Unsere Pestalozzischule
Unsere Pestalozzischule in Schmelz war eine große, moderne Schule. Die Klassenräume verteilten sich über drei Stockwerke des Gebäudes. Mein Klassenzimmer befand sich im obersten Geschoss. So konnte ich von dort aus über die Mühlenstraße und die rote Ziegelmauer, die hinter der Hafenbahn die Sicht zum Haff versperrte, hinweg meinen Blick über das Memeler Tief mit all den vielen Schiffen - vor allem dem dort vor Anker liegenden „Walter Rau“ - und über die Kurische Nehrung schweifen lassen.
Wir Bowkes waren damals sehr neugierig. Jede freie Minute verbrachten wir mit „Aus-dem-Fenster-Gucken“, wenn wir nicht gerade unter Aufsicht einiger Lehrer unsere „Kreise“ auf dem Schulhof zwischen Pestalozzischule und „alter Schule“ an der Mühlenstraße ziehen mussten. Es war ja auch viel zu interessant von da oben! Vor allem begeisterten wir uns an dem Zielschießen, das von irgendwo auf der Nehrung mit Abwehrkanonen auf an Flugzeuge gehängte Flugzeugattrappen gemacht wurde. Es war für uns faszinierend, wenn die farbigen Explosionswolken dicht neben, vor oder hinter dieser „Zielscheibe“ am Himmel zu sehen waren. Oft gab es aber auch richtige Treffer. Dann jubelten wir! Ich bin sicher, unsere Beobachtungen haben auch während der Unterrichtsstunden die behandelten Themen nicht gerade auf sehr fruchtbaren Boden fallen lassen. Wir waren durch das Geschehen da draußen doch zu sehr abgelenkt!
Eines Tages bekamen wir einen neuen Klassenkameraden. Zu unserer Verwunderung war er viel größer als wir. Älter als wir musste er daher auch sein. Er trug - auch wenn es kalt war - immer kurze Hosen! Auch wurde er zunächst in eine vordere, später allein in eine hintere Bankreihe gesetzt. Schon bald kannten wir den Grund: Der Junge war krank. Ganz unvermittelt bekam er immer wieder epileptische Anfälle. Damit sorgte er jedes Mal für große Aufregung in der Klasse.
An einen Vorfall mit ihm erinnere ich mich ganz besonders: Mitten im Unterricht sprang er plötzlich auf und verließ wild gestikulierend - wie von Furien verfolgt - das Klassenzimmer im zweiten Stock, stürmte in vollem Lauf durch das Treppenhaus und hetzte mit riesigen Sätzen quer über den Schulhof auf die Mühlenstraße. Keiner von uns kam dazu, ihn aufzuhalten. So plötzlich geschah alles. Wir alle stürmten an die Fenster und verfolgten von dort aus das sonderbare Flitzen des Jungen über den Schulhof. Außer an Epilepsie muss er also noch an einer anderen Krankheit gelitten haben. Wir alle waren über dies Erlebnis ziemlich schockiert. Der Junge kam ab dann auch nie wieder in unsere Klasse. Seitdem wurde er an der gesamten Schule auch nicht mehr gesehen. Sicherlich ist er in ein Krankenhaus gekommen.
Im Jahre 1991 galt einer meiner ersten Besuche der Pestalozzischule. Sie stand noch am alten Platz. Nur die Säulen des Einganges und der Eingang selbst schienen verlegt worden zu sein. An dem gesamten Gebäude wurde innen gebaut. 1992 waren die auf dem Platz davor im Vorjahr gelagerten Baumaterialien weg. Man war gerade dabei, den alten Außenputz vom Gebäude abzuschlagen und durch einen neuen zu ersetzen. 1997 - bei meinem dritten Besuch in Memel - war aus der ehemaligen Pestalozzischule ein Verwaltungsbau mit einem riesigen, aber hässlichen Parkplatz davor geworden. Die „alte“ Schmelzer Schule stand gottverlassen da an der Mühlenstraße und sah noch viel heruntergekommener als 1991 aus. Auch fehlte jetzt das graue Schild am Gebäude, das den Denkmalschutz auswies. Also wird das verwahrloste Gebäude wohl bald der Spitzhacke zum Opfer fallen.
Andere Menschen haben eben andere Bedürfnisse. Und Schulen scheint es in Memel ja anderweitig genug zu geben!
Gerhard Krosien