Chronik der Schotten-Crainfelder Familie Spamer/051
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Chronik der Schotten-Crainfelder Familie Spamer | |
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begann der Biograph Ritschels zu reden, den man von unserem Platze, da das gänzlich eingehüllte große Monument zwischen uns und dem Rednerstuhl stand, gar nicht sehen und fast ebenso wenig hören konnte. Ihm folgte mein alter Freund Keim, der Präsident des Vereins, mit einer langen Rede, der einigemal mit dem Rufe „Schluß“ unterbrochen ward, und antwortete: „Ich lasse mir nicht vorschreiben!“ Mit dem Schlusse seiner Rede sank, wie mit einem Schlage, die Umhüllung und das Reformationsdenkmal, das auf Erden nicht seines gleichen hat, stand im brennenden Sonnenglanze vor den erstaunten Augen vieler Tausenden, die in enthusiastischen, anhaltenden Jubel und Bravos ausbrachen, die von Böllersalven begleitet wurden. Und als in diesem feierlichsten Momente der vieltausendstimmige, aus voller Brust und Begeisterung gesungene Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ pp. alle Blasinstrumente unhörbar machte, da sah man in vielen, auch in meinen Augen Freudenthränen glänzen, und eine ansteckende, nie wiederkehrende Exaltation bemächtigte sich der ganzen Versammlung. Nach dieser Culmination des Gefühls mochte ich die nachfolgenden Reden des Prälats Zimmermann und Bürgermeister von Worms, der katholisch ist, aber Luthers Verdienste öffentlich anerkannte, nicht mehr hören, und begab mich, Hörens satt, in die Halle um meinen leiblichen Durst zu löschen. Zwar kam Dr. Beck, der als Mitglied des Darmstädter Singvereins in meiner Nähe war, auf der Tribüne zu mir und ließ mich einen kräftigen Zug aus seinem Weinfläschchen thun; aber dieser Schluck konnte doch nicht lange vorhalten, bei dieser enormen Hitze, auch nicht bei ausgespanntem Regenschirm. Das Essen um 3 Uhr hätte nach dem Gelde besser, der Wein kühler, die Kellnerinnen, deren an jedem Tische drei waren, erfahrener sein sollen. Eine stellte z. B. 3 Schüsselchen mit Caviar vor mich hin. Da sagte ich: Gutes Kind, das ist mir zu viel, vertheilen Sie doch diese Schüsselchen auf der ganzen Tafel. Sie dankte für die Zurechtweisung. Später tranken wir Liebfrauenmilch und Kattenlöcher, der zwar besser, aber nicht vom besten war. Nach Keim suchte ich vergebens, er war nicht in der Halle, vielleicht krank vor Aufregung oder Aerger. Um Mitternacht wanderten wir nach unserem Quartier. Am 26. nahmen wir nach dem Kaffee dankbaren Abschied von unseren freundlichen Wirthsleuten, und hörten um 7½ Uhr auf dem Festplatze die Predigt des Hauptpastors Baur von Hamburg über Ephes. 2, 19—22, unstreitig die Krone sämmtlicher Festpredigten, die aus warmem Herzen und heiligem Geiste entsprang, allgemein verständlich und mit dem bekannten Feuer des Redners vorgetragen, in alle Herzen Licht und Wärme ergoß. Dr. Beck sagte zu mir: „Ich mache mir sonst gerade nicht so viel aus Predigten; aber vor dieser habe ich allen möglichen Respect!“ „Nun Freundchen“, sagte ich, „gehen Sie doch zuweilen in die Kirche, um Aehnliches zu hören!“ Er schüttelte ungläubig lächelnd das Haupt, nahm mich am Arme und eilte mit mir zur Probe des Oratoriums „Paulus“. Kaum gelang es uns, noch in die Kirche einzudringen. In der Kirche nahm ich eine Eintrittskarte à 30 Kr. Die 10 Singvereine, 350 Sänger und Sängerinnen, mit Musikbegleitung unter Lachners Direction machten einen überwältigenden Eindruck auf Ohr und Gemüth. Vorzüglich gefiel mir die Solistin von Mannheim und der Solist Hill. Jene durch die Flötenstimme, die sie bis zur äußersten Höhe und dem stärksten Fortissimo anschwellen und bis zum kaum hörbaren Pianissimo dämpfen und hinsterben lassen konnte, dieser durch seinen klaren markigen Baß, bei dem man jedes Wort verstand. Trotz allem Gefallen ging ich, ehe die Probe zu Ende war, mit Koch aus der Kirche um das Denkmal ungestört zu betrachten. Mündlich und schriftlich sollt Ihr nähere Beschreibung desselben von mir erhalten, wann ich zu Euch komme. Jetzt nur Folgendes: Das Ganze macht einen so großartigen, imposanten Eindruck auf den Beschauer, den dieser weder mit Worten wiedergeben, noch der bloße Leser empfangen kann; er ist über jede Beschreibung und Vorstellung erhaben und unvergeßlich. Unglaublich ist's, daß die Kunst die verschiedenen Gemüthsbewegungen so charakteristisch, sprechend und lebendig in starres Erz gießen kann, wie man hier mit Augen sieht.