Handbuch der praktischen Genealogie/373

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Handbuch der praktischen Genealogie
Inhalt
Band 2
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hat. Deshalb stellt die Familie begrifflich in verschiedenen Zeiten eine verschiedene Größe dar: das Wort, übrigens erst seit etwa 1700 in der jetzigen Bedeutung im Gebrauch, bezeichnet lediglich formal die engste auf natürlicher Grundlage beruhende Gemeinschaft, der eine Person angehört, und erhält je nach der Zeit, dem Volk und der Gesellschaftsschicht, von der die Rede ist, einen anderen Inhalt. Den Verlauf dieser Wandlungen zu bestimmen und für jedes Einzelwesen die seiner Zeit und gesellschaftlichen Lage nach sich ändernde Bedeutung der Familie kennen zu lehren, das ist eins der letzten Ziele der wissenschaftlichen Genealogie.

      Von deren Vorhandensein scheinen allerdings die Soziologen ebenso wie die Vertreter mancher anderen Wissenschaften zurzeit noch nichts zu wissen[1]. Deshalb darf es uns kaum wundern, wenn auch die systematischen soziologischen Werke von Tönnies, Simmel, Gumplowicz und Eleutheropulos, um von den älteren ganz zu geschweigen, die Genealogie völlig unbeachtet lassen und jede Auseinandersetzung mit ihr vermeiden. So läßt z. B. eine Äußerung Simmels[2] über die Erbmonarchie und der anschließende Exkurs über das Erbamt überhaupt erkennen, daß dem Verfasser die genealogische Betrachtungsweise völlig fremd geblieben ist[3].

Genealogie und Soziologie.      Im Gegensatz zu den Soziologen von Fach, die selbst lange um Anerkennung ihres Forschungszweiges als einer selbständigen Wissenschaft haben ringen müssen[4], wird hier die Anschauung vertreten, daß die Genealogie eine auf eigenen Füßen stehende Sozialwissenschaft ist, gerade so wie die Lehre vom Recht und der Volkswirtschaft. Als solche ist sie ihre eigenen Wege gegangen und hat ihre eigene Arbeitsmethode entwickelt. Wie oben gesagt, betrachten wir es als die Aufgabe der Genealogie, die biologischen Bedingungen für das organisierte Zusammensein der Menschen zu erforschen. Trifft dies zu, dann tritt sie in Parallele zu derjenigen Wissenschaft, die sich die Erörterung der psychologischen Bedingungen dieses Zusammenseins zum Ziele setzt, und das ist die Sozialwissenschaft im engeren Sinne oder die Soziologie.

      Die Unterscheidung zwischen Sozialwissenschaft im engeren und weiteren Sinne ist unerläßlich, und ihre Vernachlässigung trägt die Schuld daran, wenn die Ausführungen von Eleutheropulos[5] über die Stellung der Soziologie im System der Wissenschaften den Leser so wenig befriedigen. So begreiflich es ist, wenn bei einer jungen Wissenschaft zunächst die Worte einen etwas fließenden Inhalt haben, wenn jeder Forscher die Begriffe, die


  1. Selbst die seit 1898 erscheinende und im ganzen umsichtig geleitete „Zeitschrift für Sozialwissenschaft" hat nur verschwindend wenige genealogische Bücher einer Anzeige gewürdigt und ist sogar an dem Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie von Ottokar Lorenz (Berlin 1898) achtlos vorübergegangen.
  2. Soziologie (1908), S. 514.
  3. Die entsprechenden Ausführungen bei Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, 2. Aufl. (1896), Bd. I, S. 77-78, stehen dem genealogischen Denken wesentlich näher.
  4. Vgl. darüber Žižek: Soziologie und Statistik (München und Leipzig 1912), S. 20.
  5. A.a.O. S.7-11.