Benutzer:Arend/Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie/E-Book
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Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung
Professor der Geschichte.
Verlag von Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung). 1898. (III ≡)
Vorwort.
Indem ich den Versuch gemacht habe, die Genealogie als Wissenschaft in ihren gesammten Beziehungen zu historischen, gesellschaftlichen, staatlichen, rechtlichen und vor allem auch naturwissenschaftlichen Fragen und Aufgaben systematisch darzustellen, muß ich es dem Leser des Buches selbst überlassen, sich ein Urtheil über den bemerkten Mangel jetziger und über die zu erwartenden Aussichten und Vortheile künftiger Studien in dieser Richtung zu bilden. Wenn man indessen nach den Ursachen forschen wollte, welche den Fortschritt des genealogischen Studiums hauptsächlich (IV ≡)
verhinderten, so dürfte man nicht leugnen, daß dieselben auch zum großen Theile in der Art und Weise der Behandlung dieser Disziplin zu suchen waren. Sie ist zweimal im Laufe ihrer litterarischen Entwicklung auf Abwege gerathen, durch die sie Dienerin thörichter Vorurtheile geworden ist. Die genealogische Gelehrsamkeit hat zuweilen dem Schwindel politischer und persönlicher Eitelkeit nachgegeben und ist zum andernmal zu einem Spielzeug unkritischer Liebhabereien herabgesunken. Manche haben behauptet, daß selbst bedeutende Familien durch falsche genealogischen Lehren zu politischen Irrthümern verleitet worden seien, und andere haben auf die Gefahren aufmerksam gemacht, welche dem Ernst der Wissenschaft durch den Dilettantismus eines der Geschichte verwandten Studiums drohen könnten. Indessen sind Abwege auch bei der Geschichte anderer großer Disciplinen, wie etwa Astronomie und Chemie, wahrzunehmen gewesen. Wird es heute jemand einfallen, die Berechnung der Nativitäten, oder die Goldmacherkunst, die selbst von den größten Gelehrten betrieben wurden, zu einem Vorwurf gegen diese Wissenschaften selbst auszubeuten? Wenn sich aber in angesehenen biographischen Werken etwa von einem Manne, wie Philipp Spener, eine in jeder anderen Beziehung zu rühmende Darstellung findet, in der jedoch nur seiner genealogischen Verdienste eben mit keinem Worte gedacht ist, so muß man vermuten, daß dieser Wissenschaft in einem großen Kreise der gelehrten Welt die ihr gebührende Würdigung nicht mehr zu Theil wird. Und dennoch ist man in mannigfachen Zweigen psychologischer und naturwissenschaftlicher, sowie soziologischer Disziplinen heute ohne Zuthun des historischen Betriebs mehr und mehr in einer genealogischen Richtung thätig. Von Vertretern eben dieser (V ≡)
Wissenschaften sind Wünsche ausgesprochen worden, mehr historisches Material zu besitzen, um die Aufgaben lösen zu können, die sich von ihrem Standpunkte erheben. Ich leugne nicht, daß zunächst meine Hoffnungen eben auf diese Kreise am meisten gerichtet sind, wenn ich erwarte, daß den genealogischen Studien ein neues Zeitalter sich eröffnen werde und müsse. Bis dahin kann man indessen jenen Bestrebungen nicht genug Dank und Aufmerksamkeit zuwenden, welche in selbstgewählter Thätigkeit und durch private Veranstaltungen sich bemühen, dem genealogischen Studium Arbeiter und Freunde zu erwerben, wie die beiden Vereine „Adler“ in Wien und „Herold“ in Berlin, welchem letzteren ich dieses Werk seit Jahren zugedacht habe und hiermit auch zueigne. Möchte das gute Beispiel, welches in diesem Augenblicke in Berlin durch die von der Adelsgenossenschaft veranstalteten Vorlesungen über Genealogie gegeben worden ist, recht befruchtend wirken! In nicht allzuferner Zeit werden sich ja doch Regierungen, die für die Interessen der Wissenschaft thätig sind, entschließen müssen, das dicke Scheuleder der Fakultäten zu durchbrechen und etwas für die Wiederaufnahme genealogischer Studien zu thun. Von meinem Theile kann ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen ohne zu bekunden, daß ich bei zahlreichen Vertretern wissenschaftlicher Zweige, deren ich in vielen einzelnen Fällen annerkennungsweise zu gedenken hatte, und die ich bitte, hier ein für allemale meinen Dank entgegen zu nehmen, auch heute schon ein sehr entschiedenes Interesse für die Fragen wahrgenommen habe, zu deren Lösung die Genealogie einiges beitragen möchte. Auch fand mein Versuch bei einem jungen tüchtigen Vorkämpfer genealogischer Forschung, Ernst Devrient, mitarbeitende Theilnahme. (VI ≡)
Und so geht dieser genealogische „Gatterer“ nach hundert Jahren neuerdings mit Wunsch und Erwartung in die Welt, im nächsten Jahrhundert doch noch eine Renaissance zu sehen. Rom, im December 1897.
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Inhalts-Verzeichniß.
Einleitung.Genealogie als Wissenschaft.
Erster Theil.Die Lehre vom Stammbaum.
Zweiter Theil.Die Ahnentafel.
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Dritter Theil.Fortpflanzung und Vererbung.
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Einleitung.
Genealogie als Wissenschaft.
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Begriff der Genealogie.Die Erkenntnis von dem Zusammenhange lebender Wesen in Folge von Zeugungen der einen und Abstammung der andern kann im allgemeinsten Sinne als die Grundlage alles dessen angesehen werden, was unter Genealogie zu verstehen ist. Sie umfaßt in dieser weiten Bedeutung des Wortes die gesammte geschlechtlich fortgepflanzte Thierwelt und findet ihre Anwendung in Bezug auf alle Gattungen und Arten derselben. Für die objektiv wissenschaftliche Betrachtung bietet sich jedes geschlechtlich erzeugte Wesen als Gegenstand genealogischer Forschung dar und jede Erforschung des Lebens erlangt unter diesem Gesichtspunkte den Charakter einer genealogischen Wissenschaft. Indessen ergiebt sich zwischen den Objekten der auf Zeugung und Abstammung gerichteten genealogischen Betrachtung ein wesentlicher Unterschied in Folge des Bewußtseins des Zusammenhangs zwischen Erzeugern und Erzeugten. Das Thier erkennt seine Eltern vermöge des Bedürfnisses der eigenen Lebenserhaltung während eines Zeitraums, dessen Dauer von der Höhe der Entwicklung seiner Gattung abhängig ist, aber erst beim Menschen beginnt eine von dem unmittelbaren Trieb des Lebens unabhängige Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Eltern und Kindern: In der Stufenfolge organischer Wesen gelangt man endlich zu gewissen Arten von Menschen, welche sich durch das allgemein vorhandene genealogische Bewußtsein von den Thieren und wahrscheinlich auch von andern Arten deutlich unterscheiden lassen, die nach sonstigen Eigenschaften ihnen menschlich nahe verwandt erscheinen mögen. Eine sichere anthropologische Kenntnis davon, bei (4 ≡)
welchen Arten von Menschen, unter welchen Rassen und Himmelsstrichen das genealogische Bewußtsein sich entwickelte, ist zur Zeit nicht vorhanden. Man kann nur sagen, daß überall da, wo sich unter Menschen Erinnerungen an vergangene Menschen bewahren, genealogisches Bewußtsein vorhanden ist, und daß daher die ältesten geschichtlichen Ueberlieferungen, die bei den verschiedensten Völkern gefunden wurden, meistens genealogischer Natur waren. Die Genealogie im engeren und eigentlichen Sinne setzt mithin das Vorhandensein des genealogischen Bewußtseins jener besonderen Wesen voraus, deren Zusammenhang unter einander auf Erzeugung und Abstammung erkannt werden soll. Die Genealogie als Wissenschaft kann nur von denjenigen Lebewesen gedacht werden, die die Vorstellung von Eltern und Kindern in der Besonderheit der Fälle zu erhalten gewußt haben. Sie setzt voraus, daß das Individuum in seiner Abstammung von Individuen erkannt worden ist und begnügt sich nicht mit einer Erkenntnis des Zusammenhangs und der Entwicklung von Arten überhaupt. Im Gegensatze zu dem Gattungsbegriff und seiner Evolution steht die Genealogie auf dem Individualbegriff und alle von ihr zu beobachtende Entwicklung kann nur im collectiven Sinne verstanden werden. Sie hat es nicht mit dem Menschen überhaupt, sondern mit den geschichtlich handelnden, durch Zeugungen fortgepflanzten Personen zu thun, die sich des Zusammenhanges von Eltern und Kindern bewußt geworden und zur Erkenntnis einer Reihe zeitlich entwickelter Thatsachen gekommen sind, welche durch die Geburt und den Tod jedes einzelnen Individuums deutlich erkennbar begrenzt sind. In dieser Abfolge von Ereignissen bilden sich die Erinnerungen des geschichtlichen Menschen als Wirkungen von Lebensaltern oder Generationen, und das sich erhaltende und stets erneuernde Bewußtsein von Abstammungsreihen, die Erkenntnis immer wiederholter und neu geborener Generationen von Vätern, Söhnen und Enkeln ist hinwieder das Kennzeichen von gewissen Menschenarten, die man zum Unterschiede von allen andern Lebewesen den Geschichtsmenschen nennen darf. Wo immer der Naturforscher in Rücksicht auf die Eigenschaften der gesammten Thierwelt das unterscheidende in den Arten aufsuchen und feststellen mag, (5 ≡)
unter allen Umständen wird er an eine Grenze gelangen, wo das genealogische Bewußtsein unter den Menschenarten zuerst auftritt und die Erkenntnis der Geschlechtsreihen im Gegensatze zur Thierwelt in lebendiger Vorstellung forterbt. Kann er in den natürlichen Vorgängen der Fortpflanzung zwischen den geschlechtlichen Zeugungen keinen wesentlichen Unterschied bemerken, so tritt in dem Bewußtwerden des genealogischen Begriffs ein Individuum hervor, dessen Wirkungen mit denen keiner andern Art von Lebewesen vergleichbar sind. In diesem Sinne erscheint das Auftreten des genealogischen Bewußtseins unter den Menschen nicht bloß als ein Hilfsmittel, welches die geschichtliche Erinnerung begleitet oder erleichtert, sondern vielmehr als die Ursprungsquelle alles geschichtlichen Lebens und Denkens. Es ist daher ganz richtig, wenn schon der alte Gatterer, der sich rühmen durfte, der erste gewesen zu sein, welcher ein systematisches Buch über die Genealogie geschrieben, sagte: „Genealogie gab es eher unter den Menschen als Geschichte.“ Und mit gleichem Rechte hob er es als besonders merkwürdig und bezeichnend hervor, daß man, sobald der Gedanke von Genealogie in der Menschenseele erwacht war, sofort darauf verfiel, Stammtafeln der Götter zu machen, bevor man noch Stammtafeln der Menschen besaß. Selbst die Weltschöpfung, die man personifizirte, konnte nur genealogisch gedacht sein; in der That eine frühzeitige Ahnung der Völker davon, daß hier etwas notwendiges und gesetzliches zu Grunde liege, welches keinen anderen historischen Vorstellungen und Erinnerungen in gleichem Maße zuzukommen schien. Denn was man auch von Menschen und ihren Erlebnissen und Handlungen sonst wissen und erzählen konnte, etwas gleich sicheres, stets wiederkehrendes, durchaus gesetzmäßiges, wie Geburt und Tod, wie die Aufeinanderfolge der Geschlechter, wie Zeugung und Abstammung ist bei Beobachtung aller den Menschen betreffenden und vom Thun der Menschen abhängigen Ereignissen nicht zu erkennen gewesen. Seit den urweltlichen Zeiten des entstandenen menschlichen Bewußtseins drängte sich die genealogische Erkenntnis als ein etwas der Erfahrung auf, das sich als dauerndes im Wechsel der Erscheinungen erweisen mußte. In diesem Sinne gehörte die Genealogie zu (6 ≡)
den ältesten Erfahrungen des Menschengeschlechts, denen in der Einfachheit ihrer Sätze der Charakter einer Wissenschaft nicht abzusprechen war, denn was sie feststellte, beruhte auf der allgemeinen und unbedingten Giltigkeit ihrer Erkenntnisse, gleichwie die Wahrheiten des Sternenlaufes und die Beobachtungen an Sonne und Mond. Gleichwie sich die astronomischen Wissenschaften als Erbtheil der ältesten Völker aus der Beobachtung des Weltalls ergeben haben, so entwickelte sich die Genealogie als ein Ergebnis der Betrachtung des menschlichen Daseins. Es bedarf nicht erst des Hinweises auf das Schriftthum, das seit Moses zu Gebote steht. Die Genealogie ist in diesem ursprünglichsten Sinne mithin die Wissenschaft von der Fortpflanzung des Geschlechts in seinen individuellen Erscheinungen. Sie erhält ihren vollen Inhalt und ihr eigentliches Gepräge durch die Beobachtung eben des in seinen persönlichen Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen erkannten Menschen selbst, der in Rücksicht auf seine physischen, geistigen und gesellschaftlichen Eigenschaften einer Reihe von Veränderungen unterliegt, deren Erkenntnis im einzelnen zwar zu den Aufgaben anderer selbständiger Wissenszweige gehört, an deren Grenzen jedoch die Genealogie diejenigen Ursachen und Wirkungen untersucht, welche sich auf Zeugung und Abstammung des Individuums in seiner Besonderheit beziehen.
Stellung der Genealogie in den Wissenschaften überhaupt.Eine sehr verschiedene Bedeutung gewinnt die Genealogie durch ihre Beziehungen zu der Gesammtheit der Wissenszweige. Auf sich selbst gestellt und in sich beruhend erscheint die Genealogie nur da, wo sie in der Darstellung lediglich die Thatsachen individueller Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse berücksichtigt. Wendet sie sich dagegen zur Betrachtung der Natur und des Wesens der Erzeugten, so tritt sie in vielfache Beziehungen zu einer Reihe von Wissenschaften, deren Untersuchungen sich nur zum Theile mit den Aufgaben der Genealogie decken werden, denen sie jedoch (7 ≡)
überall hilfswissenschaftlich zur Seite stehen kann. So läßt sich die Genealogie ihrem Begriff und Wesen nach in zwei Hauptrichtungen gliedern, je nachdem man ihre formale Seite in der Nachweisung thatsächlicher Geschlechtsverhältnisse ins Auge faßt, oder aber stofflich und inhaltlich die Beziehungen untersucht, die sie zu andern Wissensgebieten darbietet. In ersterer Rücksicht – man mag den Ausdruck formaler Genealogie, wenn er auch nicht sehr bezeichnend ist, der Kürze und Bequemlichkeit wegen nicht misbilligen – handelt es sich um Darstellung von Abstammungsverhältnissen und Verwandtschaften einer gewissen Anzahl persönlich zu bezeichnender Menschen in aufsteigenden und absteigenden Zeugungs- oder Geschlechtsreihen. Bei dieser ein für allemale wichtigsten, grundlegenden Thätigkeit kommt es in der genealogischen Wissenschaft zunächst darauf an, die durch Zeugung und Abstammung bedingten Verhältnisse von bestimmten Personen zu bestimmten Personen richtig zu erkennen und klar nachzuweisen. Man gelangt auf diesem Wege zu einem System von reihenweis fortschreitenden, aufsteigenden oder absteigenden Linien, aus welchen sich der Begriff der Generationen entwickelt. In diesem eigentlichen und besonderen Sinne fällt der Genealogie die Aufgabe zu, die Vielheiten menschlicher Zeugungsakte unter einheitliche Gesichtspunkte des Abstammungsverhältnisses von bestimmten Menschenpaaren zu bringen, welche in ihrer zeitlich begrenzten Wirksamkeit als Urheber von bestimmt bezeichneten, ebenfalls zeitlich begrenzten durch die gleiche Abstammnng geschwisterlich vereinigten Personen erkannt sind und in immer neu sich bildenden Reihen zu Stammeltern eines im Zeitenstrom sich fortentwickelnden Geschlechts werden. Die Genealogie beschäftigt sich in elementarer Arbeit zunächst mit dem Generationsbegriff als Ausfluß unmittelbar nachzuweisender Zeugungen und kann zunächst von der Frage absehen, inwiefern auch im weiteren Sinne von Generationen gesprochen werden kann, bei denen aus zeitlich zusammenfallenden Lebenswirksamkeiten gleichsam auf eine Stammvaterschaft idealer Art und auf eine Zusammengehörigkeit von Abstammungsreihen geschlossen werden kann. Im weitesten Sinne des Begriffs fällt die Vorstellung von Generationen aus dem Rahmen genealogischer (8 ≡)
Nachweisung selbstverständlich heraus, beruht eigentlich auf der Hypothese einer Abstammung von einem Elternpaar und erhält ihre Bedeutung erst in ihrer Anwendung auf anderen Gebieten historischer Erscheinungen. Indessen sind die Aufgaben, welche der Genealogie schon auf ihrer untersten Stufe in dem Nachweise bloßer Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse gestellt sind, schwierig genug zu erfüllen. Denn das Erinnerungsvermögen der Menschen ist in Bezug auf diese ohne Zweifel natürlichsten Vorgänge, auf denen ihr Dasein doch beruht, wenngleich besser als bei den Thieren, doch im ganzen und großen ebenfalls ein außerordentlich geringes und ungewisses. Die sichere Kenntnis von Abstammungsverhältnissen setzt nicht nur einen hohen Grad erlangter ethischer Kultur, sondern auch den ausgedehnten Gebrauch der Schrift voraus. Ohne diese giebt es so wenig eine Genealogie, wie eine Geschichte, diese vielleicht noch eher, als jene. Aber auch das schriftliche Zeugnis ist nur ein, wenn auch unentbehrlicher Nothbehelf in genealogischen Dingen, sobald man denselben in größerem Umfange nachgeht. Das Erinnerungsvermögen in Bezug auf Abstammungsverhältnisse reicht bei den Menschen bis zu den Großeltern und in besonders günstigen Verhältnissen bis zu den Urgroßeltern. Die mündliche Ueberlieferung kann ganz zuverlässige Mittheilungen über einzelne Linien von Vorfahren darbieten, aber für die Erkenntnis von Geschlechtsreihen reicht kein Gedächtnis aus. Und selbst das schriftliche Zeugnis unterliegt einem gewissen Skepticismus in genalogischen Dingen, der trotz selbstverständlicher Anwendung aller jener Mittel und Methoden, die man in den geschichtlichen Wissenschaften überhaupt besitzt, vermöge der eigenthümlichen Natur genealogischer Thatsachen unbesiegbar sein mag. Trotz aller Feinheiten geschichtlicher Untersuchung, trotz aller Fortschritte des historisch-kritischen Geistes unserer Zeit, wird der Genealog immer nur Sätze auszusprechen vermögen, zu deren Annahme die Bereitwilligkeit des Glaubens und Vertrauens gehört. Zu einer exakten Wissenschaft, die sich auf dem[GWR 5] Standpunkt des experimentellen Beweises befände, kann es die Genealogie nicht bringen, da sie Geheimnisse in sich verbirgt, die keine Kritik enträthseln kann. Der verbreitete Hochmuth des historischen (9 ≡)
Calculs kommt sicherlich nie öfters zu Falle, als selbst bei den sorgfältigst erforschten Thatsachen dieses menschlich so unsicheren Gebietes. Ob die genealogische Wissenschaft aus sich selbst heraus zu Methoden vorzudringen vermöchte, nach welchen ihre dunklen Seiten mehr zu erhellen wären, dies erfordert eine Ueberlegung, die weit schwieriger sein wird, als die handwerksmäßigen Erörterungen über Geburtszeugnisse und Sterberegister. Indem sich die wissenschaftliche Genealogie diese weit über das Gebiet ihrer formalen Aufgabe hinausschreitende Frage vorlegt, steht sie mitten in den Beziehungen, die sich ihr aus der stofflichen Betrachtung ihrer Gegenstände zu den mannigfaltigsten Zweigen historischer, politischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen ergeben werden. So lange sie auf dem Standpunkt der formalen Feststellung der Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse stehen bleibt, brauchten sich ihre Ergebnisse wenig von einander zu unterscheiden, sei es, daß sie sich mit menschlichen oder thierischen Individuen beschäftigt; indem sie aber daran geht, die natürlichen und qualitativen Veränderungen derselben mit zu beobachten, erhebt sie sich zu einer Wissenschaft vom Menschen und seiner Geschichte im Besonderen. Auf diesem Wege ersteigt sie den Gipfel ihrer Einsicht in der Erkenntniß der individuellen Unterschiede der sich fortpflanzenden Geschlechter, und betheiligt sich auf dieser Höhe ihrer Forschungen an der Lösung von Fragen, die von den verschiedensten Seiten her wissenschaftlich angestrebt wird. Sie wandelt auf den Grenzlinien des geschichtlichen und naturwissenschaftlichen, wie des staats- und rechtswissenschaftlichen Gebiets. Will man sie als Hilfswissenschaft bezeichnen, so versteht sich dies im weitesten Umfange der Disziplinen des sogenannten Natur- und Geisteslebens. Indem sie sich den mannigfaltigsten Wissenschaftsgebieten anzuschmiegen und zu unterordnen vermag, unterscheidet sie sich jedoch in ihrer Art von allen übrigen zugleich dadurch, daß sie niemals von dem individuellen Charakter ihrer gesammten Betrachtungen abzusehen und abzugehen vermag. Sie beschäftigt sich immer mit dem Einzelnen und gestattet keine Verallgemeinerung nach Art jener Wissenschaften, die durch die Abstraktion zur Erkenntnis gesetzlich festgestellter Thatsachen vordringen. Die Genealogie geht von dem (10 ≡)
einzelnen Fall aus und behandelt auch nur den einzelnen Fall. Was allen Fällen gemeinschaftlich ist, ist nichts als ein leeres Schema, eine Form, eine Voraussetzung für Erkenntnis von Gesetzen, welche vielleicht die Geschichte, die Gesellschafts- und Staatswissenschaft, wahrscheinlich die Biologie und Anthropologie, jedenfalls die Physiologie und Psychologie auszudenken und aufzustellen im Stande sein werden.
Genealogie und Geschichte.Wenn die ältesten geschichtlichen Erinnerungen der meisten Culturvölker genealogischer Natur waren, so erweiterte sich alsbald die Genealogie zur Geschichte der Völker selbst, indem sie in das Knochengerüste ihrer Geschlechtsreihen den gesammten Inhalt des historischen Lebens derselben willig und gleichsam unwillkürlich aufnahm. Das genealogische System trat in Concurrenz mit dem der Chronologie und ergänzte das letztere. Auf dem Standpunkte der Entwickelung astronomischer Beobachtungen vermochte die Annalistik sich auszubilden, die vorherrschend genealogische Betrachtungsweise förderte die epische Erzählung unter wesentlicher Vernachlässigung chronologischer Momente. Die eigentliche Geschichte konnte sich nicht entwickeln ohne gleichwertige Betrachtung und gleiche Bewertung der chronologischen wie der genealogischen Grundlagen des wirklichen Geschehens. Wenn sich nun aber die Geschichte erzählend und berichtend zu immer reinerer Darstellung der Handlungen und Wirkungen erhebt und das gesammte Interesse auf das Gegenständliche der Entwicklung hinleitet, so büßt die Genealogie ebenso wie die Chronologie ihre leitende Stellung mehr und mehr ein und sinkt zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft herab. In dieser Form begleitet sie in Zeiten hoher Vervollkommnung den geschichtsforschenden Geist fortgeschrittener Nationen und je mehr die Kunstgebilde historischer Darstellung verfeinert in der Litteratur erscheinen, desto weniger scheint die Stammtafel noch einen in sich ruhenden Werth besitzen zu können. Die Genealogie theilt dann das Schicksal des chronologischen Schemas, der Annalistik, welche (11 ≡)
von einer abgezogenen Wissenschaftlichkeit bis zur Verwirrung des thatsächlichen vernachlässigt werden konnte. Indessen vermag doch alle Geschichtsbaukunst, sei sie auch noch so sehr auf die rein sachlichen Fragen und Gesichtspunkte gerichtet, auch noch so sehr den politischen, litterarischen, culturellen und sozialen Entwicklungen zugewandt, die genealogische Grundlage und mit dieser das genealogische Interesse nicht ganz zu verdrängen. Still und in sich gekehrt behauptet die Geschlechtskunde zunächst im engen Kreise von Familienerinnerungen und da es die Familie ist, die sich als solche im Gange des Geschichtslebens mächtiger und mächtiger zu regen versteht, als solche in der Gemeinde, im Volke, im Staate allgemach entscheidend aufzutreten vermag, so drängt sie sich der Geschichtswissenschaft wieder mit ihrer genealogischen Grundlage bedeutend auf und nötigt den Erzähler von Heldenthaten und Geistesschlachten, ebenso wie den Erklärer von Staatseinrichtungen, Verfassungen und Kunstwerken sich wieder in den Dienst der Genealogie zu stellen und ein gutes Stück von Weisheit und Kraft aus dem Mark und den Thaten von Stammvätern und Vorfahren herzuleiten, die wieder nur aus der Ahnentafel erkannt werden können. Das Verhältnis, in welches die Genealogie zur Geschichte sich stellt, ist äußerlich genommen leicht verständlich und in hilfswissenschaftlichem Sinne im allgemeinen nicht unbeachtet geblieben; aber indem sich die genealogischen Fragen im Hinblicke auf das, was der Sohn vom Vater, die absteigenden Geschlechter von den Vorfahren überkommen haben, mächtig in den Aufbau geschichtlicher Ursachen und Wirkungen hineinschieben, befindet sich die Forschung auf einem Gebiete, welches zu größerer Erhellung aufzufordern scheint. Daß alles menschliche Wollen und Thun aus Quellen fließt, die in einem genealogisch zu erforschenden Boden liegen, kann wol an keiner Stelle von dem Geschichtsforscher verkannt werden, wenn auch eine Erkenntnis einzelner Umstände in dieser Beziehung schwierig, zuweilen unmöglich sein mag. Aber die Geschichte darf von der Genealogie Aufklärungen erwarten, die vielleicht noch mehr nach dem zu beurtheilen sind, was sich als Aufgabe darstellt, als was darin bereits geleistet worden sein mag. (12 ≡)
Die mannigfaltigsten Erscheinungen des geschichtlichen Verlaufs der Dinge im Staat und in der Gesellschaft, wie in der Litteratur und Kunst sind Wirkungen nicht nur von einer Person und nicht nur von einer Reihe gleichzeitig lebender Menschen, sondern auch Ergebnisse der Thätigkeit einer Anzahl hintereinander auftretender Generationen, die sich, weil Väter, Söhne und Enkel in einem geistigen wie körperlichen Zusammenhange stehen, nur als Produkte genealogisch wirkender Kräfte erfassen lassen. Der klare Begriff des geschichtlichen Werdens ergibt sich aus dem, was durch die sich fortpflanzenden und erneuernden Geschlechtsreihen hervorgebracht worden ist, was von den einen erworben und erlangt, von den andern übernommen und an's Ende geführt worden ist. Keine geschichtliche Betrachtung kann von dem Zusammenwirken der in Familie, Stamm und Volk verbundenen und in gewissen genealogisch festzustellenden Verbindungen thätigen Persönlichkeiten absehen; alle Geschichte ist Familien-, Stamm- oder Volksgeschichte und kann als solche den Begriff der Generation nicht entbehren. Der Familienstammbaum theilt sich nach der Abfolge von Eltern und Kindern und verzweigt sich nach den von den Geschwistern ausgehenden Linien und der Stammbaum des Volkes schreitet in Generationen fort, welche als ein ideales Schema für die Gesammtheit der in Familien, Stämmen und Völkern vereinigten Menschen gedacht werden, aus welchen jedoch die Genealogie nur einzelne durch Persönlichkeit ausgezeichnete Bestandtheile darstellend herausgreift. Je bestimmter sich aber der einzelne Stammbaum als Typus der historisch wirksamen Generationen erfassen läßt, desto sicherer wird er dem Historiker als Grundlage für seine Beobachtung der Entwicklung gelten dürfen. Der geschichtliche Prozeß schreitet generationsweise fort und findet sein zeitliches Maß in den genealogisch erkennbaren Geschlechtsreihen bestimmter Personen und namentlich festzustellender Abstammungen. So mannigfaltig auch der Begriff der Generation von den verschiedensten Wissenschaften, bald von der Statistik und Bevölkerungslehre, bald von der Philosopie der Geschichte, bald von der Zoologie und Anthropologie gefaßt werden wollte, eine sichere Grundlage erhält derselbe nur durch die Genealogie, denn er bedeutet nichts anderes als das durch den (13 ≡)
Stammbaum persönlich ausgefüllte Schema der menschlichen Zeugungen und Fortpflanzungen. In dieser abgezogenen den realen Zusammenhängen der einzelnen Familien entnommenen Bedeutung bietet der Begriff der Generation dem Geschichtsforscher den sicheren Wegweiser, welchen der alte Weltweise schon mit dem Satze bezeichnet: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Indessen ist die Beziehung der Genealogie zur Geschichte keineswegs durch die Erklärung dessen, was man die Generationslehre nennen darf, erschöpft. Und obwol Ranke der Idee einer generationsweisen Entwicklung die grundlegende Stellung gesichert hat, so bezeichnet dieses Ziel genealogischer Studien doch mehr die Aufgaben geschichtlicher Zukunftswissenschaft, als die gewohnten Beziehungen des wissenschaftlichen Betriebes. Dagegen ist die Genealogie in ihrer Bedeutung für die politische Geschichte zu allen Zeiten im wesentlichen richtig erkannt worden. Der Zusammenhang genealogischer und politischer Dinge ist dem Erzähler von Weltbegebenheiten klar gewesen, so lange es Volkshäupter und Herrschergeschlechter gegeben hat, und so lange ständische Gliederungen von was immer für einer Art, führende Persönlichkeiten unterscheidbar machten. Die Staatengeschichte kann so wenig von der Kenntnis ihrer genealogischen Voraussetzungen losgelöst werden, wie die Geographie von der Landkarte. Es giebt eine Behandlungsweise des genealogischen Stoffes, die mit der politischen Geschichte vollständig zusammenfällt und es gibt staatsgeschichtliche Vorgänge, die überhaupt nichts als genealogische Fragen sind. Die Geschichtsforschung und Geschichtserzählung aller Völker läßt einen nicht seltenen Wechsel in der Wertschätzung der genealogischen Verhältnisse wahrnehmen, die Staatsformen und Verfassungseinrichtungen, die sich dem Geschichtsforscher darbieten, nehmen einen im Gegenstand begründeten Einfluß auf die genealogische Behandlung der Geschichte selbst; die Betrachtung monarchischer und aristokratischer Entwickelungen nöthigt in bestimmterer Weise zur Berücksichtigung des genealogischen Momentes, als die Darstellung republikanischer und demokratischer Einrichtungen. Aber seit man erfahren, daß auch die römische Republik ihren genealogischen Grundzug behalten und ihre Geschlechtergeschichte zum Verständnis (14 ≡)
der Staatsverhältnisse unerläßlich war und seit man weiß, daß das große Parteiwesen Englands auf vorherrschend genealogischen Grundlagen ruhte, würde es als eine Thorheit betrachtet werden müssen, diesen freiesten Völkerentwicklungen ohne die Leuchte der Genealogie nahen zu wollen. Die Geschichte der Staaten der neueren Zeit ist in Absicht auf ihre geographische Existenz und in Betreff aller Dinge, die unter den Gesichtspunkt internationaler Verhältnisse fallen, überhaupt genealogischer Natur und da man von Geschichte im höchsten und eigentlichsten Sinne doch eben nur bei jenen Culturvölkern zu sprechen pflegt, die sich in den neueren Zeiten bethätigt haben, so versteht sich von selbst, daß thatsächlich alle moderne Geschichtsdarstellung sich im Geiste der Autoren theils bewußt, theils unbewußt auf dem Schema, wie auf dem persönlichen Aufbau der Stammbäume emporheben konnte; es ist immer nur eine methodische Frage für den Historiker, ob er die natürliche Grundlage des menschlichen Daseins und mithin auch alles menschlichen Thuns, das genealogische Gerüst der Familien und der Gesellschaft ganz oder nur theilweise aufgedeckt dem Hörer oder Leser seiner Erzählungen vorführen will. Im Bestreben, den von der Geschichte zu meldenden Thatsachen eine möglichst objektive Giltigkeit zuzuerkennen, ist der genealogische Bestand des geschichtlichen Stoffes gerade durch die vollkommeneren Beiträge der Historiographie immer mehr zurückgedrängt worden. Den künstlerischen Aufgaben geschichtlicher Darstellungen sagte die zum Theil eintönige Betrachtung von Zeugungs- und Abstammungsverhältnissen oft weniger zu, als die gleichsam innerlich begründete Verknüpfung der Ereignisse der Weltgeschichte selbst. Und wiewol es stets ein Beweis ganz besonderen Talents war, wenn Geschichtsschreiber in weiser Oekonomie ihrer Mittheilungen das persönlich genealogische in sichere Verbindung mit dem objektiv thatsächlichen zu setzen verstanden haben, so kann man doch nicht verkennen, daß der Gang der historiographischen Entwicklung der genealogischen Erkenntnis im letzten Jahrhundert weniger günstig war, obgleich doch auf der einen Seite die genealogische Forschung bei gänzlicher Abseitsstellung in Betreff einzelner Familienbesonderheiten große Fortschritte aufzuweisen (15 ≡)
und andererseits die Geschichtsforschung in Betreff alles thatsächlichen der Begebenheiten und in der Erkenntnis des Zuständlichen einen ungeheuren Aufschwung genommen hat. Die starke und mächtige Verknüpfung zwischen den genealogischen und staatsgeschichtlichen Momenten ist dagegen zurückgetreten und in einige Vergessenheit gerathen. Als der bedeutendste Schöpfer und Lehrer einer genealogisch begründeten Staatsgeschichte stand vor fast zweihundert Jahren Johann Hübner in Hamburg auf, einer der größten und gewaltigsten Geschichtsdenker im historiographischen Salon der Zurückgewiesenen und Vergessenen. Er hat nicht nur die umfassendsten Grundlagen für die Genealogie im speciellen geschaffen, sondern auch den rechten Weg für eindringendes Verständnis und Studium der politischen und Rechtsgeschichte gewiesen. In Folge seiner vortrefflichen Methoden besaß das 18. Jahrhundert eine sehr sichere staatsgeschichtliche Thatsachenkenntnis ohne jede Phraseologie und aufdringliche Hervorkehrung der idealen Beziehungen. Wiewol nun zuweilen hierin eine, große Geister, wie Voltaire oder Friedrich den Großen beleidigende Steifheit der Auffassung erreicht worden sein mag, so kann man doch sagen, daß besonders der praktischen Staatskunst diese sichere genealogische Geschichtskenntnis zu Gute kam und die große Zahl eminenter diplomatischer Talente des 18. Jahrhunderts ohne Frage mit dem trefflichen auf der Genealogie beruhenden Geschichtsunterricht zusammenhing. Die Göttinger historische Schule und besonders Pütter war sich dieses Zusammenhangs und dieses Erfolgs des genealogisch-staatswissenschaftlich-geschichtlichen Lehrvortrags dann auch vollkommen bewußt. Derselbe beruhte eigentlich auf dem von Johann Hübner begründeten System genealogischer Erklärung der Staatsgeschichte, welches derselbe in dem Werke: „Kurtze Fragen aus der Genealogie nebst denen darzu gehörigen Tabellen zur Erläuterung der politischen Historie“ darlegte. Gatterer und Pütter schlossen sich in ihren Vorlesungen noch ganz genau diesem System an und des letzeren Tabulae genealogicae ad illustrandam historiam imperii blieben lange Zeit das unentbehrlichste und benützteste Hilfsmittel historischen Unterrichts. Wenn seit Schlosser und Johannes Müller dieselbe Methode wenigstens in der Litteratur (16 ≡)
der Lehrbücher zurückzutreten schien, so möchte man der Vermutung Raum geben können, daß diese Männer den Gebrauch der Stammtafel vermöge des von ihnen noch genossenen Unterrichts als etwas so selbstverständliches betrachteten, daß sie sich auf die älteren Werke ausreichend stützen zu können meinten. Leider hielt aber das genealogische Studium selbst im weiteren Verfolg der historiographischen Entwicklung nicht gleichen Schritt. Einzelne Darsteller der Weltgeschichte, wie Damberger, waren noch von der Nothwendigkeit der genealogischen Tafeln überzeugt und ein ebenso gelehrter wie ausgezeichneter Forscher, wie J. Richter machte sogar noch den gewagten Versuch, durch ein genealogisches Werk von hervorragendster Bedeutung zur römischen Geschichte die der Genealogie besonders abgeneigten Philologen für das ältere System zu gewinnen, aber er scheiterte bereits an der Gleichgültigkeit der neuen Gelehrten für diese Dinge und fast ist es dahin gekommen, daß das Bewußtsein des Zusammenhangs von Genealogie und geschichtlicher Entwicklung in der großen Menge der historischen Litteratur verloren ging. Das von Oncken herausgegebene Werk der Weltgeschichte lieferte endlich den Beweis, daß in einer gewaltigen Zahl von Bänden eine Reihe von Gelehrten sich vereinigen konnte, die mannigfaltigsten künstlerischen Hilfsmittel herbeizuziehen, um das Verständnis geschichtlicher Dinge zu erleichtern, aber nicht eine einzige Stammtafel beizufügen für nötig fand! Auch haben die zahlreichen Akademieen und gelehrten Gesellschaften, die in den letzten fünfzig Jahren unendliche Summen für zum Theil recht unbedeutende Publicationen ausgegeben haben, nicht ein einziges Werk genealogischen Inhalts und Charakters zu Tage gefördert oder unterstützt, obwohl doch die großen Leistungen der älteren Zeit zu Fortsetzungen aufgefordert hätten, die sicher nur durch die Thätigkeit von gelehrten Körperschaften zu Stande kommen konnten. Der Verfasser des vorliegenden Werkes hat seit längerer Zeit in Schrift und Wort für die Notwendigkeit der Wiederaufnahme genealogischer Studien und Arbeiten zum Zwecke der Herbeiführung entsprechenderer geschichtlicher Kenntnisse gestritten, hat aber fast nur Widerspruch von Seiten der historischen Gelehrsamkeit und insbesondere von den ihm meist feindseligen, tonangebenden, die (17 ≡)
öffentlichen und privaten Mittel der verschiedensten Gesellschaften verwaltenden Leitern historischer Unternehmungen erfahren. Die genealogisch-historische Forschung sieht aber auf eine große Vergangenheit zurück und wird als wichtiges Gebiet historischer Forschung im zwanzigsten Jahrhundert ohne Zweifel wieder auferstehen. Genealogie, Staatswissenschaft, Gesellschaftslehre, öffentliches und privates Recht.Der große Staatsrechts- und Geschichtslehrer Johann Stephan Pütter, dessen Lehr- und Handbücher bis auf unsere Tage unübertroffen geblieben sind und dessen Methode unerschüttert feststeht, wie der Polarstern, hat schon vor mehr als hundert Jahren jedem seiner Schüler die ebenso einfache als zuverlässige Wahrheit eingeschärft, daß sich in Staatssachen und Rechtsverhältnissen seit die Menschen Eigenthumsbegriffe mit Erbschaftsbegriffen verbunden hätten, ohne genealogische Grundlage keinerlei Wissenschaft und keinerlei Rechtssystem entwickeln konnte. In seinem schon erwähnten Werke zur Erläuterung der Rechtsgeschichte weist er besonders darauf hin, daß das öffentliche Recht überhaupt und das besonders in Deutschland ausgebildete Fürstenrecht ohne Einsicht und Studium der Genealogie nicht verstanden werden können. Aber auch das von den Römern ausgebildete Privatrecht nötigte zu der genauesten Erwägung genealogischer Fragen und brachte eine genealogische Systematik hervor, die ihrerseits wiederum auf die Entwicklung der Genealogie als Wissenschaft zurückwirkte. Den Erbschaftsfragen des Privatrechts steht die Erbfolgefrage des öffentlichen Rechts zur Seite und die juristische Entscheidung des Streitfalles setzt den Nachweis und die Sicherstellung genealogischer Thatsachen im Privatrecht wie im öffentlichen voraus. Die Vernachlässigung der genealogischen Studien schien im Beginn des Jahrhunderts mit den Einflüssen der französischen Revolutionsideen auf die Rechts- und Staatsentwicklung im Zusammenhange zu stehen. Eine gewisse Theilnahmslosigkeit für Fragen des Fürstenrechts und in Folge dessen eine geringe Kenntnis der Erbfolgefragen zeigte sich sowohl in den Staatsangelegenheiten, (18 ≡)
wie auch in der geschichtlichen Behandlung vergangener Erbfolgefragen. Aber der eherne Bestand gewisser unveräußerlicher Rechte wurde dadurch nicht berührt und das zu Ende gehende Jahrhundert läßt genealogische Streitfragen zur Entscheidung kommen, von denen mancher Politiker geglaubt hat, daß sie nicht leicht mehr eine praktische Bedeutung haben könnten. Die Vorstellung, daß die Genealogie nur rückwärts gekehrt für vergangene Jahrhunderte eine Hilfswissenschaft bilden werde, zeigt sich als ein Irrthum der sozialdemokratischen Lehre, die sich von den natürlichen Grundlagen des menschlichen Daseins, wie der Gesellschaft emancipiren zu können meint. Das genealogische Bewußtsein der Gesellschaft ist vielmehr durch die Erkenntnis natürlicher Vorgänge und durch den steigend naturwissenschaftlichen Geist der Zeit trotz aller entgegengesetzten Theorien lebhafter erwacht, als jemals seit den Zeiten der französischen Revolution. Die Auffassung der Gesellschaftszustände zieht heute ihre Nahrung weniger aus der Hochachtung vor den ständisch gegliederten Classen, welche in der Genealogie zum Ausdruck kommen, als vielmehr aus der Erkenntnis der natürlichen Beschaffenheit und den genealogisch entwickelten Eigenschaften der Geschlechter. Unter diesem Banner kämpft die wissenschaftliche Genealogie heute gegen die sozialen Lehren, wie ehemals die Aristokratie gegen die Demokratie. Das was gleichwertig geblieben ist, ist die Vorstellung von der Wichtigkeit der genealogischen Verhältnisse für den Aufbau und Bestand der Gesellschaft; die genealogischen Verhältnisse sind nur ehedem mehr in ihrem mehr äußerlichen politischen und ständischen Charakter und heute mehr von ihrer biologisch-physiologischen Seite gewürdigt worden. Der genealogisch zu erkennende Grundcharakter aller Gesellschaftslehre – die genealogische Wissenschaft in ihrem Wesen bleibt unberührt von allen zeitlichen Wandlungen dessen, was die Geschlechter als solche jeweils für das wertvollere und wichtigere gesellschaftliche Moment erachtet haben. Kein Mensch kann aus seinen Zeugungs- und Abstammungsreihen herausspringen, mag er sich diese oder jene soziale Theorie zurechtmachen. Auf den Verhältnissen seiner Vorfahren und Nachkommenschaft beruht die Stellung, die er in der Gesellschaft einnimmt, er kann sich körperlich und geistig noch viel weniger als (19 ≡)
ständisch und politisch davon befreien. Wenn er sich als gesellschaftliches Wesen betrachtet, so sitzen ihm Vorfahren und Nachkommen (d. h. seine Genealogie) wie die Kobolde auf dem Nacken, sie begleiten ihn wie den Bauer, der sein Haus verbrannt hat in der Meinung sich von ihnen befreien zu können. In geschichtlicher Zeit spielten die durch die politische Standschaft bedingten Gesellschaftsverhältnisse die Hauptrolle und stellten der wissenschaftlichen Genealogie eine Reihe der vornehmsten Aufgaben. Eine ständisch gegliederte Gesellschaft war ohne scharfes genealogisches Bewusstsein nicht denkbar und die Wissenschaft trat ganz in den Dienst der praktischen Interessen; bald in gutem und bald in schlechtem Sinne wurden genealogische Forschungen angestellt und je mehr und sicherer die Abstammung zum Maße aller gesellschaftlichen und politischen Rechte gemacht worden ist, desto entscheidender waren die Ergebnisse des genealogischen Beweises. Kenntnis der Vorfahren, Wissenschaft von der Reihenfolge und Verzweigung der Geschlechter beherrschte vollkommen das gesellschaftliche und politische Leben. Erinnerungen und Nachweise über Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, waren in den meisten und wichtigsten Momenten des Lebens nötig; sie wurden bei der Geburt eines Menschen sorgfältig in Betracht gezogen, sie wurden bei dem Eintritt in ein Standesverhältnis berechnet, sie entschieden über die Satisfaktionsfähigkeit, sie gaben den Ausschlag bei der Eheschließung und bestimmten die Stellung des Mannes wie der Frau nach individueller Bewertung. Die Genealogie repräsentirte in gewissen Zeiten, wenn sie auch nicht die bedeutendste Wissenschaft war, doch das vornehmste Wissen, welches zu vielen Dingen befähigte, die dem Stammbaumlosen verschlossen waren. Und nicht erst in der französischen Revolution haben die unteren Stände den Kampf gegen das genealogische Bewußtsein in der Gesellschaft begonnen. Dem heutigen communistisch gerichteten Classenhaß steht der Bauernkrieg gegen die Ahnentafel und den Stammbaum als durchgreifende Analogie zur Seite. „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann“ sangen die englischen Landarbeiter im vierzehnten Jahrhundert. Aber sie wußten nicht, daß sie sich gegen einen Begriff erhoben, der zwar in seiner zeitlichen Erscheinung in der menschlichen Gesellschaft (20 ≡)
zur Handhabe des politischen Vorrechts wurde, aber in seinem Wesen und seiner eigentlichen Grundlage eine naturgesetzliche Erkenntnis bedeutet, welcher jedermann unterworfen ist. Der Unterschied zwischen den einen und den andern liegt nicht darin, daß der eine einen Besitz hat, der dem andern mangelt, sondern nur darin, daß der eine eine individuelle Erinnerung und Kenntnis verwertet, welche dem andern abhanden gekommen ist. Das Wesen der Genealogie zeigte sich auch auf dem Standpunkt ihrer praktischen Verwertung darin, daß sie lediglich als individualisirte Wissenschaft Nutzen bringen konnte und daß dem Bauern des vierzehnten Jahrhunderts kein Vortheil daraus entsprang, daß er im allgemeinen voraussetzte, alle Menschen stammten gleichermaßen von Adam und Eva ab. Das individualisirte genealogische Bewußtsein wurde in früheren Zeiten Adel genannt, aber mehr und mehr ist eine Trennung dieser Begriffe vor sich gegangen. Es giebt Adel ohne Stammbaum und Stammbäume ohne Adel. Die Kenntnis der Geschlechterabfolge in Rücksicht auf die persönliche Qualität eines Individuums übt aber ihre Wirkung völlig unabhängig von der Frage, ob in der politisch organisirten Gesellschaft durch dieselbe Stellung, Standschaft, Bevorrechtung, materieller Vortheil erworben worden ist oder nicht. Das ideale Moment des genealogischen Bewußtseins hat eine viel höhere, allgemeinere Bedeutung als das politische. Man kann vielmehr sagen dieses ist jenem untergeordnet, so gut wie das gesammte Dasein des Menschen ein Produkt von Zeugungen bestimmter vorhergegangener Geschlechter war. In der Erkenntnis und in dem Nachweis der individuellen Qualitäten liegt das Geheimnis der genealogischen Wissenschaft. Auch dem Adligen, der seine Ebenbürtigkeit nachzuweisen hatte, konnte es nichts nützen, so und so viele Namen als Vorfahren und Erzeuger zu beschwören, sondern durch die nachgewiesenen Eigenschaften derselben erlangte er erst die durch seine Abstammung ermöglichten gesellschaftlichen Vortheile. Auch das die Standschaft bewirkende genealogische Bewußtsein kann des idealen Moments nicht entbehren, welches bald eine ausgedehntere, bald eine einseitigere Bedeutung haben mochte, stets aber darauf beruhte, daß eine Reihe von Personen durch den Besitz gewisser (21 ≡)
vortheilhafter und die Abwesenheit gewisser nachtheiliger Eigenschaften bekannt und ausgezeichnet gewesen ist. Hierin lag zu allen Zeiten der fruchtbare Kern jedes aristokratischen Prinzips in der Gesellschaft und es ist klar, daß man auf derselben genealogischen Basis jede Art von Aristokratie begründet denken kann: geistige und militärische, priesterliche und handwerkszünftige, landwirtschaftliche und grundbesitzende und in manchen Zeiten und Städten gab es eine Hausbesitzer- und Bierschanksaristokratie. Was die zu erlangenden Eigenschaften allgemeiner Bildung betrifft, so giebt es keine irgenwie erkannte oder erkennbare genealogische Regel, die so einfach wäre, wie die Bestimmungen mancher vormaliger geistlicher Körperschaften über die Bedingungen für eine Domherrnstelle, aber es gibt niemand, der nicht die stille Voraussetzung macht, daß auch in den geistigen Productionen der menschlichen Gesellschaft genealogische Gesetze walten, und daß dem Dichter und dem Gelehrten und Künstler Abstammungsverhältnisse zu gute kommen. Genealogie und Statistik.Daß die Genealogie Beziehungen zu der Statistik gewinnen könne, ist erst in neuester Zeit klarer erkannt worden, und es ist das Verdienst des geistvollen Freiherrn du Prel, auf den Zusammenhang einer ganzen Reihe von merkwürdigen Problemen der Bevölkerungsstatistik mit Fragen, die sich nur aus der Genealogie beantworten lassen werden, zuerst in überzeugender Weise hingewiesen zu haben. In allgemeinerer Entwicklung wurden die Veränderungen in den Bevölkerungsverhältnissen schon früher in einem interessanten Buche von Hansen in Neuburg untersucht und erörtert, wobei sich gezeigt hat, daß in den Abstufungen der Bevölkerung ein Wechsel vor sich geht, der auf das innigste mit genealogisch zu erklärenden Thatsachen zusammenhängt. Statistische Erhebungen, welche Hansen mit größter Sorgfalt im städtischen Gemeinwesen angestellt hat, führten zu dem Ergebnis, daß bei der Annahme von drei Stufen der Bevölkerung eine stetige Ergänzung der oberen Stufen aus den unteren stattfindet und notwendigerweise vor sich (22 ≡)
gehen mußte, wenn diese nicht im Laufe einer gewissen Zeit verloren gehen sollten. Die ganze städtische Bevölkerung zeigt sich als ein Produkt neuerer Zeiten, da der Familienwechsel hier unendlich rasch vor sich geht und der sogenannte Mittelstand lediglich durch Heiraten aus den unteren Ständen sich zu behaupten vermag. Es handelt sich also hierbei um den Nachweis von Geschlechtsveränderungen und um die Erscheinung, daß der Familienbestand der städtischen Bevölkerungen lediglich auf eine gewisse Zahl von Generationen beschränkt ist. Soll nun diese aus Namenverzeichnissen der Bürgerschaften eines Orts zu erschließende und von Hansen erschlossene Thatsache im einzelnen sichergestellt werden, so ist es klar, daß es sich um eine genealogisch durchzuführende Arbeit handelt und du Prel hat mit dem ihm eigenthümlichen Scharfblick auch sofort erkannt, daß man zur völligen Klarstellung der Abwandlungen in den Bevölkerungsverhältnissen durchaus zu dem Studium der Stammbäume wird greifen müssen; ja der gelehrte und energisch thätige Mann hat nicht versäumt, sich sofort an die Untersuchung solcher genealogischer Verhältnisse zu machen, zu denen ihm zahlreiche Ahnenproben ein treffliches Material gaben. Man darf behaupten, daß sich durch diese Betrachtungen ein ganzer Zweig genealogischer Thätigkeit eröffnet hat und es ist zu hoffen, daß eine große Zahl einsichtsvoller Arbeiter auf dem Gebiete der rasch und erstaunlich emporgekommenen statistischen Wissenschaften mehr und mehr zu genealogischen Untersuchungsmethoden fortschreiten werden. Alsbald wird sich auch auf diesem Felde die Erkenntnis aufdrängen, daß die genealogischen Ueberlieferungen viel zahlreicher und inhaltsreicher sind, als man vielfach anzunehmen geneigt schien, und daß der sich auch den Statistiker hier massenhaft darbietende Stoff so gut wie garnicht benutzt zu werden pflegt. Gewisse, der Genealogie verwandte und auf ihren Erfahrungen beruhende Fragen sind ohnehin schon von der Statistik mehr oder weniger zum Gegenstande eigener Untersuchungen gemacht worden. So sollte neuerdings durch Gelehrte dieses Wissenszweiges der von Rümelin[GWR 6] geistvoll, aber wol zu allgemein erörterte Begriff der Generationen auf dem Wege familiärer Einzelforschung zu sicherer Feststellung gebracht werden. Vielleicht wäre ein sorgfältiges (23 ≡)
Studium der nach tausenden zählenden ohnehin vorhandenen Stammbäume aus allen Jahrhunderten ein noch einfacheres Mittel gewesen, zum Ziele zu gelangen. Denn die Generation im Sinne der Bevölkerungsstatistik wird immer nur eine abstrakte Vorstellung und ein formaler Begriff bleiben können, der erst durch die Beobachtung der wirklichen Zeugungsresultate einer Reihe von aufeinanderfolgenden Abstammungen zeitliche Grenzen und eigentlichen Inhalt erlangen kann (s. oben). Will also die Statistik den Begriff der Generation ihrerseits nicht entbehren, so ist sie auch in Folge dieses Zusammenhanges ihrer Aufgabe zur Verwendung genealogischer Ueberlieferungen gezwungen und dürfte sich auf eine ausgebreitete Mitwirkung bei den genealogischen Studien in der Zukunft hingewiesen sehen. Sobald sie sich auf die Erforschung nicht bloß der gegenwärtigen, sondern auch der vergangenen Zustände in ihrer Folgewirkung auf die jeweils nachkommenden Zeiten verlegt, sobald sie mit andern Worten historisch und zeitenvergleichend vorgeht, so kann sie, wie alle Geschichte überdies nicht den genealogischen Standpunkt entbehren, sowenig die Topfkunst von den Töpfern und die Malerei von den Malern abzusehen vermag. Das genealogische Problem ist in Wahrheit auch von der Statistik heute bald von dieser, bald von jener Seite angeschnitten worden, wenn dabei nicht immer systematisch genug verfahren zu werden pflegt, so liegt ohne Zweifel eine Ursache davon darin, daß die genealogische Wissenschaft selbst nicht in sich gefestigt und nicht genug wissenschaftlich erkannt und nutzbar gemacht ist. Indessen giebt der in der statistischen Wissenschaft hervortretende stark historische Gesichtspunkt die Zuversicht einer bedeutenden Unterstützung, die den genealogischen Studien von dieser Seite wird zutheil werden müssen, weil alles, was über Bevölkerungsverhältnisse früherer Zeiten gedacht werden kann, lediglich auf dem Wege der Ahnentafel und der Ahnenprobleme zu erschließen ist und diejenigen, die sich auf diesem Gebiete nicht deutlicher individualisirter Vorstellungen erfreuen, in die größten Irrthümer verfallen müssen. In dem Fortschreiten und im Rückgang der Bevölkerungszahlen, in dem Auf- und Niedergang von Nationalitäten, in der Ausgleichung von Rassenunterschieden stecken wesentlich genealogische (24 ≡)
Probleme. Auf welchem Wege man sich der Lösung derselben zu nähern haben wird, ist eine Frage genealogischer Methode. Die Lehre von den Ahnenverlusten behandelt Gegenstände, deren Tragweite in Bezug auf die Entstehung von Nationen und Volksabstammungen noch gar nicht ermessen werden kann. Das genealogische Verfahren ist vermöge seiner Natur und Wesenheit auf das einzelne so sehr hingewiesen, daß man noch kaum gewagt hat, aus der ungeheuren Masse der bekannt gewordenen Abstammungsverhältnisse einzelner Menschen Schlüsse auf die Entwickelungen zu machen, die sich aus dem Zusammensein der Vielen ergeben. Die Abstammung der Familien, der Völker, der Menschheit wird seit Jahrtausenden in ein sagenhaftes und mythologisches Gewand gehüllt, welches auf genealogische Grundlagen gestellt erscheint, ob aber die wissenschaftliche Genealogie den Weg rückwärts beschreitend zur Entdeckung des Ursprungs der Völker gelangen könne, oder nicht, ist eine wol aufzuwerfende Frage, die vorerst kaum noch angeregt worden ist. In allen diesen Punkten steht unsere heutige genealogische Wissenschaft auf einem jungfräulichen Boden, dessen Bearbeitung die ungeahntesten Resultate erwarten läßt.
Genealogie und Naturwissenschaft.Die modernen Naturwissenschaften haben einen so überwältigenden Einfluß auf die Gedankenwelt gewonnen, daß man berechtigt zu sein glaubt, die meisten Vorstellungen und Ansichten über Sein und Leben auf diese zurückzuführen, wie man die Lösung der sich dabei ergebenden wissenschaftlichen Fragen umgekehrt auch nur von der Naturwissenschaft erwarten zu können meint. Wenn irgendwo von Ahnenforschung, Entwicklungslehre, Vererbung die Rede ist, so wird vorausgesetzt, daß man sich in Gebieten bewege, über welche der Naturforscher ausschließlich zu herrschen im Stande ist. Von gewissen zum Gemeingut gewordenen Begriffen, wie Kampf um das Dasein, wie Vererbung und Anpassung, wird heute in den meisten Wissenschaften Gebrauch gemacht und selbst das Drama und der Roman bemächtigen sich dieser Vorstellungen, um (25 ≡)
Charaktere zu zeichnen, die ohne dieselben kaum mehr ernsthaft genommen, sondern bloß Bedauern oder Heiterkeit erregen könnten. Indem man sich aber den Theorien anzuschließen scheint, von welchen die Naturwissenschaften hauptsächlich getragen sind, erhalten selbst die entferntesten Beziehungen eine gewisse Weihe, deren man sich selbst da zu bemächtigen sucht, wo vielleicht die betreffenden Voraussetzungen nur Verwirrung stiften können. Betrunkene Leute galten der älteren Schauspielkunst fast nur als Motive der Posse, unter den Gesichtspunkten der modernen Biologie und Vererbungslehre sind sie aber sogar zu tragischen Helden geworden. Merkwürdigerweise hat sich die Geschichtswissenschaft verhältnismäßig am wenigsten von den Anschauungen der heutigen Naturforschung beeinflussen lassen. Wo man vielmehr gewisse gemeinsame Gesetze oder Betrachtungsarten aufsuchte, wurde eine starke Gegnerschaft aufgerufen. Und obwol die Geschichte nicht ungern und nicht selten mit dem Entwicklungsbegriff arbeitet, wie die moderne Naturforschung von dem Evolutionsprinzip beherrscht zu werden pflegt, so besteht doch vielfach eine gewisse Gegeneinanderstellung zwischen diesen Wissenschaften, die sich beide vorzugsweise für historisch halten. Während alle ältesten Geschichtserzählungen in Phantasieen von Weltschöpfungen schwelgten, ist die Naturforschung ehemals systematisch und beschreibend zu Werke gegangen, und da diese heute sich ganz geschichtlich und evolutionistisch verhält, hat sich jene immer mehr in sich abgeschlossen und abgesperrt und verabscheut oft den Umgang mit ihrer jüngeren Schwester. Ja es kann vorkommen, daß die leisesten Anklänge an Fragen der natürlichen Entwicklungslehre den Jüngern Klios Sorgen und Aerger bereiten, weil sie meinen, die altehrwürdige Geschichtsmethode wolle sich erniedrigen, bei den Naturwissenschaften in die Schule zu gehen. Wenn der Verfasser dieses Lehrbuchs einmal von Genealogie und Abstammung sprach, so ist es ihm wol begegnet, daß ihm bedeutet wurde, die Geschichte könne sich nicht gefallen lassen, durch Darwin und Genossen belästigt zu werden. So gänzlich hat man zuweilen vergessen, daß die Idee von der Fortpflanzung der Geschlechter, auf welcher alle (26 ≡)
körperliche und geistige wie gesellschaftliche Entwicklung beruht, durchaus als das früheste Eigenthum der Geschichtswissenschaft gelten muß, und daß hierin nicht die Geschichte bei der Naturwissenschaft, sondern jene bei dieser in die Lehre ging. In der That liegt hier ein unzweifelhaft sachlicher Zusammenhang vor, der von der Willkühr, Laune oder dem subjektiven Bedürfnis des Forschers ganz unabhängig ist. Wenn vermöge der Natur der zu erforschenden Sache zwischen der gefundenen historischen Betrachtung und den verschiedensten Zweigen der Naturwissenschaft die mannigfaltigsten Beziehungen sich darbieten, so liegt der Grund davon darin, daß das Objekt der Forschung der Mensch ist, der zwar von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann, aber in der Einheit seines Wesens immer derselbe ist. Darin also kann unmöglich etwas auffallendes gesucht werden, weder etwas stolzes noch etwas demütigendes, wenn die auf den Menschen bezüglichen Naturwissenschaftszweige sich bei der Lösung ihrer Probleme ganz nahe mit der Geschichte berühren und die Aufgaben bis zu einem gewissen Grade zusammenfallen. Was die Geschichtsforschung sucht, sind Aufklärungen über menschliche Handlungen, die sich auf die gesellschaftlichen und staatlichen Zustände der Gesammtheit beziehen; was die Naturwissenschaft in Bezug auf den Menschen erstrebt, ist die Erkenntnis seiner Herkunft, Entwicklung, Beschaffenheit und Wesenheit selbst. Der geschichtliche Mensch kann aber doch nicht von dem natürlichen Menschen getrennt werden, und es hat noch keinen Historiker gegeben, der vermocht hätte, bei den von ihm erzählten Handlungen von dem Menschen und der menschlichen Natur abzusehen. Kann und will der Geschichtsforscher sich nicht mit abstracten Schemen, sondern mit dem wirklichen Menschen beschäftigen, sind es Persönlichkeiten, und lebende Wesen, die er darzustellen unternimmt, so bleibt ihm allerdings nichts übrig, als eine Strecke seines Weges den Naturforscher neben sich einherschreiten zu sehen, glücklich, wenn er findet, daß er mit ihm Hand in Hand zu gehen vermag. Die Brücke, auf welcher sich die geschichtliche und Naturforschung begegnen und begegnen müssen, ist die Genealogie. Indem diese die Entwicklungsreihen der menschlichen Zeugungsprodukte ins (27 ≡)
Auge faßt, bestrebt sie sich an dem besondern und einzelnen genau das zu erkennen, was der Forscher auf dem Gebiete des animalischen Lebens überhaupt beobachtet. So nahe berühren sich hier die Ziele dieser Wissenschaften, daß es weitmehr darauf ankommen wird, die Gebiete säuberlich auseinanderzuhalten und von einander zu trennen, als sich für ihre Verbindungen zu bemühen, die sich dem Unbefangenen ohnehin nur zu sehr aufdrängen, denn viel Verwirrung und Unheil kann hier durch Verwechslung der Aufgaben entstehen, die einerseits der auf Grund der Genealogie entwickelten Geschichte und andererseits der den geschichtlichen Hergang des natürlichen Werdens beobachtenden Forschung zugewiesen sind. Ein erheblicher Fehler ist es die Grenzen zu verkennen, die diesen verschiedenen Wissenszweigen sachgemäß gesteckt sind. Der Historiker widerstrebt zuweilen vermöge seiner methodischen Vorstellungen der Naturbeobachtung an sich und der Naturforscher scheint nicht selten zu glauben, daß die Geschichte zur Naturwissenschaft gemacht werden müßte, um völlig exakt und gesichert zu sein. Aber es ist durchaus nicht richtig, daß der Historiker nur von dem Naturforscher empfangen kann, man kann im Gegentheil behaupten, dieser hätte sehr vieles von jenem zu erfahren und zu lernen. Gar vieles, was die Naturforschung mit dem Messer und dem Mikroskop zu gewinnen sucht, bietet die historische Ueberlieferung zwar nicht dem Auge aber dem ahnenden Verständnis. Die Genealogie, historisch erforscht, macht Mittheilungen über Entwicklungsverhältnisse, welche sich den Methoden der Naturfoschung völlig entziehen. Wenn andererseits die Naturforschung an die Geschichte der Erdrinde herantritt, so bereitet sie dem Historiker seinen Boden vor, sie lehrt die Umstände kennen, unter welchen das Leben der Menschen möglich geworden ist. Vom Uebel ist es jedoch, wenn man die Grenze verschiebt, welche diese Wissenschaften von einander scheidet. In einer früheren Epoche der Historiographie glaubte man die geologischen Vorbedingungen des historischen Daseins so wenig für die Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungen entbehren zu können, daß der sogenannte weltgeschichtliche oder universalhistorische Standpunkt die Grenze zwischen den geologischen und historischen Ereignissen und Thatsachen (28 ≡)
geradezu aufheben zu müssen glaubte. Unsere Universalhistoriker fielen immer wieder in die Aufgaben zurück, die sich Moses und Hesiod gestellt haben und die der Philosoph seit dem vorigen Jahrhundert heranzog, um den in der Menschheit ruhenden Entwicklungsplan zu erkennen und zu enthüllen; aber alle Bemühungen, die Grenze dieser verschiedenen Wissenszweige zu verschieben oder zu beseitigen, haben nur wenig zur Lösung jener Fragen beitragen können, welche in ihrer Besonderheit der einen und der andern Wissenschaft gestellt sind. Ohne Zweifel kann vom Menschen und seiner fortzeugenden Entwicklung nur die Rede sein im Hinblick auf die feste Erdrinde und unter den Veränderungen derselben wird Leben geweckt und begraben bis auf den heutigen Tag. Alle Handlungen fortschreitender Generationen – der gesammte Gesellschaftszustand – ist, wenn der Vergleich gestattet wird, wie der Leibeigene an die Scholle gebunden, aber der hieraus entstandene Willenszwang erscheint als eine in der geschichtlichen Welt ein für allemal gegebene Größe, die für den historischen Act keine das einzelne erklärende Bedeutung hat und daher auch keiner allgemein erklärenden Einführung bedarf. Der gegebene Naturzustand ist die selbstverständliche Voraussetzung für alles geschichtliche[GWR 7] Menschendasein. Soweit sich die Gebiete berühren, kann die Erkenntnis des einen nicht ohne die des andern bestehen, aber im besondern bleiben sie getrennt und die Naturforschung bedient sich des Begriffs der Geschichte nur in einem übertragenen Sinne, wie die Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung gerade so weit bedarf, um die Handlungen des geschichtlichen Menschen aus seiner Erzeugung und Abstammung begreifen und erklären zu können. In dieser Beziehung stellt sich die wissenschaftliche Genealogie in ein besonderes Verhältnis zu den verschiedensten Zweigen der Naturwissenschaft und erhält von denselben sehr verschieden wirkende Belehrungen.
Genealogie und Zoologie.Als sehr auffallend könnte es auf den ersten Blick fast erscheinen, daß gerade zwischen denjenigen beiden Wissenszweigen, die (29 ≡)
scheinbar am verwandtesten sind, weil sie sich beiderseits mit der Fortpflanzung und Entwicklung von geschlechtlich erzeugten Arten von Lebewesen beschäftigen, so gut wie gar keine näheren Beziehungen bestehen. Die Genealogie im Sinne einer historischen Wissenschaft und die moderne Zoologie berühren sich in den Objekten ihrer Forschung genau nur so, wie die Geschichte überhaupt mit der Astronomie und Geologie. Die Zoologie ist da wo der historische – der genealogisch überlieferte Mensch seinen Anfang nimmt, am Ende ihrer Betrachtungen angelangt. Wenn man gleichnisweise sprechen wollte, so dürfte man sagen, der heutige Historiker übernimmt den von ihm beobachteten Menschen als fertiges Individuum aus der Hand des Naturforschers, gleichwie Homer seine Helden aus den Irrfahrten der Götterwelt empfangen hat. Und die Menschenkinder, die Prometheus im Trotz gegen die Götter nach seinem Sinne gebildet hat, sind für die Genealogie im historischen Sinne des Wortes die ersten und einzigen Gegenstände ihrer Forschung, mag der Naturforscher bemerkt haben, daß die Stoffe, aus welchen sie entstanden sind, Steine, Pflanzen oder die Urzelle gewesen sind. Der Genealog mag an die Entwicklungsreihen des modernen Naturforschers seine Beobachtungen über die aufeinanderfolgenden Geschlechter der Menschen anschließen und er wird vielleicht dem Gedanken derselben fortzeugenden Natur ein offenes aufgeklärtes Auge zuwenden, aber die Thatsachen, die sich ihm zur Erforschung und Erklärung aufdrängen, brauchen durchaus nicht mit Notwendigkeit aus einer natürlichen Schöpfungsgeschichte hervorgegangen zu sein, die Nachkommen von Adam und Eva sind völlig individualisiert auf sich gestellte genealogische Objekte, für welche die zwischen Moses und Darwin schwebende Streitfrage durchaus sekundärer Natur ist. Es ist daher ein volles Mißverständnis, wenn Leute, die sich in den allerengsten Kreisen bewegen, nicht ohne gewisse Geringschätzung gegen Wissenschaften, deren Größe und geistige Bedeutung ihnen unbekannt ist, die Meinung hegen, daß eine geregelte Betrachtung der Geschlechterentwicklung der historischen Menschheit eine Frucht oder eine Folge der heutigen naturwissenschaftlichen Doctrin sei, man sollte in Wahrheit das umgekehrte behaupten: die Methode (30 ≡)
der Naturwissenschaft ist in diesen Zweigen historisch geworden und hat der uralten historischen Genealogie das Handwerk abgelernt. Sie ist es, welche die Ahnenforschung aus der Geschichte der Menschen entlehnt und zu einer Entwicklungslehre des lebenden Organismus überhaupt erhoben hat. Es ist eine wol aufzuwerfende Frage, ob nicht durch eine genauere Beobachtung genealogisch-historisch festzustellender Thatsachen der menschheitlichen Geschichte, welche vielfach sicherere Quellen darbietet, als diejenige des Thieres, auch für die ursprünglichen Stufen der Entwicklung bedeutendere Gesichtspunkte zu gewinnen wären. Wenn der Thierzüchter seine genealogischen Beobachtungen mit Geschick und Fleiß feststellt, so hat er sich Methoden und Gesichtspunkte angeeignet, die durch redende Zeugen und geschriebene Zeugnisse dem Menschengeschlechte längst etwas vertrautes waren, aber es ist umgekehrt ebenso richtig, daß die genealogische Wissenschaft aus der unbewußten Zeugungs- und Vererbungsthatsache, welche die Zoologie kennt, auch ihrerseits Schlüsse ziehen kann. Eine solche Fülle von Wechselbeziehungen eröffnet sich auch da, wo an eine Wechselwirkung noch gar nicht gedacht zu werden braucht, daß wol nichts befruchtender sein kann, als die gleiche Beachtung so nahe verwandter Nachbargebiete. Wie die thierische und menschliche Welt nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich unendliche Analogieen darbietet, so ergänzen sich auch die Gesichtspunkte der genealogischen Forschung wo immer man den Thatsachen der Zeugung und Abstammung nachgeht. Sicherlich wird sowol das eine wie das andere Gebiet Nutzen ziehen können aus der wechselseitigen Beobachtung der Methode und ihrer Ergebnisse. Die Entwicklungslehre der Arten kann aus der Genealogie nicht nur die Mannigfaltigkeit der Zeugungsergebnisse bei gleicher Herkunft, sondern auch die eingreifenden Veränderungen der durch die Ahnenverzweigung bestimmten Abstammung entnehmen, und diese wird aus jener die Bedingungen und Wirkungen des Anpassungsgesetzes der Generationen weit sicherer und zuverlässiger erfahren, als aus den geschichtlich erwiesenen Umständen, die den Menschen kaum einer wesentlichen Veränderung unterworfen erscheinen lassen. Selbst in den formalen Fragen und Darstellungen würde ein genaueres (31 ≡)
Studium der Genealogie für die Entwicklungslehre nicht unzweckgemäß sein. So spricht man in der Regel von philogenetischen Stammbäumen, während man eigentlich Ahnentafeln im Auge hat, bei welcher formalen Verwechselung dann aber ein sachlicher Irrthum darin unterläuft, daß man bei einer solchen Ahnentafel von den Geschlechtsunterschieden absehen zu können meint und nur die männlichen Abstammungsverhältnisse berücksichtigt. So kommt es denn, daß die Ahnentafeln, die von der Descendenztheorie aufgestellt worden sind, von Kreuzungs- und Mischungsverhältnissen ganz abzusehen scheinen, während das auf die Entstehung der Arten bezügliche Experiment eigentlich nur von der Kreuzung der Rassen seinen Ursprung nahm. Der Hinweis auf die von der Genealogie untersuchte Ahnentafel mit ihrer strengen, beide Geschlechter gleich berücksichtigenden Gliederung ist vielleicht hier recht am Platze. Die Forschungen im Gebiete der menschlichen Ahnentafel sind von ganz besonderer Fruchtbarkeit für alle naturwissenschaftlichen Fragen, weil sie eine ungeahnte Menge von Fällen in Betracht ziehen und immerhin über ein wol überliefertes Material verfügen, welchem kein anderes vergleichbar sein dürfte. Wenn also auch der von der Genealogie ins Auge gefaßte Mensch keinerlei Auskunft über seine Abstammung im Sinne der heutigen Descendenztheorie zu geben vermag, die beide hier in Betracht kommenden Wissenschaften vielmehr stets als etwas völlig getrenntes erscheinen werden, so mangelt es doch keineswegs an gewissen analogen Vorgängen, welche zwischen der Ahnentafel des einzelnen Individuums und zwischen derjenigen des Menschen überhaupt bestehn. Und außerdem ergeben sich für die Naturforschung aus der Betrachtung der Ahnentafel jedes einzelnen Individuums gewisse Probleme, deren Lösung vielleicht kaum noch in Betracht gezogen ist. Denn wenn die Ahnenforschung des Menschen zu einer unendlichen Vielheit von Individuen führt, so kann der Descendenzlehre umgekehrt die Frage nicht erspart bleiben, wie der Uebergang der Arten von einer Form zur andern gedacht werden kann, wenn die Genealogie doch lehrt, daß jedes Individuum eine unendliche Menge von gleichartigen und gleichzeitig zeugenden Ahnen voraussetzt und die Vorstellung einer Abstammung des Menschen durch Zeugungen Eines (32 ≡)
Paares an der unzweifelhaft feststehenden Thatsache scheitern muß, daß jedes einzelne Dasein vielmehr eine unendliche Zahl von Adams und Evas zur Bedingung hat. Die Einheitlichkeit des Abstammungsprinzips steht daher zunächst im vollen Widerspruch zu den genealogischen Beobachtungen.
Genealogie, Physiologie, Psychologie.In einer anderen und viel innigeren Beziehung steht die Genealogie noch zu jenen Naturwissenschaften, die sich mit dem Menschen als solchem in seiner Natur und Wesenheit beschäftigen. Es ist klar, daß der seiner genealogischen Verhältnisse sich bewußte Mensch, indem er handelnd und geschichtlich erscheint, sich in der Einheit seines Seins nur als Ganzes begreifen läßt und daher zu seiner Selbsterkenntnis der physiologischen wie der psychologischen Beobachtung gleichermaßen bedarf. Es wäre überflüssig an dieser Stelle die Fragen zu berühren, die sich auf den Zusammenhang der auf Seele und Leib, wie man sonst zu sagen pflegte, bezüglichen Erfahrungen und Wissenschaften beziehen. Für die Genealogie treten die Differenzen, die sich etwa in den Anschauungen über diese Dinge ergeben könnten, gänzlich in den Hintergrund. Das menschliche Zeugungsprodukt erscheint in der Geschichte ohne weiteres mit gleichwertigen Antheilen von Seelen- und Leibesthätigkeiten, und wenn man in historisirender Abstraktion vom Geist spricht, der in der Geschichte waltet, so versteht dies doch niemand anders, als daß dieser nur vermöge der genealogisch verstandenen körperlichen Wesen wirksam sein kann. Der Todte macht keine Geschichte. Auch jene, welche sich die Geistgeschichte in den mannigfachsten Formen thätig denken, als eine philosophische ideale Gesetzeswelt, als weltgöttliche Emanation, oder als gutchristliche Erdenwanderung aufsteigender Engel oder absteigender Teufel, können doch nicht davon absehen, daß alles, was von Menschen geschehen ist, von Wesen herkam, welche geboren wurden und starben. Auch denen, die in den modernen Betrieb der Geschichte so außerordentlich „gesetzeslüstern“ geworden sind, daß sie ohne Aufstellung von allerlei historischen Gesetzen gar nicht mehr ein Geschichtsbuch lesen (33 ≡)
mögen, kann man nicht genug die Gesetze des Geborenwerdens und Sterbens empfehlen, da diese doch die einzigen sind, auf deren immer erneute Wirksamkeit der Historiker mit voller Sicherheit rechnen kann, wobei er sich jedoch nicht zu verhehlen braucht, daß die allgemeine Beobachtung auch dieser Gesetze nichts anderes als die Anerkennung einer trivialen Thatsache ist. Indem sich aber die genealogische Wissenschaft auf den Standpunkt der Beobachtung des durch Geburt und Tod in seiner Wirksamkeit begrenzten Individuums stellt, fallen ihre Aufgaben zum großen Theil mit den Untersuchungen jener Wissenschaften zusammen, die den Menschen in seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften überhaupt zum Objekt haben. Die Genealogie kann aber den biologischen Fragen überhaupt zu Hilfe kommen, indem sie sich, soweit ihr die Quellen zu Gebote stehen, zugleich auf jene Erinnerungen und Erfahrungen stützt, die von früheren Individuen auf spätere, also von den Voreltern auf die Nachkommen übergegangen sind. In Folge der Beobachtung des Zusammenhanges der aufeinander folgenden Geschlechter construirt sich in der Genealogie ganz von selbst der Begriff der Vererbung der Eigenschaften durch Erzeugung immer neuer Geschlechtsreihen, deren Wesen und Sein ohne die Erkenntnis ihrer Eigenschaften und Verwandlungen nicht verstanden werden könnte. Der Genealog bietet daher dem Biologen eine Thatsachenreihe dar, die sich auf keinem andern Wege, als auf dem der bewußten Ueberlieferung der Geschlechter erreichen läßt. Wollte man die Beobachtung vererbter Eigenschaften lediglich auf die Vergleichung lebender Wesen begründen, so würde dieser wissenschaftliche Begriff im äußersten Maße beschränkt erscheinen. Es könnte dann im besten Falle nur der Beweis geliefert werden, daß gewisse Eigenschaften erwachsener Menschen auch bei deren Großeltern vorkommen. Wollte man aber sich damit nicht genügen lassen, sondern die Vererbungsfrage auch weiter hinaufsteigenden Generationen gegenüber zur Entscheidung bringen, so befände man sich im Gebiete genealogischer Ueberlieferungen und vermöchte diese nicht einen Augenblick zu entbehren. In Folge dessen läßt sich behaupten, daß jede physiologische und psychologische Untersuchung, die sich auf die Vererbung der Eigenschaften bezieht, genealogisch ist. (34 ≡)
Durch die sichergestellte Kenntnis schon der äußeren Eigenschaften vorhergegangener Geschlechter gelangt man zu dem Schluße, daß der Mensch, den die Wissenschaft heute untersucht, derselbe ist, den Aristoteles gekannt hat, und daß folglich im Wege der Zeugung und Abstammung keine Eigenschaftsveränderung stattgefunden hat. Bildnisse, die vor tausenden von Jahren gemacht worden sind, zeigen, daß die Menschen immer zwei Augen und zwei Ohren und eine Nase von einer Generation auf die andere übertragen haben. In dieser Allgemeinheit ist die Erblichkeit als durchgehendes Prinzip alles organischen Lebens überhaupt ein Axiom, zu dessen Erkenntnis es kaum eines besonderen Beweises bedarf. Die Theorie, welche sich mit der Erklärung dieser Erscheinung des organischen Lebens beschäftigte, bedurfte thatsächlich von Darwin bis Weismann keines besonderen genealogischen Studiums und es wäre lächerlich gewesen zu verlangen, daß die Abstammungsreihen der heutigen Menschen wirklich nachgewiesen sein müßten, um zur Erklärung von Vorgängen der Natur zu schreiten, welche die stetige Wiederholung der gleichartigen Eigenschaften der von einander abstammenden Individuen zur Folge hatten. Die Beobachtungen, welche an den heutigen Eltern und Kindern gemacht sind, dürfen als Voraussetzung einer unendlichen Reihe von gleichzeitigen und in der Zeit vorangehenden Fällen zur Grundlage jeder Vererbungstheorie mit Recht gemacht werden, und es bedarf keiner historisch-genealogischen Untersuchung darüber, ob alle unsere Ahnentafeln auf Adam und Eva zurückgehen oder nicht. Wenn es der Naturforschung gelungen ist, den Vorgang bei der Entwicklung der Arten in einem Falle zu erklären, so ist es klar, daß auch jene Vererbungen und Veränderungen damit erklärlich sind, die bei allen früheren Generationen stattgefunden haben. Die genealogische Wissenschaft braucht sich hier keineswegs einem Forschungsgebiete aufzudrängen, welches in der Umsicht seiner Methoden durchaus auf sich selbst gestellt ist und bleiben wird. Und auch die Psychologie, die sich seit Sokrates auf ein und dasselbe Beobachtungsprinzip stützt und in der „Selbsterkenntnis“ den ganzen Umfang ihres Gebietes richtig bezeichnet weiß, bedarf zur Untersuchung der geistigen Lebensvorgänge keineswegs einen (35 ≡)
Hinweis auf vergangene Geschlechter und noch niemand hat daran gezweifelt, daß für alle menschlichen Wesen dieselben Denkgesetze galten. Auch hier könnte man daher mit Recht ein eigentliches genealogisches Studium für höchst überflüssig halten, wenn es auch schon sicher ist, daß sich die Psychologie zu allen Zeiten doch genötigt sah ihr Beobachtungsmaterial möglichst zu verbreitern und sich nicht mit den Thatsachen eines Lebens zu begnügen, sondern so mannigfaltig wie möglich in die Erfahrungen vieler Geschlechter und vergangener Zeiten zurückzugreifen. Danach aber ist gerade von Psychologen die Forderung in neuerer Zeit gestellt worden, daß die Forschung auf eine gewisse genealogische Basis gestellt werden könnte, um auch hier den Erblichkeitsbegriff besser erfassen zu können, und andererseits ist auch neben dem psychologischen Bedürfnis der Ahnenkenntnis vermöge der pathologischen Vorgänge im Organismus auch die physiologische Betrachtung mehr und mehr dem Stammbaum zugewendet worden. So lange es sich mit einem Worte um den allgemeinen Bestand physiologischer und psychologischer Eigenschaften handelt bedarf weder diese noch jene Wissenschaft eines Hinblicks auf genealogisch-historische Thatsachen. Die letzteren können erst von Bedeutung werden, wenn es sich um Veränderungen handelt, die in dem Organismus des Individuums zu beobachten sind. Vom Standpunkt der Erblichkeit betrachtet darf man also sagen, daß sich das genealogische Moment erst da der Forschung aufdrängt, wo es sich hauptsächlich um die Veränderung handelt. Wie in der Natur die Vererbung ohne die Veränderung nicht gedacht werden kann, weil sich trotz aller Gleichartigkeit der Individuen doch nicht zwei völlig gleiche finden, so kann der Begriff der Vererbung der Eigenschaften wissenschaftlich nicht ohne den der Variabilität gedacht werden. Diese aber ist historischer Natur, ein werdendes, welches sich dem gewesenen entgegensetzt. Hier ist der Punkt wo das genealogische Moment sich jeder Art von biologischer Forschung unbedingt und ohne unser Zuthun nicht nur empfiehlt, sondern aufdrängt. Wäre aller natürlich fortgepflanzte Organismus ausschließlich (36 ≡)
auf die Erblichkeit gestellt, so hätten auch die höchstentwickelten Wesen keine Geschichte. Wie die verschiedenen Arten der Steine immer in derselben Weise krystallisiren, so würde die vollendete Vererbung der Eigenschaften der organischen Wesen eine Gleichartigkeit zur Folge haben, die selbst eine Verschiedenheit der Thätigkeit des Individuums ausschlösse; indem aber in leiblicher und geistiger Beziehung die Variabilitäten desto größer werden, je entwickelter der Organismus des Individuums ist, so sind auch die Lebensäußerungen derselben einem Wechsel unterworfen, der geschichtliche Entwicklung bedeutet. Alle Geschichte hat Veränderungen in den Eigenschaften der Menschen zur Voraussetzung und die Beobachtung derselben kann nur auf dem Wege genealogischer Forschung geschehen. Die wechselnden Generationen sind ein Produkt der immer gleiches anstrebenden Vererbung und der stets neues zeugenden Varietät. Die Vererbung bewirkt den Begriff der Art und Gattung, die Veränderlichkeit den Begriff der Geschichte. In dem genealogischen Fortgang findet die Wissenschaft von dem einen und dem andern ihr Maß und Ziel.
Genealogie und Psychiatrie.Da, wo die Veränderungen am Organismus einen pathologischen Character angenommen[GWR 8] haben, ist es demnach sehr erklärlich, daß die Ursachenforschung den Hinblick auf die Genealogie am allerwenigsten entbehren kann. So ist aus der rückwärts gestellten Beobachtung physischer und psychischer Erkrankungen die Frage der Erblichkeit zu einem genealogischen Hauptproblem der Psychiatrie geworden, in Folge dessen die pathologische Ahnenforschung seit geraumer Zeit einen hervorragenden Zweig ihrer Beobachtungen bildet. Hier berühren sich die Arbeitsgebiete so unendlich nahe, daß es überflüssig erscheint, viel darüber zu bemerken. Es bedarf lediglich einer Betrachtung über die Art und Weise, wie sich die Genealogie für die psychiatrische Wissenschaft am zweckmäßigsten verwenden lassen wird, da über die prinzipielle Seite des Verhältnisses (37 ≡)
kaum ein leisester Zweifel vorhanden ist. Der Stammbaum ist im Gebiete der psychiatrischen Theorie und Praxis ein Gegenstand der ausgiebigsten Untersuchungen, aber dennoch wird man gerade nicht behaupten, daß diese nach ihren Ausgangspunkten so gänzlich verschiedenen Wissenschaften sich gegenseitig heute schon sehr stark unterstützt hätten. Man darf vielmehr den Wunsch aussprechen, daß der praktische Nutzen, der hier augenscheinlich aus dem Studium der Genealogie entspringen kann, dazu führen möchte, derselben mehr Freunde und größere Verbreitung gerade im Kreise dieser Forscher zu verschaffen. Für die wissenschaftlichen Fragen, welche sich vom Standpunkte physiologischer wie psychologischer und pathologischer Forschung ergeben, wird es ohne Zweifel von unabsehbarem Vortheile sein, wenn einstens die genealogischen Arbeiten in solcher Vollkommenheit vorliegen werden, daß die Vererbungs- und Veränderungsmomente in den Zeugungen einer langen Reihe von Generationen genau festgestellt werden können. Dazu liegt geschichtlich schon jetzt ein sehr großes Material vor, welches lediglich der Ordnung und Bearbeitung bedarf. Andererseits ist zur Aufstellung genealogischer Tafeln in aufsteigender oder absteigender Linie eine gewisse methodische Uebung nötig, durch welche wol mancherlei Fehler des psychologischen und pathologischen Calcüls vermieden werden dürften. Sammlung genealogischer Daten ist zwar unter allen Umständen höchst erwünscht, wenn dieselben aber nicht mit Anwendung strengster historischer Kritik zu Stande gekommen sind, so lassen sich sichere Schlüsse wol schwerlich an dieselben knüpfen. Die Nachfrage persönlicher Art nach den Qualitäten vorangegangener oder überhaupt verwandter Personen läßt dem subjektiven Ermessen und vielleicht dem Urtheil wenig urtheilsfähiger Leute einen zu großen Spielraum. Eine Hilfe mag dem Praktiker auch diese dilettantische Art der Stammbaumforschung darbieten; für eine gesicherte Theorie dagegen können gewiß nur jene ein für allemal historisch erforschten Zeugungs- und Abstammungsverhältnisse etwas darbieten, bei denen in einer unendlichen Menge von blutsverwandtschaftlichen Beziehungen das ganze Material von Vererbungs- und Varietätsfällen ohne irgend eine Voraussetzung festgelegt worden ist. Die (38 ≡)
Erweiterung unserer genealogischen Quellen ist daher eine Hauptaufgabe, an deren Lösung gerade jene Wissenschaften das größte Interesse nehmen sollten, die auf die Untersuchung von Erblichkeitsfragen seit geraumer Zeit schon ein großes Gewicht zu legen pflegen.
Die Genealogie und der historische Fortschritt.Der Vererbung individueller Eigenschaften durch Zeugung und Abstammung steht die Veränderung derselben gegenüber und die Genealogie beschäftigt sich mit der Feststellung der im einzelnen überlieferten diesbezüglichen Thatsachen ohne zunächst den Anspruch erheben zu können eine Erklärung für dieselben zu geben. Sie überläßt es vielmehr den verwandten naturwissenschaftlichen Zweigen die Aufgabe zu lösen, die sich aus der nachgewiesenen Vererbung und Variabilität der Eigenschaften ergeben werden. Indem aber die Genealogie ein umfassendes Material der Beobachtung darbietet, kann sie sich ihrerseits nur auf den Standpunkt des Schülers gegenüber der naturwissenschaftlichen und psychologischen Untersuchung und Theorie stellen. Sie darf sich nicht in Widerspruch gegen dieselben setzen und finden lassen, darf aber allerdings die Hoffnung hegen, jenen wissenschaftlichen Zweigen dadurch eine vielleicht unerwartete Unterstützung gewähren zu können, daß sie die Erblichkeits- und Veränderungsverhältnisse im Gegensatze zu einer bloßen Statistik gegenwärtiger Zustände durch viele Generationen rückwärts zu verfolgen und vermöge ihrer genauen Kenntnis der einzelnen Zeugungsergebnisse durch sehr lange Reihen von Geschlechtsfolgen in einer unendlichen Anzahl von überlieferten Fällen das Problem der Erblichkeit in exakter empirischer Weise zu behandeln vermag. Indem sie sich aber auf der Grundlage der Prüfung der einzelnen Fälle zu einer Betrachtung der in immer neuen Reihen sich bildenden Generationen und ihrer Wirksamkeit erhebt, nähert sie sich der Beantwortung einer Frage, die von sehr entgegengesetzten Standpunkten, einerseits von der biologischen Naturforschung, andererseits von den geschichtlichen Wissenschaften her angeregt zu werden pflegt. Alle Entwicklungslehre, wie sie einerseits von der Naturforschung, (39 ≡)
andererseits von vielen historischen Denkern mehr oder weniger hypothetisch gefaßt zu werden pflegt, gipfelt in dem Begriff des Fortschritts oder der Vervollkommnung, die man einerseits in den vom Individuum ausgehenden Lebensäußerungen objektiv, andererseits aber auch auf Grund der Eigenschaftsveränderungen desselben in subjektivem Sinne verstanden wissen will. Hiebei nimmt die natürliche Entwicklungslehre der neuesten Zeit im ganzen einen vorsichtigeren Standpunkt ein, als die viel älteren Wissenszweige, welche bald auf historischen, bald auf philosophischen Wegen das Fortschrittsproblem erörterten. Denn die natürliche Entwicklungslehre wie sie insbesondere von Darwin vermöge der besonnenen Bescheidenheit des großen Forschers verstanden worden ist, beschränkt sich durchaus darauf den Begriff und die Entstehung der Arten unter das Entwicklungsgesetz zu stellen, verzichtet aber wol darauf innerhalb der erkannten Stufen aus etwaigen Eigenschaftsveränderungen einzelner Individualitäten auf ein allgemeines Fortschrittsgesetz zu schließen. Und wenn auch in übel verstandener Anwendung der Darwinschen Theorie zuweilen die Schlußfolgerung gezogen worden ist, daß die genealogisch sich entwickelnden Geschlechtsreihen, analog den nachgewiesenen Stammtafeln der niederen organischen Wesen in stetiger innerer Vervollkommnung der Individuen ebenfalls eine aufsteigende Linie des Fortschritts bildeten, so dürfte man doch durchaus nicht behaupten, daß die exakte Naturforschung zu solchen Uebereilungen Anlaß gegeben hätte. Die letztere weiß vielmehr ganz genau, daß ihre auf die Entstehung der Arten bezüglichen thatsächlichen Nachweisungen alle nur unter der Annahme von Zeiträumen denkbar sind, denen gegenüber die kleine Spanne von Jahrhunderten, in welche unsere historisch-genealogischen Beobachtungen des Menschendaseins fallen, als eine minimalste Größe gar nicht in Betracht kommen wird. Zu einer Verwendbarkeit von Entwicklungsgesetzen der Schöpfungsgeschichte – wenn es erlaubt ist diesen Ausdruck zu gebrauchen – für die geringfügigen Variabilitäten der historisch überlieferten Zeiträume, in welche menschliches Dasein fällt, wird sich kaum jemand ernsthaft bekennen wollen, wenn auch, man könnte sagen, eine gewisse Art religiösen Dranges den Wunsch rege machen mag, daß die allgemeinen Gesetze der (40 ≡)
Entwicklung eine erfreuliche Analogie auch in den kleinsten Zeiträumen gewissermaßen unsichtbar anzunehmen gestatteten. Zu etwas sicherem aber vermochten Schädelmessungen in historischen Zeiten wol nicht zu führen und wie es scheint, würden selbst nachweisbare Variabilitäten bei ausgegrabenen anatomischen Resten menschlichen Daseins gegenüber der historisch erkennbaren psychischen Größe vergangener Geschlechter – denke man dabei an Semiten oder Japhetiden, an Chinesen, Inder oder Griechen – sich stets hinfällig erweisen müssen. Würde sich aber auch die Naturforschung des Problems in dem Sinne bemächtigen, daß sie den Entwicklungsprozeß an dem historischen Menschen nachzuweisen unternähme, so würde dies am allerwenigsten ohne genaue genealogische Untersuchungen möglich sein, von denen es freilich zweifelhaft wäre, ob das nötige genealogische Material hiefür aus den menschheitlichen Erinnerungen selbst fließen dürfte. Denn wollte man die natürlichen Ursachen der Artenverbesserungen bei dem historischen Menschen exakt zur Darstellung bringen, so würde ohne Zweifel das Studium der Rassen-, Völker- und Familienkreuzungen in die erste Linie zu stellen sein. Alsdann müßte eine Wissenschaft geschaffen werden, die, indem sie auf die Untersuchung der einzelnen Fälle begründet werden müßte, nicht nur eine Ergänzung, sondern geradezu einen Gipfelpunkt aller genealogischen Forschung zu bedeuten hätte. Die Genealogie würde in Folge dessen eine Aufgabe zu bewältigen haben, die erst nach Ablauf einer ganzen Reihe von Generationen, für welche quellenmäßige Nachrichten zu sammeln wären, zu Ergebnissen gelangen könnte. Denn so sehr auch Rassen- und Völkermischungen seit tausenden von Jahren als eine im allgemeinen feststehende Thatsache bekannt sind, so wenig sind dieselben genealogisch genau untersucht, und so lange sie nicht genealogisch genau bekannt sind, werden alle anthropologischen Betrachtungen über eine gewisse Grenze der Beobachtung von einer oder zwei Generationen hinaus zu keiner Sicherheit gelangen können. Selbst die Kreuzungsverhältnisse zwischen schwarzen und weißen Rassen sind heute noch in Dunkel gehüllt, und selbst die auffallendsten physiologischen Merkmale der Vererbung sind durch eine genügende genealogische Quellenforschung nicht gesichert, sondern meist nur auf |
Anmerkungen der GenWiki-Redaktion (GWR)
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: 78; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 77.
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: 290; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 289.
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: 313; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 312.
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: 370; das Kapitel beginnt jedoch schon S. 369.
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: den
- ↑ Vgl. Artikel Gustav von Rümelin. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. (19.3.2012)
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: Satzpunkt
- ↑ Druckfehler in Textvorlage: angenommenen