Willschicken

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Hierarchie

Regional > Historisches Territorium > Deutschland 1871-1918 > Königreich Preußen > Ostpreußen > Landkreis Insterburg > Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) > Willschicken

Ort Wilkental (Willschicken) Ksp. Aulenbach 1939


Ortsnamen

Am 16.07.1938 umbenannt in Gemeinde Wilkental / Ostp. .

  • deutsche Ortsbezeichnung (Stand 1.9.1939): Gemeinde Wilkental
  • vorletzte deutsche Ortsbezeichnung (vor der Umbenennung 1938) : Willschicken
  • weitere (alte) Ortsnamen : Wilpischen , Wilschicken


Willschicken, litauisch wilszikei = Schimpfname; Wilpischen, litauisch wilpiszys = die wilde Katze.


Der Ort existiert heute nicht mehr.

Ortsinformationen

Willschicken

Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen,

Typ  : Alter Siedlungsort

Provinz  : Ostpreußen
Regierungsbezirk  : Gumbinnen
Landkreis  : Insterburg [2]
Amtsbezirk  : Franzdorf [3]
Gemeinde  : Wilkental (ab 16.7.1938)
Kirchspiel  : Aulenbach (Aulowönen) Ostp.

im/in  : südlich der Ossa
bei  : ca. 22 km nördl. v. Insterburg, ca. 3 km östlich von Aulenbach

GPS-Daten  : N 54° 48′ 23″ (Breite) - O 21° 49′ 21″ (Länge)
GOV-Kennung  : WILTALKO04VT [4]
Messtischblatt  : 1196 (11096) [5]
Messtischblatt Jahr : 1939


Wirtschaft

1932
PT Aulowönen, E Grünheide 5 km;

  • Abbau Wilhelm Grigull, 60ha, davon 42 Acker,, 15 Weiden, 2,5 Hofstelle, 0,5 Wasser - 10 Pferde, 30 Rinder - davon 12 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine, Telefon Aulowönen 64 [1]
  • Abbau Sieloff, 43 ha, davon 30 Acker, 2 Wiesen, 10 Weiden, 1 Hofstelle; 8 Pferde, 24 Rinder - davon 10 Kühe, 10 Schweine, Telefon Aulowönen 67 [1]


Geschichte

Willschicken

Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen

1678 wird ein Waldwart genannt; [2] 1719 heiratet Christoph Pirage. [2] 1785 Wilschicken oder Wilpischen, Chatouldorf, 15 Feuerstellen, Landrätlicher Kreis Tapiau, Amt Lappönen. Patron der König; [2] 1815 Chatouldorf, 4 Feuerstellen, 85 Bewohner, bis 30.4.1815 zum Königsberger Departement gehörig, dann zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen. [2]

Amtliche Zählung: (Siehe auch die GenWiki Voreinstellungen am Artikel-Ende von Willschicken)

Wohngebäude 20 (1871) [2] 28 (1905) [2] 25 (1925) [2]

Haushalte 30 (1871) [2] 32 (1905) [2] 31 (1925) [2]

Einwohner 134 (1867) [2] 154 (1871) davon 77 männlich[2] 150 (1905) davon 75 männlich [2] 146 (1925) davon 66 männlich[2] 127 (1933) [3]

1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabeten, 5 ortsabwesend. [2] 1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben Deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]

1925 alle evangelisch, [2]

Ortsgrundfläche:

Im Jahr 1905: 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]


Quellen:

[1] Niekammers Güteradressbuch 19321

[2] Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970

[3] Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A."



Es folgt der Text "Soldatengrab"


Soldatengrab in Willschicken von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies

Vater Ferdinand Tuttlies und Mutter geb. Berta Burba haben 1902 in Willschicken geheiratet.

Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf erwähnt und lag in Preußisch-Litauen im Regierungsbezirk Gumbinnen, Landkreis Insterburg, im Kirchspiel Aulowönen in Ostpreußen.

1939 leben in Willschicken 127 Einwohner in 35 Haushalten auf 22 Höfen, davon sind 12 Einwohner unter 6 Jahren, 102 zwischen 14-65 Jahren und 23 Personen über 65 Jahren alt. Es werden folgende Erwerbstätige gezählt: 104 Personen in der Land- und Forstwirtschaft, 6 Personen in Handwerk und Industrie, ohne eigenen Beruf sind 36 Personen. Es gibt 35 mithelfende Familienmitglieder und 37 Arbeiter. Diese wohnen nicht alle in Willschicken.

Quelle: Wilkental – GenWiki (genealogy.net) überarbeitet

Das Agrarland Ostpreußen lebte bis 1945 vom Export seiner landwirtschaftlichen Produkte, hauptsächlich Getreide. Mit 36 998,75 Quadratkilometern war Ostpreußen die drittgrößte Provinz und wies mit 55,8 Einwohner pro Quadratkilometer die geringste Bevölkerungsdichte des Deutschen Reichs auf. Die Wohnbevölkerung des Reiches wuchs zwischen 1871 und 1910 von 41 auf fast 64 Millionen, d.h. um 58,1 %, in Ostpreußen im selben Zeitraum von 1 822 934 auf 2 064 175 Millionen, d.h. um 13,2 %. In den rund 60 Jahren zwischen 1871 und 1933 hat Ostpreußen aber einen Arbeitsüberschuss von etwa netto 1 Million vorwiegend junger Menschen abgegeben. Eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen halfen aber nicht, diese Verluste zu stoppen. „Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen Wirtschaft hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in andere Teile Deutschlands abgewandert.“ Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink

„Preußisch-Litauen (im 20. Jahrhundert vereinzelt Deutsch Litauen, litauisch: Mažoji Lietuva oder Prūsų Lietuva) bezeichnet den seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts neben Deutschen, Prußen und Kuren mehrheitlich von Litauern besiedelten Raum im Nordosten Preußens (heute in etwa die östliche Hälfte des Oblast Kaliningrad, früher weitgehend das Gebiet des Regierungsbezirks Gumbinnen)". Hinzu kamen div Migrantengruppen. Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette (siehe die dortige Literatur).

Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen 1905 bis 1920; Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen und Allenstein; Quelle: Regierungsbezirk Gumbinnen - Wikipedia

Auf regionaler Ebene herrschte in Ostpreußen, unter dem Königshaus Preußens, der Landadel. Der größte Teil der Bevölkerung lebte auf dem Lande und von der Arbeit in der Landwirtschaft. „Der grundbesitzende Adel hatte seine ökonomische und gesellschaftliche Basis in der ländlichen Herrenstellung. Trotz großer Flächen landesherrlichen Domänenbesitzes herrschte der Adel auf dem Lande. Das resultiert vor allem aus dem Obereigentum an Besitzerrechten, welches sich Ostpreußen bis zu 90 Prozent der Landbevölkerung erstreckte. Hier konnten die Adligen ihre Ansprüche auf Zinsgelder, Naturalabgaben und Dienstleistungen weiterhin geltend machen. Sie waren gelichzeitig Gerichtsherren, Träger der Polizeigewalt und auch Patronatsherren über Kirche und Schulen. Steuer- und Zollfreiheit sicherten dem Landadel kommerzielle Vorteile, auch gegenüber der städtischen Kaufmannschaft.“

"In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brach für den Landadel eine schwierige Zeit an. Die Kriege und die wirtschaftliche Zerrüttung in den 1740er und 1750/1760 Jahren, verschärften noch durch die staatliche Manipulation des Kornmarktes durch das Magazinsystem und die demografische Überlastung durch den natürlichen Zuwachs der landbesitzenden Familien, setzten den Landadel zusehends unter Druck. Die Verschuldung der Junkergüter nahm drastisch zu, was in vielen Fällen zu Bankrotten oder dem Zwangsverkauf des Grundsitzes, häufig an wohlhabende Bürgerliche, führte. …

Die Suche nach einer Methode zum Schutz führte schlussendlich zur Gründung staatlich finanzierter landwirtschaftlicher Kreditanstalten (Ostpreußische Generallandschaftsdirektion - Diese Organisation, die ostpreußischen Landwirten unkündbare Kredite zu mäßigen Zinsen beschaffen konnte, wurde 1788 von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen mit einem Kapital von 200.000 Talern gegründet), zur ausschließlichen Nutzung durch die Junkerfamilien. Diese Einrichtungen vergaben Hypotheken zu niedrigen Zinssätzen an notleidende oder verschuldeten adligen Grundbesitzer. ..

Die Kreditanstalten waren zunächst überaus erfolgreich, zumindest wenn man als Maßstab für Erfolg das rapide Wachstum des Wertes der von ihnen ausgestellten Akkreditive heranzieht, die schnell zu Objekten finanzieller Spekulation wurden. Darlehen der Kreditanstalten halfen zweifelsohne einigen notleidenden Grundbesitzern, ihre Produktivität zu verbessern. Doch die gesetzlichen Bedingungen, die Darlehen zur nutzbringenden Verbesserung des Landes zu verwenden, wurden häufig sehr großzügig ausgelegt, sprich die vom Staat subventionierten Kredite wurden für Zwecke missbraucht, die wenig zur Konsolidierung des adligen Landbesitzes beitrugen. Davon abgesehen reichten die Kreditanstalten nicht aus, die sich stetig verschärfende Schuldenkriese im gesamten ländlichen Sektor zu beheben, da sich Grundbesitzer, die von den Landschaften keine günstigen Darlehen mehr erhielten, einfach an andere Geldgeber wandten. Über  die 54 Millionen Taler Hypothekendarlehen hinaus, welche die Kreditanstalten 1807 insgesamt hielten, hatten die adligen Landbesitzer weitere 307 Millionen Taler Grundschulden bei bürgerlichen Gläubigeren aufgenommen.“   (Quelle: Christopher Clark, Preußen)

Die bäuerliche Bevölkerung in Preußisch-Litauen lässt sich im Rahmen der „Bauernbefreiung“ in Preußen (1799-1850) nach Erwin Spehr grob in folgende Gruppen einteilen: Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (ge-nealogy.net)

Die folgenden Abbildung zeigt die Bauerngruppen in Preußisch-Litauen um 1800 klassiert nach Verteilung und Qualität des Grundbesitzes im 18. Jahrhundert im Königreich Preußen.

Verteilung und Qualität des Grundbesitzes im 18. Jahrhundert im Königreich Preußen. In: Verwaltungsmaßnahmen und deren Auswirkungen im 18. Jahrhundert auf das Leben der „Unterthanen in Preußisch Litthauen“ Quelle: Annaberger Annalen 22/2014

Auf fünf Gruppen soll ausführlicher eingegangen werden:

„Die Kölmer standen in der sozialen Rangordnung der Landbewohner an der Spitze. Sie besaßen großen Grundstücke als freies Eigentum zu besonderen (kulmischen) Rechten, die sie meist schon während der Ordens- und Herzogenzeit erhalten hatten. Diese privaten Gutsbesitzer (bis 1811 etwa10 % aller Güter) hatten außer der geringen Grundsteuer, dem königlichen Domänenamt gegenüber keine weiteren

Verpflichtungen. Sie waren auch private Grundherren über ihr Gesinde (Eigenkätner, Losleute, Instleute). Um 1800 kamen auf 1000 ha Ackerland ca. 70 - 80 landwirtschaftliche Arbeitskräfte, abhängig von den Produkten.

Bei den Bauernhöfen der Amtsbauern, die nach der Großen Pest entstanden (1708 -1710) und dem Sieben-jährigen Krieg (1756-1763), mit meist einer Hufe (ca. 16 ha) Ackerland, konnte man nach dem "Wiederaufbau" drei Klassen unterscheiden. Sie waren in Teilen aber noch bis zur Reichsgründung 1871 von Bedeutung, in Einzelfällen wie der der Ablösungskassen sogar bis 1918:

Die erste Klasse: Die Minderheit (ca. 5 % im Kirchspiel Aulowöhnen), waren die Schatull- und Erbfrei-Bauern, sie hatten ihren Boden gekauft. Nach dem Frieden von Oliva (1660) begannen umfassenden Besiedelungsaktionen. Schatullgrundstücke entstanden durch Rodungen und Kultivierung von Wald und Ödland. Die Höfe wurde von der Domänenverwaltung in Form von Haufendörfern organisiert. Schatullkölmer oder Schatullbauern blieben scharwerksfrei und waren außer ihrem Grundzins nur gelegentlich zum Forstdienst verpflichtet waren. Neben Grundzins und Personensteuer hatten sie meist keine weiteren Abgaben zu entrichten. Die Zinserträge wurden nicht an die lokalen Ämtersondern direkt in die Schatulle des Königs abführte.

Diese Bauernstellen waren aber vermögenden Siedlern vorbehalten, da der Boden gekauft werden musste. Bewährte sich der Siedler, so erhielt er nach einigen Jahren seine „Berahmung“ – eine gerahmte Besitzerurkunde. Viele der Haufendörfer im Kirchspiel Aulowöhnen sind, wie Willschicken, auf diese Weise etwa von 1700 bis 1816 entstanden.

Die zweite Klasse waren Koloniebauern (ca.15% im Kirchspiel Aulowöhnen). Größere Siedlergruppen wie Salzburger (1732 etwa 16.000 Zuwandere), Hugenotten, Mennoniten, Schweizer Schotten, Pfälzer und Hessen hatten den Koloniestatus erhandelt. Auch sie erhielten wie Scharwerksbauern Land und Hof vom König kostenlos und hatten deshalb vielerlei Pflichten, jedoch vom Scharwerksdienst selbst waren sie befreit. Der spätere Regierungsbezirk Gumbinnen war ein bevorzugtes Siedlungsgebiet der Koloniebauern.

Die dritte Klasse: Die große Masse der Scharwerksbauern (ca. 80 % im Kirchspiel Aulowöhnen) aber war arm. Trotz hoher Kindersteblichkeit wuchsen durchschnittlich 5 Kinder zu billigen Arbeitskräften auf. Durch den „Wiederaufbau“ entstanden viele Sielungen neu oder es wurden verfallene Höfe besiedelt. Bis 1782 entstanden in den 28 Gemeinden des Kirchspiels Aulowönen etwa 50 (neue) Dörfer. Die Bauern waren erbuntertänig, d.h. sie unterlagen der Schollenpflicht (das Gut und der Hol konnte nicht eigenständig verlassen werden), sowie den Frondiensten und dem Gesindezwang. Ein Scharwerker konnte seinen Hof mit den Pflichten und Rechten regulär vererben oder mit Genehmigung des Amtes gegen eine Abstandszahlung an einen anderen übergeben. Die Scharwerker waren nicht Eigentümer ihres Landes, sondern nur Besitzer. Sie hatten bei der Neuansiedlung Ackerland, Wohnhaus, Wirtschaftsgebäude, Arbeitstiere, Nutzvieh, Hofgeräte und Saatgut vom Grundherrn kostenlos erhalten, d.h. durch das Domänenamt vom König – das ihnen gegenüber jedoch auch noch weitere Verpflichtungen wie z. B. die Kranken- und Altersfürsorge hatte.

Die Scharwerker hatten neben der Zahlung des Grundzinses dem Amt gegenüber einer Vielzahl von eigenen Verpflichtungen. Die wichtigste war der Frondienst, d.h. die Mitbewirtschaftung der staatlichen Domänen mit den eigenen Arbeitstieren und Geräten, denn die staatlichen Güter hatten keine eigenen Landarbeiter. Die Beanspruchung lag im Mittel bei 80 - 85 Tage pro Jahr. Jeder Scharwerker musste durch den Gesindezwang für die Hausarbeit auf den Gütern eine Teilnahme durch Angehörige oder Nachbaren stellen (Frauen und Kinder, ab 14 Jahre), die auch untereinander gegen Geld ver- und geliehen werden konnten. Insgesamt flossen so bis zu 40 % der bäuerlicher Bruttoproduktion dem Domänenamt zu. (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1)

Die Nichtbauern stellen bezogen auf die gesamte ländliche Bevölkerung die größte Gruppe dar. Hans-Ulrich Wehler (Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1) berichtet: „Auch im ostpreußisch-litauischen Kammerbezirk mit seinen relativ vielen sichergestellten Domänen- und Adelsbauern (25 787) hat man für 1802/04 gezählte 47 229 Unterbäuerliche (Kossäten, Insten, Hirten und Handwerker) also ein Verhältnis von fast 1 zu 2 ermittelt.“

Bei den Nicht-Bauern waren die Eigenkätner die wichtigste Gruppe. Sie hatten auf gepachtetem Grund ein eigenes kleines Haus (Kate) mit Garten. Sie waren also fest ansässig und arbeiteten auf privaten Gütern oder betrieben ein ländliches Handwerk. Gärtner oder Instleute wohnten zur Miete, bewirtschafteten einen Garten und waren fest gegen Lohn oder Deputat auf privaten angestellt. Losleute waren ländliche Tagelöhner.“

Um 1807 wird das zuständige Domänenamt in Alt Lappönen im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. Das Besitzerland der Amtsbauern wird nun deren Eigentum (Regulation ab 1811, Verschlechterung ab 1816). Durch die Regulierungskommission wird auch das Gemeinschaftseigentum der Dörfer die „Allmende“ an die Scharwerksbauern verteilt. Es entstehen zusammenhängende und bewertbare Bauern-Grundstücke, die aber nicht immer hofnahe lagen. Aber die nicht mehr geleisteten Dienste, das Inventar, das Vieh und die Gebäude stellte der Grundherr ihnen in Rechnung oder fordern (ab 1816) Landabtretungen. So hatten die Amtsbauern mit einem guten, erblichen Besitzrecht bis einem Drittel ihres Bodens, die mit einem nicht erblichen Besitzrecht bis zur Hälfte ihres Landes abzutreten.

Die gesamte finanzielle Belastung der Scharwerksbauern war jetzt jährlich etwa zwei bis dreimal so hoch war wie vorher. Sie waren häufig nicht mehr in der Lage diese Zahlungen zu leisten, trotz der gesetzlichen Möglichkeit von 24-51-jähriger Rückzahlungsraten, je nach Zinssatz, so dass die Grundstücke vielfach an den Grundherrn zurückfielen oder gepfändet wurden und von vermögenden Bauern und Bürgern erworben wurden, um sie teilweise weiter zu verpachten. Die Fläche der privaten Güter nahm um ca. 20 % bis 1851 zu. Viele besitzlos gewordene Scharwerker wanderten jetzt als "Pioniere" oder mit Familien in die entstehenden Industriestandorte im Westen. Trotz weiterhin hoher Geburtenrate hatte Ostpreußen nur eine der geringsten Bevölkerungszunahmen im Deutschen Reich. Für die wachenden Ernteerträge auf den Gütern wurden deshalb (billige) Saisonarbeiter aus Polen/Russland angeworben. Diese Schnitter Kolonnen verpflegten sich selber: Kornus aus der mitgebrachten Korbflasche verdünnt mit Wasser, Kohlsuppe und eine Seite fetter Speck war eine übliche Verpflegung. Akkordarbeit war die Regel. Geschlafen wurde in den Ställen oder im Freien.

Die Verbesserung der Rechte der Kolonie- und Schatullbauern erfolgt stückweise bis 1850/1855, die der Eigenkäter, Instleute, Losleute und Saisonarbeiter sogar erst bis 1918.

Altsitzer bezeichnet Eigentümer, der seinen Hof nicht mehr selbst bewirtschaftet, sondern ihn an seine Nachkommen abgegeben hat. Das führte zu räumlichen Trennungen. Dazu wurden sehr umfangreiche schriftliche Vereinbarungen getroffen und in die Grundakte eingetragen. Damit war seine Versorgung gesichert, eine Rente gab es damals noch nicht.

Die Gewerbefreiheit ließ den bürgerlichen Erwerb von Staatsdomänen zu. „Das 2.000 Morgen große Vorwerk (Gut) Alt Lappönen erwarb 1810 Caroline Girod, die mit dem Amtmann Mehlhorn verheiratet war, zum Preis von 19.152 Taler.“

„Seperation“ und „Ausbau“, d.h. die Zusammenlegung, der Tausch, die Pacht, die Alten- und Erbteilung (im Gegensatz zum Fideikommiss der Güter: Ein durch Stiftungsakt geschaffenes unveräußerliches und unteilbares, einer bestimmten Erbfolge unterliegendes Vermögen, das üblicherweise auch nicht belastet werden durfte.) oder der Kauf und Verkauf von fideikommissfreien Guts-, Scharwerks- und Allmendegrundstücken führte im Laufe der Zeit zu räumlichen Veränderungen, nämlich zur teilweisen Auflösung der geschlossenen Dörfer. Es entstanden Streulagen. Bauern, deren Besitz weit vom Dorf entfernt lag siedelten aus. Sie gaben ihren alten Hof auf und bauten einen neuen auf einem Außengrundstück. 1939 bildeten nur noch sieben von 22 Höfe den alten Dorfkern von Willschicken.

Hintergrund waren günstige Kredite, die zum einen der Abwendung von Bankrott oder Zwangsverkauf zum anderen der rationellen Wirtschaft dienten. Sie wurden ab 1871 auch an Nichtadlige vergeben wurden.  Die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion - diese Organisation, die ostpreußischen Landwirten unkündbare Kredite zu mäßigen Zinsen beschaffen konnte, wurde 1788 von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen mit einem Kapital von 200.000 Talern gegründet.

Die rationelle Landwirtschaft erforderte leistungsbereite Arbeitskräfte, größere und modernere Wohnbauen, Ställe, Scheunen, verstärkter Maschineneinsatz, Dünger, kürzere Wege auf eigenem Land, eine verbesserte Dreifelderwirtschaft, Melioration und neue Zuchtmethoden. Hinzu kam eine leistungsfähige Infrastruktur, sichere Vertriebskanäle und stabile Abnahmemärkte.


1939 bildeten nur noch sieben von 22 Höfe den alten Dorfkern von Willschicken. Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Willschicken betrug 1945: 10 zwischen 5-10 ha, 6 zwischen 10-20 ha und 6 zwischen 20-100 ha.

Schwere Wirtschaftliche Rezessionen in Ostpreußen bewirkten, das große Güter, die nicht dem Fideikommiss unterlagen und unwirtschaftlich wurden, aufgeteilt und an Siedler(gesellschaften) verkauft wurden. Es entstanden 24 Bauernhöfe, als das Rittergut Alt Lappönen nahe Willschicken, nach 1920, dessen letzter Besitzer Herr Ornhorst war, durch die „Baugesellschaft Königsberg“ aufgesiedelt wurde.


Die durchgezogene Linie in lila ist die Kreisgrenze von Wilkental/Willschicken in der Karte Messtischblatt von Willschicken (1939). Ein Hof konnten innerhalb Willschicken nicht eindeutig zugeordnet werden. "BM" war die Bürgermeister Stube von Bürgermeister Mikuleit. Außerdem sind fünf Höfe des alten Dorfkerns von Lindental und das Kreishaus eingetragen. Darunter befindet sich das Gasthaus von Fritz Lerdon (früher Kiehl). Fritz Lerdon hat 1928 die Witwe Hedwig Kiehl, geb. Padefke geheiratet. Gerhard Kiehl, eines der vier Kinder aus der ersten Ehe, wird 1943 der spätere Ehemann von Hildegard Tuttlies. Siehe auch Familienstammbaum:

FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski    — FamilySearch.org  

und  Stammdaten Fem Podewski.pdf (familien-archiv.de)

und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)

und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)


Mutter Berta Tuttlies bekam zur Hochzeit als Mitgift 20 Morgen (16 ha) Land von ihrem Elternhaus - den Burbas aus Paducken – einer Nachbargemeinde. Siehe: Paducken – GenWiki (genealogy.net). Das Land war nicht vollständig landwirtschaftlich nutzbar. Vater Ferdinand Tuttlies war Besitzer und Handwerker zugleich, im Sommer war er zusätzlich als Maurer und im Winter war er als Schneider tätig. Im Jahre 1904 machte sich Ferdinand Tuttlies an der Grünheider Straße an den Bau eines eigenen Zuhauses. Auf der anderen Straßenseite lag sein Elternhaus. Im Elternhaus wohnte der Besitzer August Herrmann Tuttlies, geboren 1866. Nach dessen Tod 1921 übernahm es dessen 2. Sohn Ewald Tuttlies. Zum Tuttliesen-Clan gehörten auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weinowski (mit 3,49 ha Pachtland) und zwei weitere Höfe in Aulowönen.

Die Talka bezeichnete in Preußisch-Litauen die gegenseitige „Bitthilfe“ unter den Dorfbewohnern, die bei umfangreichen landwirtschaftlichen Arbeiten wie Roggenernte, Dreschen und Hausbau erbeten und gewährt wurde. Verwandte und Dorfbewohner halfen, wie damals üblich, mit. So entstanden für die junge Familie von Ferdinand Tuttlies ein stabiles Wohnhaus, ein Stallgebäude und eine Scheune. Die Baumaterialien waren Ziegel, Feldsteine, Lehm und Holz. Es hat bis 1906 gedauert, bis alles fertig war. Es war ein kleiner offener Vierkanthof entstanden. (Siehe Messtischblatt Willschicken von 1939 unten rechts). Vierkant war die vorherrschende Bauform der Höfe in Preußisch-Litauen.

1934 überschrieb Ferdinand Tuttlies mit 65 Jahren aus gesundheitlichen Gründen sein Anwesen an seinen Sohn Erich Tuttlies, der es auch bewirtschaftet. Erich Tuttlies wurde 1938 eingezogen. Die Hofbewirtschaftung wurde zunehmend schwieriger. Eine junger weißrussischer Ostarbeiter Michael Kitursko kam 1941 mit 18 Jahren auf den Hof und wohnte auch dort. Er wurde zu einer Art Familienmitglied. Seine Teilnahme an der Flucht 1945 wurde ihm vom Bürgermeister in Willschicken untersagt – sein späteres Schicksal ist trotz Nachforschungen in Weißrussland ungewiss geblieben. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ostarbeiter


Die folgenden Karten zeigen das Kriegsgeschehen in Ostpreußen im 1. Weltkrieg


Vom August 1914 bis zum Februar 1915 waren bis zu zwei Drittel Ostpreußens zeitweise russisch besetzt. Die zweimal durch Ostpreußen ziehende Frontlinie hinterließ durch die Kampfhandlungen ein zerstörtes Land. Traurige Höhepunkte waren die Schlachten bei Stallupönen (17. August 1914, Gumbinnen (19.-20. August 1914), Tannenberg (23.-31. August 1914) und Masuren (07.-16. Februar 1915).

„Bereits 1914 setzte man eine Kommission ein, welche die Verluste in Ostpreußen protokollieren sollte. Für die Gesamtprovinz belief sich der Schaden auf 1,5 Milliarden Mark. Etwa 1.500 Zivilisten waren der Besatzung zum Opfer gefallen. Insgesamt kamen während der Kämpfe 1914/15 über 61.000 Soldaten ums Leben – 27.860 Deutsche, 1.100 Österreicher sowie 32.540 Russen. Dramatische Auswirkungen zeigte der Verlust an Vieh und Pferden, der die Versorgung ernsthaft gefährdete. … Viele Menschen hatten aber auch in ihren Dörfern ausgeharrt oder waren auf der Flucht von russischen Truppen überrascht worden. Auf ‚Spionageverdacht‘ hatten die Besatzer gnadenlos reagiert, es war zu zahlreichen Exekutionen gekommen. … Insgesamt wurden bis zu 13.000 Zivilisten nach Russland deportiert.“ (Quelle: Kossert: ZEIT 13.02.2014)

Mutter Berta Tuttlies blieb 1914/15 mit vier Kindern zu Hause. Hildegard Tuttlies spätere verh. Kiehl wurde erst 1920 geboren.

In Willschicken stand im August 1914 die russische Militärverwaltung vor der Tür von Mutter Tuttlies und suchte Unterkünfte für verwundete russische Soldaten in der Umgebung. Das Wohnhaus musste geräumt werden und Mutter Tuttlies und ihre vier Kinder zogen zuerst in die Scheune, nach zwei Wochen auf den Dachboden des Wohnhauses. Die Küche durfte nach Absprache weiter benutzt werden.

Anfang September 1914 wurde ein schwerverwundeter russischer Soldat in das Wohnhaus gebracht, der bald darauf verstarb. Beim Abräumen des Sterbelagers durch Mutter Tuttlies standen plötzlich zwei russische Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag vor ihr. Erst die Rufe von anderen Verwundeten „Rotes Kreuz Haus, Rotes Kreuz Haus“ bewegte die Soldaten, sich zu entfernen. Angeblich waren sie „dienstlich“ unterwegs. Der verstorbene Soldat wurde von der russische Militärverwaltung etwa 20 Meter vom Wohnhaus entfernt beerdigt, am Rand des Grabens der Grünheider Straße.

Am Ende des 1. Weltkriegs kam Vater Tuttlies gesund nach Hause. Das Soldatengrab wurde nach Abzug der Russen 1915 durch die Familie gepflegt. Es erhielt ein kleines Holzkreuz mit der Inschrift: „Hier ruht ein unbekannter russischer Soldat“ und einen Staketenzaun mit einer gezimmerten Tür. Zunächst wurde das Grab durch vier hohe Pfosten gesichert. Die Kinder, die für das Unkraut verantwortlich waren, wurden größer.

Das Soldatengrab vor dem Wohnhaus der Familie Tuttlies 1915 zunächst noch ohne Zaun innerhalb der aufgestellten Pfosten. Bei genauerem Hinsehen ist aber das Kreuz erkennbar, Quelle: privat


Das Leben in Willschicken veränderte sich in den zwanziger Jahren. Ferdinand und Berta Tuttlies sprachen zwar mit ihren älteren Verwandten und Bekannten untereinander häufig litauisch, ihren Kindern waren aber auch einige litauische Alltagsbegriffe geläufig. Siehe auch: Erinnerungen von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies (folgt als zweiter Text) und http://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html


Erwin Spehr berichtet aus Preußisch-Litauen: „Neben der litauischen Sprache waren zunächst fast alle deutschen Dialekte in Preußisch Litauen vertreten. Es bildete sich erstaunlicherweise jedoch kein Mischdialekt aus. Durchgesetzt hat sich neben dem Hochdeutschen das ostpreußische Plattdeutsch, auch Niederpreußisch genannt, obwohl bei der besitzenden bäuerlichen Bevölkerung die Niederdeutschen keine Mehrheit stellten.

Man vermutet, dass Handwerker und Landarbeiter, die aus dem Westen Ostpreußens, laufend zuwanderten, der niederdeutschen Mundart zum Durchbruch verholfen haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man in Teil Ostpreußens in den Städten Hochdeutsch und auf dem Lande Plattdeutsch und Litauisch.“

Bevölkerungs- und Schulstatistik im Regierungsbezirk Gumbinnen 1817 und 1825:

Muttersprache 1817 1825 absolute Veränderung prozentuale Veränderung
dt. 177.798 229.531 51.733 29 %
lit. 091.301 102.134 10.833 12 %
poln. 108.401 133.034 24.633 ,022,5 %
Gesamtbevölkerung 377.500 464.699 87.199 23 %
Unterrichtssprache schulpflichtiger Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr 1817 1825 absolute Veränderung prozentuale Veränderung
dt. 027.284 036.057 08.773 32 %
lit. 011.540 011.394 0.−146 ,0−1,3 %
poln. 016.547 021.271 04.724 ,028,5 %
Gesamtschülerzahl 055.371 068.722 13.351 24 %

Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette

„Die veränderten Existenzbedingungen, die Ostpreußen nach 1918 hinnehmen musste, haben sein politischen und wirtschaftliches Leben tief beeinflusst. Die neunen Grenzen unterbrachen wirtschaftliche Verbindungen in denen die Provinz seit langem gestanden hatte und die sich nur teilweise wiederherstellen oder ersetzen ließen. Diese waren auf die Dauer nicht zu verscherzen, weil Ostpreußen auf Grund seine einseitigen Wirtschafts- und Sozialstruktur eher zur Stagnation als zur Dynamik neigte und deshalb die verlorenen Positionen schwerlich durch gesteigerte wirtschaftliche Aktivitäten im Landesinnern wettmachen konnte. Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in anderen Teile Deutschlands abgewandert. Obwohl dieses Phänomen und seine bevölkerungspolitischen Konsequenzen ausgangs des 19. Jahrhunderts aufgefallen sind, hat es doch an Politik gefehlt, die diese Entwicklung nachdrücklich korrigiert hätte. Infolgedessen ist das Abwanderungsproblem nach dem Ersten Weltkrieg abermals hervorgetreten und zu einem Symptom der Wirtschaftlichen Schwäche der Provinz geworden.“   Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink

„Noch während der Weimarer Republik 1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste. Da man nun für diese größeren Einheiten oft neue Namen suchte, wurde die Gelegenheit wahrgenommen, die alten litauisch klingenden Ortsnamen durch deutsche zu ersetzen.“

Die Nationalsozialisten ersetzten 1938 systematisch alle litauischen Orts-, Fluss-, Forst- und Moornamen durch „Eindeutschungen“ und verdrängten die litauische Sprache und deren Kultur.

„Die Inflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf in Ostpreußen eine Landwirtschaft, die unter sehr ungünstigen äußeren Bedingungen produzieren musste und auch die Kriegsschäden noch nicht voll überwunden hatte. Die Folge war die tiefe Agrarkrise von 1929 bis 1932 der zahlreiche Betriebe zum Opfer fielen. Pfändungen und Versteigerungen nahmen zu. Große Güter mit ihrem hohen Arbeitskräftebedarf waren dabei stärker betroffen als Bauern, die vorübergehend sich selbst ernähren konnten und so die Krise besser überstanden. Die Unruhen dieser schwierigen Zeit machten sich überall bemerkbar: 1923 kam es auf einigen Gütern zu Landarbeiterstreiks, und 1929 verhinderten aufgebrachte Bauern Zwangsversteigerung.“ Die Folge war auch Auswanderung. So migrierte z. B. Anni Bartuschat aus Willschicken lt. Bremer Passagierlisten am 18. Mai 1934 auf dem Schiff „Bremen“ von Bremen nach New York.


Gerhard Dalheimer berichtete aus dem Kirchspiel Aulowöhnen: „Wenn wir früher von Aulowönen nach Grünheide fuhren, kamen wir an vielen Neusiedlerstellen (Besitzer) vorbei. Sie waren entstanden, nachdem das Gut Alt - Lappönen nach dem ersten Weltkrieg „ausgewirtschaftet“ hatte. Offensichtlich hatten diese Siedlungen so viel Land, dass ihre Besitzer davon leben konnten. Oder waren einige Betreibe auch als Nebenerwerbssiedlungen konzipiert? Meiner Erinnerung nach dürfte das aber die kleine Minderheit gewesen sein.

Was ich aber erst Jahrzehnte später erfahren habe ist, dass etliche Siedler von ihren neuen Landesherren „rauskomplementiert“ worden waren, nachdem ihre Besitzungen im einst russischen Gebiet nach Versailles polnisches Territorium geworden waren. Das hatte sich Mitte der 1920er Jahre zugetragen, wie ich aus Kontakten mit den Nachkommen zweier “Aussiedlerfamilien“ erfahren habe. Außerdem erinnere ich mich, dass wir an der Grünheider Straße an einem Russengrab aus dem 1. Weltkrieg vorbeikamen, das war stets sauber gepflegt und eingezäunt war.“ Verfasst von Gerhard Dalheimer (Kiaunischken), 07/2014 Quelle: Alt Lappönen


Bei dem Besuch von Hildegard Kiehl 1972 in Willschicken waren der Vierkanthof der Familie Tuttlies und das Soldatengrab nicht mehr vorhanden.


Anlage 1: Schadensberechnung


Anlage 2: Links zu Willschicken und Umgebung:


http://wiki-de.genealogy.net/GOV:WILTALKO04VT

Wilkental – GenWiki (genealogy.net)

Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)

Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)

Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Bambullen – GenWiki (genealogy.net)

Birkenhof (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)

Grünheide (Kirchspiel) – GenWiki (genealogy.net)

Klein Schunkern – GenWiki (genealogy.net)

GOV: Willschicken, Wilkental (genealogy.net)

GOV: Pillwogallen, Lindenhöhe (genealogy.net)

GOV: Schruben (genealogy.net)

Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette

https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2021/Ausgabe29.shtml

Ostpreußen (uni-oldenburg.de)

Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink

Wirtschaft_und_Statistik-1939-13.pdf (statistischebibliothek.de)


Ein besonderer Dank gilt Herrn und Frau Mattulat. Sie haben dankenswerterweise wichtige Eigenarbeiten zur Verfügung gestellt.

Der Text wurde im April 2021 von Hildegard Kiehl erstellt und im März 2022 von Klaus Kiehl überarbeitet.

E-Mail: Klaus-Kiehl@t-online.de

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies * 21.03.1920 in Willschicken † 19.06.2021 in Hamburg.

Der litauische Name Tuttlies heißt übersetzt Wiedehopf.


Hamburg, den 21.03.2022





Erinnerungen von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies


Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies, wurde am 21. März 1920 in Willschicken in Ostpreußen geboren und ist am 19.06.2021 in Hamburg verstorben. Das langjährige Mitglied der Heimatgruppe Hamburg hatte bei den Treffen immer viel aus der Jugend zu erzählen.

Im März 2020 genau vor 100 Jahren wurde ich 100 Jahre alt. Aufgewachsen bin ich auf dem Lande in einem warmen Nest; in keinem Heuhaufen, sondern auf einem Bauernhof, mit zwei Brüdern und einer Schwester. (Max, Friedel und Erich - der jüngste Bruder Otto ist schon mit 3 Jahren verstorben)



Unsere Eltern haben uns mit viel Liebe und Fürsorge erzogen. Meine Spielgefährten waren alle Tiere, die ein Bauernhof besitzt. Meinen kleinen Ziegenbock, meinen Mäck, darf ich nicht vergessen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt und ich tobte mit ihm um die Wette — besonders im Blumengarten, wenn dieser sauber hergerichtet war. Zur Freude meiner Mutter!! Ich war damals noch keine 5 Jahre alt, mein Mäck höchstens ein halbes Jahr alt. Für meine älteren Geschwister war ich stets die Kleine, sie behielten mich immer am Auge, soweit es ging. Nur wenn ich bei Lux, unserem Hofhund in seiner Hütte saß und mich nicht meldete, wenn ich gerufen wurde, waren sie etwas besorgt.


Knappe 10 Minuten Fußweg von uns entfernt war mein Gerhard Kiehl daheim. Seine Eltern besaßen ein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich einmal dazu gehören werde! Aber mein Vater ging gerne dort hin. Überhaupt, wenn ein großes Treffen der bekannten Bauern aus der Umgebung war, am Tage der Schweineablieferung in Grünheide auf dem Bahnhof. Alle Bauern kehrten dann ( ...die Fuppen voller Geld, es war der Erlös für die Schweine) zum Umtrunk bei meinen Schwiegereltern in Pillwogallen ein.


Zum Stammbaum der Padefke siehe auch die folgenden Links: https://www.familysearch.org/search/catalog/1582518 und: http://familien-archiv.de/02-Familienfotos/Familie%20Podefke/Podefke%20Fam.%20Stammbaum/Stammdaten%20Fem%20Podewski.pdf

Pillwogallen kommt aus dem Litauischen und heißt deutsch: „Bauchende". Das gefiel den Einwohnern schon lange nicht. Auf Sondergenehmigung des Landrates Insterburg wurde der Name schon 1928 in „Lindenhöhe" unbenannt! Dort wurde der Insterburger Reiter-schnaps ausgeschenkt. Ein Stück Würfelzucker und zwei ganze Kaffeebohnen wurden zerkaut und mit einem Korn nachgespült. Oder es gab einen Pillkaller. Wieder ein Gläschen Korn mit einer Scheibe deftiger Leberwurst mit einem Klacks Mostrich drauf! Vater kam dann reichlich verspätet nach Hause — aber stets lustig!

Bei der Gelegenheit sollte er einmal 10 Heringe mitbringen. Machte er gerne! Natürlich dauerte die Sitzung länger als geplant. Er legte das völlig durchnässte Paket in Packpapier verpackt auf den Küchentisch. Mutter konnte endlich ihre Heringe auspacken — und fand nur noch einen einzigen Hering darin! Waren doch die übrigen aus dem Papier gerutscht, ohne dass es Vater bemerkt hatte.

Mutter war sehr verärgert. Vater verkrümelte sich schnell mit seiner Decke und einem Kissen auf den Heuboden, um seinen Rausch auszuschlafen! Ich wurde aber, die kleine Merjell, von Mutter mit einer Blechschüssel losgeschickt, um am Straßenrand im Gras nach ihnen zu suchen; denn 1 Hering kostete damals 1 Dittchen und 10 Stück 1 Mark —und siehe da, ich kam mit allen „Neunen" nach Hause! Sie wurden unter der Pumpe auf dem Hof gespült und gespült — und die Welt war wieder in Ordnung!

Anfang April 1926 wurde ich in ein Matrosenkleid gesteckt, die langen Strümpfe hatte Mutter selbst aus Schafswolle gestrickt (kratzten fürchterlich). Meine schwarzen Spangenschuhe wurden gewienert und einen Tornister bekam ich aufgehubbelt! An Mutters Hand ging es in die zweitklassige Schule nach Pillwogallen. Ich war sehr neugierig auf sie. Als ich dann einige Tage artig auf meinem Platz gesessen und mir alles angesehen hatte, fiel mir ein, dass gerade unsere Küken aus den Eiern zu der Zeit rausgekrabbelten, und ich musste dabei sein! Also ließ ich meinen Ranzen in der Bank liegen und ging nach Hause. Doch ich kam nicht weit. Lehrer Wiederhöft holte mich ein, fasste mich am Schlafittchen und meinte: „Ille (so nannte er mich) Du gehörst in die Schule!" Gefiel mir gar nicht. Viel schöner war es Zuhause, bei meinem Ziegenbock!



Auf dem Schulweg kamen wir an der „Haus-Schmiede" vorbei. Sie war tipp topp und er ein guter Schmied. Er hatte schon die dritte Frau am Haken und 12 Kinder und ein sehr baufälliges Wohnhaus, in das es reinregnete. War es des Nachts, wenn sie schon im Bett lagen, sagte sie zu ihm: „Papake, spann dem Scherm op! On et wer wi im Himmel!" In der Schule saßen hinter mir zwei Lautze von der Sorte. Ich hatte lange Zöpfe und die steckten sie mir ins Tintenfass, das hinter mir stand. Und ich hatte ein weißes besticktes Nesselkleid an. Worüber sich Mutter wieder sehr freute! Auch Martha gehörte zur Familie. Sie war eine drugglige Merjell und plinste oft, wenn sie in der Schule nicht weiterwusste.


Viele Jahre lebten wir in guter Nachbarschaft mit Hermann Weinowsky. Er war der Opa von unserem „Heinz Weinowsky", der 2001 mit seiner Ursel zu unserer Heimatgruppe kam, und wir wussten beide nicht, wer wir waren! Die Überraschung war groß!

Die Jahren vergingen und ich durfte schon mal auf den Schwoof gehen. Am schönsten waren die Manöverbälle bei meinen Schwiegereltern im Garten, auch dort war eine Tanzfläche aus Holz vorhanden. Mein Vater hatte meiner Schwester und mir vor dem Gehen zur Aufgabe gemacht, jede noch zwei Kühe zu melken. Meine „Muschekühe" waren artig, ich erzählte mich oft mit ihnen und streichelte sie auch. Aber bei meiner Schwester war es anders. Sie bedeckelte sie oft mit dem Melkschemel — und dann tanzten sie im Ross-garten Polka, zur Soldatenkapelle, die wir schon spielen hörten!

Und wieder verging die Zeit – und ich hatte meinen Gerhard geangelt, oder er mich? Wir wollen meinen 18. Geburtstag gebührend feiern. Nicht daheim, sondern in Insterburg im Kaffee Alt-Wien! Mein Mann war damals in Insterburg als Berufssoldat stationiert. Ich hatte meine Bleibe bei meinem ältesten Bruder und seiner Familie in der Albrechtstraße 15, dem großen Eckhaus, das heute noch steht. Alles war vorbereitet und wir saßen mit unseren geladenen Gäste im Kaffee Alt-Wien. Die Musik spielte die schönsten Weisen von „Waldeslust" und „Es war einmal ein treuer Husar...".

Der Wein mundete hervorragend und wir waren sehr lustig und vergnügt! Bis ich beim Tanzen plötzlich auf meinem Rücken einen leichten „Schurrr..." vernahm. Ob mich der Gerhard zu sehr an sich gedrückt hatte 9 Ich wollte es wissen und ging zur Garderobenfrau. „Freileinchen — Sie sind aufgeplatzt...!" ...rief sie. Der ganze Rücken meines schwarzen Taftkleides vom Ausschnitt bis zum Gürtel war bloß...! Und nun stand das aufgeplatzte „Freileinchen" da — was war zu machen? Es war ein Kleid aus Mutters Beständen, das uralt war und für mich umgearbeitet worden war. Die Musik spielte, und ich feierte meinen 18. Geburtstag. Heute wäre ein bloßer Rücken (und noch etwas Nacktes) in Mode gewesen; aber damals?

Aber Dank Mutters Fürsorge hatte ich meine lange selbstgestrickte Jacke aus Schafswolle unter dem Mantel an. Sie zog ich über, ging zurück zum Tisch und tanzte und schwitzte mit allen Gästen und meinem Gerhard als „aufgeplatzte Braut"... Das Taftkleid war lange Jahre unbenutzt, es hing gut aufgehoben auf der Lucht in dem großen Schrank, hinter Vaters „Schößchenrock". Taft verschleißt nach Jahren, und das war der Fall.


Kornaust, Kruschkemus und Wrukensuppe

Nun ist es über 75 Jahren her, dass wir aus unserer geliebten Heimat vertrieben wurden. Fast nichts konnten wir mitnehmen.

Aber wir sind voll mit unserem Ostpreußen verbunden und verstehen die alten Ausdrücke, mit denen wir aufgewachsen sind. Wer weiß, was ein „Pomuchelskoopp" ist? (Ein dicker, großer Fisch — oder auch ein Schimpfwort „Du Dammliger....!") Oder was auch ein „Kalabräser" ist?

Ich konnte nicht stillsitzen und war immer neugierig. Wenn unsere lieben Nachbarn Onkel Hermann & Tante Auguste Weinowski zu uns in die „Uhleflucht" zum „kadreiern" (erzählen) kamen, war es für mich ein Ereignis! Vater saß dann mit Onkel Hermann auf der Bank vor der Haustüre. „Mien Mutterke" aber mit Tante Auguste im Garten; und ich sauste von einem zum anderen, um viel mitzubekommen!

Die lieben Nachbarn waren die Großeltern von unserem Heinz Weinowski, der 2001 mit seiner Ursula zu uns in die „Heimatgruppe lnsterburg/Sensburg" kam. Bis dahin wussten wir aber noch nichts voneinander.

Die schönsten Zeiten waren für mich im Sommer die „Kornaust" und im Winter das „Federreißen" am warmen Kachelofen. Herrlich war es, wenn es draußen schneite oder gar „stiemte"! Wir saßen ja im Geborgenen. Da durften wir Kinder keine „Flunsch" ziehen, wenn uns die Arbeit nicht passte! Wurden wir noch „oppstornosch", gab es von Vater einen kleinen „Mutzkopp", ab und zu „plinsten" wir uns noch aus und wir waren dann nicht mehr „gluppsch", vielleicht noch ein wenig „dreibastig"... (frech)!

Mutter hat immer gut für Essen und Trinken gesorgt! Von „Klunkermus" mit Farin gesüßt, „Keilchen", „Pierag", selbstgemachte „Glumse" mit selbst gekochter Kirschkreide im großen Waschkessel in der Waschküche unter ständigem Rühren mit Zucker einige Stunden gekocht. „Brennsuppe", „Wrukensuppe", „Kruschkemus", „Kissehl", „Königsberger Fleck" mit 6 Gewürzen, gebackene Stinte — und meine „Spirgel", die ich heute noch gerne esse! Einige Leute daheim waren „Gniefke" (Geizhälse). Sie saßen auf ihren „Dittchen". Selten, daß sie einen „Kornus" geschweige einen „Pillkaller" ausgaben; und zum „Barbutz" gingen sie auch nicht. Dann kam ein „Bowke", er musste aber schon älter sein aus der Nachbarschaft und schnitt ihnen die Mähne mit der Schere. Zuhause wurden von Männern viel „Klumpen" und von Frauen „Schlorren" getragen. Prima waren sie zum „Schorren" auf dem Eis. Es ging aber auch ohne sie — auf selbstgestrickten dicken Socken aus Schafswolle! Im Hause schlüpfte man in warme „Wutschen", die oft per Hand hergestellt waren. http://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html

Gingen wir aber zum „Schwoofen", wurden die Sonntagsschuhe angezogen. Während des „Schwoofens" bekam man auch ab und zu mal einen „Bärenfang" spendiert. Die Männer tranken gerne „e Tulpche Bier", aber nicht zu viel, dass man sich nicht de „Tuntel" begoss! Auch wenn derjenige seine Spendierhosen anhatte, und noch gerne einen ausgegeben hätte! Aber auf dem Nachhauseweg hätte man sich leicht „verbiestern" können! Schlimm war es, wenn ich als kleine „Marjell" einer „Ziegahnsche" oder einem „Pracher" begegnete. Dann nahm das Betteln kein Ende. Hatte ich für sie etwas inne „Fupp", einen „Knasterbombom" oder einen Dittchen, war ich sie los!

Mein Vater war wütend, wenn der „Koppschäller" (Pferdehändler) immer wieder zu uns kam. Dieser hatte es auf unsere „Rieke" abgesehen. Sie kam aus Trakehnen, Vater hat dann immer überlegt, wie er den Kerl auf Nimmerwiedersehen los würde!

Zu unserer Nachbarschaft gehörte auch die „Familie Baltruweit". Sie saßen auch auf einem Bauernhof, Vater, Mutter, Opa, Oma und vier „Marjellens". Opa und Oma waren auf dem Altenteil. Sie bewohnten die kleinste Stube, nur dass sie zur Nacht eine Bleibe hatten. Am Tage waren sie immer noch mit leichter Arbeit in Haus und Hof beschäftigt.

Nun hatte Opa Baltruweit in der Nacht oft Nacken- und Kopfschmerzen. Also stand er wieder mal im Halbdunkel auf, tastete sich an sein Regal mit dem verschiedenen Einreibemittel in Fläschchen. Das Mittel wirkte Wunder, dachte er, er konnte schlafen und kam am anderen Morgen munter in die Küche. Doch „o Schreck" — Opa war blau im Gesicht, an den Händen, am Nacken! Ja, das war das Ende vom Lied — Opa hatte im Dämmerlicht de Tintenflasche erwischt; die in Reserve im Regal stand! Vater gab aber Opa den guten Rat: Bloß nicht mit Tinte de Kopke önriewe, dat helpt nich...!



Eine der vier Marjellens ist meine liebe Gerda. Mit ihr bin ich zusammen zur Schule gegangen, sie ist genau so alt wie ich. Sie wohnt in Bielefeld. Wir stehen bis zum heutigen Tage noch immer in Verbindung und sind dick befreundet. Wir telefonieren oft miteinander und tauschen unsere Erinnerungen aus — meistens auf platt! Auch unsere liebe Heimatgruppe ist immer im Gespräch... Ja, das war mein Zuhause, mein warmes Nest!


2. Weltkrieg

Am 1. September 1939 war der Krieg ausgebrochen — aber wir fühlten uns in unserem Ostpreußen in Sicherheit. Wir waren ja weit weg vom Schuss, vom großen Deutschen Reich und hatten reichlich zu essen und zu trinken, und wir waren ja die Kornkammer Deutschlands!

„Denn heute gehört uns Deutschland", sang die Jugend vor Begeisterung! Ich war 19 Jahre alt und hatte mir nach der Handelsschule eine Stelle im Büro auf dem Lande, im herrlichen Masuren in Pristanien/Paßdorf bei Angerburg gesucht. Zur Lage siehe: Ziegelei Mauerwald – GenWiki (genealogy.net)

Es war die große Baumschule „Bruno Wenk" mit 12 Angestellten, vom Obergärtner bis zu den Lehrlingen; dazu war mein Chef „Bürgermeister" und die Postagentur gehörte auch da hinein. Im Büro waren wir zwei Angestellte, also gab es reichlich zu tun. Aber trotzdem war ich viel am Mauersee, der ganz in unserer Nähe lag. (Wo dann später das Führerhauptquartier, die „Wolfsschanze" gebaut wurde).

Wir hatten ein weibliches Arbeitsdienstlager mit über 100 Maiden in unserem Bezirk (Kreis Rastenburg). Sie waren im „Reich" beheimatet und bekamen viel Post, die sie sich selbst abholten.

Der folgende Text wurde eingefügt:

“Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes. Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.”

“Neben dem männlichen Arbeitsdienst war mit dem Reichsarbeitsdienstgesetz auch der weibliche Arbeitsdienst (RADwJ) für junge Mädchen (Arbeitsmaiden) im Alter von 18 bis 21 Jahren eingeführt worden. Ab dem Jahr 1938 entstanden überall im damaligen Deutschen Reich 327 Lager des weiblichen Arbeitsdienstes, von denen 108 als Bauernlager, 116 als Siedler- und 108 als NSV-Lager (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) anzusprechen waren. Damit zeigte sich bereits die Einsatzart der weiblichen Arbeitsdienstangehörigen. Sie wurden entsprechend auf Bauerhöfen als Hilfskräfte (Mägde) eingesetzt oder in landwirtschaftlichen Siedlungen als Kindermädchen, Säuglingsschwestern, Lehrerinnen oder als eine Art von Sanitätspersonal.“ Quelle: https://www.bildarchiv-ostpreussen.de/cgi-bin/bildarchiv/suche/show_foto.cgi?lang=deutsch&id=17450


Hildegard Kiehl fährt fort:

Auch ich bekam viel Post von Opa! (d.h. ihrem späteren Ehemann. red.) Zuerst aus Insterburg, später kamen dann Feldpostbriefe von der Front. Auch besucht hat er mich oft in Masuren.

Die Zeit lief dahin. Ich war dort von 1939 bis 1943, vier Jahre — und dann kam der grausame Krieg immer näher an unsere Heimat. Mein Bruder Erich, der auf dem Hof bei meinen Eltern lebte, wurde zur Front eingezogen. Als Sanitäter arbeitete er meistens in Lazaretten. Für ihn erhielten Uropa und -Oma einen Weißrussen, Michael, als Arbeitskraft. Er war ein anständiger und fleißiger junger Mann, er war gerne bei uns.

Dann erkrankte mein Vater am Herzen, meine Mutter schaffte es auch nicht mehr, und so ging ich dann nach Hause. Ich wäre auch gerne dort geblieben. Ich hatte großen Spaß an der vielseitigen interessanten Arbeit. Zwar waren fast alle deutschen Baumschulangestellten zur Wehrmacht eingezogen. Aber an ihrer Stelle kamen 20 polnische Hilfsarbeiter, die kaum deutsch sprachen mit einem deutschen Wachmann, der stets eine Pistole bei sich trug, es war grausam! Doch der Versand der vielen Obstbäume, der Nadelhölzer, der Nutz- und Ziersträucher musste ja weitergehen.

So war ich dann wieder Zuhause. Opa kam ab und zu mal von der Front in Urlaub. Die Rückfahrt zur Front war dann immer am schlimmsten. Im Oktober 1943 haben wir geheiratet. Ich blieb aber in Wilkental wohnen. Die Front rückte immer näher. Nachdem die Wehrmacht in Polen besiegt war, rückte Russland weiter vor. Die größten Städte in Ostpreußen wurden schon bombardiert.

Im Sommer 1944 musste nach Königsberg auch Insterburg daran glauben. Es war sehr schlimm; denn mein ältester Bruder Max wohnte mit seiner Familie dort. Es blieben alle verschont und wurden nach Kroslitz bei Leipzig evakuiert.



Für mich war es immer eine Freude, wenn ich zu meinem Bruder Max mit meiner Schwester fahren durfte. Er hatte ein Geschäft mit vielen, vielen Bonbons Meine Schwester Friedel wohnte in Königsberg. Ihr Mann war an der Front und sie wurde nach Lugau im Erzgebirge evakuiert.

Im Herbst 1944 mussten auch große Teile der Landbevölkerung die Heimat verlassen. Sämtliche Kühe wurden zu großen Herden zusammengetrieben, und weiter in den Westen sollte es gehen; was wir aber nicht glaubten! Ich höre heute noch das verzweifelte Brüllen der Tiere und unsere älteste Kuh stand eines Tages vor dem Stall auf dem Hof. Sie war heimgekehrt, und wir haben sie behalten. Pferde durften bleiben; denn der Flüchtlingstreck ging mit Pferd und Wagen in den Kreis Mohrungen in Ostpreußen. Der größte Kastenwagen wurde mit einer Plane überspannt und mit Hab und Gut, so viel hineinging, beladen.

Unser Termin war der 15. November 1944. Doch plötzlich wurde Vater wieder sehr krank. Er hätte wohl den langen Treck mit der großen Aufregung nicht überstanden. So beschlossen wir, noch etwas Daheim zu bleiben.

Unser Michael war noch immer bei uns. Noch einmal, zum letzten Male in unserem Leben, haben wir Weihnachten Zuhause erlebt, mit einem kleinen Weihnachtsbaum — es war sehr traurig. Michael versprach Vater, auf alles zu achten; denn er wollte in Wilkental wohnen bleiben.

Feldpost kam auch nicht mehr. Unsere Wehrmacht war auf dem Rückmarsch. Mit der Bahn nach Königsberg, in die leerstehende Wohnung von Tante Friedel und weiter bis über die Weichsel. (Denn es war eine Hoffnung, daß der Russe dort zum Stillstand käme!)


"Dann in Gottes Namen!"

So packten wir nur Handgepäck, soviel wir schleppen konnten. Alles wurde auf einen kleinen Wagen geladen, Michael spannte beide Pferde davor und fuhr am Wohnhaus vor. Vater und Mutter gingen noch einmal durchs Wohnhaus, Stall und Scheune, schlossen alles ab und stiegen zu Michael und mir in den Wagen. Die Schlüssel übergab Vater an Michael. Vater nahm Michael die Leine ab, sagte: „Dann in Gottes Namen.!" Vater trieb die Pferde an; und wir fuhren von unserem geliebten Hof und Grundstück zur Bahnstation Grünheide. Es war der 10 Januar 1945. Die Flucht begann. Wer nach Westen wollte, brauchte eine Reisegenehmigung, um Fahrkarten für einen der wenigen noch verkehrenden Züge zu erwerben.



Auf dem Bahnhof nahm Vater Michael in den Arm, uns allen liefen die Tränen; wir stiegen in den Zug in Richtung lnsterburg und von hier aus ging es nach Königsberg weiter. In Königsberg kamen wir in der Wohnung meiner Schwester Friedel, trotz Fliegeralarm, etwas zur Ruhe. Das Zweifamilienhaus war Kasernengelände und vor der Stadt gelegen. Mein Schwager war Hausmeister in der Kaserne, zusammen mit einem zweiten, der in demselben Haus wohnte — und dieser war noch da, während mein Schwager an der Front war.

Die Freude war groß — aber nicht zu lange! Einmal war ich noch nach Hause gefahren. Michael war nicht mehr da. Auch Lisa, unsere treue Kuh, war weg. In der Veranda lag unser Hofhund, aber erschlagen. Die Haustür aufgebrochen; aber das Haus war nicht ausgeräumt. Viele Einheiten von deutschen Soldaten hatten sich in der Umgebung niedergelassen, die auf dem Rückzug waren. Auch Opas Einheit war dabei, allerdings einige Kilometer entfernt. Sie alle schützten unser Hab und Gut vor Plünderungen, so gut es ging. Der Russe plante weitere Großangriffe, die kamen dann auch, es war ein bitterkalter Winter mit 20 Grad minus und mehr und viel Schnee.

Der folgende Text wurde eingefügt und stammt aus: Der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder, Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band I/1 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 1, Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1954. Es ist folgender Text entnommen:

„Die Königsberger Bevölkerung war zunächst mit Eisenbahnzügen geflohen, bis der Zugverkehr nach dem Reich am 21. Januar aufhörte. Danach hatten sich große Teile nach Pillau begeben, um von dort aus entweder über die Nehrung nach Westen zu gelangen oder über See ins Reich abtransportiert zu werden. Als Ende Januar 1945 die Einschließung der Stadt vollendet war, wurden noch geringe Teile der Bevölkerung zu Schiff von Königsberg nach Pillau gebracht, und Mitte Februar, nachdem im Norden der Stadt die Verbindung nach dem Samland für einige Wochen wieder freigekämpft war, konnten noch weitere Teile der Zivilbevölkerung aus Königsberg ins Samland übergeführt werden. Dennoch blieben ca. 100 000 Menschen in Königsberg zurück. Viele von ihnen kamen den Räumungsaufforderungen der Partei absichtlich nicht nach, weil sie sich in der Stadt sicherer glaubten als im Samland oder auf dem gefahrvollen Fluchtweg über Pillau Fortgesetzte Bombenabwürfe und Artilleriebeschuss auf Königsberg zerstörten während der Wochen der Einschließung einen großen Teil der ohnehin durch Luftangriffe schon früher schwer mitgenommenen Stadt und richteten unter der nur noch in Kellern lebenden Zivilbevölkerung hohe Verluste an. Als schließlich am 6. Bis 9. April der Generalangriff der Roten Armee auf Königsberg erfolgte, wurden nochmals viele Zivilisten in die Kriegsereignisse hineingerissen. Ca. 25 Prozent der in Königsberg verbliebenen Bevölkerung waren im Laufe der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, als am 9. April die Stadt an die Russen übergeben wurde.

Als letzte Bastion in Ostpreußen blieb nunmehr nur noch der Streifen entlang der Samlandküste und der Raum um Pillau—Fischhausen in deutscher Hand. Noch immer betrug die Zahl der aus Königsberg, dem Samland und aus weiter östlich gelegenen Kreisen in Pillau, Fischhausen, Palmnicken, Rauschen und Neukuhren untergebrachten Menschen viele Tausende, obwohl die Hauptmasse der Flüchtlinge bereits von Pillau aus über See abtransportiert worden war. Die ersten mit Flüchtlingen beladenen Schiffe hatten am 25. Januar Pillau verlassen, und am 15. Februar konnte in Pillau bereits registriert werden, daß 204 000 Flüchtlinge mit Schiffen abbefördert und weitere 50000 nach Neutief übergesetzt und im Treck oder Fußmarsch auf der Frischen Nehrung weiter geleitet worden waren. Aber noch immer strömten viele Tausende nach Pillau. Sie kamen nicht nur über Land, sondern auch von Neukuhren aus mit kleinen Schiffen an. Die Stadt beherbergte an manchen Tagen über 75 000 Menschen, unter denen die ständigen sowjetischen Fliegerangriffe hohe Verluste anrichteten. Allein in der Zeit von Anfang März bis Mitte April fanden 13 schwere Luftangriffe auf Pillau statt, während gleichzeitig auch sowjetische Artillerie Stadt und Hafen beschoss.

Vom 8. März an musste für ca. drei Wochen der Abtransport von Flüchtlingen aus Pillau eingestellt werden, weil aller zur Verfügung stehende Schiffsraum in dieser Zeit zum Abtransport der Flüchtlinge aus den Städten Danzig und Gdingen benötigt wurde, denen in Kürze die Einnahme durch sowjetische Truppen drohte. In dieser Zeit, als keine Schiffe von Pillau abfuhren, zogen viele Tausende nach Neutief herüber und die Nehrung entlang, denn von der Danziger Niederung aus verkehrten auch nach der Einnahme Danzigs noch Fährprähme nach Hela, von wo aus dann der Weitertransport ins Reich erfolgen konnte. Ab Ende März wurde der Schiffsverkehr von Pillau aus nach dem Westen wieder aufgenommen. Quelle: Die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung.

Auch der Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch begab sich auf die Flucht. „Erich Koch floh am 24. April 1945 mit einem Flugzeug von Pillau-Neutief auf die Halbinsel Hela, von wo er auf dem eigens für ihn extra bereitgehaltenen Hochsee-Eisbrecher Ostpreußen am 27. April 1945 vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee über die Ostsee entkommen konnte. Am 29 April 1945 erreichte er Saßnitz, das ebenfalls schon von der Roten Armee bedroht wurde, am 30. April 1945 Kopenhagen und am 5. Mai 1945 Flensburg. Dort nahm er eine neue Identität an, indem er sich falsche Papiere ausstellen ließ. Sein „ Hitlerbärtchen” rasierte er ab, zudem trug er nun zur Tarnung eine Brille.” 1949 wurde er verhaftet und an Polen ausgeliefert. 1986 starb er dort im Gefängnis. Quelle: Erich Koch – Wikipedia

Hildegard Tuttlies berichtet weiter:

In Königsberg kam der Bescheid, dass die Stadt sofort von Zivilisten geräumt werden müsste. Dieses Mal sollte es per Schiff weitergehen. Unser Nachbar brachte uns zum Hafen. Hier lag ein Riesenschiff vor Anker (den Namen weiß ich nicht mehr...), im Begriff auszulaufen. Die Zugangsbrücke war schon eingefahren, aber an Strickleitern zogen sich Flüchtlinge noch eilig an Bord, und wir sollten auch hoch — aber Uropa und -Oma wehrten sich dagegen. Und das war unser Glück! Das so überladene Schiff bekam auf hoher See einen Volltreffer und ist mit Mann und Maus gesunken!

Und nun kam der gefürchtete Fliegeralarm. Wir liefen in einen Bunker, es ging alles glimpflich ab. Plötzlich tauchten deutsche Soldaten auf. Sie trennten die Männer von ihren Familien, sie sollten zur Verteidigung der Stadt zurückbleiben, so auch mein Vater — und das mit 76 Jahren! Frauen und Kinder mussten geschwinde aus dem Bunker, wir wurden mit der Menschenmasse nach draußen gedrängt, Vater blieb fassungslos zurück!


Abschied von der Heimat

In großen Militärtransportern ging es zum Nordbahnhof, von hier dann mit dem Zug nach Pillau, in den nächsten Seehafen; vom Bahnhof dann bis zum Hafen mit unserem schweren Gepäck zu Fuß. Ich hatte einen großen Koffer — mit Schinken und Speck und noch einen zweiten Koffer mit Bekleidung. Es war ja tiefer Winter... Ich packte beide Koffer übereinander, zurrte sie mit langen Riemen sehr fest und schleppte sie im Schnee und Eis hinter mir her.

Mutter hatte einen Riesenmarmeladeneimer voller Schweineschmalz und eine große Tasche dazu gepackt. Bei Vater war ein Rucksack mit Würsten und eine Tasche mit Zeug zum Anziehen. Er hatte seinen großen Fahrpelz über seine Bekleidung gezogen, dazu Pelzmütze und Pelzhandschuhe, also frieren konnte er nicht! Auch Mutter hatte ihren Pelz an. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben eine lange Hose an, die Trainingshose von meinem Bruder.

In Pillau kamen wir auf kleine Seesicherungsboote, dicht gedrängt. Mutter saß auf dem Schmalzeimer, ich mit einer jungen Frau zusammen auf meinen Koffern. Die Reisestrecke war Pillau—Stettin.



Wir waren sehr lange unterwegs. Gott sei Dank, wir kamen, trotz Fliegeralarm, heil in Stettin an. Ab hier ging es mit der Bahn quer durch Deutschland nach Chemnitz und weiter nach Lugau im Erzgebirge zu Tante Friedel und ihren Kindern. Das Ziel hatten wir uns schon zu Hause vorgenommen.

Die Bahnfahrt im Güterzug hat fast acht Tage gedauert. Wir hatten oft Fliegerbeschuß, mussten dann ganz schnell aus dem Zug heraus, uns in Büschen und Gräben verstecken. Wenn die Gefahr vorbei war, pfiff der Zug — alles rannte wieder zum Zug — und weiter ging es. Des Nachts standen alle Räder still. Mich wunderte es nur, dass wir immer wieder unseren wertvollen Schmalzeimer und den Speckkoffer vorfanden.

Aber wieder „Gott sei Dank..."! Es ging alles gut — und dann standen wir vor der Tür von Tante Friedel, es war früh an einem Morgen. Müde, dreckig, hungrig, alles verloren, ohne unseren Vater. Es war ein trauriges Wiedersehen.

Allmählich lebten wir uns ein; trotz der großen Flüchtlingszahl — und der sehr knappen Verpflegung auf Lebensmittelkarten, obwohl wir immer noch etwas aus unserem Mitbringsel zuzusetzen hatten. Es gab keinen Fliegeralarm, dafür sehr viele Russen als Besatzung; man ging ihnen aus dem Wege und so blieb man ungeschoren! So konnten wir wenigstens in der uns zugewiesenen Bodenkammer lange und ruhig schlafen, um vielleicht eine Mahlzeit einzusparen; denn unsere Vorräte wurden immer weniger. Dazu kam das bange Warten auf Nachricht von meinem lieben Gerhard, meinem Vater, meinem Bruder, meinem Schwager, dem Mann meiner lieben Schwester.


8. Mai 1945

Und dann kam der große Tag — 8. Mai 1945, „Tag der Kapitulation". Meine Mutter und ich standen draußen am Hofzaun, schauten ins weite Land und weinten, weinten. Wir hatten Heimweh nach unserem Ostpreußen und Sehnsucht nach unseren Lieben. Ob sie noch am Leben waren? Dazu die bange Frage, was sollen wir kochen, wieder eine Wassersuppe von Rübenblättern, die wir von den Feldern stibitzten, oder vielleicht lieber „Spinat von Brennnesseln" mit nichts drin?

So verging die Zeit... Mai und Juni war auch fast vorbei — und dann kam sie, die lang ersehnte Nachricht von meinem lieben Mann, Eurem Opa! Den Brief mit der vertrauten Schrift hielt ich lange in den Händen. Ich wagte ihn kaum zu öffnen, ging nach draußen, setzte mich in eine stille Wiesenecke und habe den Brief geöffnet! „Mollhagen bei Trittau in Holstein", stand neben dem Datum. Er schrieb mir, dass er gesund den furchtbaren Krieg überstanden habe und dass er beim Engländer auf einer Entlassungsstelle arbeite. Er hoffe nur, dass ich mit meinem Lieben alles gut überstanden hätte und dass wir uns recht bald in Mollhagen wiedersehen mögen. Tante Friedels Anschrift aus Lugau hatte er nach unserer Abreise aus Königsberg zufällig in der unbewohnten Wohnung gefunden! „Glück muss der Mensch haben!"

Ich fuhr dann sofort zu Eurem Opa. Ab Chemnitz nach Hamburg im offenen Güterzug. Es war Sommer, die Sonne schien und uns stand das Wiedersehen bevor! In Trittau (Schleswig-Holstein) trafen wir uns. Ein halbes Jahr ohne Nachricht waren wir; und ich war so schüchtern ihm gegenüber — er aber auch!

Es gab kein jauchzendes Wiedersehen; sondern leise weinend lagen wir uns in den Armen. Dann ging es mit einem Dienstwagen nach Mollhagen, unserer Unterkunft. Es war ein großer Bauernhof mit einem schönen geräumigen Wohnhaus. Über die Diele gelangte man zur Treppe nach oben in unser Zimmer.

Es war klein und ärmlich möbliert. Ein breites Bett mit einer Strohschütte, darüber eine alte Decke, ein gebrauchtes Kopfkissen und eine zweite Decke zum Zudecken (ohne Bettwäsche!). Dann ein winziger Tisch und zwei verdreckte Gartenstühle, eine Kochhexe und ein Brett als Ablage für einen Eimer, einen alten Kochtopf, zwei Teller, zwei Löffel, zwei Gabeln und Messer und zwei Becher! „Na, gode Morje — ös dat alles?" sagte wütend Euer Opa! Aber zwischen den zwei Fenstern hing ein riesiger Wandspiegel von der Decke bis zum Erdboden!

Die Wirtsleute verhielten sich sehr reserviert — wir aber auch! Wir waren ja Flüchtlinge aus Ostpreußen, die für den Krieg verantwortlich waren. „Vielleicht kommen DIE sogar aus Polen...", hieß es von unserem Gastgeber, dem Herrn ehem. „Ortsbauernführer"! Über unsere Schwelle kam der Bauer nie. Wenn er uns großzügig mal ein trocknes Brot zukommen ließ, riss er die Türe auf und warf es uns zu!!! Wir bedankten uns überschwänglich und lachten dabei! Das stand bei uns fest, unsere Bleibe war dort nur von kurzer Dauer! Wir waren glücklich, nachdem wir uns wieder aneinander gewöhnt hatten. Der Krieg war vorbei — wir waren jung und gesund und hatten die Zukunft, ganz gleich wie, vor uns! Über die erste Bettwäsche auf Bezugsschein haben wir uns riesig gefreut!

Ich betätigte ich mich jede Woche einmal beim Hausputz. Dann stand der Altbauer, ihr Vater, mit Spazierstock Schmiere, ob ich auch alles gut machte! Ich feudelte dann wie wild um ihn herum, und jedes Mal rief er: „Aufhören!


Neubeginn beim Zoll

In unserem gemeinsamen Leben ist aber alles gut gegangen. Mein Mann und ich hatten immer einen Schutzengel, und ich bin unserem Herrgott dankbar, dass wir fast 55 Ehejahre gemeinsam erleben durften. Nun hatte sich Euer Opa bei den örtlichen Behörden, die es noch gab, beworben.



Im Juni 1946 bekam er die Einberufung zum Zollgrenzschutz nach Vennebrügge, Kr. Grafschaft Bentheim an der holländischen Grenze. Mit Dienstwohnung — was waren wir froh! Zwei Tage und eine Nacht waren wir von Trittau bis Neuenhaus, die letzte Bahnstation vor der Grenze, also Vennebrügge, unterwegs. Des Nachts standen alle Räder still.

Die letzten 12 km ging es per Anhalter — nur mit Pferdefuhrwerk — weiter! Die Welt war dort zu Ende und die Zeit wohl stehen geblieben! Es war ein winziges Grenzdorf mit drei holländischen Bauern (Kampherbeek, Stegink, Schulding – auf der deutschen Seite) einem Arbeitshaus, ein bewirtschaftetes Zollhaus, d.h. Zollamt für den kleinen Grenzverkehr, vor dem Krieg neu erbaut und von zwei Zollbeamten mit Familien bewohnt, ein altes ausgeräubertes Zollamt, das wieder später als Dienstwohnung in Stand gesetzt wurde. Ein Beamter wohnte dort schon und empfing uns und hat uns in unsere Wohnung eingewiesen.


Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Stall — und Plumpsklo

Wir fingen an mit einem selbst gestopften Strohsack, einem Tisch aus alten Dielenbrettern, mit zwei Stühlen ohne Sitze, einer kleinen Hängelampe mit Petroleum. Keinen Herd, nur mit einem Kanonenofen und einem Kochgeschirr wurde gekocht! Das war unser neues Leben in unserer neuen Wohnung.

Sie hatte drei Zimmer, eine geräumige Küche und Stallungen für Schwein und Hühner und ein Plumpsklo! Ein Garten für Gemüse gehörte auch dazu. Aber keine Türen, kaum Fensterscheiben, kein Strom, kein Wasser, weder Herd noch Ofen, natürlich hatten wir auch keine Möbel! Aber zwei frischgestopfte Strohsäcke lagen für uns bereit. Euer Opa hatte zwei Decken und seinen dicken Wehrmachtsmantel aus dem Krieg mitgebracht. Dazu noch zwei Paar Knobelbecher, meine waren in der kleinen Größe, aber zu groß — also wir haben sie in der kalten Jahreszeit getragen. Das war der Anfang unseres gemeinsamen Lebens.

Der Pole war dort Besatzungsmacht und hat bei seinem Abzug alles „kurz und klein geschlagen", hieß es.

Der folgende Text wurde eingefügt:

Die polnische Besatzungszone war von 1945 bis 1948 ein Sondergebiet innerhalb der Britischen Besatzungszone im Nachkriegsdeutschland und befand sich im mittleren nördlichen Gebiet des heutigen Landkreises Emsland sowie in der Gegend von Oldenburg und Leer. Sie grenzte an die Niederlande und umfasste ein Gebiet von 6470 km². Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannt. Weitere Orte, die von der deutschen Bevölkerung geräumt werden mussten, waren Teile von Papenburg und Friesoythe (der Ortsteil Neuvrees wurde in Kacperkowo umbenannt und weist aus dieser Zeit noch heute eine so genannte „Polenkirche“ auf). Das Straßendorf Völlen wurde nicht evakuiert. Hier erfolgte die Trennung der Bevölkerungsgruppen entlang der Straßenmitte: die deutschstämmige Einwohnerschaft wurde auf der östlichen Straßenseite konzentriert, während in die leer geräumten Häuser auf der westlichen Straßenseite Polen einzogen.

Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannte Besatzungszone.

Die neue polnisch stämmige Bevölkerung setzte sich zusammen aus etwa 30.000 Displaced Persons, vor allem ehemaligen Häftlingen der Emslandlager – zu diesen gehörten auch Angehörige des Warschauer Aufstandes vom August 1944 – und 18.000 polnischen Soldaten.

Da die überwiegende Zahl aus den damaligen polnischen Woiwodschaften Lwów und Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, kamen, wurde die Stadt Haren zuerst in Lwów umbenannt. Die wichtigsten Straßen der Stadt erhielten polnische Namen dieser Orte. Bereits nach einem Monat wurde auf sowjetischen Druck der Name am 24. Juni 1945 erneut geändert.

Die Stadt wurde nunmehr nach dem polnischen General Maczek benannt, der mit seiner 1. Panzerdivision die umliegenden Gefangenenlager befreit hatte. Da sich ein großer Teil der in deutschen Lagern internierten polnischen Intelligenz hierauf in Maczków niederließ, entwickelte sich der Ort sehr dynamisch zum Zentrum des polnischen Verwaltungsgebietes, hinter dem die antikommunistische polnische Exilregierung stand.

Die polnische Exilregierung soll sogar darüber nachgedacht haben, die Enklave auf bis zu 200.000 Polen aufzubauen, um so indirekt Druck für freie Wahlen in Polen ausüben zu können. Die durch die polnische Exilregierung verwaltete polnische Besatzungszone im Emsland war für die Sowjetunion nicht tolerierbar. Deshalb verlangte die Sowjetunion von den britischen Behörden, die polnische Zone aufzulösen.“

Quelle: Polnische Besatzungszone – Wikipedia



In den 15 Emslandlagern der Nazis mußten die Häftlinge unter KZ-Bedingungen schwerste Moorarbeiten leisten. Displaced Persons „heimatlosen Ausländern“ wurden u.a. im Dorf Neuvrees, ein heutiger Stadtteil der Gemeinde Friesoythe - umbenannt in Kacperkowo, kurzfristig nach 1945 angesiedelt. Dort wurde 1945 sogar eine neue Kirche von Displaced Persons gebaut. Der polnischen Historiker Rydel hat als Erster die militärgeschichtlichen Quellen aufgearbeitet und den verwickelten politischen Entscheidungsprozess nachgezeichnet, der zu der Einrichtung einer polnischen Enklave im Emsland innerhalb der britischen Besatzungszone führte (Jan Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland, fibre Verlag, Osnabrück 2003).

Hildegard Kiehl berichtet weiter:

In Vennebrügge kam aber alles wieder zurecht, Türen und Fenster zuallererst. Zwei eiserne Bettgestelle ohne Rahmen (da kamen einfach Dielenbretter aus dem alten Zollhaus hinein!), dann zwei neue Stühle, auch ohne Sitze, ein Herd und ein Kanonenofen ohne Rohre! Im nahen Wald lagen genug leere Konservenbüchsen, das wurden die Ofenrohre; die wahnsinnig räucherten! Machte nichts, wir waren glücklich in unserer Wohnung!

Euer Opa hat dann aus Dielenbrettern einen Tisch und ein kleines Regal gezimmert. Strom hatten wir immer noch nicht. Aber wir bekamen eine kleine Petroleum-Wandlampe von einer lieben Einheimischen geschenkt. Sie (die Lampe) war unser kostbarstes Stück, ohne Zylinder! Zwei große leere Benzinkanister aus dem Wald hat Euer Opa zu Wasserbehältern umgebaut, das Wasser mussten wir von den Bauern schleppen! Auch Waschbehälter entstanden daraus. Die Tage vergingen sehr schnell; denn wir hatten immer eine Beschäftigung. Ich half den Bauern viel auf den Feldern, gegen Naturalien. Wenn Euer Opa Zeit hatte, gingen wir gemeinsam hin, pro Tag gab es für beide 1 Zentner Kartoffeln, auch in der Getreideernte waren wir dabei.

Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!


„Nich griene, mien Marjellke wie schaffe et!"

Inzwischen ist es Herbst geworden. Euer Opa und ich haben im nahen Moor Topf gestochen; denn wir brauchten ja Brennmaterial, und der Winter stand bevor. An Kohlen war nicht zu denken! Acht Kilometer war es bis zum Moor, wir hatten nur ein Fahrrad, das Dienstrad! Es war unser einziges Verkehrsmittel „die Fietz", hieß es holländisch! Das Fahren auf dem nur „einen Rad" ging für zwei Personen immer nur abwechselnd; fahren, überholen, abstellen — zu Fuß weiter, bis man wieder zum abgestellten Rad gelangte. Viel später gab es aber dann ein Damenfahrrad und ein Moped. Darauf bin ich, Eure Oma, mit Eurem noch „kleinen Papa" wie die Feuerwehr auf den schlimmen, ausgefahrenen Straßen, wo nur ein schmaler Pfad für „Fietsen" war, entlang gebraust! Es ging aber immer alles gut.

Großen Spaß hatten wir an der nahen „Holländischen Grenzbevölkerung". Auch sie waren nur auf ihre Fahrräder angewiesen, ob Jung oder Alt, alle kamen sie am Sonntagmorgen an uns vorbei, die älteren Frauen in langen Röcken — eine Halbschürze davor, Bluse und Jacke und eine Haube gehörte dazu, an den Füßen hatten sie holländische Botten aus Holz an. Wenn's regnete, hatten sie in einer Hand noch einen Regenschirm aufgespannt! Sie fuhren in eine bestimmte Kirche – die altreformierte Kirche in Uelsen.

Der folgende Text wurde eingefügt: “Ihr Gründer der Pastor Hendrik de Cock gestorben 1842 in Gronigen wurde zur Leitfigur der in Holland und in Ostfriesland und der Grafschaft Bentheim nach ihm benannten „kokschen“ Kirchenabspaltung. 2004 kam es als Abschluss des sogenannten „Samen op weg (Gemeinsam auf dem Weg)“-Prozesses zur Wiedervereinigung mit der Niederländisch-reformierten Kirche zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden”

Quellen: https://www.altreformiert-uelsen.de/ https://de.wikipedia.org/wiki/Protestantische_Kirche_in_den_Niederlanden https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_de_Cock


Wir hatten als junge Zöllnerfamilie in Vennebrügge an allem großen Spaß, es war ein einfaches, aber schönes Leben für uns — noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Gehalt — anfangs nur 160,85 Reichsmark, es gab noch immer fast nichts zu kaufen; alles nur auf Bezugsscheine, die kaum zu haben waren.



Dazu die Sorgen um meinen Vater und meinen Bruder. Beide galten als vermisst. Ob sie noch lebten? Meine Mutti war noch im Erzgebirge, bei Tante Friedel. Zwar hatten wir für Vater und Bruder Suchmeldungen an das „Rote Kreuz" nach Hamburg geschickt — aber alles vergebens.

Inzwischen war der November des Jahres 1947 vorbei. Die Tage waren auch dort dunkel und regnerisch. Ich strickte für die Bauern Strümpfe, Pullover, Schals für wenige Lebens-mittel, sie waren geizig. Euer Opa machte den Grenzdienst bei Wind und Wetter!

Und eines Tages, Anfang Dezember 1947 kam über das „Rote Kreuz" Nachricht von meinem Vater — und auch zugleich über Onkel Erich, beide lebten! Vater war in einem Ort bei Walsrode. Mein Bruder in Lübeck in einem Lazarett als Sanitäter. Sofort fuhr ich zu Vater, der bei einem Bauern lebte. Wieder war die Fahrt beschwerlich; aber ich bin dort gut angekommen.



Angekommen fragte ich mich erstmal nach dem Bauern durch. Auf mein Klopfen an die Küchentüre trat ich ein und sah vor mir eine lange vollbesetzte Tafel, es war Mittagszeit. Ich stellte mich vor und fragte nach meinem Vater — und sah ihn am unteren Ende des Tisches sitzen. Als er seinen Namen hörte schaute er auf — und wir lagen uns in den Armen. Vaters erste Frage war nach Mutter; auch sie lebte und wurde etwas später zu Vater nach Vethem gebracht, mein Bruder Erich siedelte aus Lübeck. Unsere Lieben hatten ein wunderbares Leben bei Bauer „Heini" Lühmann. Ihm herzlichen Dank!

Ich war wieder wohlbehalten in Vennebrügge gelandet. Mein Gerhard, Euer Opa, konnte aus dienstlichen Gründen nicht zu uns kommen. So gab es viel zu berichten — und nun nahte schon Weihnachten; das Wiederfinden unserer beiden Lieben war schon „ein Ge-schenk vom lieben Gott!" Wir waren arm, schliefen immer noch auf einem Strohsack, und waren unsagbar froh und glücklich! Und nun stand das schönste Fest aller Feste, nämlich Weihnachten vor der Türe.


Weihnachtsbaum in der Konservendose

„Ohne Baum keine Weihnachten", meinte euer Opa. Also holte er einen kleinen Baum aus dem Wald. Er wurde in eine mit Erde gefüllte Konservendose gestellt. Ich schmückte ihn mit kleinen Äpfeln, die ich in flüssige Schlemmkreide getaucht hatte. Er sah prächtig aus in seinem einfachen Schmuck — ohne Kerzen und Lametta. Es war unser erster Weihnachtsbaum in unserem gemeinsamen Leben!

Am Heiligen Abend saßen wir dann auf unseren zwei Stühlen, schon mit richtigen Sitzen! Die brennende Petroleumlampe hing an der Wand. Im Herd knisterten die Dannäpfel, die Herdtür stand offen und beleuchtete unseren Naturweihnachtsbaum. Ein Lied kam aber nicht über unsere Lippen, es fiel uns schwer – das Singen.

Wir gingen unseren Gedanken nach — jeder für sich. Der schreckliche Krieg war vorbei, wir waren gesund geblieben und hatten uns wieder! Ich bekam aber doch nasse Augen. Euer Opa nahm mich in den Arm und sagte in seiner ruhigen Art zu mir: „Nich griene —mien Marjellke — wie schaffe et!"...Und wir haben es geschafft!

Die Zeit lief so langsam dahin. Noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Geld, ein knappes Gehalt von 160,85 Reichsmark. Es gab fast nichts zu kaufen, doch zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf hatten wir ja — das war das Wichtigste!

Bis dann am 20. Juni 1948 die große Wende eintrat. Die neue Währung war da! Die „Deutsche Mark" löste die alte Reichsmark ab. Pro Person gab es 40.- DM Kopfgeld. Die Spareinlagen betrugen für 10.- Reichsmark 1.- DM. Wir hatten keine Spareinlagen — also hatten wir auch keine DM-Gutschrift. Aber der Lebensstandard raste in die Höhe. Es gab mit einem Male alles zu kaufen, was das Herz begehrte. Lebensmittelkarten und Bezugsscheine verschwanden. Ein Lebensmittelhändler kam einmal wöchentlich mit seinem vollen Auto vor unsere Haustür. Endlich gab es mal wieder Schokolade!

Ja — und langsam konnten wir uns auch Möbel kaufen — auf Kredit, gefiel Eurem Opa gar nicht, aber wir haben es geschafft! Es war ein Freudentag, als zuerst die Küche dran war: Dann das Schlafzimmer, dann das Wohnzimmer, zuletzt das Kinderzimmer! Wir schwebten auf „rosa Wolken".

Leider verstarb mein lieber Vater, Euer Uropa Ferdinand Tuttlies 01.08.1949 in Vethem. Eure Uroma, meine Mutter haben wir dann von Vetem zu uns geholt. Berta Tuttlies stab am 03.07.1968 in Hamburg. Wir hatten ein schönes, ruhiges Leben an der holländischen Grenze. Gemeinsam mit den wenigen holländischen Einwohnern, ihnen halfen wir immer noch bei der schweren Feldarbeit gegen Naturalien; denn Arbeiter waren knapp und wir hatten ja noch „Franz" (unser liebes Schwein) und unsere Hühner zu versorgen.

Wir Zöllner gehörten zur Dorfgemeinschaft. Wenn eine Familienfeier bei den Holländern war, gehörten auch wir alle dazu, wurde ein „Söpken" (klarer Schnaps) ausgeschenkt, es ging der Bauer oder sein Sohn mit der vollen „Schnapsflasche" und nur einem „Schnaps-glas" von einem zum anderen.


Zwei Enkel und die Heimatgruppe Insterburg füllen mein Leben aus

Euer Papa Klaus kam im April 1949 angerauscht, wurde dann später in Wielen, 4 km entfernt, eingeschult. Auch er war nur auf seinen Drahtesel angewiesen! Euer Opa wurde 1956 noch für kurze Zeit nach Nordhorn versetzt. Und dann ging er 1958 nach Hamburg ins „Hauptzollamt-Oberelbe" mit einer Wohnung in der Eduardstraße 41c in Hamburg.

Das war mein Leben in kurzen Zügen. Inzwischen bin ich 100 Jahre jung geworden! Mein Gerhard, unser lieber Opa, ruht nun schon fast 22 Jahre. Ich fühle mich aber nicht einsam, denn ich habe ja Euch, Ihr Lieben, zwei an der Zahl. Ihr füllt mein Leben aus. Sehr viel gibt mir auch meine „Insterburger Heimatgruppe".

Hildegard Kiehl (1920-2021) geb. Tuttlies, zuletzt Königsberg, Belowstr. 5, später Eduardstr 41 c, 20257 Hamburg

Dieser Bericht wurde zuerst im „Insterburger Brief“ 2/2020-3/2021 veröffentlicht

Die Fotos, die Abbildungen und die markierten Textstellen wurden nachträglich von Klaus Kiehl eingefügt,

E-Mail: Klaus-Kiehl@t-online.de

Hamburg, den 21.03.2022



Hier endet der Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies. Die folgenden Infos sind Voreinstellungen von GenWiki

Amtliche Zählung

Wohngebäude


Haushalte


Einwohner

  • 134 (1867) [2]
  • 154 (1871) davon 77 männlich[2]
  • 150 (1905) davon 75 männlich [2]
  • 146 (1925) davon 66 männlich[2]
  • 127 (1933) [3]


1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabethen, 5 ortsabwesend. [2]
1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]
1925 alle evangelisch, [2]

Ortsgrundfläche

  • Im Jahr 1905 : 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]


Weitere Informationen


Orts-ID :

Fremdsprachliche Ortsbezeichnung :
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung (Lautschrift):

russischer Name : Ort exisitiert nicht mehr
Kreiszugehörigkeit nach 1945 :
Bemerkungen aus der Zeit nach 1945 :
weitere Hinweise :
Staatszugehörigkeit :

Ortsinformationen nach D. LANGE, Geographisches Ortsregister Ostpreußen (2005)

Karten

Wilschikken o. Wilkschicken o. Wilpischen auf der Schroetterkarte (1796-1802), Maßstab 1:50 000
© Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz



Daten aus dem Genealogischen Ortsverzeichnis

<gov>WILTALKO04VT</gov>

Quellen

  1. 1,0 1,1 Niekammers Güteradressbuch 1932
  2. 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 2,13 Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970
  3. Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A. [1]