundformen aller genealogischen Darstellungen prinzipiell fest, so wird man die Beobachtung machen können, daß im Laufe der Geschichte allerdings den beiden Betrachtungsarten von Geschlechtsreihen oder Generationen eine sehr verschiedene Werthschätzung zu theil geworden ist, und es ist sehr merkwürdig, wie spät die Ahnentafel im strengen Sinne des Wortes sich Geltung verschaffte, obwohl die Ahnenverehrung mit Recht als eine der vorzüglichsten Quellen der Genealogie, oder wenigstens des genealogischen Interesses bezeichnet zu werden pflegt. Wenn aber die Geschichtserzähler an die Darstellung der auf die Geschlechtsreihen bezüglichen Ereignisse schritten, so zogen sie sofort die Form des Stammbaums derjenigen der Ahnentafel vor und erzählten in activischen Sätzen: Abraham zeugte den Isaak u. s. w. Auch die Griechen kannten in ihren Theogonieen nur den Stammbaum als Grundform ihrer Darstellungen. Schließlich führte die Vorstellung von den Stammvätern und ihrer Wichtigkeit für die ganze Nachkommenschaft in der Familie und selbst im Stamm und ganzem Volk zu einer lediglich den Stammbaum beachtenden Genealogie. Die Ahnentafel feierte unter ganz andern Einflüssen erst wiederum eine Art von Auferstehung in andersgearteten Culturen.

      Psychologisch ließe sich für die Bevorzugung des Stammbaums manches merkwürdige bemerken. Verehrung, selbst religiöser Cultus. wendet sich den Ahnen zu; die ungeheure Kraft der Liebe nimmt ihre Richtung nach dem Stammbaum. Großeltern und vollends Urgroßeltern werden vom Zeitenstrome hinweggeschwemmt und verschwinden dem Gedächtnisse der Nachlebenden, aber auf Enkel und Enkelkinder, den Erben der erstrebten und gewonnenen

Güter, blicken die Stammväter mit Stolz und Freude herab. So verwittern an Gräbern die guten Worte der Erinnerung auf den Gedenksteinen der Ahnen, die bald nur noch der Geschichtsforscher aufsucht, aber in lebendiger Hoffnung blickt die Selbstliebe der Eltern auf den Fortgang der Generationen. Auch der rückwärts gekehrte Blick scheint nur dann ganz gefesselt werden zu können, wenn sich die Erzählung vergangener Thaten von dem Stammvater in absteigender Linie zu Kind und Kindeskindern hinbewegt. eine Erzählung, die sich zu den Ahnen stufenweise emporschlingt, erscheint dem an die Stammtafel gewöhnten Auge unnatürlich und fast komisch.

      Indessen wird man doch nicht behaupten dürfen, daß die Vorliebe für die Stammtafel ausschließlich in den räthselhaften Tiefen des menschlichen Herzens, welches - den Dank gegen vergangene Geschlechter immer noch durch die größere Liebe zu den nachfolgenden übertäubt, ihre Erklärung findet vieles hat zur Bevorzugung des Stammbaums auch die Sitte und das Recht vergangener Zeiten beigetragen, in denen noch alles von den Stammeshäuptern abhing, und außerdem die Frau neben dem Stammvater nur eine sehr unbedeutende Stellung einnahm. Es war daher selbstverständlich, daß die Stammlisten immer nur auf die männliche Ascendenz zu achten brauchten und somit die Ahnentafel mit der Berücksichtigung von Vätern und Müttern rechtlich und gesellschaftlich mehr oder weniger gegenstandslos wurde.

      Als sehr merkwürdig erscheint es, daß man in der indogermanischen Urzeit für die Eltern der Frau überhaupt keine Bezeichnung kannte und daß man daher mit Recht den Schluß ziehen konnte, die Brauteltern wären nicht wie die Mitglieder des Gattenhauses zur Verwandtschaft im engeren Sinne gerechnet worden. Daraus ergibt sich dann weiter, daß die mütterlichen Ahnen ursprünglich eine untergeordnete Bedeutung hatten und erst im Laufe der Zeiten eine gleichberechtigtere Stellung erwarben, womit die Erscheinung erklärt sein würde, daß die Genealogien der alten Völker in der Ascendenz immer nur die väterliche Reihe berücksichtigten. Bei den alten Indiern zeigt sich auch die verschiedene Werthschätzung der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft

in den Gebräuchen bei dem Tode von Verwandten des Vaters, Großvaters oder Urgroßvaters, durch welchen die Familie zehn Tage lang unrein wird, während bei dem Tode der nächsten Verwandten der Mutter die Unreinheitsfrist nur drei Tage dauert.[2]

      In völlig überzeugender Weise hat daher D. Schrader[3] den Satz aufstellen können, daß in der altindogermanischen Familie nur die Verschwägerung der Schwiegertochter mit den Verwandten des Mannes, nicht aber die des Schwiegersohnes mit den Verwandten der Frau zur Anerkennung gekommen sei. Nur das erstere Verhältnis ist in den indogermanischen Sprachgleichungen zum Bewußtsein gebracht und ebenso durfte derselbe hinzufügen, daß damit ein höchst wichtiger Schlüssel für das Verständnis der ältesten Gesellschafts- und Familienverhältnisse gewonnen worden sei. „Wir haben," sagt der gelehrte Verfasser, „von einem Zustand der altindogermanischen Familienorganisation auszugehen, in welchem der Begriff der Verschwägerung lediglich hinsichtlich der Verwandten des Mannes gegenüber der Frau ausgebildet war. Die Sippe der Frau mochte schon damals als eine „befreundete“ gelten, aber als durch Verwandtschaft betrachtete man sich noch nicht mit ihr verbunden. Mit der Ehe trat ein Weib aus dem Kreis ihrer Anverwandten in den des Mannes über, was sie aber mit diesem vereinigte, zerriß zugleich ihre bisherigen Familienbande, knüpfte nicht neue zwischen ihrer und des Mannes Sippe an. Das Weib verschwand, sozusagen, in dem Hause des Ehegatten.“

      „Im engsten Zusammenhange aber hiemit steht es. wenn, ebenso wenig wie durch die Braut und junge Frau verwandtschaftliche Beziehungen zu den Angehörigen derselben angeknüpft wurden, eine ebenso geringe Beachtung auch die durch das zur Mutter gewordene Weib vermittelte Blutsverwandtschaft zwischen ihren Verwandten und ihren und ihres Mannes Kindern, wenigstens zunächst bei den Indogermanen, fand. Es ist somit nach meiner Auffassung kein Zufall, daß wol des Vaters nicht aber der Mutter Bruder übereinstimmend in den indogermanischen Sprachen benannt ist und überhaupt lediglich cognatische Verwandtschaftsgrade sich durch urzeitliche Gleichungen nicht belegen lassen.“[4]

      Aus diesem geistigen und gesellschaftlichen Zustand der indogermanischen Vorzeit erklärt es sich vollständig, daß alle sogenannte Ahnenverehrung auch noch in historischen Zeiten ans den männlichen Stammeskreis beschränkt blieb und die natürliche durch das Elternverhältnis gegebene Gabelung des Ascendentenbegriffs kaum beachtet worden ist. Wahrscheinlich ist es ein noch kaum gewürdigtes Verdienst der griechischen Naturphilosophie richtigere Ahnenvorstellungen in die Welt gesetzt zu haben und jedenfalls ist auch in dieser Beziehung Aristoteles derjenige, der das Ahnenproblem zum erstenmale naturgesetzlich durchzudenken unternommen hat. Aber in gesellschaftlicher und familienrechtlicher Beziehung erhielt die mütterliche Ascendenz doch erst durch die Rechtsbildung der Römer wirkliche Berücksichtigung.

      Die Ahnentafel im eigentlichen und vollen Sinne des Wortes hat sich allmählich als ein Bedürfnis der Familiengeschichte entwickelt und ihre formale Vollendung gehört einer Zeit an, in welcher die moderne Gesellschaftsordnung zur vollen Herrschaft gelangt war. Nicht aus dem natürlichen Wunsche die Ahnen in aussteigenden Reihen vorzustellen hat sie sich entwickelt, sondern in Rücksicht auf gewisse Vortheile, welche der Ahnennachweis erbrachte, ist die Notwendigkeit hervorgegangen, die Ascendententafeln im Gegensatz der Descendentenreihen in der Breite der Entwicklung darzustellen, während diese ihren Werth in der Länge der Geschlechtsreihen erblicken mochten. Denn der Stammbaum,. der im Nachweis der immer neu entstandenen Geschlechter nach unten hin den Zeilenstrom erfüllt, strebt lediglich dahin den Stammvater beziehungsweise die Stammeltern fest zu stellen, von welchen eine Familie ausgegangen ist. Er erfüllt seinen Zweck in der Sicherstellung des Verhältnisses von Söhnen und Vätern und darf sich jede Vernachlässigung von Zweigen und Linien gestatten, die etwa auch zu demselben Stamme hinleiten würden; die Ahnentafel dagegen kann von keinem Gliede absehen, welches in das System ihres natürlichen Zusammenhangs gehört, sie ist ein für allemal als ein mathematisches Problem gegeben und bricht im selben Augenblick ab, wo die Ahnenreihe nicht in doppelter Anzahl der vorhergehenden nachgewiesen werden kann. Die Ahnentafel bietet mithin Schwierigkeiten dar, die in gar keinem Verhältnis zu dem Stammbaum stehen und es ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt sehr erklärlich, daß sie sich nur unter den Einflüssen der höchsten fortschreitenden Kultur entwickeln konnte. Sie bedarf in viel größerem Maße des Schriftthums als die Stammtafel, weil sich wol im Gedächtnis einer Familie die Reihe der Väter und Söhne, gleichsam als eine Linie vorgestellt, leicht zu erhalten vermag, niemals aber eine Ahnentafel als ein Gegenstand mündlicher Ueberlieferung gedacht werden dürfte.

      Die Formen, in welchen die Stammtafeln erscheinen, können die mannigfaltigsten sein, es kommt immer nur darauf an, daß eine gewisse, beliebig ausgewählte Reihe von Generationen auf einen Stammvater beziehungsweise auf ein Stammelternpaar zurückgeführt

ist. Die Ahnentafel dagegen läßt keine Auswahl zu, sie hat ihr ein für allemal gültiges Schema:


8 Ahnen: h i k l m n o p
 
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4 Ahnen: d e f g
 
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2 Ahnen: b c
 
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  a


Die Schemata des Stammbaumes können sehr verschieden gestaltet sein:

        a b                            
 
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  c   d   e     f  
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g h i k   l m n   o p q r  
 
  oder:   a b   oder:   a b   oder: a b  
 
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  c   d   c   d   c d e f  
 
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  e f g   e f g   g h i k

      Wie man hieraus ersieht, lassen sich die Abzweigungen der von a b abstammenden Generationen immer wieder als besondere Stammbäume behandeln; alsdann erscheint a b als Stammelternpaar einer Anzahl von Linien c, d, e, f, von denen jede für sich betrachtet werden kann. Die einzelnen Linien des Stammbaums weisen in ihrer jedesmaligen Beziehung zu einem Stammelternpaar aus ihren gemeinsamen Ursprung hin und stehen in Folge dessen untereinander in einer Verwandtschaft, deren Grad durch die Beziehungen zu dem Stammvater geregelt ist: Man unterscheidet die Linien einer Familie und die Grade ihrer Verwandtschaft im Hinblick ans eine gemeinsame Abstammung von einem Paare. Alle Descendenzbetrachtungen gehen auf die Vorstellung eines centralen Ausgangspunktes zurück. Im Gegensatze hiezu beziehen sich alle Betrachtungen über die Abstammung eines Individuums auf die Vorstellung unendlicher Reihen von Ahnen, die sich zwar nicht nachweisen aber mathematisch bezeichnen lassen.

      Für die genealogische Wissenschaft sind beide Arten der Betrachtung die Ahnentafel wie die Stammtafel gleich wichtig und unentbehrlich. Alles richtige genealogische Denken bewegt sich innerhalb dieser beiden Grundformen, welchen jede Zeugungs-, Abstammungs-




Anmerkungen der GenWiki-Redaktion (GWR)

  1. Druckfehler in Textvorlage: 78; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 77.
  2. Druckfehler in Textvorlage: 290; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 289.
  3. Druckfehler in Textvorlage: 313; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 312.
  4. Druckfehler in Textvorlage: 370; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 369.
  5. Druckfehler in Textvorlage: den
  6. Vgl. Artikel Gustav von Rümelin. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. (19.3.2012)
  7. Druckfehler in Textvorlage: Satzpunkt
  8. Druckfehler in Textvorlage: angenommenen
  1. Das Grimmsche Wörterbuch setzt ohne weiteres Ahnentafel dem Geschlechtsregister und Stammbaum gleich. Ein Beleg ist nicht gegeben; während unter Geschlechtsregister und Geschlechtstafel ganz allgemein „genealogia“ verstanden wird. „Geschlechtstafel“ wird von Fischart im Sinne der Ahnentafel und von Kleist im Sinne der Stammtafel gebraucht. Im Wörterbuch von Heyne wird Stammtafel als eine Tafel bezeichnet, auf der ein Geschlecht nach Abstammung und Ausbreitung verzeichnet ist, eine Definition, die streng genommen in der That nur auf die Descendenz anwendbar ist; aber das Wort Ahnentafel ist daneben ganz unbekannt. Das Wort Stamm bezeichnet aber nach Heyne etwas feststehendes, woraus anderes sich entwickelnd abzweigt, hervorgeht, und woran hinzutretendes sich anschließt, was dafür die feste Grundlage, Stütze, Kern, Mittelpunkt bildet. In diesem Sinne darf man es also durchaus für sprachlich gerechtfertigt halten, von Stammtafel nur im Sinne der Descendenz zu sprechen, obwol der bestehende Sprachgebrauch überall unsicher und willkürlich ist und auf einen großen Mangel an Sachkenntnis schließen läßt. Im Französischen macht table genéalogique den Unterschied der Descendenz und Ascendenz ebenfalls nicht deutlich erkennbar. Doch unterscheidet man beim „Arbre généalogique“ sehr bestimmt ascendant und descendant. Sehr merkwürdig ist, daß die Geste des Normands on Roman de Rou eine Chronique ascendant um 1160–1174 enthalten, worin die Herzöge bis auf Rollo hinaufgeführt werden. Vgl. Gaston Paris, I,itterature francaise au moyen age No. 93 p. 134, Romania IX. 598.
  2. Vgl. Delbrück, die Indogermanischen Verwandtschaftsnamen, Abhdlg. d. sächs. G. XI. 580. Für folgende Notiz bin ich auch Delbrück noch zu Danke verpflichtet, indem er mir schreibt: in den Hausregeln könne kein Zweifel sein, daß ursprünglich nur Vater, Großvater und Urgroßvater beim Opfer ermahnt wurden, die weiblichen Aszendenten aber erst im Laufe der Zeit hinzutraten. Uebrigens ist auf Coland, Altindischer Ahnencult. Leiden 1893, zu verweisen. Bei einer gewissen Gelegenheit, wo von den Opfern aus der Reihe der Rishi's die Rede ist, macht Delbrück übrigens auf das Erfordernis von Nachweis von 10 Ahnen aufmerksam. Ob hiebei nicht doch die mütterlichen gezählt wurden?
  3. Sprachvergleichung und Urgeschichte von D. Schrader, 2. Auflage, S. 542 ff.
  4. Ebd. S. 546; daher spricht sich Schrader in seinem trefflichen Werke gegen die von Bachofen verbreitete Meinung der Promiscuität der Arier sehr bestimmt aus und auch gegen die Ausführungen Leists, Graecoitalische Rechtsgeschichte, welcher den „aus dem Obsequium gegen die Parentes erzeugten cognaitischen Familienbegriff für uralt arisch erklärt und die aus diesem gegründete Vorstellung eines engeren Verwandtenkreises für das älteste des alten hält, was die Griechen und Italier von ihren Vorfahren erhalten hätten". Man dürfte vielleicht dieser Ansicht gegenüber auch den Zweifel aussprechen, ob überhaupt einer agnatischen und cognatischen Entwicklung des Familienbegriffs das menschliche Gedächtnis Stand zu halten vermöchte, solange es nicht durch Schriftkunde unterstützt wird. Die Ahnentafel ist wahrscheinlich ohne Schriftthum etwas gar nicht denkbares. Studien hierüber bei mannigfachen Völkern wären erwünscht.