Kurische Nehrung
Aussehen
Zu den Naturdenkmälern höchst eigener Art gehört die Kurische Nehrung, die zum größten Teil zum Memelland gehört. Sie ist an manchen Stellen kaum 1/2 km, an anderen bis zu 3 km breit. Dieser Landstreifen wird mit seinen mächtigen Dünen, seiner oft trostlosen Öde und unheimlichen Totenstille wohl auf jeden einen eigentümlichen Eindruck machen (1921). Der Wanderer vermag fast immer auf der einen Seite das unendliche Meer und auf der anderen die meist ruhig daliegende Wasserfläche des Kurischen Haffes zugleich zu sehen. In den weiten Sandflächen kommt er sich oft wie in einer großen Wüste vor, weshalb man auch hier von einer „’’’Sahara des Nordens’’’“ zu reden pflegt.
Entstehung
Durch zahlreiche Bohrungen wurde der Grund und Boden der Nehrung, des Haffes und des gegenüberliegenden Festlandes erforscht. Dadurch konnte die Entstehung der eigentümlich geformten Nehrung geklärt werden. Die sorgfältigen Untersuchungen des Bodens haben ergeben, daß sie in der Nacheiszeit durch Meer- und Süßwasserablagerungen entstanden ist. Aus den Grundmoränen des Inlandeises war zwischen der samländischen Küste und dem Memeler Höhenzug ein niedriger Strandbezirk geschaffen worden. Durch einen mächtigen Einbruch der Ostsee wurde das ganze Gebiet der Kurischen Nehrung, des Haffes und der gesamten Memelniederung unter Wasser gesetzt, und es bildete sich eine weithin ins Festland reichende Ostseebucht. Diese grenzte im Norden und Osten an Memel, Prökuls, Saugen, Heydekrug, Swarren, Rucken, Pogegen, Tilsit und Ragnit, im Süden an Schillgallen, Puskeppeln, Bahnhof Wilhelmsbruch, Mehlauken, Labiau, Steinort, Bledau und Cranz.
Diese Meeresbucht ist an verschiedenen Stellen sehr tief gewesen, in der Niederung 9-11 m, ja bis 24 m. Bei Pillkoppen stellte der Bohrer sogar eine Tiefe von 36,5 m fest. An diesen Stellen lagerte das Meer grobkörnigen Seesand, Strandgeröll und allerlei Muscheln ab. Durch die dauernd erfolgende Zufuhr von Sinkstoffen aus den hier mündenden Flüssen wurde der Boden der Meeresbucht allmählich gehoben. Das geschah durch Süßwasserablagerungen, Haffsande, Haffmergel mit Faulschlamm, in denen Süßwasserschnecken reichlich eingelagert sind. Dazwischen liegen aber auch Seesandablagerungen, die vom Meere aus in die Bucht eingeschwemmt wurden.
Im Norden und Süden des Ostseeufers standen als Festlandseckpfeiler die vorspringende Strandpartie Cranz-Sarkau und anderseits der Memeler Höhenzug zwischen Holländischer Mütze und Memel. Dazwischen lag noch eine Geschiebemergellinse Kunzen-Rossitten. Diese Eckpfeiler und die Insel wirkten auf die Uferströmungen der Ostsee als Hindernisse, an denen sich Sandablagerungen absetzten, und an denen die Strömungen der See und der sich in die Bucht ergießenden Ströme brachen; sie lagerten hier ihre Sinkstoffe ab, die Flüsse die Sand- und Schlickmassen, das Meer den Seesand. So kam es, daß an der Scheide von tiefem Meer und verflachender Meeresbucht eine immer höher und breiter werdende Sandbank entstand, die schließlich die Festlandseckpfeiler und die Kunzen-Rossitten-Insel zu einem zusammenhängenden Landstreifen machte. So sehr viel Material war auch gar nicht nötig, um die schon vorhandene Untiefe entlang der alten Festlandsküste bis zum Wasserspiegel aufzubauen (Pillkoppen 3m, Nidden 15,6 m und Perwelk 7,75m). Der immer von neuem von der See aus angeschüttete Sand wurde trocken und bald als lockerer Flugsand über das schmale Landband getragen und so eine Flugsandebene geschaffen, auf der sich nach dem Festsetzen des Bodens – zunächst vereinzelt – später die ganze Nehrungsplatte einnehmende Pflanzenwelt zeigte. Endlich deckte ein dichter Urwald die ganze Nehrung zu, und dieser muß viele Jahrtausende hindurch bestanden haben. Nadelschutt und dichtes Heidekraut schufen allmählich eine tiefschwarze Rohhumin- und Trockentorfschicht. Die Sande wurden häufig durch die Huminsäuren gebleicht und zum harten „Ortstein“ zusammengekittet. Diesen alten Waldboden kann man bei jeder Bohrung auf der Nehrung feststellen.
Wanderdünen
In früheren Zeiten war die Nehrung viel mehr bewaldet als heute (1921). Der deutsche Ritterorden und auch die Eingeborenen haben große Bestände der ehemals prächtigen Wälder abgeholzt. Vor allen Dingen aber sind durch die Russen weite Strecken der Nehrungswälder im 18. Jahrhundert vernichtet worden. Ihrer Kriegsführung entsprechend zündeten sie die Wälder – oft aus reinem Übermut – an, oder versuchten, aus dem Nadelholze Teer zu schwelen. Diese Behandlung ist der Nehrung zum größten Verderben geworden und hat die eigentlichen Wanderdünen entstehen lassen.
Nachdem der Seestrand seine schützenden Bäume verloren hatte, vermochte der Sturm den Sandboden aufzuwühlen und ihn mit neuem, trocken gewordenen Seestrande fortzutragen. Dadurch kamen auch die noch stehen gebliebenden Wälder in Gefahr. Die Bäume vermochten dem fortwährenden Anprall des scharfen Sandes nicht standzuhalten; sie starben ab oder wurden verschüttet. So boten sich dem Winde immer größere Angriffsflächen, und er konnte das leicht bewegliche Material immer weiter und weiter tragen. Diese Winde wehen meistens aus dem Westen oder Nordwesten und arten sehr oft in gewaltige Wirbelwinde aus, die mit dem feinen Sande ein gar tückisches Spiel treiben. „Die Düne raucht“, sagt der Nehrungsbewohner; denn wie auf einem Schneefelde treiben die losen Sandkörner den Abhang der Düne hinauf, bis sie an der höchsten Stelle den Sandwall überfliegen und im „Windschatten“ zur Ruhe kommen. So bewegt sich die Düne unaufhaltsam vorwärts, sie „wandert“, jährlich etwa 5-10 m, bis sie sich schließlich im Haff „ersäuft“.
Auf ihrem Wege werden Dörfer, Wälder, Friedhöfe u.a.m. unbarmherzig verschüttet, um nach vielen, vielen Jahren, nachdem die Düne darüber hinweggeschritten ist, wieder freigegeben zu werden, so den Pestkirchhof bei Nidden.
Nachdem man dieses unheilvolle Vorwärtsdringen der Dünen erkannt hatte, ging man daran, ihm Einhalt zu tun. Zunächst galt es, den frisch ausgeworfenen Sand festzuhalten. Dazu errichtete man Reisigzäune. Den durch sie aufgehaltenen Sand bepflanzte man nach einiger Zeit mit Sandgräsern (Strandhafer, Strandroggen, Sandrohr). Eigentümlich ist es, daß die Pflanzen nicht durch die allmählich höher werdende Sandschicht ersticken; sie wachsen vielmehr mit, ja, sie verkümmern geradezu, wenn die Sandzufuhr aufhört. Sie halten so den Sand auf; der Sandwall wird immer höher und höher: Es ist eine „Vordüne“ entstanden. Der neue, aus der See stammende Sand wird durch diese Vordüne im Wesentlichen aufgehalten und treibt nur in geringen Mengen über sie hinweg; er sammelt sich an kleineren und größeren Hügeln hinter ihr, in dem sogenannten Kupstengebiet. Die Vordüne ist also äußerst wichtig und muß deshalb sehr gepflegt und auch geschont werden.
Schwieriger ist die Befestigung der schon bestehenden Wanderdünen. Hier wird der Dünenboden zuerst durch Strauchwerk und Sandhafer festgehalten, und es werden zunächst größere, dann kleinere Quadrate abgesteckt. Diese Flächen werden mit Lehm, Moorerde und Baggerschlick angefüllt und dann mit 2-3 jährigen Kiefern bepflanzt. Dazu ist am besten die Bergkiefer geeignet. Das Aufforsten ist eine sehr schwierige Arbeit. Aber dennoch ist es gelungen, den Dünenzug zwischen Süderspitze und dem Schwarzorter Wald, Dünen bei Preil und Perwelk und den Urbokalns und Anguikalns bei Nidden zu befestigen.
Quelle:MEYER, Richard: Heimatkunde des Memelgebiets, Memel 1922, S.8-10, 14-18.