Interpretation baltischer Familiennamen
Eine besondere Gemengelage
Ostpreußische Familiennamen entstanden spät, denn in den Türkensteuerlisten von 1540 kam man noch weitgehend mit Vornamen aus. Es finden sich außer einigen alten Namen meist nur Berufsbezeichnungen und Spitznamen zur Unterscheidung.
Zur Zeit scheint es eine Mode zu geben, Namen des nördlichen Ostpreußen ausschließlich hochlitauisch abzuleiten. Dabei findet man hochlitauische Namen eher in der Region Pillkallen-Goldap, wobei man auch da nie sicher sein kann, ob es sich nicht um ursprünglich prußisch-sudauische Namen handelt. Nach dem offiziellen litauischen Schulatlas lag im 13. Jahrhundert Sudauen links der Memel und Litauen rechts der Memel. Für das nordwestliche Ostpreußen, also das Memelland, sind zunächst prußische und nehrungskurisch-lettische, dann niederlitauische (zemaitisch und karschauisch) und mittellitauische und schließlich hochlitauische (aukštaiče) Einflüsse zu beachten. Deutsche Einflüsse spielen auf dem Lande so gut wie gar keine Rolle, außer Pastöre, Dolmetscher und Standesbeamte haben nach Gehör aufgeschrieben und verhunzt.
Erheblich ist im nordwestlichen Ostpreußen der Einfluss szemaitischer Namen, die ihrerseits durch das Altkurische beeinflusst sind und sich deutlich von aukschtaitschen unterscheiden, was wohl am längeren Festhalten an der alten heidnischen Religion liegen mag, im Gegensatz zum polnisch-katholischen Hochlitauen. Zur Zeit als in Ostpreußen Familiennamen entstanden, war die litauische Sprache zugunsten der polnischen nahezu ausgestorben. Sie wurde mit Hilfe der prußischen Sprache quasi rekonstruiert und von Königsberg aus durch das Verteilen gedruckter Bücher in Litauen wieder reanimiert, mit der Folge, dass viele litauische Namen prußische Wurzeln haben.
Ostpreußisch-baltische Namen unterliegen (leicht aus der Geschichte heraus zu verstehen, so man sie denn nicht nachträglich umkrempeln will) einer anderen Dynamik als polnisch-litauische. Im eingangs erwähnten Modetrend wird behauptet „Endungen fallen durch deutschen Einfluss ab“ (-aitis, -eitis wird zu –ait, -eit oder –at). Anders herum ist es zutreffend: Es fällt keine Endung ab sondern es kommt eine hinzu. Der Enkel hängt an die Sohnesendung (-at, -eit, -ait) ein „-is“ an, sobald er einen eigenen Mannesstamm gründet. Man kann also an einem „-ait, -eit, -at“ einen Sohn erkennen und an einem „-aitis, -eitis, -atis“ einen Enkel und findet so zu dem ursprünglichen Stammnamen.
Man sollte sich beim Deuten der Namen des nordwestlichen Ostpreußen vor Schnellschüssen hüten. Wer allein litauisch deutet und wer zudem aukschtaitsch mit szemaitisch gleichsetzt, vergibt viele Chancen. Gerade diese Gemengelage aus prußisch, kurisch, nehrungskurisch, lettisch, szemaitisch, litauisch und deutsch macht die Sache sehr spannend. Monokausales Denken ist bei der ostpreußischen Nameninterpretation wenig hilfreich.
Ein weiteres Phänomen soll hier nicht verschwiegen werden. Für Prußen war es bereits zur Ordenszeit günstiger für das eignene Fortkommen und das seiner Nachkommen, eine deutsche Herkunft vorzugaukeln. Also wurden baltische Namen einfach ins Deutsche übersetzt oder lautsprachlich derart angepasst, dass sie für deutsche Pfarrer (und später Standesbeamte) einen Sinn in deren Sprache machten. Infolge der Rassenpolitik des 3. Reiches änderten Ostpreußen baltischer oder masovischer Herkunft ihre Namen, manchmal als Übersetzung, manchmal willkürlich. So ist bei Ahnenforschern dieser Generation oft das fast ängstliche Bemühen anzutreffen, ihre baltischen oder slawischen Namen zu verleugnen und irgendwie eine deutsche Ableitung zu begründen.
Ortsname - Familienname/ Personenname - Ortsname
Es gibt zwei grundsätzliche Bildungen:
Aus Ortsnamen werden Familiennamen
Diese Namen sind in der Regel älter und weisen teilweise bis in die Steinzeit zurück. Sie beziehen sich auf natürliche Gegebenheiten:
- Lasdehnen/ Laxdenen: Haselnussstrauch (pr. lagzde, laxde, laxte; lit. lazdynas; lett. lagsda), eine wichtige Nahrungsquelle für damalige Menschen
- Lepalothen/ Liebken: Linde
- Berszienen/ Berzischken: Birke
- Purwienen/ Ballethen: Sumpf
- Gudwallen/ Guttstadt: Gebüsch, Buschwald
Als im 16. Jahrhundert Familiennamen zusätzlich zum Vornamen üblich wurden, erhielten alle Einwohner eines Ortes diesen Namen (außer sie hatten inzwischen eine eigene Berufsbezeichnung oder einen eigenen Spitznamen erworben). Es sind also Herkunftsnamen.
Aus Personennamen werden Ortsnamen
Als der Ritterorden die Prußen besiegt hatte und die Landschaft wüst geworden war, wurden zur Rekultivierung Locatoren eingesetzt, die ihrerseits das Land an Bauern unterverteilen mussten. Diese Ortsnamen erkennt man daran, dass sie sich auf die soziale Stellung, den Beruf, das Aussehen oder die Wesensart des Ortsgründers beziehen:
- Packmohren/ Waldaukadel/ Karakehmen: Friedensreiter/ Herrscher/ König
- Kanthen/ Kantweinen/ Getkandten: Musiker
- Margis/ Margen-Peter: sommersprossig
- Megusen/ Miggental: Langschläfer
- Qualiten: dumm, einfältig
Hier erhielten sämtliche Familiennmitglieder, das Gesinde des Clans sowie Zugezogene den Namen des Ortsgründers, selbst wenn sie gar nicht mit ihm blutsverwandt waren.
Betonung
Zweisilbige Namen werden in der Regel auf der zweiten Silbe, also auf der Endung betont:
- Rudat
- Kakys
- Tupat
- Sakuth
- Zwegat
Zweisilbige Namen mit -us/ -is/ -ius/ -io - Endungungen werden auf dem Wortstamm betont:
- Szillis
- Laurus
- Lacknius
- Brozio
Mehrsilbige Namen werden wie im Griechischen auf der drittletzten Silbe betont:
- Nattkischkies
- Lauruschat
- Kukullis
- Kellmischkatis
- Endruweitis
Typische Fehlinterpretationen
In Namenbüchern deutscher Autoren und bei sonstigen unkundigen Interpreten besteht eine allzu bequeme (aber falsche) Neigung einen baltischen Nachnamen einem deutschen Vornamen zuzuordnen. Selbst in Meyers Lexikon findet man Beispiele für Falschdeutungen.
- Aschmies (lett. hinter dem Wald) von Asmus
- Baltrusch (lit. weißes Kaninchen) von Balthasar oder Bartolomäus
- Bender (lit. Teilhaber) von Benedikt
- Dangel (kur. tief eingegraben und sich windend, auch Dreiecksfläche im Flussdelta) von Daniel
- Dawils (balt. Geschenk, Gabe) von David
- Dobrat (pruß. tiefe Stelle im Wald) von Tobias
- Dowidat (sanskrit kundig, gescheit) von David
- Gilge (balt. tief eingegraben) von Aegidius
- Kerstein (pruß. Holzfäller) von Christian
- Klawke (lett. Ahorn) von Klaus
- Korell, Carell (pruß. Bienenzüchter) von Karl oder Cornelius
- Kryszun, Kriszun, Krisch (balt. heidnischer Priester) von Christian
- Kundrat (lit. Färberröte) von Konrad
- Lukies (balt. Teichrose, Lauch) von Lukas
- Mattutat (balt. Landvermesser) von Matthias
- Moraut, Mauritis (pruß. Entenflott, Sumpfwiese) von Moritz, Mauritius
- Tobien (kur. tiefe Stelle) von Tobias
- Stanko (pruß. beengte Wohnlage) von Stanislaus
- Urbat (kur. Kunsthandwerker) von Urban
Ebenso typische Fehlinterpretationen (selbst renommierter Institute) ist die Ableitung von einem Satznamen oder von persönlichen Eigenheiten, wobei stets von deutschen (eventuell noch von slawischen) Begriffen ausgegangen wird und ähnlich klingende baltische Begriffe gar nicht erst in Erwägung gezogen werden. Die Ursache mag darin zu sehen sein, dass es praktisch keine deutsche Universität mehr gibt, die Baltistik unterrichtet, so dass sich fast ausschließlich Germanisten und Slawisten an baltischen Namen versuchen:
- Anhut (pr. der Einsame) von dt. "ohne Hut"
- Arbeiter (pr. pflügen) von dt. Arbeit
- Dickhaut (pr.lit. Dachdecker) von dt. dickhäutig (unsensibel)
- Fleischhut (pr. der Gastliche) von einem dt. Handwerkernamen
- Habedank (pr. hochgewachsen) von dt. "Hab Dank"
- Kahlweiß (pr. Schmied) von dt. helles Aussehen
- Packmor (pr. Friedensreiter) von dt. "Pack am Ohr" (als Synonym für einen Raufbold)
- Rauhut (pr. Heiler) von dt. Kopfbedeckung
- Tolkien (balt. Makler, Übersetzer) von dt. tollkühn
- Trinkaus (pr. verstockt, bockig) von dt. "trink aus" (Säufer)
- Weisgut (pr. tapferer Krieger) von einem dt. Handwerkernamen
- Weißhuhn (pr. Ort, Siedlung) von dt. weißes Huhn
Bibliographie
- FENZLAU, Walter: Die deutschen Formen der litauischen Orts- und Personennamen des Memelgebiets, Halle a.d. Saale 1936. (154 S. In diesem Buch lässt sich eine große Anzahl memelländischer Familiennamen finden, deren Aussprache und Betonung auch in Lautschrift angegeben ist.)
- KARGE, Paul: Die Litauerfrage in Altpreußen in geschichtlicher Beleuchtung, Königsberg 1925
- SALYS, Anton: Die zemaitischen Mundarten, Teil 1: Geschichte des zemaitischen Sprachgebiets Tauta ir Zodis, Bd-VI Kaunas 1930 (= Diss.Leipzig 1930)
- SCHMID, Wolfgang P.: Das Nehrungskurische, ein sprachhistorischer Überblick
- SCHMID, Wolfgang P. (Hrg): Nehrungskurisch, Sprachhistorische und instrumentalphonetische Studien zu einem aussterbenden Dialekt, Stuttgart 1989