Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)
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Erzählungen
Reise mit Hindernissen in die neue Heimat
Es ist Anfang März 1945. Heute habe ich Geburtstag. Ich vollende mein zehntes Lebensjahr. Mein erster Geburtstag als Flüchtlingskind in Pommern, unserer zweiten Fluchtetappe – von Memel aus gerechnet. Ein trauriger Tag – wohl mein traurigster im Leben überhaupt - unvergesslich! Die Umwelt um mich herum befindet sich an „meinem Tag“ im Chaos. Die Rote Armee, „der Russe“, greift ungefähr fünf bis sechs Kilometer von uns entfernt an. Er stürmt nur so auf uns zu. Alles rennt, sucht sich zu retten, flüchtet! Ringsum brennt es schon überall. Geschützgrollen ganz nahe! Flugzeuge bekämpfen sich in der Luft. Viele stürzen brennend auf Felder, Scheunen und Wohnhäuser. Explosionen! Unmengen von Menschen sind auf der Flucht. Zu Fuß oder mit irgendeinem Fahrzeug drängen sie sich durch die verstopften Straßen. Bloß fort!
Da – Gott sei Dank! Ein Traktor mit einem Anhänger beladen mit Panzerfaustkästen und Munitionskisten und mit einer leichten Kanone im Schlepp! Abfahrbereit. Einige deutsche Soldaten wuchten – wohl aus Mitleid mit der hilflos und lethargisch am verschneiten Straßenrand dastehenden Familie - die Frau, uns vier kleine Kinder, unsere alte Großmutter und ihre erwachsene Tochter, Tante Elsa, auf den voll gepackten Anhänger. Es ist bitterkalt da oben! Alle erhalten von den Soldaten noch rasch eine Dose Schokakola. „Wann wird losgefahren?“, fragt Mutter den Fahrer. „In zehn Minuten geht`s pünktlich los.“, so seine hastige Antwort. Mutter rennt los. In ihre verlassene Wohnung in der Nähe, wo das bisschen Hab und Gut, soweit es aus der Heimat bis hierher gerettet werden konnte, verpackt liegen geblieben ist. Nach kurzer Zeit ist sie wieder da. Sie hat sich mit Federbetten und einigen Decken bepackt, die sie auf den Anhänger wirft. „So, nun brauchen wir wenigstens nicht zu frieren da oben. Unsere Kisten und Kartons waren von den Rischkys, unseren Wohnungsnachbarn, in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit schon aufgebrochen worden. Sie wollen alle hierbleiben. Als halbe Polen glauben sie vom „Russen“ nichts befürchten zu müssen“, keucht sie ganz außer Atem.
Dann geht die Fahrt in aller Eile pünktlich los. Es dunkelt schon. Als Munitionstransport haben wir überall Vorfahrt und kommen - im Gegensatz zu den endlosen Trecks auf der rechten Straßenseite - zügig Richtung Westen voran. Plötzlich hält der Traktorfahrer aber ganz rechts auf der Landstraße an, löst die Kupplung der Kanone und deckt das nach oben offene Auspuffrohr des Traktors mit einem Stück Blech ab, damit kein Funke oder irgendein Lichtschein die Anwesenheit der Flüchtenden verraten könnte. Dann schleicht das Gespann mit ganz leisem Tuckern der Zugmaschine langsam die Allee hinunter. Die Kanone bleibt zurück.
Nach unendlich lang wirkender Schleichfahrt gibt der Traktorfahrer unvermittelt Vollgas, und das Gespann schießt nur so die Allee entlang! Warum tut er das? In der Nähe der Straße haben mehrere sowjetische Panzer die Fronlinie durchbrochen und versuchen, den fliehenden Trecks den Weg abzuschneiden. Das Motorengeräusch der Kriegsmaschinen ist schon deutlich zu hören; sie müssen ganz nahebei sein. Es gilt von diesen nicht bemerkt zu werden und ihnen zu entkommen. Das gelingt glücklicherweise! Nur wenige Augenblicke haben uns damals wohl von einer unfreiwilligen „Sibirienreise“ getrennt!
Wohlbehalten durchfährt das Gespann mitten in der Nacht Cammin. Die meisten Einwohner der Stadt sind schon geflüchtet. Nur hin und wieder ist eine Gestalt im Gegenlicht hinter dem einen oder anderen Fenster auszumachen. Eine Geisterstadt!
Doch für uns geht es weiter! Nach Swinemünde. Von dort bringt die Eisenbahn uns - wenn auch mit einigen unangenehmen Unterbrechungen durch Tiefflieger-beschuss - am 7. März 1945 äußerlich unversehrt in unsere neue Heimat - nach Niedersachsen.
Reise ohne Wiederkehr
Der Abend war schön - wie fast alle Juliabende es am Kurischen Haff sind! Es war angenehm warm, die Sonne strahlte noch vorm Untergehen vom Himmel. Überall war Feierabend eingekehrt. Wir Kinder wurden - wie sonst auch – nach der Abendtoilette früh ins Bett gesteckt – meist früher als andere Kinder. Deren Gekreische konnte man noch vom Bett aus hören.
Und doch - am 30. Juli 1944 - schien einiges anders als sonst zu sein! Die Erwachsenen hatten in den letzten Tagen öfter zusammengestanden und mit den Händen gestikulierend geredet, ihre Gesichter hatten dabei einen ziemlich besorgten Ausdruck gehabt. Irgendetwas lag in der Luft! Das hatten auch wir Bowkes bemerkt.
Vom Bett aus war zu vernehmen, dass noch jemand ins Haus gekommen war. Vater konnte es nicht sein; der war ja an der Front in Russland. Kurze Zeit später hörten wir Mutter noch irgendwo in der Wohnung kramen. Das erschien uns schon komisch. Denn das war anders als sonst! Abends las sie meist in aller Ruhe ein Buch oder die Zeitung. Oder sie vertiefte sich in irgendeine Handarbeit. Dennoch entschlummerten wir Kinder nach durchtobtem Tag recht bald.
Am nächsten Morgen geschah etwas für uns ganz Ungewohntes: Obwohl Alltag, mussten wir Kinder unsere „guten Kleider“ anziehen, was wir eigentlich nur an Sonn- oder Feiertagen sowie bei festlichen Anlässen taten. Auch Mutter hatte sich festlich gekleidet. Die ganze Familie frühstückte gemeinsam am Küchentisch – keiner fehlte. Tante Elsa, Großvater und Großmutter fanden sich bald ein. Wir Kinder wurden an die Hand genommen. Mutter ergriff eine kleine Reisetasche, hängte sich den leinenen, sonst neben der Hauseingangstür hängenden Beutel um, in dem für den Fall eines Bombenalarms wichtige Dokumente zusammengetragen und verwahrt waren. Sie nahm die Jüngste von uns vier Kindern an die Hand. Dann trotteten wir alle in einen strahlenden Sommermorgen hinaus - zur Bushaltestelle an der Mühlenstraße, der Hauptstraße zwischen dem Vorort Schmelz und der Stadt Memel selbst.
Unterwegs trafen wir Nachbarsfamilien, Freunde, Bekannte. Alle wie wir sonn- oder feiertagsmäßig gekleidet, alle auf dem Weg zur Bushaltestelle. Im Bus selbst ebenfalls viele bekannte Fahrgäste, ob an der Haltestelle mit eingestiegen oder sonst wo zugestiegen. Alle festlich gekleidet, gewohnt ruhig, die Kinder in ausgelassener Stimmung.
Der Bus machte halt an der Dange vor der Anlegestelle, von wo aus ich schon so oft mit der Fähre nach Sandkrug zur Kurischen Nehrung hinübergefahren bin. Diesmal hieß es hier: Endstation, alles aussteigen! „Soll es heute womöglich in großer Gesellschaft auf die Nehrung gehen?“, fragten wir uns.
Doch nicht der altgewohnte Raddampfer liegt heute am Steg! Ein blendend weißes Fahrgastschiff, die „Liebe“, soll es diesmal offensichtlich sein. In aller Gemütsruhe strömen die Menschen auf das Schiff und verteilen sich über die verschiedenen Decks. Wir Kinder durchstöbern alle möglichen Ecken des Schiffs und sind immer wieder erfreut darüber, dass so viele Freunde von uns diese Reise mitmachen.
Eine Musikkapelle spielt auf dem Kai flotte Weisen, zuletzt „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“ Dann fallen die Leinen ins Wasser, das Schiff legt ab. Winken hinüber und herüber. Großvater bleibt zurück. Die Fahrt geht los. Stundenlang bei schönstem Sonnenschein durchs Kurische Haff mit der „Liebe“, so, wie ich sie vom Kahn aus schon öfters vorüberziehen gesehen habe.
Gegen Mittag ist die Dampferfahrt quer durchs Kurische Haff zu Ende. Labiau heißt unsere Station. Alle Mitgereisten verlassen das Schiff und lagern sich auf einer großen, grünen Wiese im Schatten hoher Bäume. Mutter holt ein ansehnliches Proviantpaket aus der Reisetasche, Tante Ella mit ihren vier Kindern hat ein großes Weckglas mit gebratenen Aalstücken mitgebracht. Das gibt ein herrliches Picknick! So, wie sonst bei Ausflügen zum Ostseestrand oder in die heimatliche Umgebung. Wir Kinder tollen überall umher. Alles hat den Anschein eines großen Familienausflugs.
Am Spätnachmittag geht der „Ausflug“ weiter: diesmal per Bummelzug. Endstation ist Osterode in Ostpreußen. „Hier soll wohl übernachtet werden“, spekulieren wir Kinder. Die einzelnen Familien bekommen von irgendwelchen dienstbaren Geistern in Uniform Adressen auf Zetteln und ziehen darauf in unterschiedliche Richtungen der Stadt davon. Ihnen wird gesagt, der Aufenthalt hier sei „nur vorübergehend“.
Großmutter und Tante Elsa erhalten in einer vornehmen Villa ein großes, helles Zimmer zum Garten hinaus. Die Adresse auf dem Zettel für unsere Familie lautet : „Stadtbaumeister ... in der ...straße Nr...“. Dorthin gehen wir und stehen schließlich vor einem zweistöckigen, neuen, roten Backsteinhaus. Wir treten in den Hauseingang und drücken an der einzigen Klingel - bei ...
Lange rührt sich nichts. Nach erneutem Klingeln tut sich etwas hinter der Tür. Sie wird halb geöffnet, und eine etwas verlebt und übermüdet wirkende Frau von etwa 60 Jahren schiebt sich langsam in die Öffnung.
Wir grüßen höflich, Mutter nennt unseren Familiennamen. Die Frau mustert uns alle der Reihe nach von oben bis unten - ganz Abwehr!
„Ach ja, sie sind die von der Partei angekündigten Flüchtlinge aus dem Memelland“, sagt sie dann mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, macht die Tür ganz auf und schlurft voran in ihr Haus. „Hier links, das ist Ihre Wohnung“, sagt sie und führt uns in ein kleines Zimmer mit separatem Eingang zum Flur. „Das ist sonst die Wohnung des Dienstmädchens. Kochen und Baden verboten! Und absolute Ruhe, wenn ich bitten darf! Meine Nerven!“ Und fort ist sie, in einer der anderen Türen des Hauses verschwunden.
Wie betäubt lassen wir uns auf das einzige Bett und auf die Liege im Zimmer sinken. Mutter weint. „Flüchtlinge“ hat die Frau gesagt! Was ist das? Wir verstehen das alles noch gar nicht! Heute wissen wir`s: Wir Memelländer waren ja auch die ersten Deutschen, die ihre Heimat fluchtartig vor der Roten Armee verlassen mussten!
In den nächsten Monaten und Jahren lernen wir den Sinn dieses schrecklichen Begriffs „Flüchtlinge“ mehr als einmal kennen! Denn Osterode in Ostpreußen war ja nur die erste Etappe eines noch weiten, gefahrvollen Weges. Er führte – gerade für uns Kinder - unter manch grausamer Erfahrung über Pommern, die zweite Etappe, in eine Kleinstadt am Rand des niedersächsischen Teufelsmoors – zur vorläufigen Endstation, die für uns nun schon über 60 Jahre Bestand hat. Hier musste nun in völlig fremder, zunächst recht abweisender Umgebung die Grundlage für eine neue Heimat gelegt werden. Wer von uns ahnte damals, dass für viele die letzte Etappe auch die endgültige werden sollte und die frühere Heimat nur noch im Herzen bewahrt werden musste? Wer ahnte aber auch, dass die Flüchtlinge von einst nach Veränderung der politischen Verhältnisse hinter dem „Eisernen Vorhang“ jemals eine wichtige Brückenfunktion zwischen alter und neuer Heimat übernehmen würden? Aber so ist das Leben halt! (Nach dem Buch „Merkwürdiges im heutigen Gestern – Kurzgeschichten aus dem Memelland Titel 'Es begann wie ein fröhlicher Ausflug' “).
Zwischenstation
1944. Es ist ein dunkler, kühl-feuchter Spätherbstabend, als der Eisenbahnzug mit uns Flüchtlingen aus Ostpreußen im Bahnhof Plathe in Pommern hält. Wir werden schon erwartet und auch sogleich „verteilt". Die vier Kinder mit Mutter,Tante Elsa und Großmutter klettern auf einen großen Ackerwagen mit zwei Schimmeln davor und dem Bauern auf dem Holzsitz.
Die Fahrt geht los. Sie dauert lange. Durchgefroren und durchgeschüttelt landen wir alle endlich auf einem morastigen Bauernhof in Altenhagen, etwa sechs Kilometer von Plathe entfernt. Wir werden von der Bäuerin sowie von einigen Mägden und Knechten in Empfang genommen. Nach der Begrüßung setzen sich alle an einen großen Tisch und löffeln genüsslich dampfende, köstlich schmeckende Gemüsesuppe. Die lange Bahnfahrt und anschließend die rumpelige Wagenfahrt waren vor allem für alle Flüchtlinge anstrengend gewesen. Die heiße Suppe und die Wärme der Küche machen müde. Darum heißt es bald: „Ab ins Bett!" Ins Bett? Eine derbe, steile Leiter hinauf - in einen Dachraum über der Küche! Sein Fußboden ist mit etwas Heu bedeckt. Mitten durch den Raum führt der roh gemauerte Schornstein des Küchenherdes. Das ist die einzige Wärmequelle hier oben! Doch wir fallen rasch in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen - es muss noch sehr früh sein, denn es ist noch stockdunkel im Raum - heißt es: „Aufstehen, heute wird gedroschen!" Das hat die Familie noch nie gemacht! Aber nach etwas Anleitung lernen wir es alle und packen kräftig zu. Es gibt immerhin nahrhaftes Essen dafür! So geht das all die nächsten Tage. Als ob sich der Bauer das Dreschen des ganzen Jahres für uns Flüchtlinge aufgehoben hat! So kann das nicht weitergehen!
Mutter sucht Hilfe beim Bürgermeister. Der greift - sehr zum Ärger des Bauern - ein und lässt die gesamte Flüchtlingsfamilie nach Mittelhagen in die dortige, damals leerstehende Schule transportieren. Das wird nun ein besseres Leben! Sogar ein großer Kachelofen spendet wohlige Wärme in dem Wohn-/Schlafraum. Und die aus der Heimat nach und nach zugesandten Sachen sind inzwischen auch im fernen Pommern eingetroffen. Milch gibt es beim Bauern, und kaufen kann man, was so eine Familie alles braucht, im Laden um die Ecke. Zu Weihnachten ist sogar Vater von der Ostfront auf Urlaub gekommen. Die Familie ist nach langer Zeit mal wieder glücklich zusammen!
Jedes Ende hat einen Anfang
Am 31. Juli 1944 war meine memelländische Kinderzeit zu Ende. Evakuierung der Familie! Zuerst nach Osterode/Ostpreußen, dann in die Nähe von Plathe in Pommern, schließlich nach Bremervörde in Niedersachsen. Schwere Zeiten waren es nach 1945, nach Kriegsende, für mich - für viele. Nach viel zu kurzer, ungetrübter Kinderzeit im Memelland nun - wohl für immer - in fremder Umgebung! Die durch den schrecklichen Krieg ebenfalls ausgepowert war.
Die Heimatlosen hatten damals nichts, die Einheimischen nur noch wenig! Dazu war das Szenarium mies: überall Hunger, überall Armut, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Suche hier, Suche da, Rechtlosigkeit der Besiegten, Würdelosigkeit - schon bei den Kindern angefangen, bei den Erwachsenen oft Alltag -, Schwarzhandel, volle Kirchen, häufig aus Scham über im deutschen Namen Begangenes, oft aus Verzweiflung, aber vielmals einfach auch aus Hoffnung auf materielle Hilfe.
Die Flüchtlinge, die sich nun in der Fremde ein neues Zuhause schaffen mussten, blieben mit ihrem Herzen aber weiterhin ihrer früheren Heimat verbunden. Viele, auch wenn sie sich nicht irgendwie an eine Flüchtlingsorganisation banden. Doch viele, ob Memelländer, Ostpreußen, Westpreußen, Danziger, Pommern, Schlesier, Sudetendeutsche oder Deutsche von anders woher, organisierten sich regional und überregional. Sie trafen und treffen sich - meist regelmäßig -, um Freunde, Nachbarn und Bekannte wiederzusehen, um ihre heimatliche Kultur, ihr Brauchtum, ihre Sitten, ihren Dialekt, ihren früher gewohnten Alltag zu pflegen. Oft dienen ihnen Heimatzeitungen, Heimatbriefe oder Heimatblätter als wichtiges Sprachrohr, Informationsmittel und Bindeglied. Sie halten ihr Heimatrecht hoch, das allen Menschen dieser Welt für heilig erklärt worden ist. Sie helfen einander. Alles beredte Zeugnisse eines ungebrochenen Pioniergeistes! Den jeder in der früheren Heimat nie verlernt hatte, der es für sie wert ist, gerade jetzt hier in der neuen Heimat gepflegt zu werden. Tradition im wohlverstandenen Sinn!
Im Laufe der Zeit hat sich für die ehemals Heimatlosen in Deutschland vieles verändert. Die entwurzelten Menschen wurden größtenteils integriert und in der neuen Umgebung sesshaft. Aus uns Kindern von damals sind Seniorinnen und Senioren geworden. Wir erfreuen uns jetzt an unseren Kindern, so mancher von uns sogar an Enkeln. Viele von uns sind fern von ihrem Geburtsort aufgewachsen. Unsere Kinder und Enkel kennen das einstige Leben im Memelland oft nur aus Büchern und anderen Quellen oder aus Erzählungen der Eltern oder Großeltern. Die einen sind mehr, die anderen weniger an ihrer Herkunft interessiert. Die neue Umgebung hat sie geprägt. Die Nachgeborenen fühlen sich längst nicht mehr als Flüchtlinge, zum Beispiel - wie wir - als Memelländer, obwohl sie von memelländischen Vorfahren abstammen. Sie nehmen meistens nicht mehr teil an „Flüchtlingsveranstaltungen“, die ihre Eltern und Großeltern häufig heute noch besuchen. Sie haben andere Interessen!
Viele ehemals Heimatlose haben sich inzwischen mit Flüchtlingen aus anderer Gegend oder mit Einheimischen vermischt. Das ist ja auch ganz natürlich, ist es eigentlich zu allen Zeiten gewesen! Vielfach hat sich eine „Blutauffrischung“ in so mancher Gegend Deutschlands geradezu als notwendig und ausgesprochen günstig erwiesen. Dadurch ist in neuer Umgebung vielfach wohl erst ein Menschenschlag entstanden, den Energie, Gesundheit und Schaffenskraft kennzeichnen.
Rachegedanken, Revanchegelüste sind den ehemals Heimatlosen fremd. Im Gegenteil: Eine vor Jahren unvorstellbare „Brückenfunktion“ haben sie heute übernommen. Von der jetzigen in die frühere Heimat. Von den Menschen und Institutionen hier zu den Menschen und Institutionen dort. Als Menschen der betreffenden Weltgegenden kennen sie die Mentalitäten und Bedürfnisse in ihrer Geburtsheimat doch am besten! So wissen sie genau, wo bei jedem Neubeginn der Schuh am stärksten drückt!
Nach der „Wende“ der politischen Verhältnisse in den heute meist zu ehemaligen „Ostblockstaaten“ gehörenden Herkunftsländern der Flüchtlinge haben viele, die Memelländer nach der Willkür der Sowjets erst sehr, sehr spät, ihre frühere Heimat besuchen und sie ihren Ehe- oder Lebenspartnern, ihren Kindern oder Enkeln zeigen können. Denen hat das den Deutschen bis dahin teils verschlossene Land gefallen. Wenn dort heute auch Menschen anderer Herkunft leben und dort gegenüber früher inzwischen eine ganz andere Welt entstanden ist, deren vorherigen Charakter sie selbst teilweise nie kennen gelernt hatten. Viele haben Freundschaften mit den Jetzigen geschlossen. Besuche hinüber und herüber sind keine Seltenheit mehr. Hilfe nach dort von vielen Seiten hier.
Dennoch ist schon heute der Tag absehbar, an dem nur noch wenige nach dem einstigen Memelland fragen werden. Noch weniger werden ihnen dann etwas über diesen einstmaligen Teil Ostpreußens und Deutschlands erzählen können. Dieser Landstrich dürfte dann nur noch Gegenstand eng begrenzter Literatur, möglicherweise nur über Litauen, sein. Eine mehr als berechtigte Sorge vieler Memelländer heute! Wie kann einer solchen Entwicklung noch lange Zeit Erfolg versprechend entgegengewirkt werden? Die „Alten“ müssen in ihren Organisationen die Wünsche und Interessen der „Jungen“ unbedingt ermitteln - ohne Vorbehalte. Aus den Erkenntnissen hieraus müssen sie Programme entwickeln, zu denen die Jungen JA sagen können. Für diesen „neuen Menschentyp“, für die Kinder und Enkel der Erlebnisgeneration, der Zeitzeugen, muss dann eine für die „Jungen“ einleuchtende Sprache gefunden werden. Die Nachgeborenen sehen verständlicherweise vieles gänzlich anders als die ursprünglichen Flüchtlinge. Jede Generation hat doch ihre eigenen Befindlichkeiten!
Die jungen Menschen erwarten und leisten sich gern so einiges in ihrem Urlaubsland, um es besser kennen zu lernen. Sie hassen besonders Bürokratie und Formularkram. Sie wollen mal in eine Disco gehen, Musik ihres Geschmacks hören oder nach deren Rhythmus tanzen können. Sie möchten vor Ort etwas sehen von Land und Leuten, etwas erleben. Sie wollen bequem an ihr Urlaubsgeld kommen können. Sie wollen segeln, schwimmen, sonnenbaden, Boot fahren, Bernstein sammeln, angeln usw. Sie wollen unbevormundet sein. Kurz - sie möchten mal so richtig Urlaub machen im Memelland, im Land ihrer Ahnen!
Bisher besteht bei vielen nachgeborenen Memelländern oft eine ausgesprochene Informationslücke. Unsere Eltern und Großeltern, aber auch wir, die damaligen Kinder, haben uns als Erlebnisgeneration nicht genügend Zeit genommen, ihnen noch viel mehr über unsere frühere Heimat zu erzählen. Wir glaubten seinerzeit, uns zuerst eine neue Zukunft aufbauen zu müssen und alles andere hintanstellen zu können. Oft waren die Fluchterlebnisse und der Schock darüber so schrecklich, dass wir mit den Nachgeborenen über „dieses Kapitel“ nicht reden wollten. Der Schmerz war einfach zu groß! So häufte sich mit der Zeit ein Defizit nach dem anderen zu einem großen Informationsdefizit bei den „Jungen“ an!
So manchen Memelländer erstaunt jetzt jedoch, dass vor allem viele der Enkelgeneration wieder nach der Herkunft ihrer Vorfahren fragen. Wem können diese mehr glauben und vertrauen als uns, ihren memelländischen Eltern und Großeltern? Jetzt nehmen wir uns oft die erforderliche Zeit, ihnen über unsere verlorene Heimat zu berichten. Vielfach bleibt es auch nicht dabei! Unsere Enkel reisen - oftmals in unserer Begleitung! - sogar in unsere jetzt zugängliche frühere Heimat, ins Memelland! Und sie sind meist angetan von dem, was sie dort sehen oder erleben. Oft schließen sie mit den Jetzigen Freundschaften und schreiben einander Briefe. Manche erlernen sogar die Muttersprache des anderen, um sich noch besser auszutauschen. Eine bewundernswerte Entwicklung!
Wichtig ist jetzt vor allem: Das Kulturgut unserer früheren Heimat darf nicht verloren gehen. Das muss vielmehr weiter gehegt und gepflegt werden! Viel ist doch schon verloren gegangen - viele meinen: zu viel! Wie sollen unsere Kinder die Probleme der Zukunft lösen, wenn sie nicht einmal ihre eigene Geschichte kennen? Aber bitte: Objektive Geschichte, keine Geschichtsklitterung!
Vieles ist schon auf diesem Gebiet getan und erreicht worden! Vieles bleibt aber noch zu tun! Die jungen Menschen wollen und brauchen etwas anderes als die „Alten“. Vor allem wollen sie frei selbst entscheiden, was sie wollen und was nicht! Das, was die Erlebnisgeneration - zu Recht - satzungsgemäß für sich festgeschrieben hat - insbesondere den Zweck und die Ziele ihrer Heimatorganisation -, kann für die „Jungen“ heute längst nicht mehr als „verpflichtend“ angesehen werden. Unsere memelländische Tradition kann ihnen - so bedauerlich, aber erklärlich das auch ist - nur noch nebenbei vermittelt werden. Anderes ist ihnen wichtiger!
Gerade hier sollte der immer noch vorhandene Pioniergeist der Memelländer tragfähige, solide, zukunftsgerichtete Brücken schlagen können! Ich bin sicher, die jungen Menschen werden sie vorbehaltslos und dankbar benutzen.
Hunger tut weh
Wie angewurzelt steht er frierend da, der Blondschopf, der Memeler Bowke, von zehn Jahren, in der abgerissenen Joppe, in der kurzen Hose, in den langen braunen Zellwollestrümpfen, die an groben schwarzen Gummistrippen hängen, in den rauhen, knöchelhohen Schnürschuhen, die bis oben hin im Schnee stecken. Auf einer leichten Anhöhe im verschneiten Pommern, Februar 1945.
Die Augen des Jungen haben lange, lange Zeit nordwärts zum Horizont gestiert und sind bei Unverständnis ausdrückendem Kopfschütteln langsam herangewandert bis zum Fuß der Anhöhe: Eine lange, grau-grüne Schlange wälzt sich von fern her unaufhaltsam auf seinen Standort zu. Menschenleiber auf Füßen in grauen, braunen, grünen, dreckigen, zerlumpten Militärmänteln oder Uniformen, in Mützen oder barhäuptig, in Pelzkappen mit rotem Stern - sowjetische Kriegsgefangene - hohlwangig, stoppelig, tiefäugig, stolpernd, matt ... in das riesige Tor einer windigen Scheune ein- und zusammenfallend, nachdrängend, nicht enden wollend ... Dann doch Schluss! Tor zu, Wachen mit Gewehr davor!
"Das gibt`s doch gar nicht! So viele Menschen in einer Scheune! Das musst du aus der Nähe sehen!", denkt der Junge. Schon verschwindet der Blondschopf in den angrenzenden Kuhstall. Rasch ist ein loses Brett zur Seite geschoben, und der Kopf wird durchgesteckt. Er erstarrt fast! Keinen Zoll weit entfernt: Lebende Menschen überall, Gestöhne, Ächzen, Keuchen, mattes, gequältes Schnaufen, Strohrascheln, gedämpftes Gemurmel, Husten, dampfender Atem, Gestank! Eine Augenmeute jenseits der Bretterwand erfasst den Blondschopf - bannt ihn starrend! Stimmen, Wortbrocken reißen ihn aus seinem Bann: "Du gutt, chaben grosses Chunger, du geben Essen, Brott, Kartoschki, schnell, schnell!" Kreisende Hand- und Armbewegungen um Mund- und Magenbereich unterstreichen eindringlich die Not und die Eilbedürftigkeit - den Hunger in Menschengestalt!
Der Blondschopf fährt entsetzt und erschreckt zurück durch die Bretterwand in den Kuhstall. "Was machen? Du hast doch selbst nichts, was du geben könntest. Aber geschehen muss etwas!" Die Augen des Knaben wandern dabei den Gang des Kuhstalls entlang. Beide Seiten säumen in langer Reihe satte, wiederkäuende Rinder. Nach einigen Metern der Suche machen die Augen Halt - an einem ansehnlichen Haufen Steckrüben, für die Abendfütterung der Tiere bereitgelegt. Das ist die Lösung! Und schon wandern wieder und wieder jeweils zwei dicke Steckrüben durch die Bretteröffnung, von Fäusten gierig in die Scheune gerissen... Bald ist der ganze Steckrübenhaufen verschwunden. Jenseits der Bretterwand ertönt Schneide-, Brech- und Kaugeräusch, zufriedenes Grunzen. Eine rauhe Hand langt durch die Bretterlücke und streicht flüchtig über den erhitzten Blondschopf...
Gut zwei Monate später in Niedersachsen: Zerlumpt, verwildert und ausgehungert lungert derselbe Blondschopf mit einer Meute ebensolcher Altersgenossen am Rande eines baumumstandenen Platzes. Ein Konvoi schottischer Kampftruppen bezieht hier soeben Ruheposition. Hungrige Augen suchen nach einer Gelegenheit irgendetwas Essbares mit einem raschen Zugriff zu ergattern. Der Zwischenraum zwischen der Meute und dem möglicherweise lohnenswerten Objekt ist so bemessen, dass eine rasche Flucht mit einer Beute aussichtsreich erscheint. "Platsch" macht es plötzlich mitten unter den Knirpsen. Die weichen blitzartig ein, zwei Schritte nach hinten zurück. Vom nächsten Kraftwagen ist in dem überraschten Halbkreis ein langer, schlaksiger, dunkler Lockenkopf in Khaki-Uniform gelandet und in die Hocke gegangen. Zwei zusammengekniffene dunkle Augen wandern in Gesichtshöhe der angespannt Herumlungernden in die Runde. "You are hungry? Damned bloody war! Come on!" Eine winkende Armbewegung bedeutet: "Keine Gefahr!" Die Plane des Lastwagens fliegt beiseite, die hintere Klappe fällt. Ein Haufen kleiner, dreckiger Kinderhände greift wieder und wieder nach Päckchen, Dosen, Beuteln. Schon lagert eine kauende, schmatzende Runde um einen langen, schlaksigen, dunkeläugigen Lockenkopf in Khaki-Uniform. Und schluckt, was zu schlucken da ist. Nach langer Zeit wieder etwas Richtiges zu essen zu haben, satt zu sein! Das ist in der nächsten Zeit immer wieder so - eine glückliche Zeit! Auf dem Lagerplatz gibt es seitdem wieder viele glückliche Kinderaugen. Und kein anderer Khaki-Soldat geht in sauberer Uniform, mit schärferer Bügelfalte, mit leuchtenderem Hemd und in glänzenderen Stiefeln daher als der Lockenkopf! Dafür sorgen die Mutter des Blondschopfs und die Mütter aller anderen Knirpse.
Viele, viele Jahre sind seitdem vergangen. Was mag aus den sowjetischen Kriegsgefangenen, was aus dem Khaki-Soldaten geworden sein? Aus Knaben von damals sind jedenfalls alte Männer geworden. Die Zeiten haben sich gebessert. Viele sind heute satt, zu viele aber immer noch hungrig. Und Hunger tut weh! Wie wenig vermag da oft viel zu erreichen!
Großeltern Willumeit
Großeltern Krosien
Brauchtum
Festtage
In der Familie
Tiere im Memelland
Kinder unter sich
Kindergarten und Schule
In Schmelz
Vorkriegszeit