Akt von Tilsit
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Die Ursache für die 1879 erfolgte Gründung des "Rat für kleinlitauische Angelegenheiten" (Mažosios Lietuvos Reikalų Taryba (MLRT)) liegt einerseits in der Bismarck´schen Minderheitenpolitik, andererseits in der durch die Polenaufstände initiierte Russifizierung der Litauer im Zarenreich. Zumindest das nördliche Ostpreußen und das Memelland, jedoch auch hin und wieder das gesamte Ost- und Westpreußen bis an die Weichsel werden von diesen Leuten konsequent "Kleinlitauen" genannt (litauisch Mažoji Lietuva oder Prūsų Lietuva, englisch Lithuania Minor oder Prussian Lithuania). Die in Kanada ansässige "Foundation of Lithuania Minor" finanziert das Erstellen von Druckerzeugnissen (Kleinlitauische Enzyklopädie, Reiseprospekte), Internetportalen, Gedenktafeln und Bauwerken ("Triumphbogen" in Memel), die zum Ziel haben, die ostpreußische Geschichte nachträglich umzuschreiben. Seit nach der Wende litauische Archive offen stehen, werden sie in der Leugnung historischer Fakten zurückhaltender.
Memelländische Sichtweise
"Es muß hier einmal gesagt werden: Der preußische Litauer wurde nicht durch die Übernahme der deutschen Sprache zum Deutschen - er war dies viel früher durch die Übernahme der deutschen Kultur geworden. Daß nun mit der allgemeinen Erlernung der deutschen Sprache das Nationalitätenproblem des Memellandes und des nordöstlichen Ostpreußens nicht aufhörte, geht wiederum nur auf deutsche Kosten. Auf Grund der Polenaufstände im Zarenreich wurde 1865-1904 durch die Russen für Litauen ein Druckverbot verhängt. Der Zar verlangte, daß die Litauer die kyrillischen Buchstaben und damit auch die russische Sprache erlernen sollten. So durfte auf litauischem Gebiet nichts Litauisches mehr gedruckt werden. Litauische Schriftststeller und Intellektuelle flüchteten nun wiederum nach Preußen, wo sie sich in Tilsit zusammenfanden. Unter Förderung der deutschen Behörden wurde ihnen gestattet, in den Tilsiter Druckereien Maudrode und Reyländer litauische Schriften herauszugeben, die von Grenzgängern nach Litauen eingeschmuggelt und dort verteilt wurden. Aus diesen in Tilsit mit deutschen Geldern gedruckten Broschüren machten viele Litauer erstmalig Bekanntschaft mit ihrer Schriftsprache.
Statt den Deutschen für diese Hilfe dankbar zu sein, sahen sich diese intellektuellen Konjunkturritter, deren Wirkungsmöglichkeiten im Zarenreich begrenzt und ständig gefährdet waren, nach ungefährlicheren Arbeitsgebieten um. Sie setzten sich in aller Öffentlichkeit für die Erhaltung der preußisch-litauischen Sprache ein und versuchten mit allen Mitteln moralischen Druckes, die ehemaligen preußischen Litauer für die Idee eines Groß-Litauen zu begeistern. Der memelländische Pfarrer Gaigalat, der preußische Lehrer Storost, der preußische Zahlmeister Stiklorius, die zum Teil selbst erst das Litauische als Fremdsprache erlernen mußten, entdeckten plötzlich ihr litauisches Herz. Der preußische Staat sah in ihnen nur romantische Schwärmer ohne politische Bedeutung und ließ sie gewähren. Die Anhängerschaft, die sie in Tilsit und im Memelland fanden, war gering. Das Gefolge von Martin Jankus und Erdmann Simoneit umfaßte immer nur einige hundert Memelländer, da kein memelländischer Litauer Lust hatte, sich auf die niedrige Kulturstufe der sog. Großlitauer hinabziehen zu lassen.
Trotzdem fanden die litauischen Nationalisten Gehör, als 1919 das durch den Russeneinfall von 1915 schwer getroffene Memelland unter die abzutretenden Gebiete eingereiht und gegen den Willen der Bewohner abgetrennt wurde." [1]
Zur Identität der preußischen Litauer
"Von einer Gutsbesitzerfamilie abgesehen, die sich des Hochdeutschen bediente, hörte man in Jogauden als gewöhnliche Umgangssprache kurz vor 1914 nur Niederdeutsch und Litauisch. Die ethnographische Karte gibt auf Grund der Volkszählung von 1905 40-50% Deutsche und 50-60% Litauer an. Da es damals in Ostpreußen zwischen Deutschen und Litauern überhaupt keine nationalen Gegensätze gab (und zwischen einheimischen Deutschen und Litauern auch heute nicht gibt), kamen Fälschungen aus politischen Rücksichten überhaupt nicht vor.
Von Jogaudens Einwohnern waren alle selbständige Landwirte ´Litauer´ und der Dorfschmied sowie ein Teil der Landarbeiter ´Deutsche´. Die ´Litauer´ waren also nicht nur zahlenmäßig, sondern auch wirtschaftlich überlegen. Ja, in gewisser Hinsicht sogar politisch! Denn der ´litauische´ Landwirt ist durchaus monarchistisch und konservativ und wurde naturgemäß von der damaligen Regierung mit großem Wohlwollen behandelt. An eine Unterdrückung der litauischen Sprache durch irgendwelche untergeordneten Behörden war nicht zu denken. Kurz, die Aussichten für baldige Verdrängung des Litauischen durch das Deutsche müssen um 1914 gering erschienen sein. Und doch ist es heute so weit, dass nur noch 3 alte ´Litauer´ im Dorf vorhanden sind. In etwa 10 Jahren werden dort ´Deutsche´ allein wohnen. Wie ist das gekommen? .....
Meine Eltern sprachen untereinander und mit uns Kindern ausschließlich litauisch, verstanden hoch- und niederdeutsch alles und sprachen auch hochdeutsch einigermaßen, allerdings mit Fehlern und litauischer Artikulation. Niederdeutsch konnten sie nur radebrechen. Daher gebrauchten sie im Verkehr mit Dienstboten und Arbeitern, soweit diese gar nicht litauisch konnten, nur das Hochdeutsche. Denn so sehr man das Hochdeutsche schätzte und Sorge trug, dass die Kinder es möglichst gut erlernten, so wenig achtete man das Niederdeutsche. In der Dorfschule hat mein Vater nicht nur wie meine Großeltern litauischen Unterricht genossen, sondern daneben auch deutschen, meine Mutter nur noch deutschen. (Der Konfirmandenunterricht allein fand in litauischer Sprache statt).
Das hat sich bei meiner Generation, also bei denen, die um 1914 waffenfähig waren, gründlich geändert. Ich, mein um 1 Jahr jüngerer Bruder und mein 5 Jahre jüngerer Vetter, der bei uns aufwuchs, sprachen von vornherein neben- und durcheinander litauisch und niederdeutsch. Und zwar untereinander, mit den Dienstboten und Dorfkindern fast nur niederdeutsch, mit den Eltern und deren litauischen Nachbarn ausschließlich litauisch. Hochdeutsch lernten wir erst vom sechsten Jahre ab in der Dorfschule. Wenn man uns nach unserer Muttersprache gefragt hätte, hätten wir jedoch ohne Zögern das Litauische genannt. Briefe wurden von uns allen nach Hause nur litauisch geschrieben. Der Weltkrieg hat die Germanisierung meines Heimatdorfes mit einem gewaltigen Ruck nach vorne getrieben. Die waffenfähige Mannschaft kehrte stark gelichtet aus dem Felde zurück. Die Daheimgebliebenen wurden Herbst 1914 von den Russen verschleppt und blieben bis 1918 in Gefangenschaft. Dann kam die Besetzung des Memellandes durch Litauen. Gleiche Sprache und gleiches Blut vermochten nicht die Entfremdung zu überbrücken, die infolge jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu zwei ganz verschiedenen Kulturkreisen, dem preussisch-deutschen und dem polnisch-russischen, eingetreten war. Der preußische Litauer sieht mit Verachtung auf die pulekai ´Polacken´ herab. (Eine auffallend geringe Rolle spielt der Gegensatz evangelisch-katholisch). Einheimische Litauer und Deutsche, beide monarchistisch und äußerst rechts eingestellt, schlossen sich nun bewusst zusammen, während sie bisher nebeneinander einherlebten, wie etwa Evangelische und Katholische in Mischgebieten. Der Litauer begann, sich auf einmal seiner Muttersprache zu schämen. Er wollte nicht mit den Leuten von jenseits der Grenze verwechselt werden. Es setzte eine energische Selbstgermanisierung ein, was ja bei den oben geschilderten Sprachzuständen nicht schwer fiel." [2]
Deutsche und litauische Sichtweisen zum 'Tilžės aktas'
„Am 30. November 1918 fordern etwa zwei Dutzend Lietuvininkai die Abtrennung Kleinlitauens (Anm.: d.h. des nördlichen Ostpreußens) und die Angliederung an Litauen.“ … „Die Unterzeichner des Aktes vertraten jedoch nur eine Minderheitenmeinung. In allen Wahlen zum Memelländischen Landtag ab 1924 ergab sich, dass die pro-deutschen Parteien gegenüber den pro-litauischen Parteien eine Mehrheit von mehr als 80 % der Stimmen behaupten konnten, obwohl fast die Hälfte der Bevölkerung litauisch sprach. Dies war zum einen in der sehr langen (mehr als 600jährigen) staatlichen Zugehörigkeit zu Preußen bzw. dessen Vorgängerstaaten (Deutscher Orden) und zum anderen in einem kulturellen und Konfessionsgegensatz begründet: die preußischen „Litauer“ waren zu über 95 % evangelisch, die Bewohner Zentral-Litauens jedoch zu über 95 % katholisch.“ (Quelle: Deutsche Wikipedia [1])
Auf litauischen Internet-Sites stellt sich das anders dar: Wegen des darniederliegenden Deutschland nach dem 1. Weltkrieg und den daraus folgenden Wirren, hat sich Litauen der unterdrückten „zwangsgermanisierten“ und „zwangsarbeitenden“ Brüder angenommen, die leider im Laufe der Jahrhunderte ihre politische Orientierung verloren hatten. Beide Teile Litauens sollten nun wieder "natürlich" zusammengeführt werden. Am 16. Februar 1918 tagte der Litauische Rat und erklärte die Wiederherstellung eines unabhängigen demokratischen Staates, der dazu dienen sollte, alle ethnischen Litauer "wieder" zu vereinen.
Die unterdrückten „Kleinlitauer“ sollten das Recht auf Selbstbestimmung bekommen und mit "Großlitauen" vereinigt werden. Aus Sicht der Litauer waren es Dutzende von Aktivisten, die am Akt von Tilsit arbeiteten. Man hatte 1000 Flugblätter verteilt, die angeblich auf sehr große Resonanz in der ostpreußischen Bevölkerung stießen, welches den Prozess des politischen Handelns beschleunigte. Andererseits habe es deutsche Angriffe hervorgerufen.
Ostpreußen wird also als ein Teil Litauens betrachtet, der einmal zu Litauen gehört haben soll, und es wird schlicht übersehen, dass ein „Großlitauen“ nicht existiert. Der Begriff Großlitauen kann bestenfalls auf jenes Litauen unter Mindaugas (1203-1263) angewandt werden. Nach der Teilungsurkunde von 1289 soll Mindaugas angeblich Nadrauen und Schalauen verschenkt haben, Gebiete, die er niemals unterworfen hatte. Abgesehen davon, dass die Teilungsurkunde als Fälschung des 14. Jahrhunderts gilt (oder sogar noch zu Mindaugas Lebzeiten gefälscht worden ist), hätte Mindaugas etwas verschenkt, das ihm nicht gehörte. Übersehen wird dabei auch, dass die in Ostpreußen ansässigen Zemaiten und Litauer in das mildere Recht des Ritterordens und später Preußens vor der polnisch-litauischen und später russisch-litauischen Willkürherrschaft geflüchtet waren, dass sie sich somit gerne und freiwillig in "Kleinlitauen" aufhielten, loyale preußische Staatsbürger waren, die preußische Meinungs- und Religionsfreiheit ebenso schätzten wie das Bildungsangebot für ihre Kinder, die allerdings gerne ihre Muttersprache und Kultur pflegen wollten.
Die Unterzeichner
- Jonas Vanagaitis (Johann Wannagatis aus Pabuduppen/ 1938 Finkenhagen) [2]
- Mikelis Deivikas (Michael Deiwick aus Rucken, Lehrer im Memelland [3]) [4]
- Mikas Banaitis (Michael Bannat aus Paskallwen/ 1938 Schaulen)
- Kristupas Kiupelis (Christoph Kiupel aus Cullmen Wiedutaten)
- Jurgis Lėbartų (Jurgis Lebarts aus Schlappschill) [5], [6]
- Jurgis Gronavas (Jürgen Gronau aus Aglohnen oder Oszkarten )
- Mikelis Mačiulis (Michel Matschullis aus dem Memelland) [7]
- Jokubas Juška (Jakob Juschka, vielleicht aus Pezaiten)
- Viktoras Gailius (Viktor Gailus aus Groß Bersteningken) [8]
- Arnas Smalakys (Arno Smalakys aus Memel [9],[10])
- Mikelis Lymantas (Michael Limant aus Memel)
- Danielius Kālnišķi (Daniel Kalnischkies aus Plaschken)
- Enzys Jagomastas (Hans Jagomast aus Lompönen)
- Liudvikas Deivikas (Ludwig Deiwick aus Rucken, Bruder von Michael) [11]
- Emilis Bendikas (Emil Bendiks aus Ballgarden)
- Mikelis Klečkus (Michael Kletczkus aus Saugen)
- Martyna Jankus (Martin Jankus aus Bittehnen) [12], [13]
- Kristupas Paura (Kristoph Paura aus Darzeppeln) [14]
- Fridrikas Zūbaitis (Friedrich Subat aus Tilsit)
- Jurgis Arnašius (Jurgis Arnaszus aus Wannaggen) [15]
- Jonas Užpurvis (Jons Uszpurwies aus Kukoreiten)
- Martyna Reidys (Pfarrer Martin Reid aus Skuldeinen/ Elchniederung)
- Valteris Didžys (Walter Magnus aus Angerapp)
- Jurgis Margys (Jurgis Margies aus Wersmeningken)
„Klaipeda Diena“ vom 12.1.2005
Unter dem Titel „Akt von Tilsit – ein unvollendeter Traum“ schreibt Klaipeda Diena, dass am 11.Januar 2005 das Kleinlitauische Geschichtsmuseum [16] das 87-jährige Bestehen des „Akt von Tilsit“ gefeiert hat. Doktor Silva Pocytė erinnerte an die Gründung des Litauischen Nationalen Rates und daran, dass damals die Mehrheit der Kleinlitauer nach Großlitauen zurückkehren wollte. Diese Idee wurde jedoch nur teilweise umgesetzt: Lediglich das Memelland wurde in die litauische Klaipedaregion eingegliedert.
Der litauische Kulturattaché im Kaliningrader Gebiet, A.Juozaitis, meinte, der einzig sinnvolle Weg sei, sich von litauischer Seite aus am „Rest des litauischen Territoriums Kleinlitauens“, nämlich dem Kaliningrader Gebiet, wirtschaftlich zu beteiligen. Denn nur noch 20% der Bevölkerung des Oblast sei litauisch geprägt. Es gäbe nur noch 18 litauische Gemeinden und Gesellschaften, die es zunehmend schwerer hätten. Schüler hätten Probleme, die litauische Sprache zu erlernen, weil diese im Oblast nur noch optional unterrichtet würde. So sei der Kaliningrader Oblast eine russische Provinz geworden. Man solle sich im übrigen an den Deutschen ein Vorbild nehmen, die schon seit 12 Jahren kostenlose Deutschkurse anböten.
(Beate Szillis-Kappelhoff)
Weblinks
- Zeichner des Akts von Tilsit [17]
- Tilžės aktas am "Triumphbogen" in Memel, 2008 YouTube [18]/ [19]
- Klaipeda Diena [20]