Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)
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Erzählungen
Bloß ein alter Schuhkarton ?
Ein nichtalltäglicher Erbgang
„Hier, nimm dies, das ist mein wertvollster Besitz, den ich als Einzigen von Zuhause in Schmelz gerettet habe. Ich werde nicht mehr viel Zeit auf Erden verbringen und habe dich bis heute schon lange im Auge. Du bist der Einzige, dem ich dies hier übergeben kann. Du scheinst nämlich eine Ader für unsere Familientradition zu haben.“ Bei diesen Worten drückte mir meine weit über 90-jährige unverheiratete Großtante, die seit Jahren mit unserer Familie unter einem Dach lebte, einen vergilbten Schuhkarton - mit verblichener blauer Schleife verschnürt - in die Hände. Für diese „Übergabe“ hatte sie mich in ihr stark nach Hoffmannstropfen, Mottenkugeln, Kölnischwasser und Nivea-Kreme duftendes Zimmer gerufen, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen und ihr schütteres, graues Haar mit ihrer betagten Brennschere sorgfältig zu Wellen frisiert, wie sie es seit Jahren bei wichtigen Anlässen öfter tat. Das von tiefen Furchen durchzogene Gesicht wirkte dabei ziemlich ernst, die gealterten Hände zitterten leicht, als sie mir ihre „Kostbarkeit“ zureichte, ihr Atem schien schneller und etwas gepresster als sonst zu gehen. Kurze Zeit danach erlosch ihr Lebenslicht auch tatsächlich.
Was alles so in einem Schuhkarton sein kann
Zunächst war ich eigentlich nur interessiert zu erfahren, welchen „Schatz“ mir meine Großtante so feierlich überreicht hatte. Daher schaute ich sogleich nach. Im Karton befanden sich „auch nur“ vergilbte, also ganz alte, Ansichtskarten. Sie waren aus aller Welt an den Familienvater oder an meine Großtante, dessen Tochter, adressiert und stammten aus der Hand ihrer beiden viel älteren Brüder Georg und Hans aus dem Zeitraum 1890 bis 1913. Die Großtante war der „Nachzügler“, das Nesthäkchen, unter vier Kindern, nämlich der beiden „großen“ Brüder und der um mehrere Jahre älteren Schwester, meiner Oma väterlicherseits. Sie hatte die Pflege der zahlreichen Familiengräber und später die alleinige Sorge für das elterliche Wohnhaus während der berufsbedingt ständigen Abwesenheit ihrer Brüder (sie fuhren zur See) übernommen. Dafür durfte sie die schönsten Räume des Hauses zur Straße hin mietfrei bewohnen, die übrigen Bestandteile des gesamten Anwesens kostenlos nutzen und im Haff die der Familie zugestandenen Fischereirechte ausschöpfen oder an andere Schmelzer verpachten.
Die Ansichtskarten waren von den Empfängern offensichtlich jeweils nach ihrem Eintreffen nicht fortgeworfen, sondern in den Schuhkarton gelegt worden. Denn sie lagen nach Jahrgängen geordnet darin. Mit Sicherheit haben sie meinen Verwandten viel bedeutet, weil sie die Karten aufgehoben und nicht fortgeworfen hatten. Zumindest waren sie für die daheim Gebliebenen wohl recht informativ gewesen und hatten die große, weite Welt ein bisschen in den Schmelzer Familienalltag gebracht!
Von Memel hinaus in die weite Welt
Die beiden Brüder Georg und Hans waren – wie konnte es für Schmelzer Bowkes damals anders sein? – Seefahrer geworden. Der ständige Geruch von Haff- und Ostseewasser, nach Teer, Tang und Fisch, das geschäftige Treiben am Haffstrand, in der Dange und am Verladekai - und das alles von frühester Kindheit an - konnten bei ihnen gar keine andere Berufsentscheidung reifen lassen als diese! Selbst heute noch, in der Fremde also, finden sich noch genügend Menschen des Memellandes, die nach dem Verlust der angestammten Heimat lange Zeit andernorts dem Seemannsberuf nachgegangen sind und jetzt ihren wohlverdienten Ruhestand in neuer Umgebung genießen. So mancher von ihnen kann es auch heute noch nicht lassen, mit dem eigenen oder gecharterten Boot auf kleinere oder größere Fahrt zu gehen oder einen Segelurlaub zu machen – quasi aus Spaß an der Freude oder aus alter Gewohnheit! Sie haben es doch von frühester Jugend an so gehalten, die für sie engen Grenzen ihres Zuhause mit der lockenden Freiheit, dem vielen Neuen dieser Welt einzutauschen, über den Horizont hinauszublicken – und sich möglicherweise auch ihr „Mannsein“ zu beweisen. Wen wundert das?
Sind nicht seit den ersten Tagen Memels und des Memellandes von überall her in Deutschland und in Europa Persönlichkeiten zur Übernahme bedeutender Positionen in Verwaltung, Gesundheitspflege, Kultur und Wissenschaft, Kirchen- und Schulwesen, Militär, Handel und Gewerbe, Landwirtschaft und Wirtschaft usw. in diesen Landstrich gekommen? Die einschlägige Literatur nennt Beispiele genug! Warum hätten Menschen dieses Landstrichs sich dann nicht revanchieren und „hinausgehen“ sollen? Waren sie im Grunde nicht die ersten wirklichen Europäer, die viele heute doch werden wollen?
Die frühere Post – billig und schnell
Zunächst interessierten mich (als ehemaligen Postler) in erster Linie mal die postalischen Informationen, die mir die Ansichtskarten gaben. Ich staunte nicht schlecht, als ich anhand der Stempelabdrucke feststellen konnte, in welcher Laufzeit damals die Karten vom Absende- zum Bestimmungsort (damals adlig oder königlich Schmelz!) kamen: in Europa in durchschnittlich 4 Tagen, von Afrika in durchschnittlich 13 Tagen. Länger dauerte es nur von Süd- und Nordamerika sowie besonders von Asien. Und das bei den seinerzeit – im Vergleich zu heute – niedrigen Postgebühren! Beachtlich auch der damals weltweit schon einheitlich rötliche Farbton der Postkarten-Gebührenmarken!
Wohin die Jungs überall fuhren
Sodann interessierte mich aber auch, woher die Ansichtskarten kamen und - vor allem - was Georg und Hans nach Hause zu berichten hatten. Alle Kontinente dieser Erde - mit Ausnahme Australiens – hatten sie als Kapitän oder Steuermann mit ihren kohlebefeuerten Fracht- oder Passagierschiffen namhafter deutscher oder internationaler Reedereien angesteuert. Georg hatte Ansichtskarten aus 16 Ländern unterschiedlichster Kontinente dieser Erde nach Hause geschickt! Hans dagegen brachte es „nur“ auf insgesamt neun Länder, und zwar vorwiegend in Europa, Süd- und Mittelamerika. Alles für mich „Landratte“ überaus spannend!
Was alles nach Hause berichtet wird
Und ihre Mitteilungen? Meist waren es nur Grüße und „Standortbestimmungen“, damit die Verwandtschaft beruhigt und – modern gesprochen – „up to date“ war. Aber es gab auch ganz konkrete Anweisungen, wohin zum Beispiel die nächste Post oder saubere Wäsche zu senden sei. Oder es wurde die vorgesehene Reiseroute, zumindest aber der nächste Zielhafen genannt. Hin und wieder wurde auch über einen unvermeidbaren Krankenhausaufenthalt in der Fremde und über den Verlauf der Heilung berichtet. Mit spürbarer Freude – das erkennt man oft an der Handschrift! – nennt der Schreiber jeweils die voraussichtliche Rückkehr in den Heimathafen. Manchmal klingt aber auch Heimweh durch die Nachricht – oder zum Beispiel die Trauer über den Tod des alten Vaters, dem man nicht die letzte Ehre erweisen konnte, weil man in der Fremde war.
Wie sich die Welt inzwischen doch verändert hat
Beim Betrachten der Briefmarken und der Ansichten wurde mir erst so recht deutlich, welche - vor allem politischen - Veränderungen es in der Welt seitdem gegeben hat. Damals gab es noch Königreiche, deren Regenten auf den Briefmarken verewigt sind. Da gab es noch Staaten, die heute ganz anders heißen. Alles Nachrichten aus einer anderen Welt! Wie mögen die auf den teilweise kolorierten Ansichtskarten abgebildeten Städte und Landschaften heute – nach so vielen Jahren und nach so vielfältigen Veränderungen – aussehen? Gibt es sie überhaupt noch?
Wie klein unsere Welt geworden ist
Und der Zeitfaktor wurde mir mit einem Male so recht bewusst. Was mit dem Dampfschiff Tage, Wochen oder Monate dauerte, wird heute in Stunden mit dem Düsenflugzeug und in Minuten oder Sekunden mit modernsten Kommunikationsmitteln erledigt! Was für eine Zeit war das damals? In was für einer Zeit leben wir dagegen heute? Ich bin sicher: Meine Generation hat eine Entwicklung miterlebt, wie das bei keiner vorherigen Generation der Fall war! Durch die Zeit und was sich in ihr verändert hat, ist die große, weite Welt unweigerlich immer mehr geschrumpft.
Das Elternhaus – ein Andenkenladen
Ich dachte plötzlich zurück. Wie sah es im großelterlichen Haus in Schmelz aus? Die gesamte Wohnung der Großtante war im Grunde doch ein einziges Museum! Auf Regalen standen Buddelschiffe in unterschiedlichster Form und Farbe, Freizeiterzeugnisse der Seefahrer. Die Wände zierten kleinere und größere Ölgemälde, natürlich von Dampfern mit Rauch speiendem Schornstein, in voller Fahrt im Sturm und bei aufgewühlter See. Oder mit Seeleuten in Ölzeug, die mit harter Hand dicke Taue bei Unwetter gepackt halten und den tobenden Elementen mit trotzigem Blick die vom Wetter gegerbte Stirn bieten. Dazwischengespannt ganz akkurate, feine Stickarbeiten der Großtante. Die Schränke voll gestellt mit Tassen, Tellern, Gläsern und kitschigen Reiseandenken aller Art aus „vieler Herren Länder“. In Fensternähe in portugiesisch unflätige Flüche krächzende, aber auch „du bist verrückt, mein Kind“ pfeifende, bunte Papageien in Käfigen aus Messing, in so mancher Ecke ein exotisches Gewächs. Hin und wieder auch ein rot-weißer Rettungsring mit dem Namen eines Schiffes oder eine Reedereiflagge. Alles Mitbringsel von Georg und Hans!
Das geheimnisvolle Fotoalbum
An so manchem ungemütlichen Abend kramte die Großtante aus irgendeiner Schublade ein Fotoalbum besonderer Art hervor. Es war in meinen Augen groß und dick. Der Deckel und die Rückwand bestanden aus dunklem Ebenholz und ließen sich mit einem Verschluss aus Messing verriegeln, sodass nichts herausfallen konnte. Der Deckel war dick mit Japanlack versiegelt. Man sah Intarsien aus Perlmutt und Elfenbein: Blumen, Blüten, Ranken, Vögel und Bäume. Die Innenseiten waren mit kleinen oder großen, kreisrunden, ovalen, quadratischen und rechteckigen Öffnungen zur Aufnahme von Fotografien versehen. Die Flächen dazwischen waren mit Naturseide bespannt und zart handbemalt: Tiere, Blumen und mandeläugige, schwarzhaarige Geishas – sicherlich ein Mitbringsel von Georg aus Japan. Und aus jeder der vorhandenen Öffnungen ließ sich in braunem oder gräulichem Farbton eine Mannsperson blicken: ganz deutlich immer wieder Georg und Hans. Aber wie sie dort posierten! Mal stehend, mal sitzend, mal mit einem Buch oder einem anderen Gegenstand in der Hand. Aber immer ernst, mit sorgfältig gescheiteltem, stark pomadisiertem Haar, ordentlich gestutztem und amüsant gezwirbeltem Schnauzbart, modernem Outfit – um es verständlich zu sagen! Tolle „Mannsbilder“, wie aus dem Ei gepellt, der ganze Stolz der Familie offensichtlich! Das war was für mich!
Die „Königin von Schmelz“ in Aktion
All das strahlte eine gewisse Wohlhabenheit aus. Man zeigte, was man hatte und was man war! Das tat damals auch besonders die Großtante. Sie stolzierte oft mit riesigem, breitrandigem, hellem Hut, mit aufgespanntem Sonnenschirm im Sommer, in figurbetontem Kleid, das sie überm verlängerten Rücken und im Brustbereich mit etwas Füllendem ausgepolstert hatte, in spiegelnden Lackschuhen, ohne Brille, obwohl sie ihre Augen gut hätten brauchen können, herum – alles Tipps einer in Berlin lebenden, modebewussten Cousine nahezu gleichen Alters! -, gab aller Welt schnippische, gekünstelte und besserwisserische Antworten und dünkte sich oft schlauer als viele andere Schmelzer. Wegen all dieser spleenigen Verhaltensweisen wurde sie nicht zu Unrecht damals auf ganz Schmelz spöttisch „Königin von Schmelz“ genannt. Aber das schien sie nicht zu stören. Mit der Flucht hatte sich das alles aber total geändert! Das Leben war ein guter Lehrmeister.
Das Erbe ist für die Nachkommen gut verwahrt
Den Schuhkarton gibt es heute nicht mehr! Wohl aber sein „Sammelgut“. Die Ansichtskarten sind – fein säuberlich in Klarsichthüllen verpackt – als wertvoller Nachlass aus der früheren Heimat und von Vorfahren in einen festen Sammelordner aufgenommen worden. Und sie sind immer wieder mal Gegenstand nachdenklicher Betrachtung durch mich – einer Betrachtung über eine ganz andere, einmalig wunderbare Zeit!
Reise mit Hindernissen in die neue Heimat
Es ist Anfang März 1945. Heute habe ich Geburtstag. Ich vollende mein zehntes Lebensjahr. Mein erster Geburtstag als Flüchtlingskind in Pommern, unserer zweiten Fluchtetappe – von Memel aus gerechnet. Ein trauriger Tag – wohl mein traurigster im Leben überhaupt - unvergesslich! Die Umwelt um mich herum befindet sich an „meinem Tag“ im Chaos. Die Rote Armee, „der Russe“, greift ungefähr fünf bis sechs Kilometer von uns entfernt an. Er stürmt nur so auf uns zu. Alles rennt, sucht sich zu retten, flüchtet! Ringsum brennt es schon überall. Geschützgrollen ganz nahe! Flugzeuge bekämpfen sich in der Luft. Viele stürzen brennend auf Felder, Scheunen und Wohnhäuser. Explosionen! Unmengen von Menschen sind auf der Flucht. Zu Fuß oder mit irgendeinem Fahrzeug drängen sie sich durch die verstopften Straßen. Bloß fort!
Da – Gott sei Dank! Ein Traktor mit einem Anhänger beladen mit Panzerfaustkästen und Munitionskisten und mit einer leichten Kanone im Schlepp! Abfahrbereit. Einige deutsche Soldaten wuchten – wohl aus Mitleid mit der hilflos und lethargisch am verschneiten Straßenrand dastehenden Familie - die Frau, uns vier kleine Kinder, unsere alte Großmutter und ihre erwachsene Tochter, Tante Elsa, auf den voll gepackten Anhänger. Es ist bitterkalt da oben! Alle erhalten von den Soldaten noch rasch eine Dose Schokakola. „Wann wird losgefahren?“, fragt Mutter den Fahrer. „In zehn Minuten geht`s pünktlich los.“, so seine hastige Antwort. Mutter rennt los. In ihre verlassene Wohnung in der Nähe, wo das bisschen Hab und Gut, soweit es aus der Heimat bis hierher gerettet werden konnte, verpackt liegen geblieben ist. Nach kurzer Zeit ist sie wieder da. Sie hat sich mit Federbetten und einigen Decken bepackt, die sie auf den Anhänger wirft. „So, nun brauchen wir wenigstens nicht zu frieren da oben. Unsere Kisten und Kartons waren von den Rischkys, unseren Wohnungsnachbarn, in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit schon aufgebrochen worden. Sie wollen alle hierbleiben. Als halbe Polen glauben sie vom „Russen“ nichts befürchten zu müssen“, keucht sie ganz außer Atem.
Dann geht die Fahrt in aller Eile pünktlich los. Es dunkelt schon. Als Munitionstransport haben wir überall Vorfahrt und kommen - im Gegensatz zu den endlosen Trecks auf der rechten Straßenseite - zügig Richtung Westen voran. Plötzlich hält der Traktorfahrer aber ganz rechts auf der Landstraße an, löst die Kupplung der Kanone und deckt das nach oben offene Auspuffrohr des Traktors mit einem Stück Blech ab, damit kein Funke oder irgendein Lichtschein die Anwesenheit der Flüchtenden verraten könnte. Dann schleicht das Gespann mit ganz leisem Tuckern der Zugmaschine langsam die Allee hinunter. Die Kanone bleibt zurück.
Nach unendlich lang wirkender Schleichfahrt gibt der Traktorfahrer unvermittelt Vollgas, und das Gespann schießt nur so die Allee entlang! Warum tut er das? In der Nähe der Straße haben mehrere sowjetische Panzer die Fronlinie durchbrochen und versuchen, den fliehenden Trecks den Weg abzuschneiden. Das Motorengeräusch der Kriegsmaschinen ist schon deutlich zu hören; sie müssen ganz nahebei sein. Es gilt von diesen nicht bemerkt zu werden und ihnen zu entkommen. Das gelingt glücklicherweise! Nur wenige Augenblicke haben uns damals wohl von einer unfreiwilligen „Sibirienreise“ getrennt!
Wohlbehalten durchfährt das Gespann mitten in der Nacht Cammin. Die meisten Einwohner der Stadt sind schon geflüchtet. Nur hin und wieder ist eine Gestalt im Gegenlicht hinter dem einen oder anderen Fenster auszumachen. Eine Geisterstadt!
Doch für uns geht es weiter! Nach Swinemünde. Von dort bringt die Eisenbahn uns - wenn auch mit einigen unangenehmen Unterbrechungen durch Tiefflieger-beschuss - am 7. März 1945 äußerlich unversehrt in unsere neue Heimat - nach Niedersachsen.
Reise ohne Wiederkehr
Der Abend war schön - wie fast alle Juliabende es am Kurischen Haff sind! Es war angenehm warm, die Sonne strahlte noch vorm Untergehen vom Himmel. Überall war Feierabend eingekehrt. Wir Kinder wurden - wie sonst auch – nach der Abendtoilette früh ins Bett gesteckt – meist früher als andere Kinder. Deren Gekreische konnte man noch vom Bett aus hören.
Und doch - am 30. Juli 1944 - schien einiges anders als sonst zu sein! Die Erwachsenen hatten in den letzten Tagen öfter zusammengestanden und mit den Händen gestikulierend geredet, ihre Gesichter hatten dabei einen ziemlich besorgten Ausdruck gehabt. Irgendetwas lag in der Luft! Das hatten auch wir Bowkes bemerkt.
Vom Bett aus war zu vernehmen, dass noch jemand ins Haus gekommen war. Vater konnte es nicht sein; der war ja an der Front in Russland. Kurze Zeit später hörten wir Mutter noch irgendwo in der Wohnung kramen. Das erschien uns schon komisch. Denn das war anders als sonst! Abends las sie meist in aller Ruhe ein Buch oder die Zeitung. Oder sie vertiefte sich in irgendeine Handarbeit. Dennoch entschlummerten wir Kinder nach durchtobtem Tag recht bald.
Am nächsten Morgen geschah etwas für uns ganz Ungewohntes: Obwohl Alltag, mussten wir Kinder unsere „guten Kleider“ anziehen, was wir eigentlich nur an Sonn- oder Feiertagen sowie bei festlichen Anlässen taten. Auch Mutter hatte sich festlich gekleidet. Die ganze Familie frühstückte gemeinsam am Küchentisch – keiner fehlte. Tante Elsa, Großvater und Großmutter fanden sich bald ein. Wir Kinder wurden an die Hand genommen. Mutter ergriff eine kleine Reisetasche, hängte sich den leinenen, sonst neben der Hauseingangstür hängenden Beutel um, in dem für den Fall eines Bombenalarms wichtige Dokumente zusammengetragen und verwahrt waren. Sie nahm die Jüngste von uns vier Kindern an die Hand. Dann trotteten wir alle in einen strahlenden Sommermorgen hinaus - zur Bushaltestelle an der Mühlenstraße, der Hauptstraße zwischen dem Vorort Schmelz und der Stadt Memel selbst.
Unterwegs trafen wir Nachbarsfamilien, Freunde, Bekannte. Alle wie wir sonn- oder feiertagsmäßig gekleidet, alle auf dem Weg zur Bushaltestelle. Im Bus selbst ebenfalls viele bekannte Fahrgäste, ob an der Haltestelle mit eingestiegen oder sonst wo zugestiegen. Alle festlich gekleidet, gewohnt ruhig, die Kinder in ausgelassener Stimmung.
Der Bus machte halt an der Dange vor der Anlegestelle, von wo aus ich schon so oft mit der Fähre nach Sandkrug zur Kurischen Nehrung hinübergefahren bin. Diesmal hieß es hier: Endstation, alles aussteigen! „Soll es heute womöglich in großer Gesellschaft auf die Nehrung gehen?“, fragten wir uns.
Doch nicht der altgewohnte Raddampfer liegt heute am Steg! Ein blendend weißes Fahrgastschiff, die „Liebe“, soll es diesmal offensichtlich sein. In aller Gemütsruhe strömen die Menschen auf das Schiff und verteilen sich über die verschiedenen Decks. Wir Kinder durchstöbern alle möglichen Ecken des Schiffs und sind immer wieder erfreut darüber, dass so viele Freunde von uns diese Reise mitmachen.
Eine Musikkapelle spielt auf dem Kai flotte Weisen, zuletzt „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“ Dann fallen die Leinen ins Wasser, das Schiff legt ab. Winken hinüber und herüber. Großvater bleibt zurück. Die Fahrt geht los. Stundenlang bei schönstem Sonnenschein durchs Kurische Haff mit der „Liebe“, so, wie ich sie vom Kahn aus schon öfters vorüberziehen gesehen habe.
Gegen Mittag ist die Dampferfahrt quer durchs Kurische Haff zu Ende. Labiau heißt unsere Station. Alle Mitgereisten verlassen das Schiff und lagern sich auf einer großen, grünen Wiese im Schatten hoher Bäume. Mutter holt ein ansehnliches Proviantpaket aus der Reisetasche, Tante Ella mit ihren vier Kindern hat ein großes Weckglas mit gebratenen Aalstücken mitgebracht. Das gibt ein herrliches Picknick! So, wie sonst bei Ausflügen zum Ostseestrand oder in die heimatliche Umgebung. Wir Kinder tollen überall umher. Alles hat den Anschein eines großen Familienausflugs.
Am Spätnachmittag geht der „Ausflug“ weiter: diesmal per Bummelzug. Endstation ist Osterode in Ostpreußen. „Hier soll wohl übernachtet werden“, spekulieren wir Kinder. Die einzelnen Familien bekommen von irgendwelchen dienstbaren Geistern in Uniform Adressen auf Zetteln und ziehen darauf in unterschiedliche Richtungen der Stadt davon. Ihnen wird gesagt, der Aufenthalt hier sei „nur vorübergehend“.
Großmutter und Tante Elsa erhalten in einer vornehmen Villa ein großes, helles Zimmer zum Garten hinaus. Die Adresse auf dem Zettel für unsere Familie lautet : „Stadtbaumeister ... in der ...straße Nr...“. Dorthin gehen wir und stehen schließlich vor einem zweistöckigen, neuen, roten Backsteinhaus. Wir treten in den Hauseingang und drücken an der einzigen Klingel - bei ...
Lange rührt sich nichts. Nach erneutem Klingeln tut sich etwas hinter der Tür. Sie wird halb geöffnet, und eine etwas verlebt und übermüdet wirkende Frau von etwa 60 Jahren schiebt sich langsam in die Öffnung.
Wir grüßen höflich, Mutter nennt unseren Familiennamen. Die Frau mustert uns alle der Reihe nach von oben bis unten - ganz Abwehr!
„Ach ja, sie sind die von der Partei angekündigten Flüchtlinge aus dem Memelland“, sagt sie dann mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, macht die Tür ganz auf und schlurft voran in ihr Haus. „Hier links, das ist Ihre Wohnung“, sagt sie und führt uns in ein kleines Zimmer mit separatem Eingang zum Flur. „Das ist sonst die Wohnung des Dienstmädchens. Kochen und Baden verboten! Und absolute Ruhe, wenn ich bitten darf! Meine Nerven!“ Und fort ist sie, in einer der anderen Türen des Hauses verschwunden.
Wie betäubt lassen wir uns auf das einzige Bett und auf die Liege im Zimmer sinken. Mutter weint. „Flüchtlinge“ hat die Frau gesagt! Was ist das? Wir verstehen das alles noch gar nicht! Heute wissen wir`s: Wir Memelländer waren ja auch die ersten Deutschen, die ihre Heimat fluchtartig vor der Roten Armee verlassen mussten!
In den nächsten Monaten und Jahren lernen wir den Sinn dieses schrecklichen Begriffs „Flüchtlinge“ mehr als einmal kennen! Denn Osterode in Ostpreußen war ja nur die erste Etappe eines noch weiten, gefahrvollen Weges. Er führte – gerade für uns Kinder - unter manch grausamer Erfahrung über Pommern, die zweite Etappe, in eine Kleinstadt am Rand des niedersächsischen Teufelsmoors – zur vorläufigen Endstation, die für uns nun schon über 60 Jahre Bestand hat. Hier musste nun in völlig fremder, zunächst recht abweisender Umgebung die Grundlage für eine neue Heimat gelegt werden. Wer von uns ahnte damals, dass für viele die letzte Etappe auch die endgültige werden sollte und die frühere Heimat nur noch im Herzen bewahrt werden musste? Wer ahnte aber auch, dass die Flüchtlinge von einst nach Veränderung der politischen Verhältnisse hinter dem „Eisernen Vorhang“ jemals eine wichtige Brückenfunktion zwischen alter und neuer Heimat übernehmen würden? Aber so ist das Leben halt!
(Nach dem Buch „Merkwürdiges im heutigen Gestern – Kurzgeschichten aus dem Memelland Titel 'Es begann wie ein fröhlicher Ausflug' “).
Zwischenstation
1944. Es ist ein dunkler, kühl-feuchter Spätherbstabend, als der Eisenbahnzug mit uns Flüchtlingen aus Ostpreußen im Bahnhof Plathe in Pommern hält. Wir werden schon erwartet und auch sogleich „verteilt". Die vier Kinder mit Mutter,Tante Elsa und Großmutter klettern auf einen großen Ackerwagen mit zwei Schimmeln davor und dem Bauern auf dem Holzsitz.
Die Fahrt geht los. Sie dauert lange. Durchgefroren und durchgeschüttelt landen wir alle endlich auf einem morastigen Bauernhof in Altenhagen, etwa sechs Kilometer von Plathe entfernt. Wir werden von der Bäuerin sowie von einigen Mägden und Knechten in Empfang genommen. Nach der Begrüßung setzen sich alle an einen großen Tisch und löffeln genüsslich dampfende, köstlich schmeckende Gemüsesuppe. Die lange Bahnfahrt und anschließend die rumpelige Wagenfahrt waren vor allem für alle Flüchtlinge anstrengend gewesen. Die heiße Suppe und die Wärme der Küche machen müde. Darum heißt es bald: „Ab ins Bett!" Ins Bett? Eine derbe, steile Leiter hinauf - in einen Dachraum über der Küche! Sein Fußboden ist mit etwas Heu bedeckt. Mitten durch den Raum führt der roh gemauerte Schornstein des Küchenherdes. Das ist die einzige Wärmequelle hier oben! Doch wir fallen rasch in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen - es muss noch sehr früh sein, denn es ist noch stockdunkel im Raum - heißt es: „Aufstehen, heute wird gedroschen!" Das hat die Familie noch nie gemacht! Aber nach etwas Anleitung lernen wir es alle und packen kräftig zu. Es gibt immerhin nahrhaftes Essen dafür! So geht das all die nächsten Tage. Als ob sich der Bauer das Dreschen des ganzen Jahres für uns Flüchtlinge aufgehoben hat! So kann das nicht weitergehen!
Mutter sucht Hilfe beim Bürgermeister. Der greift - sehr zum Ärger des Bauern - ein und lässt die gesamte Flüchtlingsfamilie nach Mittelhagen in die dortige, damals leerstehende Schule transportieren. Das wird nun ein besseres Leben! Sogar ein großer Kachelofen spendet wohlige Wärme in dem Wohn-/Schlafraum. Und die aus der Heimat nach und nach zugesandten Sachen sind inzwischen auch im fernen Pommern eingetroffen. Milch gibt es beim Bauern, und kaufen kann man, was so eine Familie alles braucht, im Laden um die Ecke. Zu Weihnachten ist sogar Vater von der Ostfront auf Urlaub gekommen. Die Familie ist nach langer Zeit mal wieder glücklich zusammen!
- Reise in die neue Heimat
- Reise ohne Wiederkehr
- Zwischenstation
- Jedes Ende hat einen Anfang
- Jedes Ende hat einen neuen Anfang
- Hunger tut weh
- Auge um Auge
- Autos in Memel
- Der Memeler Bahnhof
- Der Dorfschulmeister
- Lufthoheit
- Selbst ist der Mann
- Vogti (oder stehlen)
- Die Vizewirtin
Kindergeschichten
- Drachensteigen in Schmelz
- Borgen
- Glück und Unglück
- Selbstversorgung ist Trumpf
- Taubensonntag in Memel-Schmelz
- Hühnerhypnose
- Warten auf Weihnachten
- Weihnachtszeit in der Heimat
- Familien-Krankenstation
- Kindergartenfreuden
- Singender Strand
- Unser Kirschgarten
- Eigenklau
- Kinderostern auf Schmelz
- Kinderwinter
- Kur mit Natur
- Die Tasche
- Erziehung à la Schmelz
- Das Kinderparadies
- Die teuflische Runde 13
- Flegeljahre
- Sicherheit macht sicher
- Tinktur für Mensch und Tier
- Traditionen
- Zufälle gibt´s
- Adebare im Memelland
- Fischzug mit Schlubberche
- Der Kinderwagen
- Gichtmedizinische Sonnenbank
- Unser Schutzmann
- Feiern mit Oma
- Frieden der Generationen
- Hundstage
- Paddelbootfahren
- Unsere Pestalozzischule
- Jungfernvögel
- Miss Streichholzbein
- Moriz
- Sammeln
- Strafe muss sein
- Unvergessliches Erlebnis