Handbuch der praktischen Genealogie/372

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Handbuch der praktischen Genealogie
Inhalt
Band 2
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Gruppen“ gibt. Diese Erkenntnis ist aber ziemlich jung, da nach Bluntschli und Tönnies „der ganze Begriff der Gesellschaft im sozialen und politischen Sinn... seine natürliche Grundlage in den Sitten und Anschauungen des dritten Standes“ findet[1]. Deshalb ist die Lehre von den Gesellschaftsformen als gesonderte Wissenschaft ein Geschenk des 19. Jahrh.; der Franzose Auguste Comte (gest. 1857) hat sie ausgebildet, wenn er auch manche ältere Gedanken verwerten konnte. Begreiflicherweise hängen die Erörterungen über den Begriff der Gesellschaft aufs engste mit der Ausbildung der Wissenschaft von ihr zusammen, und wenn die Soziologie als die „Wissenschaft von den Wechselbeziehungen der Menschen“[2], als "Wissenschaft von dem organisierten Zusammensein der Menschen"[3] oder als „Wissenschaft der menschlichen Wechselbeziehungen“[4] hingestellt wird, so ist damit zugleich im allgemeinen ausgedrückt, worin die betreffenden Forscher, in der Hauptsache übereinstimmend, das Wesen der Gesellschaft erblicken. Ist auch der abstrakte Begriff der Gesellschaft in deutlicher Unterscheidung vom Begriff „Staat“ und nicht minder von bestimmten gesellschaftlichen Gebilden noch nicht ein Jahrhundert alt, so gibt es doch seit wesentlich längerer Zeit Wissenschaften, die sich mit bestimmten Äußerungen gesellschaftlichen Zusammenseins beschäftigen, und deshalb redet die moderne Systematik der Wissenschaften mit Recht von mehreren Sozialwissenschaften, deren jede eine andere Gruppe menschlicher Wechselbeziehungen zum Forschungsgegenstande hat Staats- und Rechtslehre, Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Statistik sind die bekanntesten und zugleich diejenigen, die am besten durchgearbeitet sind.

      Ob es bereits jemand versucht hat, durch planmäßige Gruppierung der einschlägigen Disziplinen die Gesamtheit der Sozialwissenschaften in ein System zu bringen und auf diesem Wege erschöpfend alle Arten von Wechselbeziehungen unter den Menschen darzustellen, weiß ich nicht. Aber wer sich dieser Aufgabe unterzöge, der müßte unweigerlich auch die Genealogie, die Wissenschaft von der Familie, unter den Sozialwissenschaften aufführen. Eine solche ist die Genealogie, weil sie uns Aufschluß gibt über die biologischen Bedingungen für das organisierte Zusammensein der Menschen, weil sie das Wesen, den Aufbau der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, erläutert und damit den Rahmen kennen lehrt, in dem sich die ersten und für den Einzelmenschen auf die Dauer wichtigsten psychischen Wechselwirkungen vollziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich das Wesen der Familie auch in geschichtlicher Zeit gerade so wie das jeder anderen gesellschaftlichen Bildung seinem Inhalt nach stark gewandelt


  1. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2. Aufl. (Berlin 1912), S. 5.
  2. Gothein im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften". Dritte Auflage, Bd. 4 (1909), S. 706.
  3. Eleutheropulos, Soziologie, 2. Aufl. (Jena 1908), S. 7/8.
  4. So Ratzenhofer in seinen bei Ludwig Gumplowicz, Grundriß der Soziologie, 2. Aufl. (Wien 1905), S. 90 mitgeteilten Ausführungen.