Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)
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Erzählungen
Bloß ein alter Schuhkarton ?
Ein nichtalltäglicher Erbgang
„Hier, nimm dies, das ist mein wertvollster Besitz, den ich als Einzigen von Zuhause in Schmelz gerettet habe. Ich werde nicht mehr viel Zeit auf Erden verbringen und habe dich bis heute schon lange im Auge. Du bist der Einzige, dem ich dies hier übergeben kann. Du scheinst nämlich eine Ader für unsere Familientradition zu haben.“ Bei diesen Worten drückte mir meine weit über 90-jährige unverheiratete Großtante, die seit Jahren mit unserer Familie unter einem Dach lebte, einen vergilbten Schuhkarton - mit verblichener blauer Schleife verschnürt - in die Hände. Für diese „Übergabe“ hatte sie mich in ihr stark nach Hoffmannstropfen, Mottenkugeln, Kölnischwasser und Nivea-Kreme duftendes Zimmer gerufen, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen und ihr schütteres, graues Haar mit ihrer betagten Brennschere sorgfältig zu Wellen frisiert, wie sie es seit Jahren bei wichtigen Anlässen öfter tat. Das von tiefen Furchen durchzogene Gesicht wirkte dabei ziemlich ernst, die gealterten Hände zitterten leicht, als sie mir ihre „Kostbarkeit“ zureichte, ihr Atem schien schneller und etwas gepresster als sonst zu gehen. Kurze Zeit danach erlosch ihr Lebenslicht auch tatsächlich.
Was alles so in einem Schuhkarton sein kann
Zunächst war ich eigentlich nur interessiert zu erfahren, welchen „Schatz“ mir meine Großtante so feierlich überreicht hatte. Daher schaute ich sogleich nach. Im Karton befanden sich „auch nur“ vergilbte, also ganz alte, Ansichtskarten. Sie waren aus aller Welt an den Familienvater oder an meine Großtante, dessen Tochter, adressiert und stammten aus der Hand ihrer beiden viel älteren Brüder Georg und Hans aus dem Zeitraum 1890 bis 1913. Die Großtante war der „Nachzügler“, das Nesthäkchen, unter vier Kindern, nämlich der beiden „großen“ Brüder und der um mehrere Jahre älteren Schwester, meiner Oma väterlicherseits. Sie hatte die Pflege der zahlreichen Familiengräber und später die alleinige Sorge für das elterliche Wohnhaus während der berufsbedingt ständigen Abwesenheit ihrer Brüder (sie fuhren zur See) übernommen. Dafür durfte sie die schönsten Räume des Hauses zur Straße hin mietfrei bewohnen, die übrigen Bestandteile des gesamten Anwesens kostenlos nutzen und im Haff die der Familie zugestandenen Fischereirechte ausschöpfen oder an andere Schmelzer verpachten.
Die Ansichtskarten waren von den Empfängern offensichtlich jeweils nach ihrem Eintreffen nicht fortgeworfen, sondern in den Schuhkarton gelegt worden. Denn sie lagen nach Jahrgängen geordnet darin. Mit Sicherheit haben sie meinen Verwandten viel bedeutet, weil sie die Karten aufgehoben und nicht fortgeworfen hatten. Zumindest waren sie für die daheim Gebliebenen wohl recht informativ gewesen und hatten die große, weite Welt ein bisschen in den Schmelzer Familienalltag gebracht!
Von Memel hinaus in die weite Welt
Die beiden Brüder Georg und Hans waren – wie konnte es für Schmelzer Bowkes damals anders sein? – Seefahrer geworden. Der ständige Geruch von Haff- und Ostseewasser, nach Teer, Tang und Fisch, das geschäftige Treiben am Haffstrand, in der Dange und am Verladekai - und das alles von frühester Kindheit an - konnten bei ihnen gar keine andere Berufsentscheidung reifen lassen als diese! Selbst heute noch, in der Fremde also, finden sich noch genügend Menschen des Memellandes, die nach dem Verlust der angestammten Heimat lange Zeit andernorts dem Seemannsberuf nachgegangen sind und jetzt ihren wohlverdienten Ruhestand in neuer Umgebung genießen. So mancher von ihnen kann es auch heute noch nicht lassen, mit dem eigenen oder gecharterten Boot auf kleinere oder größere Fahrt zu gehen oder einen Segelurlaub zu machen – quasi aus Spaß an der Freude oder aus alter Gewohnheit! Sie haben es doch von frühester Jugend an so gehalten, die für sie engen Grenzen ihres Zuhause mit der lockenden Freiheit, dem vielen Neuen dieser Welt einzutauschen, über den Horizont hinauszublicken – und sich möglicherweise auch ihr „Mannsein“ zu beweisen. Wen wundert das?
Sind nicht seit den ersten Tagen Memels und des Memellandes von überall her in Deutschland und in Europa Persönlichkeiten zur Übernahme bedeutender Positionen in Verwaltung, Gesundheitspflege, Kultur und Wissenschaft, Kirchen- und Schulwesen, Militär, Handel und Gewerbe, Landwirtschaft und Wirtschaft usw. in diesen Landstrich gekommen? Die einschlägige Literatur nennt Beispiele genug! Warum hätten Menschen dieses Landstrichs sich dann nicht revanchieren und „hinausgehen“ sollen? Waren sie im Grunde nicht die ersten wirklichen Europäer, die viele heute doch werden wollen?
Die frühere Post – billig und schnell
Zunächst interessierten mich (als ehemaligen Postler) in erster Linie mal die postalischen Informationen, die mir die Ansichtskarten gaben. Ich staunte nicht schlecht, als ich anhand der Stempelabdrucke feststellen konnte, in welcher Laufzeit damals die Karten vom Absende- zum Bestimmungsort (damals adlig oder königlich Schmelz!) kamen: in Europa in durchschnittlich 4 Tagen, von Afrika in durchschnittlich 13 Tagen. Länger dauerte es nur von Süd- und Nordamerika sowie besonders von Asien. Und das bei den seinerzeit – im Vergleich zu heute – niedrigen Postgebühren! Beachtlich auch der damals weltweit schon einheitlich rötliche Farbton der Postkarten-Gebührenmarken!
Wohin die Jungs überall fuhren
Sodann interessierte mich aber auch, woher die Ansichtskarten kamen und - vor allem - was Georg und Hans nach Hause zu berichten hatten. Alle Kontinente dieser Erde - mit Ausnahme Australiens – hatten sie als Kapitän oder Steuermann mit ihren kohlebefeuerten Fracht- oder Passagierschiffen namhafter deutscher oder internationaler Reedereien angesteuert. Georg hatte Ansichtskarten aus 16 Ländern unterschiedlichster Kontinente dieser Erde nach Hause geschickt! Hans dagegen brachte es „nur“ auf insgesamt neun Länder, und zwar vorwiegend in Europa, Süd- und Mittelamerika. Alles für mich „Landratte“ überaus spannend!
Was alles nach Hause berichtet wird
Und ihre Mitteilungen? Meist waren es nur Grüße und „Standortbestimmungen“, damit die Verwandtschaft beruhigt und – modern gesprochen – „up to date“ war. Aber es gab auch ganz konkrete Anweisungen, wohin zum Beispiel die nächste Post oder saubere Wäsche zu senden sei. Oder es wurde die vorgesehene Reiseroute, zumindest aber der nächste Zielhafen genannt. Hin und wieder wurde auch über einen unvermeidbaren Krankenhausaufenthalt in der Fremde und über den Verlauf der Heilung berichtet. Mit spürbarer Freude – das erkennt man oft an der Handschrift! – nennt der Schreiber jeweils die voraussichtliche Rückkehr in den Heimathafen. Manchmal klingt aber auch Heimweh durch die Nachricht – oder zum Beispiel die Trauer über den Tod des alten Vaters, dem man nicht die letzte Ehre erweisen konnte, weil man in der Fremde war.
Wie sich die Welt inzwischen doch verändert hat
Beim Betrachten der Briefmarken und der Ansichten wurde mir erst so recht deutlich, welche - vor allem politischen - Veränderungen es in der Welt seitdem gegeben hat. Damals gab es noch Königreiche, deren Regenten auf den Briefmarken verewigt sind. Da gab es noch Staaten, die heute ganz anders heißen. Alles Nachrichten aus einer anderen Welt! Wie mögen die auf den teilweise kolorierten Ansichtskarten abgebildeten Städte und Landschaften heute – nach so vielen Jahren und nach so vielfältigen Veränderungen – aussehen? Gibt es sie überhaupt noch?
Wie klein unsere Welt geworden ist
Und der Zeitfaktor wurde mir mit einem Male so recht bewusst. Was mit dem Dampfschiff Tage, Wochen oder Monate dauerte, wird heute in Stunden mit dem Düsenflugzeug und in Minuten oder Sekunden mit modernsten Kommunikationsmitteln erledigt! Was für eine Zeit war das damals? In was für einer Zeit leben wir dagegen heute? Ich bin sicher: Meine Generation hat eine Entwicklung miterlebt, wie das bei keiner vorherigen Generation der Fall war! Durch die Zeit und was sich in ihr verändert hat, ist die große, weite Welt unweigerlich immer mehr geschrumpft.
Das Elternhaus – ein Andenkenladen
Ich dachte plötzlich zurück. Wie sah es im großelterlichen Haus in Schmelz aus? Die gesamte Wohnung der Großtante war im Grunde doch ein einziges Museum! Auf Regalen standen Buddelschiffe in unterschiedlichster Form und Farbe, Freizeiterzeugnisse der Seefahrer. Die Wände zierten kleinere und größere Ölgemälde, natürlich von Dampfern mit Rauch speiendem Schornstein, in voller Fahrt im Sturm und bei aufgewühlter See. Oder mit Seeleuten in Ölzeug, die mit harter Hand dicke Taue bei Unwetter gepackt halten und den tobenden Elementen mit trotzigem Blick die vom Wetter gegerbte Stirn bieten. Dazwischengespannt ganz akkurate, feine Stickarbeiten der Großtante. Die Schränke voll gestellt mit Tassen, Tellern, Gläsern und kitschigen Reiseandenken aller Art aus „vieler Herren Länder“. In Fensternähe in portugiesisch unflätige Flüche krächzende, aber auch „du bist verrückt, mein Kind“ pfeifende, bunte Papageien in Käfigen aus Messing, in so mancher Ecke ein exotisches Gewächs. Hin und wieder auch ein rot-weißer Rettungsring mit dem Namen eines Schiffes oder eine Reedereiflagge. Alles Mitbringsel von Georg und Hans!
Das geheimnisvolle Fotoalbum
An so manchem ungemütlichen Abend kramte die Großtante aus irgendeiner Schublade ein Fotoalbum besonderer Art hervor. Es war in meinen Augen groß und dick. Der Deckel und die Rückwand bestanden aus dunklem Ebenholz und ließen sich mit einem Verschluss aus Messing verriegeln, sodass nichts herausfallen konnte. Der Deckel war dick mit Japanlack versiegelt. Man sah Intarsien aus Perlmutt und Elfenbein: Blumen, Blüten, Ranken, Vögel und Bäume. Die Innenseiten waren mit kleinen oder großen, kreisrunden, ovalen, quadratischen und rechteckigen Öffnungen zur Aufnahme von Fotografien versehen. Die Flächen dazwischen waren mit Naturseide bespannt und zart handbemalt: Tiere, Blumen und mandeläugige, schwarzhaarige Geishas – sicherlich ein Mitbringsel von Georg aus Japan. Und aus jeder der vorhandenen Öffnungen ließ sich in braunem oder gräulichem Farbton eine Mannsperson blicken: ganz deutlich immer wieder Georg und Hans. Aber wie sie dort posierten! Mal stehend, mal sitzend, mal mit einem Buch oder einem anderen Gegenstand in der Hand. Aber immer ernst, mit sorgfältig gescheiteltem, stark pomadisiertem Haar, ordentlich gestutztem und amüsant gezwirbeltem Schnauzbart, modernem Outfit – um es verständlich zu sagen! Tolle „Mannsbilder“, wie aus dem Ei gepellt, der ganze Stolz der Familie offensichtlich! Das war was für mich!
Die „Königin von Schmelz“ in Aktion
All das strahlte eine gewisse Wohlhabenheit aus. Man zeigte, was man hatte und was man war! Das tat damals auch besonders die Großtante. Sie stolzierte oft mit riesigem, breitrandigem, hellem Hut, mit aufgespanntem Sonnenschirm im Sommer, in figurbetontem Kleid, das sie überm verlängerten Rücken und im Brustbereich mit etwas Füllendem ausgepolstert hatte, in spiegelnden Lackschuhen, ohne Brille, obwohl sie ihre Augen gut hätten brauchen können, herum – alles Tipps einer in Berlin lebenden, modebewussten Cousine nahezu gleichen Alters! -, gab aller Welt schnippische, gekünstelte und besserwisserische Antworten und dünkte sich oft schlauer als viele andere Schmelzer. Wegen all dieser spleenigen Verhaltensweisen wurde sie nicht zu Unrecht damals auf ganz Schmelz spöttisch „Königin von Schmelz“ genannt. Aber das schien sie nicht zu stören. Mit der Flucht hatte sich das alles aber total geändert! Das Leben war ein guter Lehrmeister.
Das Erbe ist für die Nachkommen gut verwahrt
Den Schuhkarton gibt es heute nicht mehr! Wohl aber sein „Sammelgut“. Die Ansichtskarten sind – fein säuberlich in Klarsichthüllen verpackt – als wertvoller Nachlass aus der früheren Heimat und von Vorfahren in einen festen Sammelordner aufgenommen worden. Und sie sind immer wieder mal Gegenstand nachdenklicher Betrachtung durch mich – einer Betrachtung über eine ganz andere, einmalig wunderbare Zeit!
Reise mit Hindernissen in die neue Heimat
Es ist Anfang März 1945. Heute habe ich Geburtstag. Ich vollende mein zehntes Lebensjahr. Mein erster Geburtstag als Flüchtlingskind in Pommern, unserer zweiten Fluchtetappe – von Memel aus gerechnet. Ein trauriger Tag – wohl mein traurigster im Leben überhaupt - unvergesslich! Die Umwelt um mich herum befindet sich an „meinem Tag“ im Chaos. Die Rote Armee, „der Russe“, greift ungefähr fünf bis sechs Kilometer von uns entfernt an. Er stürmt nur so auf uns zu. Alles rennt, sucht sich zu retten, flüchtet! Ringsum brennt es schon überall. Geschützgrollen ganz nahe! Flugzeuge bekämpfen sich in der Luft. Viele stürzen brennend auf Felder, Scheunen und Wohnhäuser. Explosionen! Unmengen von Menschen sind auf der Flucht. Zu Fuß oder mit irgendeinem Fahrzeug drängen sie sich durch die verstopften Straßen. Bloß fort!
Da – Gott sei Dank! Ein Traktor mit einem Anhänger beladen mit Panzerfaustkästen und Munitionskisten und mit einer leichten Kanone im Schlepp! Abfahrbereit. Einige deutsche Soldaten wuchten – wohl aus Mitleid mit der hilflos und lethargisch am verschneiten Straßenrand dastehenden Familie - die Frau, uns vier kleine Kinder, unsere alte Großmutter und ihre erwachsene Tochter, Tante Elsa, auf den voll gepackten Anhänger. Es ist bitterkalt da oben! Alle erhalten von den Soldaten noch rasch eine Dose Schokakola. „Wann wird losgefahren?“, fragt Mutter den Fahrer. „In zehn Minuten geht`s pünktlich los.“, so seine hastige Antwort. Mutter rennt los. In ihre verlassene Wohnung in der Nähe, wo das bisschen Hab und Gut, soweit es aus der Heimat bis hierher gerettet werden konnte, verpackt liegen geblieben ist. Nach kurzer Zeit ist sie wieder da. Sie hat sich mit Federbetten und einigen Decken bepackt, die sie auf den Anhänger wirft. „So, nun brauchen wir wenigstens nicht zu frieren da oben. Unsere Kisten und Kartons waren von den Rischkys, unseren Wohnungsnachbarn, in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit schon aufgebrochen worden. Sie wollen alle hierbleiben. Als halbe Polen glauben sie vom „Russen“ nichts befürchten zu müssen“, keucht sie ganz außer Atem.
Dann geht die Fahrt in aller Eile pünktlich los. Es dunkelt schon. Als Munitionstransport haben wir überall Vorfahrt und kommen - im Gegensatz zu den endlosen Trecks auf der rechten Straßenseite - zügig Richtung Westen voran. Plötzlich hält der Traktorfahrer aber ganz rechts auf der Landstraße an, löst die Kupplung der Kanone und deckt das nach oben offene Auspuffrohr des Traktors mit einem Stück Blech ab, damit kein Funke oder irgendein Lichtschein die Anwesenheit der Flüchtenden verraten könnte. Dann schleicht das Gespann mit ganz leisem Tuckern der Zugmaschine langsam die Allee hinunter. Die Kanone bleibt zurück.
Nach unendlich lang wirkender Schleichfahrt gibt der Traktorfahrer unvermittelt Vollgas, und das Gespann schießt nur so die Allee entlang! Warum tut er das? In der Nähe der Straße haben mehrere sowjetische Panzer die Fronlinie durchbrochen und versuchen, den fliehenden Trecks den Weg abzuschneiden. Das Motorengeräusch der Kriegsmaschinen ist schon deutlich zu hören; sie müssen ganz nahebei sein. Es gilt von diesen nicht bemerkt zu werden und ihnen zu entkommen. Das gelingt glücklicherweise! Nur wenige Augenblicke haben uns damals wohl von einer unfreiwilligen „Sibirienreise“ getrennt!
Wohlbehalten durchfährt das Gespann mitten in der Nacht Cammin. Die meisten Einwohner der Stadt sind schon geflüchtet. Nur hin und wieder ist eine Gestalt im Gegenlicht hinter dem einen oder anderen Fenster auszumachen. Eine Geisterstadt!
Doch für uns geht es weiter! Nach Swinemünde. Von dort bringt die Eisenbahn uns - wenn auch mit einigen unangenehmen Unterbrechungen durch Tiefflieger-beschuss - am 7. März 1945 äußerlich unversehrt in unsere neue Heimat - nach Niedersachsen.
Reise ohne Wiederkehr
Der Abend war schön - wie fast alle Juliabende es am Kurischen Haff sind! Es war angenehm warm, die Sonne strahlte noch vorm Untergehen vom Himmel. Überall war Feierabend eingekehrt. Wir Kinder wurden - wie sonst auch – nach der Abendtoilette früh ins Bett gesteckt – meist früher als andere Kinder. Deren Gekreische konnte man noch vom Bett aus hören.
Und doch - am 30. Juli 1944 - schien einiges anders als sonst zu sein! Die Erwachsenen hatten in den letzten Tagen öfter zusammengestanden und mit den Händen gestikulierend geredet, ihre Gesichter hatten dabei einen ziemlich besorgten Ausdruck gehabt. Irgendetwas lag in der Luft! Das hatten auch wir Bowkes bemerkt.
Vom Bett aus war zu vernehmen, dass noch jemand ins Haus gekommen war. Vater konnte es nicht sein; der war ja an der Front in Russland. Kurze Zeit später hörten wir Mutter noch irgendwo in der Wohnung kramen. Das erschien uns schon komisch. Denn das war anders als sonst! Abends las sie meist in aller Ruhe ein Buch oder die Zeitung. Oder sie vertiefte sich in irgendeine Handarbeit. Dennoch entschlummerten wir Kinder nach durchtobtem Tag recht bald.
Am nächsten Morgen geschah etwas für uns ganz Ungewohntes: Obwohl Alltag, mussten wir Kinder unsere „guten Kleider“ anziehen, was wir eigentlich nur an Sonn- oder Feiertagen sowie bei festlichen Anlässen taten. Auch Mutter hatte sich festlich gekleidet. Die ganze Familie frühstückte gemeinsam am Küchentisch – keiner fehlte. Tante Elsa, Großvater und Großmutter fanden sich bald ein. Wir Kinder wurden an die Hand genommen. Mutter ergriff eine kleine Reisetasche, hängte sich den leinenen, sonst neben der Hauseingangstür hängenden Beutel um, in dem für den Fall eines Bombenalarms wichtige Dokumente zusammengetragen und verwahrt waren. Sie nahm die Jüngste von uns vier Kindern an die Hand. Dann trotteten wir alle in einen strahlenden Sommermorgen hinaus - zur Bushaltestelle an der Mühlenstraße, der Hauptstraße zwischen dem Vorort Schmelz und der Stadt Memel selbst.
Unterwegs trafen wir Nachbarsfamilien, Freunde, Bekannte. Alle wie wir sonn- oder feiertagsmäßig gekleidet, alle auf dem Weg zur Bushaltestelle. Im Bus selbst ebenfalls viele bekannte Fahrgäste, ob an der Haltestelle mit eingestiegen oder sonst wo zugestiegen. Alle festlich gekleidet, gewohnt ruhig, die Kinder in ausgelassener Stimmung.
Der Bus machte halt an der Dange vor der Anlegestelle, von wo aus ich schon so oft mit der Fähre nach Sandkrug zur Kurischen Nehrung hinübergefahren bin. Diesmal hieß es hier: Endstation, alles aussteigen! „Soll es heute womöglich in großer Gesellschaft auf die Nehrung gehen?“, fragten wir uns.
Doch nicht der altgewohnte Raddampfer liegt heute am Steg! Ein blendend weißes Fahrgastschiff, die „Liebe“, soll es diesmal offensichtlich sein. In aller Gemütsruhe strömen die Menschen auf das Schiff und verteilen sich über die verschiedenen Decks. Wir Kinder durchstöbern alle möglichen Ecken des Schiffs und sind immer wieder erfreut darüber, dass so viele Freunde von uns diese Reise mitmachen.
Eine Musikkapelle spielt auf dem Kai flotte Weisen, zuletzt „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus...“ Dann fallen die Leinen ins Wasser, das Schiff legt ab. Winken hinüber und herüber. Großvater bleibt zurück. Die Fahrt geht los. Stundenlang bei schönstem Sonnenschein durchs Kurische Haff mit der „Liebe“, so, wie ich sie vom Kahn aus schon öfters vorüberziehen gesehen habe.
Gegen Mittag ist die Dampferfahrt quer durchs Kurische Haff zu Ende. Labiau heißt unsere Station. Alle Mitgereisten verlassen das Schiff und lagern sich auf einer großen, grünen Wiese im Schatten hoher Bäume. Mutter holt ein ansehnliches Proviantpaket aus der Reisetasche, Tante Ella mit ihren vier Kindern hat ein großes Weckglas mit gebratenen Aalstücken mitgebracht. Das gibt ein herrliches Picknick! So, wie sonst bei Ausflügen zum Ostseestrand oder in die heimatliche Umgebung. Wir Kinder tollen überall umher. Alles hat den Anschein eines großen Familienausflugs.
Am Spätnachmittag geht der „Ausflug“ weiter: diesmal per Bummelzug. Endstation ist Osterode in Ostpreußen. „Hier soll wohl übernachtet werden“, spekulieren wir Kinder. Die einzelnen Familien bekommen von irgendwelchen dienstbaren Geistern in Uniform Adressen auf Zetteln und ziehen darauf in unterschiedliche Richtungen der Stadt davon. Ihnen wird gesagt, der Aufenthalt hier sei „nur vorübergehend“.
Großmutter und Tante Elsa erhalten in einer vornehmen Villa ein großes, helles Zimmer zum Garten hinaus. Die Adresse auf dem Zettel für unsere Familie lautet : „Stadtbaumeister ... in der ...straße Nr...“. Dorthin gehen wir und stehen schließlich vor einem zweistöckigen, neuen, roten Backsteinhaus. Wir treten in den Hauseingang und drücken an der einzigen Klingel - bei ...
Lange rührt sich nichts. Nach erneutem Klingeln tut sich etwas hinter der Tür. Sie wird halb geöffnet, und eine etwas verlebt und übermüdet wirkende Frau von etwa 60 Jahren schiebt sich langsam in die Öffnung.
Wir grüßen höflich, Mutter nennt unseren Familiennamen. Die Frau mustert uns alle der Reihe nach von oben bis unten - ganz Abwehr!
„Ach ja, sie sind die von der Partei angekündigten Flüchtlinge aus dem Memelland“, sagt sie dann mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, macht die Tür ganz auf und schlurft voran in ihr Haus. „Hier links, das ist Ihre Wohnung“, sagt sie und führt uns in ein kleines Zimmer mit separatem Eingang zum Flur. „Das ist sonst die Wohnung des Dienstmädchens. Kochen und Baden verboten! Und absolute Ruhe, wenn ich bitten darf! Meine Nerven!“ Und fort ist sie, in einer der anderen Türen des Hauses verschwunden.
Wie betäubt lassen wir uns auf das einzige Bett und auf die Liege im Zimmer sinken. Mutter weint. „Flüchtlinge“ hat die Frau gesagt! Was ist das? Wir verstehen das alles noch gar nicht! Heute wissen wir`s: Wir Memelländer waren ja auch die ersten Deutschen, die ihre Heimat fluchtartig vor der Roten Armee verlassen mussten!
In den nächsten Monaten und Jahren lernen wir den Sinn dieses schrecklichen Begriffs „Flüchtlinge“ mehr als einmal kennen! Denn Osterode in Ostpreußen war ja nur die erste Etappe eines noch weiten, gefahrvollen Weges. Er führte – gerade für uns Kinder - unter manch grausamer Erfahrung über Pommern, die zweite Etappe, in eine Kleinstadt am Rand des niedersächsischen Teufelsmoors – zur vorläufigen Endstation, die für uns nun schon über 60 Jahre Bestand hat. Hier musste nun in völlig fremder, zunächst recht abweisender Umgebung die Grundlage für eine neue Heimat gelegt werden. Wer von uns ahnte damals, dass für viele die letzte Etappe auch die endgültige werden sollte und die frühere Heimat nur noch im Herzen bewahrt werden musste? Wer ahnte aber auch, dass die Flüchtlinge von einst nach Veränderung der politischen Verhältnisse hinter dem „Eisernen Vorhang“ jemals eine wichtige Brückenfunktion zwischen alter und neuer Heimat übernehmen würden? Aber so ist das Leben halt!
(Nach dem Buch „Merkwürdiges im heutigen Gestern – Kurzgeschichten aus dem Memelland Titel 'Es begann wie ein fröhlicher Ausflug' “).
Zwischenstation
1944. Es ist ein dunkler, kühl-feuchter Spätherbstabend, als der Eisenbahnzug mit uns Flüchtlingen aus Ostpreußen im Bahnhof Plathe in Pommern hält. Wir werden schon erwartet und auch sogleich „verteilt". Die vier Kinder mit Mutter,Tante Elsa und Großmutter klettern auf einen großen Ackerwagen mit zwei Schimmeln davor und dem Bauern auf dem Holzsitz.
Die Fahrt geht los. Sie dauert lange. Durchgefroren und durchgeschüttelt landen wir alle endlich auf einem morastigen Bauernhof in Altenhagen, etwa sechs Kilometer von Plathe entfernt. Wir werden von der Bäuerin sowie von einigen Mägden und Knechten in Empfang genommen. Nach der Begrüßung setzen sich alle an einen großen Tisch und löffeln genüsslich dampfende, köstlich schmeckende Gemüsesuppe. Die lange Bahnfahrt und anschließend die rumpelige Wagenfahrt waren vor allem für alle Flüchtlinge anstrengend gewesen. Die heiße Suppe und die Wärme der Küche machen müde. Darum heißt es bald: „Ab ins Bett!" Ins Bett? Eine derbe, steile Leiter hinauf - in einen Dachraum über der Küche! Sein Fußboden ist mit etwas Heu bedeckt. Mitten durch den Raum führt der roh gemauerte Schornstein des Küchenherdes. Das ist die einzige Wärmequelle hier oben! Doch wir fallen rasch in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen - es muss noch sehr früh sein, denn es ist noch stockdunkel im Raum - heißt es: „Aufstehen, heute wird gedroschen!" Das hat die Familie noch nie gemacht! Aber nach etwas Anleitung lernen wir es alle und packen kräftig zu. Es gibt immerhin nahrhaftes Essen dafür! So geht das all die nächsten Tage. Als ob sich der Bauer das Dreschen des ganzen Jahres für uns Flüchtlinge aufgehoben hat! So kann das nicht weitergehen!
Mutter sucht Hilfe beim Bürgermeister. Der greift - sehr zum Ärger des Bauern - ein und lässt die gesamte Flüchtlingsfamilie nach Mittelhagen in die dortige, damals leerstehende Schule transportieren. Das wird nun ein besseres Leben! Sogar ein großer Kachelofen spendet wohlige Wärme in dem Wohn-/Schlafraum. Und die aus der Heimat nach und nach zugesandten Sachen sind inzwischen auch im fernen Pommern eingetroffen. Milch gibt es beim Bauern, und kaufen kann man, was so eine Familie alles braucht, im Laden um die Ecke. Zu Weihnachten ist sogar Vater von der Ostfront auf Urlaub gekommen. Die Familie ist nach langer Zeit mal wieder glücklich zusammen!
Jedes Ende hat einen Anfang
Am 31. Juli 1944 war meine memelländische Kinderzeit zu Ende. Evakuierung der Familie! Zuerst nach Osterode/Ostpreußen, dann in die Nähe von Plathe in Pommern, schließlich nach Bremervörde in Niedersachsen. Schwere Zeiten waren es nach 1945, nach Kriegsende, für mich - für viele. Nach viel zu kurzer, ungetrübter Kinderzeit im Memelland nun - wohl für immer - in fremder Umgebung! Die durch den schrecklichen Krieg ebenfalls ausgepowert war.
Die Heimatlosen hatten damals nichts, die Einheimischen nur noch wenig! Dazu war das Szenarium mies: überall Hunger, überall Armut, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Suche hier, Suche da, Rechtlosigkeit der Besiegten, Würdelosigkeit - schon bei den Kindern angefangen, bei den Erwachsenen oft Alltag -, Schwarzhandel, volle Kirchen, häufig aus Scham über im deutschen Namen Begangenes, oft aus Verzweiflung, aber vielmals einfach auch aus Hoffnung auf materielle Hilfe.
Die Flüchtlinge, die sich nun in der Fremde ein neues Zuhause schaffen mussten, blieben mit ihrem Herzen aber weiterhin ihrer früheren Heimat verbunden. Viele, auch wenn sie sich nicht irgendwie an eine Flüchtlingsorganisation banden. Doch viele, ob Memelländer, Ostpreußen, Westpreußen, Danziger, Pommern, Schlesier, Sudetendeutsche oder Deutsche von anders woher, organisierten sich regional und überregional. Sie trafen und treffen sich - meist regelmäßig -, um Freunde, Nachbarn und Bekannte wiederzusehen, um ihre heimatliche Kultur, ihr Brauchtum, ihre Sitten, ihren Dialekt, ihren früher gewohnten Alltag zu pflegen. Oft dienen ihnen Heimatzeitungen, Heimatbriefe oder Heimatblätter als wichtiges Sprachrohr, Informationsmittel und Bindeglied. Sie halten ihr Heimatrecht hoch, das allen Menschen dieser Welt für heilig erklärt worden ist. Sie helfen einander. Alles beredte Zeugnisse eines ungebrochenen Pioniergeistes! Den jeder in der früheren Heimat nie verlernt hatte, der es für sie wert ist, gerade jetzt hier in der neuen Heimat gepflegt zu werden. Tradition im wohlverstandenen Sinn!
Im Laufe der Zeit hat sich für die ehemals Heimatlosen in Deutschland vieles verändert. Die entwurzelten Menschen wurden größtenteils integriert und in der neuen Umgebung sesshaft. Aus uns Kindern von damals sind Seniorinnen und Senioren geworden. Wir erfreuen uns jetzt an unseren Kindern, so mancher von uns sogar an Enkeln. Viele von uns sind fern von ihrem Geburtsort aufgewachsen. Unsere Kinder und Enkel kennen das einstige Leben im Memelland oft nur aus Büchern und anderen Quellen oder aus Erzählungen der Eltern oder Großeltern. Die einen sind mehr, die anderen weniger an ihrer Herkunft interessiert. Die neue Umgebung hat sie geprägt. Die Nachgeborenen fühlen sich längst nicht mehr als Flüchtlinge, zum Beispiel - wie wir - als Memelländer, obwohl sie von memelländischen Vorfahren abstammen. Sie nehmen meistens nicht mehr teil an „Flüchtlingsveranstaltungen“, die ihre Eltern und Großeltern häufig heute noch besuchen. Sie haben andere Interessen!
Viele ehemals Heimatlose haben sich inzwischen mit Flüchtlingen aus anderer Gegend oder mit Einheimischen vermischt. Das ist ja auch ganz natürlich, ist es eigentlich zu allen Zeiten gewesen! Vielfach hat sich eine „Blutauffrischung“ in so mancher Gegend Deutschlands geradezu als notwendig und ausgesprochen günstig erwiesen. Dadurch ist in neuer Umgebung vielfach wohl erst ein Menschenschlag entstanden, den Energie, Gesundheit und Schaffenskraft kennzeichnen.
Rachegedanken, Revanchegelüste sind den ehemals Heimatlosen fremd. Im Gegenteil: Eine vor Jahren unvorstellbare „Brückenfunktion“ haben sie heute übernommen. Von der jetzigen in die frühere Heimat. Von den Menschen und Institutionen hier zu den Menschen und Institutionen dort. Als Menschen der betreffenden Weltgegenden kennen sie die Mentalitäten und Bedürfnisse in ihrer Geburtsheimat doch am besten! So wissen sie genau, wo bei jedem Neubeginn der Schuh am stärksten drückt!
Nach der „Wende“ der politischen Verhältnisse in den heute meist zu ehemaligen „Ostblockstaaten“ gehörenden Herkunftsländern der Flüchtlinge haben viele, die Memelländer nach der Willkür der Sowjets erst sehr, sehr spät, ihre frühere Heimat besuchen und sie ihren Ehe- oder Lebenspartnern, ihren Kindern oder Enkeln zeigen können. Denen hat das den Deutschen bis dahin teils verschlossene Land gefallen. Wenn dort heute auch Menschen anderer Herkunft leben und dort gegenüber früher inzwischen eine ganz andere Welt entstanden ist, deren vorherigen Charakter sie selbst teilweise nie kennen gelernt hatten. Viele haben Freundschaften mit den Jetzigen geschlossen. Besuche hinüber und herüber sind keine Seltenheit mehr. Hilfe nach dort von vielen Seiten hier.
Dennoch ist schon heute der Tag absehbar, an dem nur noch wenige nach dem einstigen Memelland fragen werden. Noch weniger werden ihnen dann etwas über diesen einstmaligen Teil Ostpreußens und Deutschlands erzählen können. Dieser Landstrich dürfte dann nur noch Gegenstand eng begrenzter Literatur, möglicherweise nur über Litauen, sein. Eine mehr als berechtigte Sorge vieler Memelländer heute! Wie kann einer solchen Entwicklung noch lange Zeit Erfolg versprechend entgegengewirkt werden? Die „Alten“ müssen in ihren Organisationen die Wünsche und Interessen der „Jungen“ unbedingt ermitteln - ohne Vorbehalte. Aus den Erkenntnissen hieraus müssen sie Programme entwickeln, zu denen die Jungen JA sagen können. Für diesen „neuen Menschentyp“, für die Kinder und Enkel der Erlebnisgeneration, der Zeitzeugen, muss dann eine für die „Jungen“ einleuchtende Sprache gefunden werden. Die Nachgeborenen sehen verständlicherweise vieles gänzlich anders als die ursprünglichen Flüchtlinge. Jede Generation hat doch ihre eigenen Befindlichkeiten!
Die jungen Menschen erwarten und leisten sich gern so einiges in ihrem Urlaubsland, um es besser kennen zu lernen. Sie hassen besonders Bürokratie und Formularkram. Sie wollen mal in eine Disco gehen, Musik ihres Geschmacks hören oder nach deren Rhythmus tanzen können. Sie möchten vor Ort etwas sehen von Land und Leuten, etwas erleben. Sie wollen bequem an ihr Urlaubsgeld kommen können. Sie wollen segeln, schwimmen, sonnenbaden, Boot fahren, Bernstein sammeln, angeln usw. Sie wollen unbevormundet sein. Kurz - sie möchten mal so richtig Urlaub machen im Memelland, im Land ihrer Ahnen!
Bisher besteht bei vielen nachgeborenen Memelländern oft eine ausgesprochene Informationslücke. Unsere Eltern und Großeltern, aber auch wir, die damaligen Kinder, haben uns als Erlebnisgeneration nicht genügend Zeit genommen, ihnen noch viel mehr über unsere frühere Heimat zu erzählen. Wir glaubten seinerzeit, uns zuerst eine neue Zukunft aufbauen zu müssen und alles andere hintanstellen zu können. Oft waren die Fluchterlebnisse und der Schock darüber so schrecklich, dass wir mit den Nachgeborenen über „dieses Kapitel“ nicht reden wollten. Der Schmerz war einfach zu groß! So häufte sich mit der Zeit ein Defizit nach dem anderen zu einem großen Informationsdefizit bei den „Jungen“ an!
So manchen Memelländer erstaunt jetzt jedoch, dass vor allem viele der Enkelgeneration wieder nach der Herkunft ihrer Vorfahren fragen. Wem können diese mehr glauben und vertrauen als uns, ihren memelländischen Eltern und Großeltern? Jetzt nehmen wir uns oft die erforderliche Zeit, ihnen über unsere verlorene Heimat zu berichten. Vielfach bleibt es auch nicht dabei! Unsere Enkel reisen - oftmals in unserer Begleitung! - sogar in unsere jetzt zugängliche frühere Heimat, ins Memelland! Und sie sind meist angetan von dem, was sie dort sehen oder erleben. Oft schließen sie mit den Jetzigen Freundschaften und schreiben einander Briefe. Manche erlernen sogar die Muttersprache des anderen, um sich noch besser auszutauschen. Eine bewundernswerte Entwicklung!
Wichtig ist jetzt vor allem: Das Kulturgut unserer früheren Heimat darf nicht verloren gehen. Das muss vielmehr weiter gehegt und gepflegt werden! Viel ist doch schon verloren gegangen - viele meinen: zu viel! Wie sollen unsere Kinder die Probleme der Zukunft lösen, wenn sie nicht einmal ihre eigene Geschichte kennen? Aber bitte: Objektive Geschichte, keine Geschichtsklitterung!
Vieles ist schon auf diesem Gebiet getan und erreicht worden! Vieles bleibt aber noch zu tun! Die jungen Menschen wollen und brauchen etwas anderes als die „Alten“. Vor allem wollen sie frei selbst entscheiden, was sie wollen und was nicht! Das, was die Erlebnisgeneration - zu Recht - satzungsgemäß für sich festgeschrieben hat - insbesondere den Zweck und die Ziele ihrer Heimatorganisation -, kann für die „Jungen“ heute längst nicht mehr als „verpflichtend“ angesehen werden. Unsere memelländische Tradition kann ihnen - so bedauerlich, aber erklärlich das auch ist - nur noch nebenbei vermittelt werden. Anderes ist ihnen wichtiger!
Gerade hier sollte der immer noch vorhandene Pioniergeist der Memelländer tragfähige, solide, zukunftsgerichtete Brücken schlagen können! Ich bin sicher, die jungen Menschen werden sie vorbehaltslos und dankbar benutzen.
Jedes Ende hat einen neuen Anfang
Der Memeler Hochflieger schien mit der Flucht aus Memel im Jahre 1945 vor seinem Aus zu stehen. Doch es ist anders gekommen. Gott sei Dank! In unerwarteter Weise haben er und sein Traditionsverein sich als erstaunlich lebenstüchtig erwiesen. Ein Stück Heimat konnte so in eine neue Umgebung hinübergerettet werden.
Die Fast-Katastrophe ist da Am 26. Januar 1945 krachte es fürchterlich auf den Karton, in den 23 Memeler Hochflieger hineingepfercht worden waren. Von Richard Krosien senior, der seit der Evakuierung seiner Nachkommen im Juli 1944 alle Memeler Hochflieger seines seit 1941 an der Ostfront stationierten Sohnes Richard hütete und versorgte. Die Tiere waren der ganze Stolz einer langjährigen Zucht: hübsch, rassig, fit, einmalig!
Dann kam „der Russe" näher und näher - und auch für die paar Tauben war der letzte Tag in der angestammten Heimat angebrochen. Mit fachkundigem Auge wurden die Besten unter den Guten ausgesucht und ohne viel Federlesen in den Pappkarton gesteckt. Für die vielen anderen Tauben öffnete sich für dauernd die Ausflugklappe des vertrauten Taubenschlages - und ab ging`s mit denen in den kalten Memeler Himmel! Wer weiß wohin? Ein Abschied für immer?
Das Schicksal ist gnädig Und nun hatte es hier unheilvoll gekracht! Eine schwere Munitionskiste war auf einem der wohl letzten deutschen Munitionsdampfer mit Flüchtlingen aus Memel auf den Karton herniedergesaust. 14 Tiere waren sofort tot, andere starben an ihren Verletzungen oder an Entkräftung während der langen, beschwerlichen Fahrt. Ganze neun Tauben erreichten das rettende Ziel, Schleswig-Holstein. Deren Unglück hatte jedoch noch kein Ende. Ratten töteten weitere zwei Tiere, so dass schließlich nur sieben Tauben von ursprünglich 23 übrig blieben.
Aber was für welche! Sozusagen die Stammeltern einer altehrwürdigen Tümmlerrasse im 1945 darniederliegenden, hungernden und frierenden westlichen Teil Deutschlands. Dies, nachdem der zu seiner Familie nach Bremervörde in Niedersachsen verschlagene Sohn des Richard Krosien senior nach langer Odyssee die Memeler Hochflieger in seine Obhut genommen hatte. Er holte nämlich seinen alten, kranken Vater und die Tauben kurzerhand aus deren Elendsquartier in Kollmar an der Elbe zu sich in die niedersächsische Kleinstadt. Der Junior machte sich sogleich daran, seinen Lieblingen aus Abfallbrettern und Dachpappe eine einigermaßen passable Unterkunft zu zimmern. Immer nur in engen Kaninchenställen zu hausen - wie zuvor -, war für die Tauben nicht artgerecht und durfte doch kein Dauerzustand bleiben! Dann gingen er und seine Kinder bei den Bauern, die Getreide droschen, und bei den Mühlen der Umgebung Dreschabfälle betteln. Nach den voherigen Entbehrungen war dieses Futter - so karg es auch war - für die Tauben die notwendige Überlebenschance, ja geradezu eine Verwöhnung! Das war eine Gnade bei dem damaligen schweren Los der Tiere.
Der Beginn - ein Wunder Aber mit der Zeit ging es im Lande mit Mensch und Tier wieder aufwärts. Für beide Spezies gab es wieder etwas Richtiges zu beißen. Um die Gesundheit der Tauben bemühte sich liebevoll ein befreundeter Tierarzt - ein wahrer Hüne von Gestalt, mit weichem Herz, mit großen, aber sanften Händen. Und die Tiere bedankten sich bei ihrem „Ziehvater" für all die Mühe mit zahlreichem, strammem Nachwuchs! Denn bald flatterte und gurrte ein buntes, quicklebendiges Völkchen Memeler Hochflieger in der weiträumig ausgelegten Bremervörder Voliere. Einige „Ausreißer" unter den Tieren - zumeist „Neue, Unerfahrene" - wurden von Familienangehörigen in näheren oder ferneren Dörfern wieder „aufgegriffen und eingesperrt", sofern sie nicht vorher von einem hungrigen „Hawke" ( Habicht ) weggeschnappt worden waren.
Die Züchter sammeln sich Richard Krosien junior wollte aber mehr. Er, der schon seit seinem 14. Lebensjahr den Memeler Hochflieger züchtete und in Memel einen guten Namen in Züchterkreisen hatte, „sammelte" in mühevoller Kleinarbeit ihm bekannte Memeler Züchter zusammen, die jetzt - soweit sie geflüchtet waren - verstreut über das ganze westliche Deutschland lebten. Nahezu alle, die er irgendwie erreichen konnte, folgten seinem Ruf nach Bremervörde, wo sie sich - nun in der Fremde - erneut Züchtertreue schworen und den Sitz des 1921 gegründeten „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" bestimmten, und zwar zu der Zeit den Wohnort Richard Krosiens, des ab dann langjährigen Vereinsvorsitzenden, später - bis zu seinem Tode - Ehrenvorsitzenden.
Ein Leben für den Memeler Hochflieger Dieser muss „seine Memeler" so geliebt haben, dass er sogar aussichtsreiche Berufsangebote in anderer Umgebung Deutschlands ausschlug. Er glaubte, dort weniger günstige Lebensbedingungen für seine „Schutzbefohlenen" zu sehen, und nahm so für sich und seine Familie lieber Nachteile in Kauf, als dem Ruf zu folgen. Ja, sogar in Bremervörde selbst „belegte" er Teile seiner Familienwohnung mit gerade geschlüpften Jungtieren. Die brauchten für gutes Gedeihen doch unbedingt ununterbrochen wohlige Wärme! Außerdem musste es mit der Aufzucht schon früh im Jahr losgehen, auch wenn es nachts im Taubenschlag noch ganz schön kalt war! Als er schon dem Tode geweiht war, ließ er sein Krankenbett sogar so aufstellen, dass er seine Lieblinge durch das Fenster hindurch in der Voliere beobachten konnte. Bis zuletzt gab er noch Ratschläge zur weiteren Zucht des Memeler Hochfliegers. Wirklich ein Leben für seine Tauben!
Der Memeler Hochflieger in neuer Heimat Der Memeler Hochflieger gefiel aber nicht nur vielen alten Memelländern! Nein, schon bald verliebten sich auch zahlreiche Menschen aus der „neuen Heimat" in diese Rasse. Sie holten sich geeignete Zuchtpaare von Richard Krosien junior, ließen sich von den „alten Memeler Hasen" in die typischen Merkmale des Memeler Hochfliegers einweisen und züchteten die für sie neue Rasse munter darauf los. Erfolgreich, wie heute guten Gewissens und stolz gesagt werden kann! Denn sowohl hier in Deutschland als auch in verschiedenen anderen europäischen Ländern (z. B. in den nordischen Staaten und in den Niederlanden), ja sogar in Südafrika!! gibt es inzwischen tausendfache Nachkommenschaft des Memeler Hochfliegers. Für den Luftfrachtversand der Tauben nach Südafrika zimmerte Richard Krosien junior eigenhändig!! eine Spezial-Versandkiste: leicht, stabil, genügend geräumig! Diese Versandkiste hätte er sich gut und gern patentieren lassen können! Den Tauben bekam übrigens überall die gegenüber Memel doch recht andersartige Luft gut!
Memelländischer Geist im geteilten Deutschland An dieser Stelle einige Randbemerkungen zur Nachkriegspolitik in Deutschland, einem unerfreulichen Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit. Während hier in der Bundesrepublik Deutschland die memelländische Züchtervereinigung weiterhin ihren traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" fortführen durfte, mussten sich die Züchter des Memeler Hochfliegers in der ehemaligen Sowjetzone und späteren, heute nicht mehr existierenden Deutschen Demokratischen Republik unter der Bezeichnung „SZG Memeler Hochflieger" (SZG bedeutet Spezial-Zucht-Gemeinschaft) betätigen. Trotz dieses Unterschiedes muss heute klar und deutlich gesagt werden: Dort waren die Züchter genau so zielstrebig wie hier! Auch dort waren ehemalige Memelländer am Werk, die wussten, was sie wollten, und die viel von den Memeler Hochfliegern verstehen! Auch politische Knebelung konnte sie nicht daran hindern, diese Rasse wieder hochzupäppeln. Die Verbindungen hinüber und herüber rissen zu keiner Zeit ab.
Fazit: In ganz Restdeutschland ging`s mit dem Memeler Hochflieger beständig aufwärts. Wie sehr, konnte und kann jeder auf den alljährlichen Taubenausstellungen in Ost und West, in Nord und Süd sehen!
Das Gestern heute Was aus den zurückgelassenen „Differts" ( Tauben ) geworden ist, weiß niemand so recht. Kodderig wird`s ihnen aber bestimmt ergangen sein! Wie den Menschen dort, deren Lebensstandard und Wohnverhältnisse jeder Memelländer heute als Besucher seiner früheren Heimat ja selbst sehen kann. Fest steht aber mit Sicherheit: Rasserein gibt es den Memeler Hochflieger dort wohl nicht mehr. Mit anderen Rassen und „Feldflüchtern" werden sich die „Memeler" vermischt haben - wie die Menschen das dort ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Herkunft auch oft getan haben. Das bedeutet ja nichts Schlechtes! Wo die Liebe gerade hinfällt! Jedoch reinrassige Memeler Hochflieger sind`s halt eben nicht mehr!
Aber es gibt im heutigen Litauen auch litauische Taubenzüchter, die von fern hinter die Merkmale der memelländischen Rasse zu kommen bemüht sind. Viele Fragen - viele Antworten! Viele Bitten - viele Hilfen zur Selbsthilfe! Nur - die Tradition ist schwer an fremde, anders denkende Menschen zu vermitteln. So etwas muss eigentlich wachsen, so wie das bei den Memeler Züchtern seit langem der Fall ist. Dennoch herrscht Freude darüber, dass Menschen anderer Zunge und Herkunft im Memelland Interesse an dem Memeler Hochflieger zeigen.
Der traditionelle Zuchtverein lebt weiter Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland haben sich die beiden - aus rein politischen Gründen - getrennten Taubenvereine des Memeler Hochfliegers ab 1991 wieder unter ihrem traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" zusammengeschlossen. Eine der ersten Aufgaben des neuen/alten Klubs war die Erstellung eines zeitgemäßen, einheitlichen Standards für diese Rasse. Im Laufe der unnatürlichen, politischen Teilung Deutschlands hatte sich doch so einiges auseinanderentwickelt. Jetzt liegt eine moderne Musterbeschreibung für den Memeler Hochflieger vor. Der Verein hat praktikable Bestimmungen für seinen Vorstand, für die Finanzen und für die Ehrungen verdienter Mitglieder erarbeitet. Und die Tauben - die eigentliche Seele im Leben der Züchter dieser Rasse - können wieder „hoch fliegen", denn auch der Hochflugsport wurde in einer zeitgemäßen Hochflugordnung geregelt. Schon heute - und bald hoffentlich viel öfter - werden Menschen in vielen Gegenden Deutschlands und der Welt ihren Blick himmelwärts richten, um die hoch oben ihre Kreise ziehenden Memeler Hochflieger zu beobachten. Das war im Memelland an vielen Tagen - vor allem an den Wochenenden - so. Und so wird es wieder sein!
Summasummarum: Alles beste Voraussetzungen für eine gedeihliche Zukunft des Memeler Hochfliegers - in der neuen Heimat!
Die Zukunft hat schon begonnen 1996 hatte der „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" seinen 75. Geburtstag. Ja, so lange ist diese Taubenrasse schon organisiert! Das ist doch was! Beim 100. Geburtstag gibt`s auf jeden Fall den vorerst absoluten Höhepunkt in dessen Vereinsgeschichte! Das wird ein Fest werden! Dann sollen weitere - hoffentlich friedlichere - 100 Jahre für den Memeler Hochflieger anbrechen. Auf jeden Fall: Der Name „Memeler Hochflieger" wird zu jeder Zeit und überall, wo diese Rasse gezüchtet oder gezeigt wird, Zeugnis davon ablegen, wo die Stammheimat dieser Tauben gewesen ist. Mancher wird möglicherweise so veranlasst, in einen Atlas oder in ein Lexikon zu schauen, weil er nichts mehr von einem Memel gehört hat, das ja ab 1945 Klaipeda heißt.
Hunger tut weh
Wie angewurzelt steht er frierend da, der Blondschopf, der Memeler Bowke, von zehn Jahren, in der abgerissenen Joppe, in der kurzen Hose, in den langen braunen Zellwollestrümpfen, die an groben schwarzen Gummistrippen hängen, in den rauhen, knöchelhohen Schnürschuhen, die bis oben hin im Schnee stecken. Auf einer leichten Anhöhe im verschneiten Pommern, Februar 1945.
Die Augen des Jungen haben lange, lange Zeit nordwärts zum Horizont gestiert und sind bei Unverständnis ausdrückendem Kopfschütteln langsam herangewandert bis zum Fuß der Anhöhe: Eine lange, grau-grüne Schlange wälzt sich von fern her unaufhaltsam auf seinen Standort zu. Menschenleiber auf Füßen in grauen, braunen, grünen, dreckigen, zerlumpten Militärmänteln oder Uniformen, in Mützen oder barhäuptig, in Pelzkappen mit rotem Stern - sowjetische Kriegsgefangene - hohlwangig, stoppelig, tiefäugig, stolpernd, matt ... in das riesige Tor einer windigen Scheune ein- und zusammenfallend, nachdrängend, nicht enden wollend ... Dann doch Schluss! Tor zu, Wachen mit Gewehr davor!
"Das gibt`s doch gar nicht! So viele Menschen in einer Scheune! Das musst du aus der Nähe sehen!", denkt der Junge. Schon verschwindet der Blondschopf in den angrenzenden Kuhstall. Rasch ist ein loses Brett zur Seite geschoben, und der Kopf wird durchgesteckt. Er erstarrt fast! Keinen Zoll weit entfernt: Lebende Menschen überall, Gestöhne, Ächzen, Keuchen, mattes, gequältes Schnaufen, Strohrascheln, gedämpftes Gemurmel, Husten, dampfender Atem, Gestank! Eine Augenmeute jenseits der Bretterwand erfasst den Blondschopf - bannt ihn starrend! Stimmen, Wortbrocken reißen ihn aus seinem Bann: "Du gutt, chaben grosses Chunger, du geben Essen, Brott, Kartoschki, schnell, schnell!" Kreisende Hand- und Armbewegungen um Mund- und Magenbereich unterstreichen eindringlich die Not und die Eilbedürftigkeit - den Hunger in Menschengestalt!
Der Blondschopf fährt entsetzt und erschreckt zurück durch die Bretterwand in den Kuhstall. "Was machen? Du hast doch selbst nichts, was du geben könntest. Aber geschehen muss etwas!" Die Augen des Knaben wandern dabei den Gang des Kuhstalls entlang. Beide Seiten säumen in langer Reihe satte, wiederkäuende Rinder. Nach einigen Metern der Suche machen die Augen Halt - an einem ansehnlichen Haufen Steckrüben, für die Abendfütterung der Tiere bereitgelegt. Das ist die Lösung! Und schon wandern wieder und wieder jeweils zwei dicke Steckrüben durch die Bretteröffnung, von Fäusten gierig in die Scheune gerissen... Bald ist der ganze Steckrübenhaufen verschwunden. Jenseits der Bretterwand ertönt Schneide-, Brech- und Kaugeräusch, zufriedenes Grunzen. Eine rauhe Hand langt durch die Bretterlücke und streicht flüchtig über den erhitzten Blondschopf...
Gut zwei Monate später in Niedersachsen: Zerlumpt, verwildert und ausgehungert lungert derselbe Blondschopf mit einer Meute ebensolcher Altersgenossen am Rande eines baumumstandenen Platzes. Ein Konvoi schottischer Kampftruppen bezieht hier soeben Ruheposition. Hungrige Augen suchen nach einer Gelegenheit irgendetwas Essbares mit einem raschen Zugriff zu ergattern. Der Zwischenraum zwischen der Meute und dem möglicherweise lohnenswerten Objekt ist so bemessen, dass eine rasche Flucht mit einer Beute aussichtsreich erscheint. "Platsch" macht es plötzlich mitten unter den Knirpsen. Die weichen blitzartig ein, zwei Schritte nach hinten zurück. Vom nächsten Kraftwagen ist in dem überraschten Halbkreis ein langer, schlaksiger, dunkler Lockenkopf in Khaki-Uniform gelandet und in die Hocke gegangen. Zwei zusammengekniffene dunkle Augen wandern in Gesichtshöhe der angespannt Herumlungernden in die Runde. "You are hungry? Damned bloody war! Come on!" Eine winkende Armbewegung bedeutet: "Keine Gefahr!" Die Plane des Lastwagens fliegt beiseite, die hintere Klappe fällt. Ein Haufen kleiner, dreckiger Kinderhände greift wieder und wieder nach Päckchen, Dosen, Beuteln. Schon lagert eine kauende, schmatzende Runde um einen langen, schlaksigen, dunkeläugigen Lockenkopf in Khaki-Uniform. Und schluckt, was zu schlucken da ist. Nach langer Zeit wieder etwas Richtiges zu essen zu haben, satt zu sein! Das ist in der nächsten Zeit immer wieder so - eine glückliche Zeit! Auf dem Lagerplatz gibt es seitdem wieder viele glückliche Kinderaugen. Und kein anderer Khaki-Soldat geht in sauberer Uniform, mit schärferer Bügelfalte, mit leuchtenderem Hemd und in glänzenderen Stiefeln daher als der Lockenkopf! Dafür sorgen die Mutter des Blondschopfs und die Mütter aller anderen Knirpse.
Viele, viele Jahre sind seitdem vergangen. Was mag aus den sowjetischen Kriegsgefangenen, was aus dem Khaki-Soldaten geworden sein? Aus Knaben von damals sind jedenfalls alte Männer geworden. Die Zeiten haben sich gebessert. Viele sind heute satt, zu viele aber immer noch hungrig. Und Hunger tut weh! Wie wenig vermag da oft viel zu erreichen!
- Reise in die neue Heimat
- Reise ohne Wiederkehr
- Zwischenstation
- Jedes Ende hat einen Anfang
- Jedes Ende hat einen neuen Anfang
- Hunger tut weh
- Auge um Auge
- Autos in Memel
- Der Memeler Bahnhof
- Der Dorfschulmeister
- Lufthoheit
- Selbst ist der Mann
- Vogti (oder stehlen)
- Die Vizewirtin
Kindergeschichten
- Drachensteigen in Schmelz
- Borgen
- Glück und Unglück
- Selbstversorgung ist Trumpf
- Taubensonntag in Memel-Schmelz
- Hühnerhypnose
- Warten auf Weihnachten
- Weihnachtszeit in der Heimat
- Familien-Krankenstation
- Kindergartenfreuden
- Singender Strand
- Unser Kirschgarten
- Eigenklau
- Kinderostern auf Schmelz
- Kinderwinter
- Kur mit Natur
- Die Tasche
- Erziehung à la Schmelz
- Das Kinderparadies
- Die teuflische Runde 13
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- Adebare im Memelland
- Fischzug mit Schlubberche
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- Gichtmedizinische Sonnenbank
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- Feiern mit Oma
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- Hundstage
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- Unsere Pestalozzischule
- Jungfernvögel
- Miss Streichholzbein
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- Sammeln
- Strafe muss sein
- Unvergessliches Erlebnis