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Datei:Ostpreußen Karte Niekammer Bd. 3.jpg|Quelle: Ostpreußen – Wikipedia | Datei:Ostpreußen Karte Niekammer Bd. 3.jpg|Quelle: Ostpreußen – Wikipedia | ||
Datei:Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen.jpg|Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen 1905 bis 1920; Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen und Allenstein; Quelle: [https://de.wikipedia.org/wiki/Regierungsbezirk_Gumbinnen Regierungsbezirk Gumbinnen - Wikipedia] | Datei:Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen.jpg|Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen 1905 bis 1920; Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen und Allenstein; Quelle: [https://de.wikipedia.org/wiki/Regierungsbezirk_Gumbinnen Regierungsbezirk Gumbinnen - Wikipedia] | ||
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Datei:03 1 Landkreis Insterburg.jpg|Lage des ehemaligen Kirchspiel Aulobach im Oblast Kaliningrad, Quelle: [https://wiki-de.genealogy.net/Kirchspiel_Aulow%C3%B6nen_/_Aulenbach_(Ostp.) Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)] | |||
Datei:Hof Krause in Wikental 2004.png|Quelle: Foto Herr und Frau Mattulat , privat | |||
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Quelle: Foto Herr und Frau Mattulat , privat | |||
Version vom 17. Oktober 2022, 14:44 Uhr
Hierarchie
Regional > Historisches Territorium > Deutschland 1871-1918 > Königreich Preußen > Ostpreußen > Landkreis Insterburg > Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) > Willschicken
Ortsnamen
Am 16.07.1938 umbenannt in Gemeinde Wilkental / Ostp. .
- deutsche Ortsbezeichnung (Stand 1.9.1939): Gemeinde Wilkental
- vorletzte deutsche Ortsbezeichnung (vor der Umbenennung 1938) : Willschicken
- weitere (alte) Ortsnamen : Wilpischen, Wilschicken
Willschicken, litauisch wilszikei = Schimpfname; Wilpischen, litauisch wilpiszys = die wilde Katze.
Der Ort existiert heute nicht mehr.
Ortsinformationen
Willschicken
Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen,
Typ : Alter Siedlungsort
Provinz : Ostpreußen
Regierungsbezirk : Gumbinnen
Landkreis : Insterburg [2]
Amtsbezirk : Franzdorf [3]
Gemeinde : Wilkental (ab 16.7.1938)
Kirchspiel : Aulenbach (Aulowönen) Ostp.
im/in : südlich der Ossa
bei : ca. 22 km nördl. v. Insterburg, ca. 3 km östlich von Aulenbach
GPS-Daten : N 54° 48′ 23″ (Breite) - O 21° 49′ 21″ (Länge)
GOV-Kennung : WILTALKO04VT [4]
Messtischblatt : 1196 (11096) [5]
Messtischblatt Jahr : 1939
Wirtschaft
1932
PT Aulowönen, E Grünheide 5 km;
- Abbau Wilhelm Grigull, 60ha, davon 42 Acker,, 15 Weiden, 2,5 Hofstelle, 0,5 Wasser - 10 Pferde, 30 Rinder - davon 12 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine, Telefon Aulowönen 64 [1]
- Abbau Sieloff, 43 ha, davon 30 Acker, 2 Wiesen, 10 Weiden, 1 Hofstelle; 8 Pferde, 24 Rinder - davon 10 Kühe, 10 Schweine, Telefon Aulowönen 67 [1]
Geschichte
Willschicken
Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen
1678 wird ein Waldwart genannt; [2] 1719 heiratet Christoph Pirage. [2] 1785 Wilschicken oder Wilpischen, Chatouldorf, 15 Feuerstellen, Landrätlicher Kreis Tapiau, Amt Lappönen. Patron der König; [2] 1815 Chatouldorf, 4 Feuerstellen, 85 Bewohner, bis 30.4.1815 zum Königsberger Departement gehörig, dann zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen. [2]
Amtliche Zählung: (Siehe auch die GenWiki Voreinstellungen am Artikel-Ende von Willschicken)
Wohngebäude 20 (1871) [2] 28 (1905) [2] 25 (1925) [2]
Haushalte 30 (1871) [2] 32 (1905) [2] 31 (1925) [2]
Einwohner 134 (1867) [2] 154 (1871) davon 77 männlich[2] 150 (1905) davon 75 männlich [2] 146 (1925) davon 66 männlich[2] 127 (1933) [3]
1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabeten, 5 ortsabwesend. [2] 1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben Deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]
1925 alle evangelisch, [2]
Ortsgrundfläche:
Im Jahr 1905: 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]
Quellen:
[1] Niekammers Güteradressbuch 19321
[2] Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970
[3] Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A."
"Soldatengrab 1914 - Willschicken davor und danach", Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies
- Einleitung
Vater Ferdinand Tuttlies und Mutter geb. Berta Burba haben 1902 in Willschicken geheiratet.
Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf erwähnt und lag in Preußisch-Litauen im Regierungsbezirk Gumbinnen, Landkreis Insterburg, Amtsbezirk Franzdorf, im Kirchspiel Aulowönen in Ostpreußen.
1939 leben in Willschicken 127 Einwohner in 35 Haushalten auf 22 Höfen, davon sind 12 Einwohner unter 6 Jahren, 102 zwischen 14-65 Jahren und 23 Personen über 65 Jahren alt. Es werden folgende Erwerbstätige gezählt: 104 Personen in der Land- und Forstwirtschaft, 6 Personen in Handwerk und Industrie, ohne eigenen Beruf sind 36 Personen. Es gibt 35 mithelfende Familienmitglieder und 37 Arbeiter. Diese wohnen nicht alle in Willschicken.
Quelle: Wilkental – GenWiki (genealogy.net) überarbeitet
Das Ehepaar Tuttlies hatte fünf Kinder:
Max geb. 19.01.1903 in Paducken + 13.01.1964 in Krostiz
Friedel geb. 1904 in Willschicken + in Oberweißbach
Erich, geb. 19.11.1905 in Willschicken + 12.04.1965 in Südkampen
Otto, geb. 1907 in Willschicken + 1910 in Willschicken
Hildegard, geb. 21.03.1920 in Willschicken + 19.06.2020 in Hamburg
Das Agrarland Ostpreußen lebte bis 1945 vom Export seiner landwirtschaftlichen Produkte, hauptsächlich Getreide. Mit 36 998,75 Quadratkilometern war Ostpreußen die drittgrößte Provinz und wies mit 55,8 Einwohner pro Quadratkilometer die geringste Bevölkerungsdichte des Deutschen Reichs auf. Die Wohnbevölkerung des Reiches wuchs zwischen 1871 und 1910 von 41 auf fast 64 Millionen, d.h. um 58,1 %, in Ostpreußen im selben Zeitraum von 1 822 934 auf 2 064 175 Millionen, d.h. um 13,2 %.
„Preußisch-Litauen (im 20. Jahrhundert vereinzelt Deutsch Litauen, litauisch: Mažoji Lietuva oder Prūsų Lietuva) bezeichnet den seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts neben Deutschen, Prußen und Kuren mehrheitlich von Litauern besiedelten Raum im Nordosten Preußens (heute in etwa die östliche Hälfte des Oblast Kaliningrad, früher weitgehend das Gebiet der Regierungsbezirk Gumbinnen)". Hinzu kamen verschiedene Migrantengruppen. Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette (siehe die dortige Literatur)
„Das Landschaftsbild des nördlichen Ostpreußen wird von leicht gewelltem Flachland mit Moränenhügeln, größtenteils versteppten Wiesen und Feldern sowie viel Wald bestimmt, der von breiten Flussniederungen und Moorgebieten unterbrochen wird. Größte Flüsse sind der Pregel und die Memel, weitere Flüsse sind die Łyna bzw. Lawa (Alle), die Angrapa (Angerapp), die Krasnaja (Rominte) und die Dejma (Deime). Im Norden befindet sich – angrenzend an das Kurische Haff – die Elchniederung (Lossinaja Dolina) und das Große Moosbruch, eine Moorlandschaft, die zum Teil trockengelegt worden ist. …
Große Teile des Bodens gehören zu den Bodenklassen 4 und 5. Als Rohstoffe sind Sand und Kies für das Bauwesen und Lehm, Torf und Ton für die keramische Industrie interessant. Etwa 30 Prozent des Gebietes sind von Wäldern bedeckt.“
Quelle : Ostpreußen – Wikipedia
2. Lage der Gemeinde Wilkental in Ostpreußen
Kirchspiel bezeichnet ursprünglich einen Pfarrbezirk (Parochie https://de.wikipedia.org/wiki/Parochialprinzip ), in dem die Ortschaften einer bestimmten Pfarrkirche und deren Pfarrer zugeordnet . In Ostpreußen war ein Kirchspiel zugleich Verwaltungsbezirk, Gerichtsbezirk oder Bezirk für das militärische Aufgebot
Hier noch die Karte Kirchspiel Aulowönen einfügen
Quelle: Datei:Landkreis Insterburg.jpg – GenWiki (genealogy.net) 1936
Die folgende Karte zeigt das Kirchspiel Aulenbach 1.1.1945
Hier noch die Karte Provinz Ostpreußen einfügen Die folgende Karte die Provinz Ostpreußen in der Zwischenkriegszeit
Verwaltungsgliederung der Provinz Ostpreußen 1905 bis 1920; Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen und Allenstein; Quelle: Regierungsbezirk Gumbinnen - Wikipedia
Lage des ehemaligen Kirchspiel Aulobach im Oblast Kaliningrad, Quelle: Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)
3. Grundherrschaft und Gutsherrschaft
Um 1700 und 1800 überwog die Grundherrschaft westlich der Elbe, die Gutsherrschaft war überwiegend östlich der Elbe anzutreffen. Bei der Grundherrschaft fielen Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft häufig auseinander. „Der Gutsherrschaft dagegen gelang es Grund-, Leib und Gerichtsherrschaft dauerhaft zu kombinieren. Sie verband schließlich ein durchgreifende, durch Boden- und Personalrechte, Polizeigewalt und Patrimonialrechte abgestützte Herrschaft im Territorium des Gutsbezirks mit einer landwirtschaftlichen Betriebs- und Arbeitsorganisation, die auf den Zwangsdienst abhängiger Arbeitskräfte beruhte. Im Westen sah der Grundherr den Bauern als Steuerzahler und Renten Quelle im Osten sah der Gutsherr den Bauern als Arbeitskraft. Im Westen richteten sich die Grundherren auf die lokalen Märkte aus im Osten waren die Gutsherren überwiegend auf den Fernhandel mit Getreide fixiert. … In Ostpreußen umfasste die landwirtschaftliche Produktion um 1800 etwa 53% Getreide, 23% andere pflanzliche Erzeugnisse und 24% Nutztiere. “ Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 1)
Auf regionaler Ebene herrschte in Ostpreußen, unter dem Königshaus Preußens (1701 - 1918) , der Landadel. Der größte Teil der nicht adligen Bevölkerung lebte auf dem Lande und von der Arbeit in der Landwirtschaft. „Der grundbesitzende Adel hatte seine ökonomische und gesellschaftliche Basis in der ländlichen Herrenstellung. Trotz großer Flächen landesherrlichen Domänenbesitzes herrschte der Adel auf dem Lande. Das resultiert vor allem aus dem Obereigentum an Besitzerrechten, welches sich Ostpreußen bis zu 80 Prozent der Landbevölkerung erstreckte. Hier konnten die Adligen ihre Ansprüche auf Zinsgelder, Naturalabgaben und Dienstleistungen weiterhin geltend machen. Sie waren gelichzeitig Gerichtsherren, Träger der Polizeigewalt und auch Patronatsherren über Kirche und Schulen, Siegelführung, Jagdrecht, Brau- und Brandweinmonopol und weitere Bann und Zwangsrechte. Steuer- und Zollfreiheit sicherten dem Landadel kommerzielle Vorteile, auch gegenüber der städtischen Kaufmannschaft."
Das Rechtsinstitut der Gutsherrschaft überließ dem Landadel die gesamte untere Zivilverwaltung (Vogteiverfassung: 2.2 Verfassung und Verwaltung – Die Hohenzollern und ihr Werk (die-hohenzollern-und-ihr-werk.de), Militärverwaltung (Kantonreglement) und Rechtsprechung (Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten – Wikipedia)
4. Gruppen der Landbevölkerung
Die bäuerliche Bevölkerung in Preußisch-Litauen lässt sich im Rahmen der „Bauernbefreiung“ in Preußen (1799-1850) nach Erwin Spehr grob in folgende Gruppen einteilen: Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (ge-nealogy.net)
Das folgende Ornigramm zeigt die Verteilung und Qualität des Grundbesitzes im 18. Jahrhundert im Königreich Preußen: (Zeitemphyteuten waren Mennnoniten-Höfe Westpreußen, Regierungsbezirk Marienwerder, Landzählung der Zeitemphyteuten, 1824 – Mennonitica (mennonitegenealogy.com))
Auf fünf dieser Gruppen soll ausführlicher eingegangen werden:
„Die Kölmer standen in der sozialen Rangordnung der Landbewohner an der Spitze. Sie besaßen großen Grundstücke als freies Eigentum zu besonderen (kulmischen) Rechten, die sie meist schon während der Ordens- und Herzogenzeit erhalten hatten. Diese privaten Gutsbesitzer (bis 1811 etwa10 % aller Güter) hatten außer der geringen Grundsteuer, dem königlichen Domänenamt gegenüber keine weiteren Verpflichtungen. Sie waren auch private Gutsherren über ihr Gesinde (Eigenkätner, Losleute, Instleute). Um 1800 kamen auf 1000 ha Ackerland ca. 70 - 80 landwirtschaftliche Arbeitskräfte, abhängig von den Produkten.
Bei den Bauernhöfen der Amtsbauern, die nach der Großen Pest entstanden (1708 -1710) und dem Sieben-jährigen Krieg (1756-1763), mit meist einer Hufe (ca. 16 ha) Ackerland, konnte man nach dem "Wiederaufbau" drei Klassen unterscheiden. Sie waren in Teilen aber noch bis zur Reichsgründung 1871 von Bedeutung, in Einzelfällen wie der der Ablösungskassen sogar bis 1918.
Quelle: Kölmer – Wikipedia
Die erste Klasse: Die Minderheit (ca. 5 % im Kirchspiel Aulowöhnen), waren die Schatull- und Erbfrei-Bauern, sie hatten ihren Boden gekauft. Nach dem Frieden von Oliva (1660) begannen umfassenden Besiedelungsaktionen. Schatullgrundstücke entstanden durch Rodungen und Kultivierung von Wald und Ödland. Die Höfe wurde von der Domänenverwaltung in Form von Haufendörfern organisiert. Schatullkölmer oder Schatullbauern blieben scharwerksfrei und waren außer ihrem Grundzins nur gelegentlich zum Forstdienst verpflichtet waren. Neben Grundzins und Personensteuer hatten sie meist keine weiteren Abgaben zu entrichten. Die Zinserträge wurden nicht an die lokalen Ämtersondern direkt in die Schatulle des Königs abführte.
Diese Bauernstellen waren aber vermögenden Siedlern vorbehalten, da der Boden gekauft werden musste. Bewährte sich der Siedler, so erhielt er nach einigen Jahren seine „Berahmung“ – eine gerahmte Besitzerurkunde. Viele der Haufendörfer im Kirchspiel Aulowöhnen sind, wie Willschicken, auf diese Weise etwa von 1700 bis 1816 entstanden.
Quelle: Schatulle (Grundbesitz) – Wikipedia
Die zweite Klasse waren Koloniebauern (ca.15% im Kirchspiel Aulowöhnen). Größere Siedlergruppen wie Salzburger (1732 etwa 16.000 Zuwandere), Hugenotten, Mennoniten, Schweizer Schotten, Pfälzer und Hessen hatten den Koloniestatus erhandelt. Auch sie erhielten wie Scharwerksbauern Land und Hof vom König kostenlos und hatten deshalb vielerlei Pflichten, jedoch vom Scharwerksdienst selbst waren sie befreit. Der spätere Regierungsbezirk Gumbinnen war ein bevorzugtes Siedlungsgebiet der Koloniebauern.
Quelle: Protestantenvertreibung – Salzburgwiki (sn.at)
Die dritte Klasse: Die große Masse der Scharwerksbauern (ca. 80 % im Kirchspiel Aulowöhnen) aber war arm. Trotz hoher Kindersterblichkeit wuchsen durchschnittlich 5 Kinder zu billigen Arbeitskräften auf. Durch den „Wiederaufbau“ entstanden viele Sielungen neu oder es wurden verfallene Höfe besiedelt. Bis 1782 entstanden in den 28 Gemeinden des Kirchspiels Aulowönen etwa 50 (neue) Dörfer. Die Bauern waren erbuntertänig (Lasswirtschaft), d.h. sie unterlagen der Schollenpflicht (das Gut und der Hol konnte nicht eigenständig verlassen werden), sowie den Frondiensten und dem Gesindezwang. Ein Scharwerker konnte seinen Hof mit den Pflichten und Rechten regulär vererben oder mit Genehmigung des Amtes gegen eine Abstandszahlung an einen anderen übergeben. Die Scharwerker waren nicht Eigentümer ihres Landes, sondern nur Besitzer. Sie hatten bei der Neuansiedlung Ackerland, Wohnhaus, Wirtschaftsgebäude, Arbeitstiere, Nutzvieh, Hofgeräte und Saatgut vom Grundherrn kostenlos erhalten, d.h. durch das Domänenamt vom König – das ihnen gegenüber jedoch auch noch weitere Verpflichtungen wie z. B. die Kranken- und Altersfürsorge hatte.
Die Scharwerker hatten neben der Zahlung des Grundzinses dem Amt gegenüber einer Vielzahl von eigenen Verpflichtungen. Die wichtigste war der Frondienst, d.h. die Mitbewirtschaftung der staatlichen Domänen mit den eigenen Arbeitstieren und Geräten, denn die staatlichen Güter hatten keine eigenen Landarbeiter. Die Beanspruchung lag im Mittel bei 80 - 85 Tage pro Jahr. Jeder Scharwerker musste durch den Gesindezwang für die Hausarbeit auf den Gütern eine Teilnahme durch Angehörige oder Nachbaren stellen (Frauen und Kinder, ab 14 Jahre), die auch untereinander gegen Geld ver- und geliehen werden konnten.
Insgesamt flossen so bis zu 40 % der bäuerlicher Bruttoproduktion dem Domänenamt zu.
Zu diesen drückenden Diensten oder Abgaben müssen noch die versteckten Leistungen hinzugerechnet werden. Herrschaftliche Monopolansprüche erstreckten sich z. B. auf die Kalkbrennerei oder die Ziegelerstellung. Der Mühlenbann gebot, alles Getreide beim Herrn mahlen zu lassen. Das Bier- und Brandweinmonopol verschaffte ihm ein lukratives Geschäft, das bereits ein Drittel der Gutserträge ausmachen konnte. Nicht selten ab es eine Backzwang und Vorverkaufsrechte, wenn bäuerliche Produkte zum Verkauf kamen.
Zu der von allen abhängigen Bauern geforderter Grundzins bis zu 40 % der Bruttoerträge kam noch in Kriegszeiten die Kontribution in Ostpreußen in Höhe von 3 -7 Taler je Hufe hinzu. Im Haushalt 1805/06 nahmen in Preußen die Kontributionen mit 5,6 Millionen Taler hinter dem Domäneneinnahmen mit 8,7 Millionen Taler, den zweiten Platz ein.
„ Kein Wunder, dass sich rund 80 % aller Bauern nur auf einem kärglichen Lebensniveau, ein wenig ober- oder auch unterhalb des Existenzminimums, das ohnehin niedrig nach zeitgenössischen Maßstäben angesetzt wird, behaupten konnten“ (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1)
Alt Lappöhnen 1893, das Dorf Willschicken hatte 1893 noch einen erkennbaren Dorfkern, Quelle: Groß Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)
Alt Lappönen 1939, Quelle: Gut Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)
Die Nichtbauern stellen bezogen auf die gesamte ländliche Bevölkerung die größte Gruppe dar. Hans-Ulrich Wehler (Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1) berichtet: „Auch im ostpreußisch-litauischen Kammerbezirk mit seinen relativ vielen sichergestellten Domänen- und Adelsbauern (25 787) hat man für 1802/04 gezählte 47 229 Unterbäuerliche (Kossäten, Insten, Hirten und Handwerker) also ein Verhältnis von fast 1 zu 2 ermittelt.“
Bei den Nicht-Bauern waren die Eigenkätner die wichtigste Gruppe. Sie hatten auf gepachtetem Grund ein eigenes kleines Haus (Kate) mit Garten. Sie waren also fest ansässig und arbeiteten auf privaten Gütern oder betrieben ein ländliches Handwerk. Gärtner oder Instleute wohnten zur Miete, bewirtschafteten einen Garten und waren fest gegen Lohn oder Deputat auf privaten angestellt. Losleute waren ländliche Tagelöhner.“
Das Lebensnivau der Nicht-Bauern lag in der Regel noch unter dem der Bauern.
Im Deutschen Reich betrug 1871/1881 die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Jungen 35,6 Jahre und für Mädchen 38,4 Jahre. Durch die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit starb ein Drittel der Kinder vor Vollendung des 5. Lebensjahres. In den letzten 140 Jahren hat sich die Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland mehr als verdoppelt (2016/2018: Jungen: 78,5 Jahre / Mädchen: 83,3 Jahre). Dafür sind viele Faktoren verantwortlich: Fortschritte in der Medizin, im Gesundheitswesen und im Bereich der Hygiene, bessere Ernährung, komfortableres Wohnen, bessere Arbeitsbedingungen sowie höhere Sicherheitsstandards.
Quelle:Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (ge-nealogy.net)
5. Bauernbefreiung
Das Lebensniveau der ländlichen Arbeitskräfte war in Ostpreuße über lange Zeiträume wirtschaftlich bedrückend. Die "Bauernbefreiung" bezeichnet die in Deutschland mehr als hundert Jahre dauernde Ablösung der persönlichen Verpflichtungen der Bauern gegenüber ihren Grund- und Gutsherren vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert. Der Begriff wurde 1887 vom Straßburger Volkswirt Georg Friedrich Knapp eingeführt. (Quelle: Georg Friedrich Knapp: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens)
Die Bauernbefreiung lässt sich allgemein durch 5 Schritte beschreiben:
1. Die Aufhebung der persönlichen Bindungen.
2. Die Umwandlung der Dienste und Naturalleistungen in Geld- oder Sachleistungen.
3. Die Verleihung des Eigentums an Boden, Gebäuden und Inventar an die Bauern. Diese belastete die Bauern unterschiedlich lang (24 bis 50 Jahre).
4. Die Auflösung der Allmenden und die Beseitigung der Gemengelage ("Separation") sowie deren individuelle Nutzung.
5. Die Aufhebung der ständischen Patrimonialgerichtsbarkeit und der Polizeigewalt
Die Bauernbefreiung lässt sich zeitlich in verschiedene Stufen einstufen:
- In Preußen wurde 1799 die Leibeigenschaft der Domänenbauern im Rahmen der preußischen Agrarverfassung aufgehoben
- das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 hob die Erbuntertänigkeit für Bauern auf.
- das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 sollte den Bauern das Eigentum an den von ihnen bewirtschafteten Höfen übertragen. Sie mussten sich von bisherigen Abgaben und Frondiensten durch eine Zahlung an die Gutsherrn und die königlichen Domainen-Ämter freikaufen. Dies geschah über Jahrzehnte durch die neue General-Kommissionen zur Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, die in Zusammenarbeit mit den Regierungen die Eigentumsverleihung (Ablösung, Austhuung) vornahm (abgeschlossen um 1855).
- die Deklaration zum Regulierungsedikt (1816) regelte die Entschädigungen für die Gutsbesitzer zu Ungunsten der untertänigen Bauern.
Die Reformen von 1807 bis 1816 betrafen nur diejenigen Bauern, die in einem gutsherrlichen Verhältnis standen und besonders hohe Dienste zu leisten hatten. Nicht betroffen waren zunächst die mit einem besseren Besitzrecht ausgestatteten grundherrlichen Bauern. Außerdem wurde der Kreis der Bauern, die eine vollständige Aufhebung des Abhängigkeitsverhältnisses erreichen konnten, erheblich verkleinert. Durch hohe Landabtretungen wurden die Bauern zusätzlich belastet. Diese Reformen galten zudem nur für das Preußen im Gebietsstand von 1807 nach dem Frieden von Tilsit.
- 1850 Ablösung aller Servituten (Dienstbarkeiten) auf Grundstücken ohne Entschädigung der Grundherrn. Ablösung, "Austhuung", Regulierung des Grundbesitzes im Wesentlichen abgeschlossen für erbliche Pächter, Gärtner usw. (Ablösungs-Gesetz vom 2. März 1850). Amortisationszahlungen dauerten bis zur Weltwirtschaftskriese 1929 und wurden durch neue Rentenbanken vorfinanziert.
- Die Bauernbefreiung in Preußen war 1816 noch nicht abgeschlossen. Die grundherrlichen Bauern konnten erst 1821 eine Geld-Ablösung beantragen; einen vorläufigen Abschluss erfuhren die Reformen erst nach 1848/49 mit dem Gesetz vom 2. März 1850.
- Die Verbesserung der Rechte der Schatull- und Koloniebauern erfolgt stückweise bis 1850/1855, die der Nichtbauern die Eigenkäter, Losleute, Instleute und Saisonarbeiter sogar erst bis 1918.
Quelle: Bauernbefreiung – Wikipedia
Knapp kritisierte an der Bauernbefreiung die zum Teil zwangsweise Landabtretungen der Bauern an die Güter und das sich verschlechternde wirtschaftliche Schicksal der Bauern und der landlosen Schichten, der Nichtbauern in Preußen.
In den Gebieten östlich der Elbe hatten die Agrarreformen erhebliche soziale Folgen. Zunächst führte die Erweiterung des Gutslandes dazu, dass sich bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die Zahl der Rittergutsfamilien stark vergrößerte. Die Zahl der Bauernhöfe blieb in etwa gleich. Neu war jedoch, dass eine breite ländliche Unterschicht entstand. Die Zahl der je nach Region und Rechten unterschiedlich bezeichneten Landarbeiter (Instleute, Gesinde, Tagelöhner) stieg um das Zweieinhalbfache. Die Zahl der Kleinbesitzer, regional Kätner genannt, nahm um das Drei- bis Vierfache zu. Viele waren auf einen handwerklichen oder sonstigen Nebenerwerb angewiesen.
Viele Bauern konnten die Entschädigungssumme nicht aufbringen. In diesem Fall mussten sie entweder den Gutsbesitzern bis zur Hälfte ihres Landes als Entschädigung überlassen, wobei der Rest oft nicht mehr genug Ertrag brachte, oder sie mussten sich stark verschulden. Als schließlich durch eine neue Verordnung auch noch die Allmende (das von allen nutzbare Land eines Dorfes) überwiegend den Großbauern und Gutsherrn als Entschädigung zugesprochen wurde, verloren viele Kleinbauern endgültig ihre Existenzgrundlage und mussten sich als Landarbeiter auf den großen Gütern verdingen oder abwandern. Die Entschädigungshöhe richtete sich nach den vorhandenen damaligen Grundstücksgrößen.
Obwohl die Reformer mit diesem Edikt hauptsächlich für mehr Freiheit sorgen wollten, vergrößerte sich in der Folgezeit die besitzlose ländliche Unterschicht. Letztlich profitierten außer einem begrenzten bäuerlichen Mittelstand die Großgrundbesitzer und adligen Junker von der Reform, die auf diese Weise ihren Landbesitz mehren konnten. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche wurde bis 1848 von 7,3 Millionen auf 12,46 Millionen Hektar vergrößert, und die Produktion erhöhte sich um vierzig Prozent. „Den Bauern die Freiheit uns das Land“
Aber auch nach der „Bauernbefreiung“ blieb die Lage angespannt. In den rund 60 Jahren zwischen 1871 und 1933 hat Ostpreußen einen Arbeitsüberschuss von etwa netto 1 Million vorwiegend junger Menschen abgegeben. Der Regierungsbezirk Gumbinnen hatte die größten Verluste. Selbst eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen halfen nicht, diese langanhaltende massive Abwanderungen aus der Landwirtschaft zu stoppen. Erst im Dritten Reich stabilisierte sich die Bevölkerung zwangsweise – begründet durch den massiven Ausbau der Armee und die Kriegswirtschaft mit entsprechenden Gesetzen und Verordnungen wie den Reichsnährstand auf etwa 2,4 Mio. Während des Dritten Reiches meldeten sich nach Schätzungen zirka 85.000 junge Ostpreußen freiwillig bei der Wehrmacht.
„Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen Wirtschaft hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in andere Teile Deutschlands abgewandert.“
Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink
6. Gemeineigentum , Regulierung und Ablösung
Das gemeinschaftliche Eigentum und die unterschiedlichen Nutzungsberechtigungen erschwerten eine intensivere Bewirtschaftung. Mit der Privatisierung wurden Produktivitätssteigerungen erzielt, die im 18. Jahrhundert eine Ablösung des gemeinschaftlichen Eigentums auslösten.
In Preußen wurde 1821 die Gemeinheitsteilungsordnung erlassen, es folgte 1850 ein Gesetz zur Ablösung der Reallasten. Das gemeinschaftliche Eigentum wurde auf die Berechtigten aufgeteilt oder die Berechtigten wurden mit Geld entschädigt. Dadurch entstanden auch kleine Splittergrundstücke, die nach Möglichkeit zusammengelegt wurden. Bei Reallasten (Nutzungsberechtigungen am Grundstück) musste der Grundstückseigentümer den Berechtigten für die Ablösung entschädigen.
Da durch die Gemeinheitsteilungen kleine Grundstücke entstanden und auch der sonstige Grundbesitz eines Eigentümers zerstreut liegen konnte, wurde es nötig, Grundbesitz zusammenzulegen.
In Preußen wurde die Gemeinheitsteilungsordnung von 1821 im Jahr 1872 geändert und auf die Zusammenlegung von Grundstücken, die nicht im gemeinschaftlichen Eigentum stehen, erweitert. Damit wurde die Zusammenlegung eine selbständige Maßnahme der Neuordnung.
Bei diesen Verfahren wurden die von den Bauern individuell genutzten, aber stark parzellierten Flächen neu verteilt, so dass größere Parzellen und ein neues Wegesystem geschaffen wurde. Hierdurch wurde die Produktivität der Betriebe gefördert, da sich Wege verkürzten, weniger Zugvieh nötig wurde und die eigenen Flächen besser in Aufsicht standen. Durch die Regulierungskommission wird auch das Gemeinschaftseigentum der Dörfer die „Allmende“ verteilt. Je größer das Land, desto größer der Gebietsanspruch“. Nur 14 % des Grundes der aufgelösten Allmenden wurden den Amtsbauern zugeteilt. Der Rest ging an die Gutsbesitzer. Die Allmende umfasste:
· das Wasserrecht,
· das Weiderecht,
· das Fischereirecht,
· das Recht zum Abbau von Sand oder Kies und weiteren Rohstoffen im Rahmen des Bergregals sowie das Recht zum Torfabbau,
· das Mastungsrecht,
· das Recht zur Entnahme von Bau- und Brennholz, oft auf kleinere Bäume und Fallholz begrenzt (Holzrecht)
Es entstehen zusammenhängende und vor allen nach Bodenwerten bewertbare Bauern-Grundstücke, die aber nicht immer hofnahe lagen. Aber die nicht mehr geleisteten Dienste, das Inventar, das Vieh und die Gebäude stellte der Grundherr ihnen in Rechnung oder fordern (ab 1816) Landabtretungen. So hatten die Amtsbauern mit einem guten, erblichen Besitzrecht bis einem Drittel ihres Bodens, die mit einem nicht erblichen Besitzrecht bis zur Hälfte ihres Landes abzutreten.
Die gesamte finanzielle Belastung der Scharwerksbauern war jetzt jährlich etwa zwei bis dreimal so hoch war wie vorher. Sie waren häufig nicht mehr in der Lage diese Zahlungen zu leisten, trotz der gesetzlichen Möglichkeit von 24-51-jähriger Rückzahlungsraten, je nach Zinssatz, so dass die Grundstücke vielfach an den Gutsherrn zurückfielen oder gepfändet wurden und von vermögenden Bauern und Bürgern erworben wurden, um sie teilweise weiter zu verpachten. Die Fläche der privaten Güter nahm um ca. 20 % bis 1851 zu. Viele besitzlos gewordene Scharwerker und Nicht-Bauern wanderten jetzt als "Pioniere" oder mit Familien in die entstehenden Industriestandorte im Westen. Trotz weiterhin hoher Geburtenrate hatte Ostpreußen nur eine der geringsten Bevölkerungszunahmen im Deutschen Reich.
Für die wachenden Ernteerträge auf den Gütern wurden deshalb (billige) Saisonarbeiter aus Polen/Russland angeworben. Diese Schnitter Kolonnen verpflegten sich selber: Kornus aus der mitgebrachten Korbflasche verdünnt mit Wasser, Kohlsuppe und eine Seite fetter Speck war eine übliche Verpflegung. Akkordarbeit war die Regel. Geschlafen wurde in den Ställen oder im Freien. Auf dem Gut Alt Lappönen gab es sogar eine “Schnitterkaserne“, in der im Dritten Reich Ostarbeiter untergebracht wurden. Quelle: https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2021/Ausgabe29.shtml
Polnischer Landarbeiter um 1900
Quelle: Hans Bloech, Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 2
Schnitter Kolonne
Quelle: Hans Bloech, Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 2
Altsitzer bezeichnet den Eigentümer, der seinen Hof nicht mehr selbst bewirtschaftet, sondern ihn an seine Nachkommen abgegeben hat. Es führte häufig zu räumlichen Trennungen. Dazu wurden sehr umfangreiche schriftliche Vereinbarungen getroffen und in die Grundakte eingetragen. Damit war seine Versorgung gesichert, eine Rente gab es damals noch nicht.
7. Verschuldung
Die Verschuldung war bis 1945 ein Dauerthema in der Landwirtschaft in Ostpreußen. Frühe Quellen berichten: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brach für den Landadel eine schwierige Zeit an. Die Kriege und die wirtschaftliche Zerrüttung in den 1740er und 1750/1760 Jahren, verschärften noch durch die staatliche Manipulation des Kornmarktes durch das Magazinsystem und die demografische Überlastung durch den natürlichen Zuwachs der landbesitzenden Familien, setzten den Landadel zusehends unter Druck. Die Verschuldung der Junkergüter nahm drastisch zu, was in vielen Fällen zu Bankrotten oder dem Zwangsverkauf des Grundsitzes, häufig an wohlhabende Bürgerliche, führte. 1856 befanden sich nur noch 58 % des adligen Landes in den Händen adliger Landbesitzer. Adlige beklagten das "Güterschlachten". Das betraf besonders für den letzten Schritt zu, eine sehr gefürchtet Entscheidung, den Zwangs-Verkauf von Gutsland.
Verschuldung in Preußen in der Landwirtschaft 1883 | |||
überhaupt | davon | davon | |
absolut | verschuldet | verschuldet | |
in % | mittelmäßig | hoch | |
Große Güter | 70,4 | 27,5 | 32,9 |
Großbauern | 43,1 | 28,5 | 14,6 |
Mittelbetriebe | 39,8 | 27,5 | 12,3 |
"In Ostpreußen lagen berechtigter Weise die Prozentzahlen aufgrund der wesentlich schlechteren Lage deutlich höher." Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 3
Die Suche nach einer Methode zum Schutz führte schlussendlich zur Gründung staatlich finanzierter landwirtschaftlicher Kreditanstalten (Ostpreußische Generallandschaftsdirektion - Diese Organisation, die ostpreußischen Landwirten unkündbare Kredite zu mäßigen Zinsen beschaffen konnte, wurde 1788 von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen mit einem Kapital von 200.000 Talern gegründet), zur ausschließlichen Nutzung durch die Junkerfamilien. Ab 1881 wurden diese auch an Nichtadelige vergeben. Diese Einrichtungen vergaben Hypotheken zu niedrigen Zinssätzen an notleidende oder verschuldeten adligen Grundbesitzer.
Die Kreditanstalten waren zunächst überaus erfolgreich, zumindest wenn man als Maßstab für Erfolg das rapide Wachstum des Wertes der von ihnen ausgestellten Akkreditive heranzieht, die schnell zu Objekten finanzieller Spekulation wurden. Darlehen der Kreditanstalten halfen zweifelsohne einigen notleidenden Grundbesitzern, ihre Produktivität zu verbessern. Doch die gesetzlichen Bedingungen, die Darlehen zur nutzbringenden Verbesserung des Landes zu verwenden, wurden häufig sehr großzügig ausgelegt, sprich die vom Staat subventionierten Kredite wurden für Zwecke missbraucht, die wenig zur Konsolidierung des adligen Landbesitzes beitrugen. Davon abgesehen reichten die Kreditanstalten nicht aus, die sich stetig verschärfende Schuldenkriese im gesamten ländlichen Sektor zu beheben, da sich Grundbesitzer, die von den Landschaften keine günstigen Darlehen mehr erhielten, einfach an andere Geldgeber wandten. Über die 54 Millionen Taler Hypothekendarlehen hinaus, welche die Kreditanstalten 1807 insgesamt hielten, hatten die adligen Landbesitzer weitere 307 Millionen Taler Grundschulden bei bürgerlichen Gläubigeren aufgenommen.“ (Quelle: Christopher Clark, Preußen)
Nach Hans-Ulrich Wehler ist die „Landwirtschaft bis 1945 im Verhältnis von fast 1 zu 1 abhängig von den Konjunktur- und Depressionsverläufen der übrigen Wirtschaf. Mit einem kurzen Zeitversatz bestimmt diese Verläufe auch die Höhe der Zinsen, die für die Schulden der Landwirtschaft aufgebracht werden musste. Zumal die Landwirtschaft bis 1873 der führende Sektor war. 1885 gewann die deutsche Industrie in Hinblick auf so wichtige Leistungsindikatoren wie die Wertschöpfung, den Kapitalstock, die Nettoinvestition und den Anteil am Nettoinlandsprodukt den Primat vor der Landwirtschaft .“ Diese Entwicklung war für die Binnenmigration von großer Bedeutung. Das galt besonders für Ostpreußen.
Insgesamt blieb die Verschuldung ein Dauerthema in Ostpreußen. Insbesondere ist das Schuldenproblem nach dem Ersten Weltkrieg abermals deutlich hervorgetreten und zu einem Symptom der wirtschaftlichen Schwäche der Provinz geworden. Die öffentlich-rechtliche oder genossenschaftliche Banken, landwirtschaftliche Genossenschaften oder gemeinnützige Siedlungsgesellschaften waren die Kreditgeben. Aufgrund der konjunkturellen Lage lohnte sich die private Kreditvergabe nicht. Lage Dazu die Stichworte: Allgemeine Grenzhilfe, Ostpreußenhilfe, Osthilfe und Reichsnährstand.
Die folgende Tabelle zeigt nach Hans-Ulrich Wehler die Konjunkturzyklen im Deutschen Reich.
Konjunkturzyklen im Deutschen Reich nach Hans-Ulrich Wehler | |
1816 bis 1817 | Agrarkrise Hungerkrise |
1818 bis 1820 | Nachkriegsaufschwung |
1821 bis 1825 | Preiskrise |
1826 bis 1845 | Konjunktur |
1846 bis 1847 | Agrarkrise Hungerkrise |
1848 bis 1873 | Aufschwung goldene Jahre |
1873 bis 1879 | Depression Weltwirtschaftskrise |
1879 bis 1882 | Konjunktur |
1882 bis 1886 | Depression |
1886 bis 1890 | Konjunktur |
1890 bis 1895 | Depression |
1895 bis 1900 | Konjunktur |
1900 bis 1902 | Depression |
1902 bis 1907 | Konjunktur |
1907 bis 1908 | Depression |
1908 bis 1913 | Konjunktur |
1914 bis 1918 | große Inflation Weltwirtschaftskrise |
1918 bis 1924 | Hyperinflation |
1924 bis 1928 | goldene Jahre |
1929 bis 1933 | Dritte Weltwirtschaftskrise |
1933 bis 1945 | Kriegsfinanzierung |
(Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 1,2,3 und 4)
Selbst in Konjunktur-Zeiten gelang es den Wenigsten ihre Schulden abzubauen, da es häufig langwierige Prozesse waren. Was lag dann näher als ein Verkauf oder die Verpachtung.
Um die strukturelle Verschuldung zu mildern, war die Seperation (Flurbereinigung) eine wichtiges Instrument. Sie ermöglichte eine Modernisierung der ländlichen Infrastruktur, die aber nur teilweise umgesetzt wurde.
8. Seperation und Modernisierung
Die rationelle Landwirtschaft erforderte leistungsbereite Arbeitskräfte, größere und modernere Wohnbauen, Ställe, Scheunen, verstärkter Maschineneinsatz, Mineraldünger, kürzere Wege auf eigenem Land, eine verbesserte Dreifelderwirtschaft, Melioration und neue Zuchtmethoden. Hinzu kam eine leistungsfähige Infrastruktur, sichere Vertriebskanäle und stabile Abnahmemärkte. All dies setzte den persönlichen und politischen Willen voraus und kostet Geld. Insgesamt bleib aber die Modernisierung der Landwirtschaft in Ostpreußen gegenüber dem Reich zurück. Bis 1945 war die Wirtschaft Ostpreußens überwiegend agrarisch geprägt. Bodenschätze fehlten nahezu. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte von gebietsweise nur knapp 49 Menschen je km² (Gumbinnen Stand: 1938) war der land- und forstwirtschaftliche Sektor auf den Export seiner Überschüsse angewiesen.
Dichte per qkm
Dichte qkm Ostpreußen Dt. Reich BRD
1871 51 77
1910 58 124
1939 67 136
1977 248
Quelle: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1
„Seperation“, „Ausbau“ oder „Abbauten“, masurisch "Wynara", (Flurbereinigung) d.h. die (amtliche) Zusammenlegung, oder (freiwillig/wirtschaftlich) der Tausch, die Pacht, die Erb- und Altenteilung oder der Kauf und Verkauf von fideikommmissfreien Guts-, Scharwerks- und Allmendegrundstücken führte im Laufe der Zeit zu räumlichen Veränderungen, nämlich zur teilweisen Auflösung der geschlossenen Dorfkerne.
Die Durchführung der Separation, die zu starken Veränderungen in der Landwirtschaft führte, wurde von vielen Problemen gebremst. Dazu zählte die Angst der Landeigner vor finanziellen Verlusten ebenso wie Streitigkeiten der Interessenten bei der Aufteilung der Parzellen nach Größe und Bodengüte und der anschließenden Verlosung. Mitunter dauerte die Separation ganzer Orte in mehreren Etappen über zehn Jahre.
Für gesuchte Neusiedler waren die zersplitterten Flächen der alten Landwirtschaft ein Problem. Eine vorherige Flurbereinigung, dessen Ziel zusammenhängende Grundstücke zu bilden war, war eine Voraussetzung. Erst nach der Flurbereinigung, hatten Neusiedler und Siedlungsgesellschaften Interesse an dem zusammengelegten Ackerland.
Der alte Hofplatz wurde entweder für Instleute verwendet oder an Handwerker oder Kätner verkauft. Nicht selten blieben nur wenige Bauern mit den Handwerkern, dem Kaufmann, dem Krug und der Schule im alten Dorf zurück. Manches kleine Bauerndorf hat sich aufgelöst und wurde zur Streusiedlung. Es entstanden Streulagen.
Bauern, deren Besitz weit vom Dorf entfernt lag siedelten aus. Sie gaben ihren alten Hof auf und bauten einen neuen auf einem Außengrundstück. Im Gegensatz stand dazu der Fideikommiss: Ein durch Stiftungsakt geschaffenes unveräußerliches und unteilbares, einer bestimmten Erbfolge unterliegendes Vermögen, das auch nicht belastet werden durfte
Hintergrund für die Seperation waren auch günstige Kredite, die zum einen der Abwendung von Bankrott oder Zwangsverkauf zum anderen der rationellen Wirtschaft oder beidem dienten.
Altsitzer bezeichnet den Eigentümer, der seinen Hof nicht mehr selbst bewirtschaftet, sondern ihn an seine Nachkommen abgegeben hat. Es führte häufig zu räumlichen Trennungen. Dazu wurden sehr umfangreiche schriftliche Vereinbarungen getroffen und in die Grundakte eingetragen. Damit war seine Versorgung gesichert, eine Rente gab es damals noch nicht.
Abbildung: Angebote von neue Landmaschinen
Rudolf Wernike Ostdeutsche Landmaschinen, Heiligenbeil, Ostpreußen
Ab 1882 besaß Rudolf Wernike die erste ostpreußische Landmaschinenfabrik in Heiligenbeil mit Dampfmaschinenbetrieb und 20 Schmiedefeuern, deren Produkte dank guter Qualität schon 1895 mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. Die Fabrik erwarb sich so den Ruf als „ostdeutscher Pflugbauer.
Vorhandene Landmaschinen wurden in Wilkental im Rahmen der Talka („Bitthilfe“) unter den kleinen Höfen und zwischen Verwandten und Bekannten häufig ausgeliehen. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation waren Neuanschaffungen kaum möglich. Große Güter überließen ihre Maschinen nicht den „kleinen Krautern“. Dafür war auch der Soziale Abstand zwischen den Schichten der Junker und den (Klein) Bauern viel zu groß.
Die Rittergutsbesitzer (Junker) konnten auf dem Lande in Ostpreußen als eine „institutionalisierte soziale Organisationen“ bezeichnet werde. Es gab festgelegten sozialen Verhaltensregeln. So war heiraten untereinander üblich. Das galt auch für eine Mitgliedschaft in bestimmten politischen Vereinen und Parteien. Sie zeichnete eine speziellen "monarchischer Gesinnung" aus. "Die Junker besaßen insbesondere im 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im östlich der Elbe gelegenen, auch Ostelbien genannten Kerngebiet Preußens eine bedeutende politisch-ökonomische Machtstellung, die politisch bis 1918 durch Gesetze, das Dreiklassenwahlrecht und ökonomisch durch den erheblichen Großgrundbesitz dieser Schicht gefestigt wurde.“ (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 3)
An einer generellen Modernisierung der Infrastruktur hatten die Großgrundbesitzer wenig Interesse. Sie befürchteten den Teil-Verlust ihrer traditionellen Monopolstellung. Die Modernisierung ihrer Güter stand für die die meist sehr konservativen Agrarier ebenfalls kaum im Vordergrund. Die Erlöse - wenn vorhanden - wurden anderweitig angelegt, wie reprätentative Gutshäuser, edle Rassepferde und Hunde, aufwendige Jagdreviere, teure Ausbildungen, umfangreiche Aussteuer und zuhause in gelagerten Goldreserven)
So wurden die Dörfer Lindenhöhe und Wilkental erst 1934 mit Strom versorgt – der noch sehr teuer war, so dass abseitsliegende Höfe noch bei den Petroleum Lampen bleiben mussten. Elektrische Energie stand bis zum Ende des 1. Weltkrieges 1918 nur im geringen Umfang zur Verfügung. Sie kam aus rund 800 kleinen privaten Elektrizitätswerken und reichte mit rund 100 000 kWh Jahresleitung meist alleine für die Beleuchtung. Sie wurden mit Kohle, Holz oder Torf betrieben und liefen nur zeitweise. Ab 1921 wurde die Versorgung mit Hilfe der Ostpreußenwerk AG langsam zentralisiert.
Einzelne Telefonanschlüsse - mit der Voranmeldung "Aulowönen" gab es schon ab 1932 – die der großen Güter, Bürgermeister, Polizei und der Post. Davon profitierte der Gasthof Lerdon in Lindenhöhe, der neben der Poststelle lag.
Bis 1816 hatte Ostpreußen keine „Chausseen“, das sind mit Makadam belegte Kunststraßen. Makadam ist eine spezielle Bauweise von Straßen, bei der drei Schichten mit jeweils unterschiedlich großen, gebrochenen und gut verdichteten Gesteinskörnungen den Straßenoberbau bilden. Diese Bauweise wurde von dem schottischen Erfinder John Loudon McAdam zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt, um die Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit der bestehenden Straßen (häufig Packlagen-Bauweise) zu verbessern. Derart befestigte Straßen wurden als makadamisiert bezeichnet. Die vorhandenen Straßen und Brücken befanden sich vor 1816 in einem schlechten Zustand, die Landwege waren im Frühjahr und im Herbst kaum befahrbar.
Die Preußische Ostbahn, Königlich Preußische Ostbahn oder kurz Ostbahn bezeichnet im engeren Sinne die 740 Kilometer lange Eisenbahnverbindung von Berlin über Königsberg bis Eydtkuhnen an der Grenze zum Russischen Kaiserreich. Von Königsberg aus wurde die Strecke 1860 bis zur Grenze mit Russland verlängert. Am 6. Juni 1860 ging der Abschnitt bis Stallupönen, am 15. August bis zur Reichsgrenze bei Eydtkuhnen in Betrieb.
Die Züge aus Deutschland fuhren bis zur russischen Grenzstation Wirballen (russ. Вержболово). Dort erfolgten die Grenzabfertigung und Umsteigen und Umladen auf die Breitspurgleise der Russischen Eisenbahn. In Gegenrichtung fuhren die russischen Züge bis zum deutschen Grenzbahnhof Eydtkuhnen, wo auf die deutschen Züge umgestiegen wurde.
Unter dem Namen Insterburger Kleinbahnen wurde ab 1902 ein Schmalspurnetz von rund 221 Kilometern Länge unterhalten, das von dem Eisenbahnknotenpunkt Insterburg im östlichen Teil der preußischen Provinz Ostpreußen ausging.
1904 wurde die 39,3 km lange Strecke der Kleinbahn von Insterburg noch Groß Skaisgirren/Kreuzberg eröffnet. Für die Fahrschüler Hildegard Tuttlies und Gerhard Kiehl bedeutete das: 30 Minuten von zu Hause mit dem Fahrrad zum Bahnhof Aulowönen und 1 Stunde 15 Minuten Bahnfahrt nach Insterburg und 20 bzw. 30 Minuten Fußweg zur Schule und wieder zurück. In strengen Wintern fielen die Bahnverbindungen häufig aus.
Die folgende Tabelle zeigt die Stationen der Kleinbahn von Insterburg noch Groß Skaisgirren/Kreuzberg mit Kilometer-Angaben. Die fehlenden Kilometer Zellen zeigen Umsteigemöglichkeiten in den voraufgehende Bahnstationen.
Staatsbahn von Berlin–Königsberg (Kaliningrad) | ||
0,0 | Insterburg Klbf (Tschernjachowsk) | |
Staatsbahn nach Eydtkuhnen/Eydtkau (Tschernyschewskoje) (–Litauen) | ||
1,1 | Insterburg Gumbinnerstraße | |
2,9 | Insterburg Göringstraße | |
4,4 | Insterburg-Luxenberg | |
8,1 | Georgenburg (Majowka) | |
10,7 | Pagelienen (Perelesnoje) | |
12,2 | Kauschen/Horstenau | |
Kleinbahn nach Wirbeln (Schaworonkowo) | ||
15,3 | Klein Reckeitschen/Blüchersdorf | |
18,0 | Auxkallen/Ringelau | |
20,2 | Juckeln/Buchhof (Buchowo) | |
Kleinbahn nach Mehlauken/Liebenfelde (Ostpr.) (Salessje) | ||
23,3 | Gerlauken/Waldfrieden-Moorbad (Fjodorowo) | |
24,8 | Gerlauken/Waldfrieden-Gründann | |
26,2 | Groß Aulowönen/Aulenbach (Kalinowka) | |
27,9 | Eichhorn (Jablotschnoje) | |
31,1 | Swainen (Sadowoje) | |
31,8 | Bersziupchen/Bersziubchen/Birkenhausen | |
34,8 | Groß Aßnaggern/Grenzberg | |
35,8 | Oschweningken/Breitenhof | |
36,1 | Kletellen/Georgenheide (Uroschainoje) | |
39,3 | Groß Skaisgirren/Kreuzingen Klbf (Bolschakowo) | |
Staatsbahn Königsberg (Kaliningrad) – Tilsit (Sowetsk) |
Quelle: Insterburger Kleinbahnen – Wikipedia
Die folgende Abbildung zeigt eine Fahrplanseite der Insterburger Kleinbahnen 1932:
Quelle: Insterburger Kleinbahnen – Wikipedia
9. Gebietsgliederung Franzdorf
Die Gebietskörperschaften Preußens waren Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden.
Auf lokaler Ebene wurden Kreise eingerichtet, die ein Bindeglied zwischen der staatlichen Verwaltung und der durch die geplante (aber erst Ende des 19. Jahrhunderts verwirklichte) kommunale Selbstverwaltung zu größerer Bedeutung gelangten Gemeindeebene bilden sollte. Die nunmehr selbständigen und von einem meist ehrenamtlichen Bürgermeister repräsentierten Gemeinden wurden durch die Kreisverwaltung und ihre professionelleren Strukturen in der Ausübung ihrer Amtsgeschäfte unterstützt.
Den Spitzenbeamten eines Landkreises nannte man damals wie heute Landrat, den Sitz der Kreisverwaltung Landratsamt oder Kreishaus.
Die Größe eines Kreises sollte so bemessen sein, dass von jedem Dorf aus innerhalb eines Tages eine Reise mit der Kutsche zum Sitz der Kreisverwaltung, die Ausführung der geplanten Amtsgeschäfte und die Rückreise möglich sein sollte oder umgekehrt der Landrat ein entlegenes Dorf besuchen konnte, ohne dort übernachten zu müssen.
"Der König von Preußen (bis 1772 König in Preußen) war das Staatsoberhaupt der preußischen Monarchie, die von 1701 bis zur Novemberrevolution 1918 bestand. In den Jahren des Deutschen Kaiserreichs war der preußische König ab 1871 gleichzeitig Deutscher Kaiser. „Die Preußischen Reformen schufen mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Verwaltungsstruktur. Dazu gehörte eine umfassende Kreisreform in Ostpreußen, da sich die 1752 eingerichteten Kreise als unzweckmäßig und zu groß erwiesen hatten. Aus dem Gebiet des alten Kreises Insterburg wurden elf neue Kreise gebildet, darunter auch ein neuer, deutlich kleinerer Kreis Insterburg. Dieser umfasste die Kirchspiele Aulowönen, Berschkallen, Didlacken, Georgenburg, Insterburg, Jodlauken, Norkitten, Pelleningken, Norkitten und Saalau.
Nach der Neuorganisation der Kreisgliederung im preußischen Staat nach dem Wiener Kongress entstand mit dem 1. September 1818 der Kreis Insterburg im Regierungsbezirk Gumbinnen in der preußischen Provinz Preußen Am 01.01.1874 erfolgt die Einführung der Kreisordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen vom 13.12.1872. Es gelten: Das Gesetz betreffend die Landgemeinde-Verfassungen in den sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie vom 14.04.1856 und das Gesetz betreffend die ländlichen Ortsobrigkeiten in den sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie vom 14.04.1856.
Am 29.01.1874 erfolgt die Bildung der Landgemeinde Drohndorf aus dem Gutbezirks Forst Padronen (teilweise – Kolonien Drohndorf, Klein Franzdorf und Mittenwalde). Am 11.03.1874 wird der Amtsbezirks Groß Franzdorf (Nr. 27) aus den nachfolgenden Gemeinden und Gutsbezirken gebildet: Bessern, Drohndorf, Groß Franzdorf, Ganden, Groß Wartau, Klein Franzdorf, Klein Schunkern, Mehlen, Paducken, Pillwogallen und Willschicken sowie dem Gutsbezirk Wartau gebildet. Er besteht aus 12 Gemeinden bzw. Gutsbezirken und wird zunächst vom Amtsvorsteher in Jennen verwaltet, der somit die staatliche Autorität (standesamtlich und polizeilich) präsentiert.
Am 01.04.1881 wird die Einführung der Kreisordnung für die Provinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen vom 19.03.1881 umgesetzt, die endgültige Feststellung des Amtsbezirkes erfolgt vermutlich zu gleichen Zeit. Knapp ein halbes Jahr später folgt die Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Provinzen (03.07.1891)
Am 17. 11. 1882: Endgültige Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franzdorf Nr. 27“ mit den Landgemeinden Bessern, Drohndorf, Groß Franzdorf, Gaden, Groß Wartau, Klein Schunkern, Mohlen, Paducken, Pillwogallen und Willschicken und den Gutsbezirk Wartau (11 Gemeinden/Gutsbezirke).
01.09.1931: Der Amtsbezirk Franzdorf umfasst die Landgemeinden: Bassen, Drohndorf, Groß Franzdorf, Groß Wartau, Klein Schunkern, Lindehöhe, Mohlen, Paducken, und Willschicken. (9 Gemeinden bzw. Gutsbezirke).
Per 01.01.1934 erfolgt die Einführung des preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes vom 15.12.1933. Am 01.04.1935 erfolgt die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung vom 30. 1. 1935; Umbenennung der Landgemeinden in Gemeinden. Am 01.01.1936 wird die Gemeinde Neu grün (teilweise - 1,662 ha) aus dem Amtsbezirk Padronen / Bundweiten in die Gemeinde Groß Wartau eingegliedert. Zum 03.06.1938 erfolgt die Umbenennung der Gemeinde Paducken in Padau sowie Gemeinde Willschicken in Wilkental, die Bestätigung der Namen wird am 16.07.1938 vollzogen. Die letzte Veränderung - die Eingliederung der Gemeinde Mohlen in die Gemeinde Bessen und Gemeinde Padau in die Gemeinde Klein Schunkern wird am 01.04.1939 umgesetzt." Quelle: Amtsbezirk Franzdorf – GenWiki (genealogy.net)
10. Willschicken
Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf erwähnt. Nur auf zwei Gütern wurden später Scharwerker eingesetzt. Um 1807 wird das für Willschicken zuständige Domänenamt in Alt Lappönen im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. Die Preußischen Reformen schufen mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Verwaltungsstruktur. Am 11.03.1874 wird der Amtsbezirks Groß Franzdorf (Nr. 27) gebildet, zu dem auch Willschicken gehört. 1882 erfolgte die endgültige Feststellung der Grenzen der Gemeinde Willschicken.
Die Konjunkturzyklen war gerade für die Landwirtschaft in Ostpreußen eine Berg- und Talfahrt. Von 1848 bis 1875/76 gab es einen deutlichen und langen Aufschwung, bei dem sich der Gewinn von rentablen Höfen verdreifachte. Bis zum 1. Weltkrieg lösten sich danach 5 Konjunkturen und 5 Depressionen zeitlich ab. Dann folgten der 1. Weltkrieg, die Hyperinflation, die goldene Jahre, die Weltwirtschaftskrise und die Kriegsfinanzierung des 2. Weltkrieges. Alle Veränderungen betrafen besonders auch die Landwirtschaft und deren Bevölkerung auch in Willschicken fundamental. Das traf besonders für den letzten Schritt, eine sehr gefürchtet Entscheidung, den Verkauf von Bauernland zu.
Von der „gesetzlichen Flurbereinigung“ 1807-1850 waren die Großbauern im Dorfkern von Willschicken nicht betroffen. Sie waren Eigentümer ihres Landes. Für sie arbeitete ihr Gesinde Eigenkätner, Losleute, Instleute, die keine Grundstücksansprüche besaßen. Mit den außenliegenden Gütern (Abbau von den Rittergütern Schruben und Alt Lappönen ) von Grigull (2,5 Hofstellen) und von Sieloff (1,0 Hofstellen) verhielt es sich anders, da hier Scharwerker auf den Hofstellen arbeiteten. Die "wirtschaftlich" notwendige Flurbereinigung erfolgte in Willschicken hauptsächlich während der wirtschaftlichen Depressionen und längeren Krisen, 1873-1879 und 1918-1924. Die Höfe der 7 Großbauern, es waren ehemalige Schatull- und Erbfrei-Bauern, die hatten ihren Boden vom König gekauft und urbargemacht hatten, lagen alle im alten Dorfkern von Willschicken. Die Großbauern mussten dann, bei wirtschaftlichen Notlagen, wenn sie keine Kredite mehr bekamen, Teile ihres Landes an ihre Gläubiger verkaufen, die nach Neusielern suchten. Die (Teil) Verpachtung war eine zusätzliche Möglichkeit. Zur Flurbereinigung in Willschicken konnten zusätzlich durch die Gemeindereform auch kleine Teile des Landes der Rittergüter Lappönen und Schruben genutzt werden. 1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste. Die Großbauern und späteren Gutsbesitzer bildeten aber trotzdem eine einflussreiche soziale Gruppe in Willschicken.
Nach der endgültige Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franzdorf Nr. 27“ am 17. 11. 1882 wurden die Grenzen von Wilkental festgelegt und die Lage der Neusiedler in Willschicken durch eine Wegekarte zu den erworbenen Grundstücken vorbereitet. Die Zufahrtsweg zu den neuen Grundstücken, häufig auch über die Nachbargrundstücke, führte oft zu Rechtsstreitigkeiten. Vier- oder Dreikant war die vorherrschende Bauform der Höfe in Preußisch-Litauen. Die "neuen" Wohnhäuser der Bauern, zumindest im Willschicken, waren in der Regel eineinhalbgeschossig, außen verputzt , häufig mit einem Zierband versehen und mit Dachpfannen gedeckt. Ställe und Scheunen wurden häufig in Fachwerk ausgeführt. Die Ziegel kamen aus Aulenbach häufig von der Fa. Teufel. Feldsteine, Lehm und Holz gaben das eigene Land in Willschicken her. Keller waren bei kleinen Höfen unüblich. Die genaue Quelle dieser behördlichen Vorgaben konnte nicht ermittelt werden.
In Wilkental (1939: 127 Einwohner auf 22 Höfen) gab es das ehrenamtliche Bürgermeisteramt, eine Molkerei und einen Friedhof, aber es gab keinen Laden, keine Schule, keine Kirche und keine Gaststätte. Scherenschleifen, Zwiebelbauern, Heringshändler und Petroleums-Verkäufen zogen zu bestimmten Zeiten durch das Dorf, dazu kamen Vieh- und Pferdehändler. Die Post kam zweimal die Woche. Seit 1825 war es gestattet, Land-, Fuß-Boten oder Briefträger einzustellen. Sie stellten zwei- bis dreimal in der Woche Briefe, Adressen, Zeitungen und Amtsblätter gegen ein Bestellgeld in der Umgegend des Postbezirks zu und nahmen, wieder gegen ein Bestellgeld, solche Sendungen an. Die Landbriefträger wurden von der Postanstalt unter Vertrag genommen und besoldet, das Bestellgeld floss in die Postkasse und sollte die Kosten für diesen Service decken. Diese Reglungen blieben bis zur Weimarer Verfassung bestehen.
Ansonsten war das Dorfleben durch christliche Feiertag, Familienfest und die vier Jahreszeiten geprägt, wobei die langen und strengen Winter eine besondere Rolle spielten. Die Arbeit auf den Höfen richtete sich gewöhnlich nach Aussaat und Ernte, nach Geburt, Kindheit, Schule, Ausbildung, Wehrmacht, Hochzeit, Beruf, Altenteil und Tod. Dabei spiele die erhebliche kürzere Lebenserwartung eine große Rolle
Zeitungen, meistens die "Königsberger Hartungsche Zeitung" oder das "Memeler Dampfboot" wurden mit einem Tag Verspätung in der Gaststätte gelesen.
Die „Ostmarken Rundfunk AG“ später Reichssender Königsberg wurde mit einem 50-Prozent-Anteil der Reichspost am 2. Januar 1924 in Königsberg gegründet. Nicht alle Höfe in Willschicken hatten schon einen Stromanschluss. Beim Radio musste dann zuerst noch der Akku 4 Stunden lang fremd aufgeladen werden, was aber manchmal „tagelang“ dauerte, da es außerhaus passieren musste. Die Gaststätte Lerdon in Lindenhöhe war eine elektrische "Ladestation" für die Willschicker Bauern.
Tuttliesen hörten ab 1934 am Abend zwischen 20 und 21 Uhr eine Stunde Radio Königsberg.
Es gab lange Zeit keine Uhr im Haus Tuttlies. Gerichtet wurde sich nach der Sonne und den Werks-Sirenen der Ziegelei Teufel im nahen Aulenbach: 7:00 in der Frühe und 19:00 am Abend. Bei Tuttlies hieße es: „Wenn de Diwel huult“
Lindenhöhe früher Pillwogallen, die unmittelbare Nachbargemeinde von Wilkental hatte 1939 gezählte 187 Einwohner auf 32 Höfen, 6 davon bildeten den alten Dorfkern. Hier lag auch ein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb der Familie Lerdon.
Diese Gaststätte und der Laden waren auch das "soziale Zentrum" vom östlichen Wilkental. Hier gab es u.a. Mehl, Zucker, Bonbons, Schmalz, Bier, Wein, Schnaps, Salzheringe, Nägel, Schrauben, Holzschlorren, Holzklumpen, Wagenschmiere, Kuhketten, Petroleum und das Neueste aus den Dörfern. Bei Anbahnungen von Heiraten und Bekanntschaften gingen die Aktionsräume gewöhnlich nicht über einen Radius von 20 kam hinaus. Dies galt auch, wenn vorhanden, für Arbeitsstellen. Die Alternative war das Verlassen der Heimat.
Neben der Gasstätte hatte die Hebamme und der Chausseeaufseher ihre Heimstadt. Es gab im Dorfkern noch zwei weitere Hofstellen. Dazu gab es noch auf der anderen Straßenseite den Schmied und das Kreishaus der früheren Gemeinde Schruben. 1929 erfolgte die Eingliederung der Landgemeinde Schruben aus dem Amtsbezirk Keppurlauken in die Landgemeinde Pillwogallen. In Lindenhöhe lag - etwas entfernt vom Dorfkern - die nächste Schule, die Hildegard Tuttlies zeitweise besuchte. Ab 1936 gab es auch eine Bahnstation in Lindenhöhe.
Die nächsten größeren Einkaufsmöglichkeiten gab es in Aulenbach früher Aulowöhnen (1939: 1049 Einwohner) etwa 5 km von Willschicken entfernt. Es gab dort auch die Adler Apotheke mit den Inhabern Luise Barkow; Emil Eschmann; Adolf Günter; Julius Gefeller; die Dampfziegelei mit den Inhabern Ewald Guddadt; Gustav Knackstädt, Arthur Meyer; die Gastwirtschaft August Rautenberg; die Dampfmühle Otto Schiemann; die Ziegelei Teufel Emma Teufel.
Es gab die Molkereigenossenschaft; die An- und Verkaufsgenossenschaft; die Raiffeisenkasse; die Volksbank Insterburg (Nebenstelle); die Landmaschinenreparatur u. Pflugfabrik Karl Hertzigkeit; die Autoreparatur u. Handel Schwarznecker u. Reck; die Buchdruckerei Curt Stamm; den Arzt Dr. Epha; den Tierarzt Jaeckel und den Zahnarzt (Dentist) Quidor. Hier gab es auch zwei Schulen und zwei Kirchen. Hinzu kam das Standesamt und die Gendarmerie. Aulenbach – GenWiki (genealogy.net) Es wurden regelmäßig Wochenmärkte abgehalten, zwei Mal im Jahr Pferde- und Viehmarkt mit Krammarkt. Den Güter- und Personenverkehr, vor allem zur Kreisstadt Insterburg, versah überwiegend die Insterburger Kleinbahn (IKB), die hier einen größeren Haltepunkt mit Verladegleisen hatte.
Quelle: Aulenbach – GenWiki (genealogy.net.
In Aulenbach bei der Firma Schwanznecker u. Reck absolvierte Gerhard Kiehl eine Lehre als Maschinen-Schlosser.
Gerhard Kiehl arbeitete nach seiner Lehre noch zwei Jahre als Geselle bei der Firma Schwanznecker u. Reck.
Foto: Firma Schwanznecker u. Reck
Quelle: Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)
Abbildung: Lehrzeugnis von Gerhard Kiehl Beglaubigung
Quelle: Abschrift privat
Gerhard Kiehl wurde am 01.10.1935 zur Wehrmacht eingezogen. Am 15.05.1940 verließ Hildegard Tuttlies das Büro der Bauschule Bruno Wenk in Passdorf um zu Hause, den kranken Vater zu unterstützen.
Die Tabellen "Schadensberechnung Landwirtschaft" wurden zum Zweck eines möglichen Lastenausgleiches von der Bundesrepublik 1955 auf Grund der fortgeschriebenen Datenlage von 1945 als Erhebungspunkt erstellt Die Daten beruhen aber durchweg auf den real erhobenen vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung vom 17.Mai 1939. Landverkäufe waren nach dem Preußischen Erbhofgesetz von 15.5.1933 in Ostpreußen nicht mehr möglich.
Die folgende Tabelle zeigt die Betriebsgrößen der Höfe in Willschicken in ha 1945.
Namen | Anmerkungen | Eigenbesitz in ha |
Bartschat, Wilhelm | Großbauer verpachtet an Bartoschat | -25,00 |
Kirschning, Franz | Großbauer verpachtet | -4,50 |
Milpauer, Albert | Großbauer | 8,75 |
Bartoschat, Auguste | Großbauer | 10,25+ 25,00 Pacht |
Mikuteit, Wilhelm | Großbauer Bürgermeister verp. an Dingel | 15,75 |
Mikuleit Bürgermeisterstube | Gebäude andere Straßenseite mit Scheune | |
Krause, Leopoldine | Großbauer | 21,25 |
Kornberger, August | Großbauer | 26,75 |
Grigull, Ernst | Gutsbesitzer | 60,66 |
Sieloff, Franz | Gutsbesitzer | 43,48 |
Mattulat, Paul | Großbauer | 25,82 |
Stuhlemmer, Fritz | Besitzer | 16,50 |
Dingel, Artur | gepachtet von Mikuteit | 15,75 Pacht |
Ennulat, Kurt | Besitzer | 12,00 |
Kollecker, Gustav | Besitzer | 11,27 |
Nolde, Kurt | Besitzer | 11,00 |
Tuttlies, Ewald | Besitzer verpachtet an Papendick | 7,00 |
Häsler, Hermann u. Frau Bartschies | Besitzer, Nähe Friedhof | 6,50 |
Papendick, Friedrich u. Frau Flemig | Arbeiter in Tuttliesens Häuschen | 6,50 Pacht |
Tuttlies, Erich | Besitzer, Maurer, Schneider | 6,00 |
Allissat, August | Besitzer gepachtet von Reinke | 5,00 Pacht |
Reinke, Reinhold | Besitzer | 5,00 |
Petschull, Gustav vor Wischnat Mühle | Besitzer | 4,00 |
Ludzuweit, Otto, früher Weinowskie | Besitzer | 3,49 |
Pukris Molkerei | Molkerei |
Quelle: Schadensberechnung Landwirtschaft siehe Anlage
1939 bildeten nur noch 7 Großbauern von insgesamt 22 Höfe den alten Dorfkern von Wilkental. (in der obigen Tabelle fett unterlegt) Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Wilkental betrug 1939: 10 zwischen 5-10 ha, 6 zwischen 10-20 ha und 6 zwischen 20-100 ha. Die Besitzverhältnisse hatten sich umgedreht. Von den 319,8 ha die Gesamtfläche der Gemeinde Wilkental in den Grenzen 1882 ausmachte, besaßen die Großbauern 1939 zusammen nur noch 83 ha, die Neusiedler dagegen kamen zusammen auf 236,8 ha. Um 1880 besaß noch jeder der 7 Großbauern in Wilkental durchschnittlich ca. 40 ha. Land.
Von der „gesetzlichen Flurbereinigung“ 1807-1850 waren die Großbauern in Willschicken nicht betroffen. Sie waren Eigentümer ihres Landes. Neben der "gesetzlichen" Flurbereinigung spielte aber die "wirtschaftliche" Flurbereinigung eine größere Rolle. Die traditionellen Rittergüter und Großbauern gerieten zusammen mit den früheren Amtsbauern ab 1873 in sich wiederholende schwere wirtschaftliche Krisen, so dass die zusammengelegten und "flurbereinigten" Grundstücke nicht nur für die Dorfbevölkerung und ihren Kindern sondern auch für Neusiedler und bürgerliche Spekulanten von großem wirtschaftlichen Interesse waren. Häufig war Pach auch eine Lösung.
Um 1807 wird das zuständige Domänenamt, zuständig für das im Eigentum des Staates stehende Gut in Alt Lappönen im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. Das Besitzerland der Amtsbauern kann nun deren Eigentum werden (Regulierung und Seperation ab 1811, Verschlechterung durch Reduzierung der Anspruchsberechtigten ab 1816). Die genauen Grenzen von Alt Lappönen sind unbekannt. Wie viele Amtsbauern auf dem Staatsgut Alt Lappönen ursprünglich angesiedelt waren und Eigentum verliehen bekamen und zu welcher Gemeinde ihre Höfe später gehörten, ist ebenfalls nicht bekannt. Jedenfalls gehörte das Königliches Scharwerksdorf Aulowöhnen zum Domänengut Alt Lapönen. Die überwiegende Zahl der 18 Wirte in Aulowönen ist um 1800 Salzburger Abstammung.
Die Gewerbefreiheit ließ den bürgerlichen Erwerb von Staatsdomänen zu. „Das 2.000 Morgen große Vorwerk (Ritter-Gut) Alt Lappönen erwarb 1810 Caroline Girod, die mit dem Amtmann Mehlhorn verheiratet war, zum Preis von 19.152 Taler.“ Nach der Auflösung des ehemaligen Domänenamtes Lappönen (zuständig für das im Eigentum des Staates stehende größere ländliche Besitzung) wurde das Gut mit 87.392 Thalern bewertet.
Während der Hyperinflation wurde das Gut, es ist noch 457 ha groß, aber aufgesiedelt. Es entstanden 24 Bauernhöfe, alle ca. 20 ha groß, die, als das Rittergut Alt Lappönen nahe Willschicken nach 1920, dessen letzter Besitzer Herr Ornhorst war, durch die gemeinnützige „Baugesellschaft Königsberg“ für Neusiedler bereitgestellt wurden.
Die Karte rechts von 1939 zeigt die Gemeinde Wilkental in den Grenzen von 1882 und Teile des alten Dorfkerns von Lindenhöhe. Die durchgezogene Linie in lila ist die Kreisgrenze von Wilkental/Willschicken. Ein Hof konnten innerhalb Willschicken nicht eindeutig zugeordnet werden. "BM" war die Bürgermeister Stube von Bürgermeister Mikuleit.
Auf der Wilkental Karte sind außerdem sechs Höfe des alten Dorfkerns von Lindenhöhe und das Kreishaus eingetragen. Darunter befindet sich das Gasthaus von Fritz Lerdon (früher Hedwig Kiehl). Fritz Lerdon, er stammt aus der Nachbargemeinde Paducken, hat 1928 die Witwe Hedwig Kiehl geb. Padeffke geheiratet. Ihr erster Mann Max Kiehl war 1921 verstorben. Gerhard Kiehl, eines der vier Kinder aus der ersten Ehe, wird 1943 der spätere Ehemann von Hildegard Tuttlies. Räumlich waren die Tuttliese eher auf Lindenhöhe als auf Wilkental orientiert.
Fritz Lerdon besaß 1931 das erste Auto in Lindenhöhe, war Jagdpächter und hatte zwei Höfe in Lindenhöhe gepachtet. Hier lag auch sein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb der Familie Kiehl, später Lerdon. Neben der Gasstätte hatte die Hebamme Mikuteit und der Chausseeaufseher Kuhnke ihre Höfe, die sie als Nebenerwerbslandwirte betrieben. Wendel (Altenteil) und Link (Poststelle) waren weitere Bauernhöfe im alten Dorfkern, deren Land von Lerdon gepachtet war. Dazu gab es noch auf der anderen Straßenseite den Schmied Sanowitz und das Kreishaus von Franzdorf. Auch hier war Lerdon als Grundstücksbesitzer und Lieferant aktiv.
Foto: Hedwig Lerdon mit erlegtem Hasen im kleinen Saal ihres Gasthauses in Lindenhöhe.
Quelle: privat
Willschicken war die Heimat von Berta und Ferdinand Tuttlies. Die auffindbaren Daten der Kirchenbücher und der Mühlenlisten zeigen für die männliche Linie der Tuttliesen in Willschicken folgende Einträge:
„Stammbaum von Michael Tuttlys“
1. Michael Tuttlys, Losmann, *1802, in Treinlauken + 25.3.1842 in Ernstwalde, ꝏ 23.10.1830 in Treinlauken Charlotte Schoentaube * 03.01.1806 in Spannegeln,
2. Kind von 1: Johann Ferdinand Tuttlies, Maurergeselle, * 11.07.1833 in Treinlaucken/Kreuzberg + 13.10.1923 in Willschicken, ꝏ 10.11.1865 in Staggen Maria Mauscherning *02.06.1836 + 15.03.1901 in Willschicken
3. Bruder von 2: August Herrmann Tuttlies *1866 in Willschicken +1921 in Willschicken
4. Kind von 3: Ewald Tuttlies, * 1886 in Willschicken
5. Kind von 3: Ferdinand Tuttlies, Besitzer, Maurer, Schneider * 01.12.1869 in Plattupönen, + 01.08.1949 in Vethem, Sohn von Johann Ferdinand Tuttlies, ꝏ 14.11. 1902 Berta Tuttlies, geb. Burba, * 31.08.1883 in Paduken + 03.07.1968 in Hamburg
6. Kind von 5: Max Tuttlies, Kaufmann, *19.01.1903 in Paducken + 13.01.1964 in Krostiz, ꝏ Gertrud, geb. Heinrichs, * 26.07.1908 in Jennen, + 28.01.1982 in Jesingen
7. Kind von 5: Friedel Tuttlies, * 1904 in Willschicken + Oberweißbach
ꝏ Helmuth Harwarth * 05.05.1906 + gef. 1944
8. Kind von 5: Erich Tuttlies, Besitzer, Maurer, * 19.11.1905 in Willschicken + 12.04.1995 Südkampen, ꝏ Erna … * 06.07.1924 + 20.07.2017 Südkampen
9. Kind von 5: Otto Tuttlies * 1907 in Willschicken +1910 in Willschicken ist schon mit 3 Jahren verstorben
10. Kind von 5: Angestellte, Hildegard Kiehl, * 21.02.1920 in Willschicken + 19.06.2020 in Hamburg ꝏ Gerhard Kiehl * 04.08.1914 in Pillwogallen + 09.09.1998 in Hamburg
Schon vor der Reichsgründung tauchte der Name Tuttlies in Willschicken auf . Siehe auch den Familienstammbaume der Familien Podewski, Tuttlies und Kiehl
FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski — FamilySearch.org
und Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)
und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)
und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)
Die Familiennamen waren, gerade auch in den älteren Unterlagen, häufig mit unterschiedlicher Schreibweise zu finden. Es gab noch keine amtlich festgelegte Schreibweise der Personennamen. Zudem wurden die Namen im weitgehend analphabetischen ländlichen Bereich mündlich gebraucht und dabei laufend verändert. Der Amtsschreiber hat den Namen dann so geschrieben, wie er ihn akustisch verstanden hatte und wie er das Gehörte in Buchstaben umsetzen konnte.
Der Gasthof der Familie Fritz Lerdon/Hedwig Kiehl, Quelle: Foto: Sammlung Harald Zimmermann/Ursula Behrens
Mutter Berta Tuttlies bekam zur Hochzeit 1902 als Mitgift 16 ha Land von ihrem Elternhaus - den Burbas aus Paducken – einer Nachbargemeinde. Siehe: Paducken – GenWiki (genealogy.net). Das Land war nicht vollständig landwirtschaftlich nutzbar. 10 Hektar konnten an die Kleinbahn verkauft werden, um den Hausneubau zu finanzieren. Vater Ferdinand Tuttlies war Besitzer und Handwerker zugleich, er zusätzlich als gelernter Maurer und war er als angelernter Schneider tätig.
Im Jahre 1904 machte sich Ferdinand Tuttlies an der Grünheider Straße an den Bau eines eigenen Zuhauses. Auf der anderen Straßenseite lag sein Elternhaus. Im Elternhaus wohnte der Besitzer August Herrmann Tuttlies, geboren1866. Nach dessen Tod 1921 übernahm es dessen 2. Sohn Ewald Tuttlies. Zum Tuttliesen-Clan gehörten auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weinowski (mit 3,49 ha Pachtland) und zwei weitere in Aulowönen/Lappönen – Tuttlies und Jägu. (siehe Karte Lappönen Neusiedler)
Die Talka bezeichnete in Preußisch-Litauen die gegenseitige „Bitthilfe“ unter den Dorfbewohnern, die bei umfangreichen landwirtschaftlichen Arbeiten wie Pflügen, Aussaat, Roggenernte, Dreschen und Hausbau erbeten und gewährt wurde. Verwandte und Dorfbewohner halfen, wie damals üblich, mit. So entstanden für die junge Familie von Ferdinand Tuttlies ein stabiles Wohnhaus, ein Stallgebäude und eine Scheune. Die Baumaterialien waren Ziegel, Feldsteine, Lehm und Holz. Es hat bis 1906 gedauert, bis alles fertig war. Es war ein kleiner offener Vierkanthof entstanden. (Siehe Messtischblatt Willschicken von 1939 unten rechts). Vierkant war die vorherrschende Bauform der Höfe in Preußisch-Litauen.
Die „Bau-Talka“ (lit. pastatyti talką) galt allgemein als bedeutende Veranstaltung im Vergleich etwa zu den weniger Personen einbeziehenden Dresch- und Schlacht-Talkas.
Einigen Berichten zufolge war sie allerdings noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Pillkallen eine Angelegenheit des ganzen Dorfes. Oft schloss ein großes abendliches Fest – möglichst mit Musik und Tanz – eine Talka ab, immer war sie mit reichlicher Verköstigung der Helfer verbunden.
Verwandte und Dorfbewohner halfen, wie damals üblich, mit. Teilnehmen konnten sowohl Familienmitglieder anderer Höfe als auch Angehörige des Gesindes aus dem ganzen Dorf. Bei der Bau-Talka wurde in der Regel hauptsächlich am Wochenende gearbeitet. Dies erklärt auch die lange Bauzeit auf dem Tuttliesen Hof.
Foto: Talka beim Bau des Stallgebäudes der Familie Tuttlies 1906
Foto: privat
Foto: Beladen der neue Scheune auf dem Hof von Familie Tuttlies 1905
Foto: privat
11. Soldatengrab
Die folgenden Karten zeigen das Kriegsgeschehen in Ostpreußen im 1. Weltkrieg
Vom August 1914 bis zum Februar 1915 waren bis zu zwei Drittel Ostpreußens zeitweise russisch besetzt. Die zweimal durch Ostpreußen ziehende Frontlinie hinterließ durch die Kampfhandlungen ein zerstörtes Land. Traurige Höhepunkte waren die Schlachten bei Stallupönen (17. August 1914, Gumbinnen (19.-20. August 1914), Tannenberg (23.-31. August 1914) und Masuren (07.-16. Februar 1915).
„Bereits 1914 setzte man eine Kommission ein, welche die Verluste in Ostpreußen protokollieren sollte. Für die Gesamtprovinz belief sich der Schaden auf 1,5 Milliarden Mark. Etwa 1.500 Zivilisten waren der Besatzung zum Opfer gefallen. Insgesamt kamen während der Kämpfe 1914/15 über 61.000 Soldaten ums Leben – 27.860 Deutsche, 1.100 Österreicher sowie 32.540 Russen. Dramatische Auswirkungen zeigte der Verlust an Vieh und Pferden, der die Versorgung ernsthaft gefährdete. … Viele Menschen hatten aber auch in ihren Dörfern ausgeharrt oder waren auf der Flucht von russischen Truppen überrascht worden. Auf ‚Spionageverdacht‘ hatten die Besatzer gnadenlos reagiert, es war zu zahlreichen Exekutionen gekommen. … Insgesamt wurden bis zu 13.000 Zivilisten nach Russland deportiert.“ (Quelle: Kossert: ZEIT 13.02.2014)
Mutter Berta Tuttlies blieb 1914/15 mit vier Kindern zu Hause. Hildegard Tuttlies spätere verh. Kiehl wurde erst 1920 geboren.
In Willschicken stand im August 1914 die russische Militärverwaltung vor der Tür von Mutter Tuttlies und suchte Unterkünfte für verwundete russische Soldaten in der Umgebung. Das Wohnhaus musste geräumt werden und Mutter Tuttlies und ihre vier Kinder zogen zuerst in die Scheune, nach zwei Wochen auf den Dachboden des Wohnhauses. Die Küche durfte nach Absprache weiter benutzt werden.
Anfang September 1914 wurde ein schwerverwundeter russischer Soldat in das Wohnhaus gebracht, der bald darauf verstarb. Beim Abräumen des Sterbelagers durch Mutter Tuttlies standen plötzlich zwei russische Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag vor ihr. Erst die Rufe von anderen Verwundeten „Rotes Kreuz Haus, Rotes Kreuz Haus“ bewegte die Soldaten, sich zu entfernen. Angeblich waren sie „dienstlich“ unterwegs. Der verstorbene Soldat wurde von der russische Militärverwaltung etwa 20 Meter vom Wohnhaus entfernt beerdigt, am Rand des Grabens der Grünheider Straße.
Am Ende des 1. Weltkriegs kam Vater Tuttlies gesund nach Hause. Das Soldatengrab wurde nach Abzug der Russen 1915 durch die Familie gepflegt. Es erhielt ein kleines Holzkreuz mit der Inschrift: „Hier ruht ein unbekannter russischer Soldat“ und einen Staketenzaun mit einer gezimmerten Tür. Zunächst wurde das Grab durch vier hohe Pfosten gesichert. Die Kinder, die für das Unkraut verantwortlich waren, wurden größer.
Das folgende Foto zeigt das Soldatengrab vor dem Hof der Familie Tuttlies :
12. Zwischenkriegszeit
Das Leben in Willschicken veränderte sich in den zwanziger Jahren. Ferdinand und Berta Tuttlies sprachen zwar mit ihren älteren Verwandten und Bekannten untereinander häufig litauisch, ihren Kindern waren aber auch einige litauische Alltagsbegriffe geläufig. Siehe auch: Erinnerungen von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies (folgt als zweiter Text) undhttp://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html
Erwin Spehr berichtet aus Preußisch-Litauen: „Neben der litauischen Sprache waren zunächst fast alle deutschen Dialekte in Preußisch Litauen vertreten. Es bildete sich erstaunlicherweise jedoch kein Mischdialekt aus. Durchgesetzt hat sich neben dem Hochdeutschen das ostpreußische Plattdeutsch, auch Niederpreußisch genannt, obwohl bei der besitzenden bäuerlichen Bevölkerung die Niederdeutschen keine Mehrheit stellten.
Man vermutet, dass Handwerker und Landarbeiter, die aus dem Westen Ostpreußens, laufend zuwanderten, der niederdeutschen Mundart zum Durchbruch verholfen haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man in Teil Ostpreußens in den Städten Hochdeutsch und auf dem Lande Plattdeutsch und Litauisch.“
Die folgende Karte zeigt das litauische Sprachgebiet in Preußen 1897:
Die folgende Tabelle zeigt die Bevölkerungs- und Schulstatistik im Regierungsbezirk Gumbinnen 1817 und 1825:
Muttersprache | 1817 | 1825 | absolute Veränderung | prozentuale Veränderung | |
---|---|---|---|---|---|
dt. | 177.798 | 229.531 | 51.733 | 29 % | |
lit. | 091.301 | 102.134 | 10.833 | 12 % | |
poln. | 108.401 | 133.034 | 24.633 | ,022,5 % | |
Gesamtbevölkerung | 377.500 | 464.699 | 87.199 | 23 % | |
Unterrichtssprache schulpflichtiger Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr | 1817 | 1825 | absolute Veränderung | prozentuale Veränderung | |
dt. | 027.284 | 036.057 | 08.773 | 32 % | |
lit. | 011.540 | 011.394 | 0.−146 | ,0−1,3 % | |
poln. | 016.547 | 021.271 | 04.724 | ,028,5 % | |
Gesamtschülerzahl | 055.371 | 068.722 | 13.351 | 24 % |
Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette
1925 wurden noch vereinzelt Gottesdienste in litauischer Sprache abgehalten, obwohl weniger als 50 Mitglieder der Gemeinde Aulowönen litauisch als Muttersprache angaben - um 1900 wurde die Pfarre Aulowönen als Muster hingestellt, "wo es möglich war, daß binnen kurzer Zeit aus einer verwahrlosten eine mustergültige Gemeinde entstand". 1932 gehörten der Kirchengemeinde 79 ha Pfarrland, wovon 64 ha verpachtet waren, den Rest bewirtschaftete damals Pfarrer Bernecker, als Verwalter der Kirchengemeinde.
Dass Pfarrhaus stammt aus dem Jahre 1720, es umschlß 13 große Zimmer und den Konfirmandensaal, es lag in einem 4 Morgen großen Obstgarten mit einem Teich, einer großen Scheune und geräumigen Stallungen, sowie zahlreichen anderen Nutzräumen.
„Die veränderten Existenzbedingungen, die Ostpreußen nach 1918 hinnehmen musste, haben sein politischen und wirtschaftliches Leben tief beeinflusst. Die neunen Grenzen unterbrachen wirtschaftliche Verbindungen in denen die Provinz seit langem gestanden hatte und die sich nur teilweise wiederherstellen oder ersetzen ließen. Diese waren auf die Dauer nicht zu verschmerzen, weil Ostpreußen auf Grund seine einseitigen Wirtschafts- und Sozialstruktur eher zur Stagnation als zur Dynamik neigte und deshalb die verlorenen Positionen schwerlich durch gesteigerte wirtschaftliche Aktivitäten im Landesinnern wettmachen konnte. Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in anderen Teile Deutschlands abgewandert. Obwohl dieses Phänomen und seine bevölkerungspolitischen Konsequenzen ausgangs des 19. Jahrhunderts aufgefallen sind, hat es doch an Politik gefehlt, die diese Entwicklung nachdrücklich korrigiert hätte. Infolgedessen ist das Abwanderungsproblem nach dem Ersten Weltkrieg abermals hervorgetreten und zu einem Symptom der Wirtschaftlichen Schwäche der Provinz geworden.“ Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink
„Noch während der Weimarer Republik 1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste. Da man nun für diese größeren Einheiten oft neue Namen suchte, wurde die Gelegenheit wahrgenommen, die alten litauisch klingenden Ortsnamen durch deutsche zu ersetzen.“
Die Nationalsozialisten ersetzten 1938 systematisch alle litauischen Orts-, Fluss-, Forst- und Moornamen durch „Eindeutschungen“ und verdrängten die litauische Sprache und deren Kultur.
„Die Inflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf in Ostpreußen eine Landwirtschaft, die unter sehr ungünstigen äußeren Bedingungen produzieren musste und auch die Kriegsschäden noch nicht voll überwunden hatte. Die Folge war die tiefe Agrarkrise von 1929 bis 1932 der zahlreiche Betriebe zum Opfer fielen. Pfändungen und Versteigerungen nahmen zu.
„So beschlossen die Preußische Staatsregierung und die Reichsregierung 1926, mit kreditpolitischen Maßnahmen zu helfen. Die „Allgemeine Grenzhilfe“ sollte insbesondere den (im Vergleich zum Reichsdurchschnitt deutlich größeren) Gutsbetrieben in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien und in der Grenzmark Posen-Westpreußen die Um- und Entschuldung erleichtern. Wegen immer höherer Zinslasten, sinkender Rentabilität und eines Preisverfalls bei Roggen und Kartoffeln ab 1927 wurde immer lauter nach einer Unterstützung der ostdeutschen Landwirtschaft gerufen. Ostpreußens Oberpräsident Ernst Siehr hatte sich seit 1922 erfolgreich für solche Förderungsprogramme eingesetzt.
Das Ostpreußengesetz, beschlossen am 18. Mai 1929 vom Kabinett Hermann Müller (SPD), sollte Landwirtschaft und Ernährung im Deutschen Reich durch Siedlungskredite, Zinszuschüsse und staatliche Garantien sicherstellen. Im Juli 1930 – inzwischen hatte die Weltwirtschaftskrise begonnen – wurde das Gesetz durch eine Notverordnung verstärkt. Insgesamt entstand bis 1933 „ein undurchdringlicher Dschungel von 61 Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und 60 amtlichen Erlassen“. Diese Bemühungen wurden später unter dem Namen Osthilfe zusammengefasst. … Zusätzlich wurde die Deutsche Ostmesse Königsberg (DOK) 1920 gegründet, und zeitweise gehörten auch Ausstellungen wie die Ostmarkschau in Frankfurt (Oder) (Ogela, 1924) zu diesem Investitionsprogramm.
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das vom damaligen Reichspräsidenten Hindenburg initiierte Osthilfegesetz, mit dem den durch den starken Preisverfall für Getreideprodukte betroffenen Großbetrieben Ostpreußens geholfen werden sollte. Das Gesetz sah eine Entschuldung durch Konsolidierung und Kürzung der Verbindlichkeiten sowie durch Senkung der Zinsen vor. Im Zuge des weiteren landwirtschaftlichen Niedergangs dehnte man die Gültigkeit der Norm bis Mitte 1932 auf sämtliche Gebiete östlich der Elbe und die bayerische Ostmark aus.
Das Kabinett Brüning I brachte am 31. März 1931ein förmliches Osthilfegesetz zur Entschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe auf den Weg.
Die Förderung wurde auf die gesamte ostelbische Landwirtschaft ausgedehnt. Dieses Osthilfegesetz wurde Ende Mai mit dem brisanten Projekt der Ansiedlung von Neubauern auf Grundstücken bankrottgegangener Großgrundbesitzer verbunden. Das brachte Brüning den Vorwurf des „Agrarbolschewismus“ ein und führte zu seinem Sturz.“
Quelle: Osthilfe (Deutsches Reich) – Wikipedia
In der Krise waren Große Güter mit ihrem hohen Arbeitskräftebedarf dabei stärker betroffen als Bauern, die vorübergehend sich selbst ernähren konnten und so die Krise besser überstanden. Die Unruhen dieser schwierigen Zeit machten sich überall bemerkbar: 1923 kam es auf einigen Gütern zu Landarbeiterstreiks, und 1929 verhinderten aufgebrachte Bauern Zwangsversteigerung.“ Die Folge war auch Auswanderung. So migrierte z. B. Anni Bartuschat aus Willschicken lt. Bremer Passagierlisten am 18. Mai 1934 auf dem Schiff „Bremen“ von Bremen nach New York.
Quelle: bremer passagierlisten auswanderung - Suchen (bing.com)
In Wilkental mussten 7 Bauern ihr Land verpachten um wirtschaftlich zu überleben, darunter auch Ewald Tuttlies, der Sohn von August Herrmann Tuttlies.
Gerhard Dalheimer berichtete aus dem Kirchspiel Aulowöhnen: „Wenn wir früher von Aulowönen nach Grünheide fuhren, kamen wir an vielen Neusiedlerstellen (Besitzer) vorbei. Sie waren entstanden, nachdem das Gut Alt - Lappönen nach dem ersten Weltkrieg „ausgewirtschaftet“ hatte. Offensichtlich hatten diese Siedlungen so viel Land, dass ihre Besitzer davon leben konnten. Oder waren einige Betreibe auch als Nebenerwerbssiedlungen konzipiert? Meiner Erinnerung nach dürfte das aber die kleine Minderheit gewesen sein.
Was ich aber erst Jahrzehnte später erfahren habe ist, dass etliche Siedler von ihren neuen Landesherren „rauskomplementiert“ worden waren, nachdem ihre Besitzungen im einst russischen Gebiet nach Versailles polnisches Territorium geworden waren. Das hatte sich Mitte der 1920er Jahre zugetragen, wie ich aus Kontakten mit den Nachkommen zweier “Aussiedlerfamilien“ erfahren habe. Außerdem erinnere ich mich, dass wir an der Grünheider Straße an einem Russengrab aus dem 1. Weltkrieg vorbeikamen, das war stets sauber gepflegt und eingezäunt war.“ Verfasst von Gerhard Dalheimer (Kiaunischken), 07/2014 Quelle: Alt Lappönen
13. Ideologie des Nationalsozialismus
Im Oktober 1936 wurde auf dem NSDAP -Reichsparteitag der sogenannte Vierjahresplan verkündet. Dieser hatte zwei große Aufgaben:
„I. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein.
II. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.
Der Vierjahresplan zielte zugleich auf die Herstellung der Wehrfähigkeit wie auch auf die Notwendigkeit, die Versorgung des deutschen Volkes wirtschaftlich zu gewährleisten.
In seiner Denkschrift zum Vierjahresplan formulierte Hitler 1936: „Wir sind überbevölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren […] Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes beziehungsweise der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes.“
Die „Blut-und-Boden-Ideologie“, von den Nationalsozialisten vorgegeben, sollte die Einheit eines „rassisch definierten Volkskörpers mit seinem Siedlungsgebiert“ herstellen. Die Bäuerliche Lebensformen wurden dabei idealisiert. Sie sollten eine Gegengewicht zur Urbanität bilden Ein „Volk ohne Raum“ hat neuen „Lebensraum im Osten zu erobern. Indem rassische und antisemitische Ideen verknüpft wurden, sollte die „germanisch-nordische Rasse“ einem angeblich „Jüdischen Nomadentum“ entgegengesetzt werden.
Der nationalsozialistische Begriff suggeriert, dass "Rassen" anhand von Eigenschaften erkennbar sind. Sie sollen durch bestimmter Charakteristika mit hervorstechenden äußerlichen Merkmalen und ausgeprägten Verhaltens-Typen und geografischer Zugehörigkeit beschreibbar sein. Damit wäre ein determiniertes Verhalten von „Rassen“ genetisch vorgegeben und nicht veränderbar. Abgeleitet wurden u.a. von den Nationalsozialisten daraus eine scheinbar wissenschaftliche Rechtfertigungen für ihren Rassismus.
Die ideologische Vorstellung "Rassen" durch eine "negative" oder eine "positive" Kombination von körperlichen Merkmalen mit Verhaltens-Typen und geografischer Herkunft zu erklären, wurde schon in der Zwischenkriegszeit von der seriösen Wissenschaft für falsch erklärt worden, da sich statistische keinerlei Zusammenhänge nachweisen lassen. Quelle: Rassentheorie – Wikipedia
Die weitere Vorstellung, es gebe genetisch unterschiedliche menschliche Rassen, wird durch die meisten der heutigen Forscher in Europa und Nordamerika widersprochen. Vielmehr gibt es genetisch unterschiedliche Menschen. "Der Abschied vom Rassenkonzept bedeutet nicht, genetische Unterschiede zwischen Menschen zu leugnen. Das Rassenkonzept erweist sich jedoch als ungeeignet, diese angemessen zu erfassen. Der größte Teil der genetischen Unterschiede ist nicht zwischen den geographischen Gruppen, sondern zwischen den Individuen ein und derselben Population zu finden." Dazu siehe u.a. Menschenrassen - Lexikon der Biologie (spektrum.de)
14. Der Reichsnährstand im Nationalsozialismus
„Die Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im nationalsozialistischen im Deutschen Reich war durch umfangreiche Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen und der zugehörigen Verbandsstruktur und der Gesetzgebung geprägt." Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia
Bereits 1930–1932 hatten die Nationalsozialisten in den Bauernverbänden in großem Umfang Anhänger und Wählerstimmen gewonnen.
Dies galt besonders im Ostpreußen. Am 5.3.1930 erhielt die NSDAP mit 56,5 % der abgegebenen Stimmen im Wahlkreis Ostpreußen höchsten Stimmanteil im Deutschen Reich.
Der Reichsnährstand (RNST) war zunächst ein Interessenverband und wurde 1933 durch ein Gesetz legitimiert und wurde eine ständische Organisation. Sie war als Körperschaft des öffentlich Rechts (Selbstverwaltungskörperschaft) mit eigener Satzung sowie eigener Haushalts-, und Beamtenrecht eingerichtet worden. Der RNST war eine Zwangsorganisation. Es mussten alle Personen und Verbände, die an der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte mitwirkten, Mitglied werden. Der Reichsnährstand übernahm die totale Lenkung der landwirtschaftlichen Produktion, den Anbau, den Absatz, die Festsetzung von Verkaufspreisen und Handelsspannen, wie z.B. für Brot. Genaue Kontrollen vor Ort waren üblich. Die Beiträge wurden vom Finanzamt eingezogen.
Der nach 1933 im Reichsnährstand zentral zusammengefassten Interessenvertretung kam nach der NS Ideologie besondere Bedeutung zu. Als Selbstverwaltungskörper unter der Führung von Walther Darré als Minister sollte sie Markt und Produktion landwirtschaftlicher Produkte kontrollieren und die Autarkie erreichen. Ein weiteres Ziel war die Kontrolle der Produktion, des Vertriebes und der Preise im Agrarbereich
Der Reichsnährstand entstand offiziell acht Wochen nach der Amtsübernahme von Walther Darré, der seit August 1930 erfolgreich einen personell und organisatorisch umfangreichen „agrarpolitischen Apparat“ (aA) in der Weimarer Republik aufgebaut hatte. Im, am 13. September 1933 mit dem „Gesetz über den vorläufigen Aufbau des Reichsnährstandes“. Im § 2 des Gesetzes heißt es: „Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft kann den Reichsnährstand oder einzelne seiner Gruppen ermächtigen, die Erzeugung, den Absatz, sowie die Preise und Preisspannen von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu regeln, wenn dies unter Würdigung der Belange der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls geboten erscheint.“ Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia
Am 26. September 1933 wurde Darré vorweg ermächtigt, „feste Preise für Getreide festzusetzen“, und am 8. Dezember 1933 folgte die grundlegende „Erste Verordnung über den vorläufigen Aufbau des Reichsnährstandes“, der sich 1934 eine differenzierte Marktordnung in allen Bereichen der Landwirtschaft anschloss.
Gestoppt werden sollte mit diesen Maßnahmen u.a. auch die Landflucht. Zwischen 1933 und 1939 verringerten sich die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft um 440.000 auf 1,4 Millionen Menschen. In gewissem Umfang gelang es dem Regime, den Selbstversorgungsanteil Deutschlands von 68 Prozent im Jahre 1928 auf 83 Prozent im Jahre 1938 zu steigern. Auch eine geringe Produktionssteigerung war zu verzeichnen, aber auch höhere Preise landwirtschaftlicher Produkte im Inland im Vergleich zu den Weltmarktpreisen.
Die im europäischen Vergleich verhältnismäßig gute Ernährungslage der Deutschen bis kurz vor Kriegsende war letztlich nur durch den millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeitern und eine massive Ausbeutung der besetzten Gebiete möglich, die Darrés Nachfolger Herbert Backe organisierte und dort mit einer rücksichtslosen "Hungerpolitik" verband.
15. Neugliederung der Landwirtschaft im Dritten Reich
Das Reichsgebiet wurde streng hierarchisch in 26 Landesbauernschaften eingeteilt, die jeweils in Kreis- und Ortsbauernschaften gegliedert waren. Die Kreisbauernschaften unterstanden einem ehrenamtlichen Kreisbauernführer, der hauptsächlich die Ortsbauernschaften betreute. Erst die Ortsbauernschaft stand im direkten Kontakt zum einzelnen Mitglied, das nicht nur umfassend betreut, sondern auch ideologisch indoktriniert werden sollte
"Die Landesbauernschaften im Reichsnährstand (Stand 1941) waren in den
Landesernährungsämtern in der Abteilung A eingebunden.
Daraus ergaben sich folgende Aufgabenstellung:
· ordnungsgemäße Wirtschaftsführung in den Erzeugerbetrieben
· Maßnahmen zur Sicherstellung des Anbaus
· Sicherstellung der Viehhaltung
· sichere Einbringung der Ernte
· termingerechte Ablieferung von Erzeugnissen
· sichere Bewirtschaftung und Verteilung der Erzeugnisse*
Zu diesem Zweck hatte jeder landwirtschaftliche Betrieb eine „Hofkarte“ zu führen. Diese Karte sollte ermöglichen:
· die genaue Feststellung des Ernteertrages
· die genaue Feststellung des Viehbestandes
· die genaue Feststellung aller sonstigen Erzeugnisse
· die Feststellung des zustehenden Eigenverbrauchs
· die Feststellung des notwendigen Bestandes an Saatgut zur Fortsetzung des Anbaus
· die Feststellung der abzuliefernden Mengen
Quelle: Landesbauernschaften im Reichsnährstand (Stand 1941) - Enzyklopädie Marjorie-Wiki
Die Situationen in den dörflichen Milieus hingen oft von den Einstellung des Ortsbauernführer vor Ort ab. Kreis- und Ortsbauernführer hatten gegenüber den Bauern und Landwirten keine Befehlsgewalt. Ihre Aufgabe bestand in der Durchsetzung der Richtlinien und Anordnungen des Reichsnährstandes über Produktion, Absatz, Landarbeiter- und Pachtfragen usw. Kraft ihrer Autorität.
Abbildung: Emblem des Reichsnährstands mit eingeschlagenem Reichsadler
Quelle: Reichsnährstand – Wikipedia
Der Ortsbauernführer (OBF) war in der Zeit des Nationalsozialismus der Leiter der kleinsten beziehungsweise untersten Einheit im Aufbau des Reichsnährstandes. Er vertrat somit die Ortsbauernschaft, in der Regel ein Dorf oder eine Gemeinde, in der er selbst ansässig war. Einen eigenen Verwaltungsapparat besaß er nicht, sondern musste sich mit den örtlichen Führern wie Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der NSDAP auseinandersetzen. Nur äußerst selten war der Ortsbauernführer in Personalunion staatlicher oder parteilicher Hoheitsträger. Mehrere Ortsbauernschaften wurden zu einer Kreisbauernschaft (1938 rund 52.000) zusammengefasst. Ein Ortsbauernführer musste kein Mitglied der NSDAP sein, tatsächlich ist wohl eher von einem Anteil von weniger als der Hälfte auszugehen.
Die Hofbewirtschaftung in Wilkental wurde jetzt „neben“ der bestehende Gesetzgebung im Rahmen der „Gleichschaltung“ auch durch Verordnung, Anordnungen und Befehle durch den Reichsnährstand, die NSDAP und die Wehrmacht bestimmt. Die Aussaat bestimmter Pflanzen wurde zeitlich deklariert. Die Fruchtfolge wurde propagiert. Die Ernte wurde kontrolliert. Bei Ernte konnten nur noch die festgesetzten Preise erzielt werden. Bei großen Manövern musste mit kostenlosen Einquartierungen gerechnet werden. Es gab den Wehrdienst ab 1935 und die Einberufungen ab 1938. Nachbarschaftshilfe war kaum noch möglich. Der Einsatz von privaten Hilfsarbeitern wurde kontrolliert. Über Besucher war Buch zu führen. Für die Erbfolge war ein „Ariernachweis notwendig“. Die Anbindung an das lokale Stromnetz musste bei Pateigremien erbeten werden. Die Devisenknappheit bremst Treibstoffverbrauch und Maschinenanwendung. Kredite für landwirtschaftliche Maschinen wurden aufgrund fehlender Pateizugehörigkeit verwehrt, das galt auch bei Entschuldungen. Bei Durchfahrten von "Parteigrößen" musste die Dorfbevölkerung Spalier stehen und die Häuser beflaggen. Nicht zuletzt kollidierte im Familienalltag der Bauern der ideologische Anspruch, der Frauen auf ihre Mutterrolle reduzierte. Während des Krieges wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Der Name des Ortsbauernführer von Wilkental ist nicht bekannt.
16. Entschuldung
Mit dem Gesetz zur Regelung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse (LWSG) vom 1. Juni 1933 wurde eine neue Entschuldungsmaßnahme für Landwirte geschaffen. Diese richtete sich nun nicht mehr an die ostelbischen Landwirte, sondern war reichsweit anwendbar. Zur Durchführung wurden Entschuldungsgerichte an Amtsgerichten gebildet. Um die Arbeit zu vereinfachen wurden ab dem 1. Juli 1935 Entschuldungsämter geschaffen. Ein solches Entschuldungsamt war typischerweise für verschiedene Amtsgerichtsbezirke zuständig.
Die Entschuldungsämter benannten Entschuldungsstellen, die die eigentliche Schuldenregelungsverfahren durchführten. Diese Entschuldungsstellen waren öffentlich-rechtliche oder genossenschaftliche Banken, landwirtschaftliche Genossenschaften oder gemeinnützige Siedlungsgesellschaften. Sie waren typischerweise auch Hauptgläubiger. Im Vordergrund des Verfahrens stand zunächst einmal die einvernehmliche Einigung der Gläubiger auf einen Schuldenregulierungsplan. Dieser konnte einen Teilverzicht der Gläubiger (auf Zinsen oder Kapital) und/oder eine Abgabe/Verkauf von Flächen beinhalten. Im Gesetz waren hierzu umfangreiche Regelungen getroffen, wie hoch die Verzichtsquoten bei erst- und nachrangig besicherten und nicht besicherten Krediten maximal ausfallen konnten. Kam keine Einigung zustande, so konnte das Entschuldungsamt einen Zwangsvergleich verordnen. Der Vergleich bedurfte zur Wirksamkeit keiner Einstimmigkeit der Gläubiger, sondern nur einer Mehrheitsentscheidung. Die Entschuldungsstelle hatte auch die Möglichkeit ein Zwangsversteigerungsverfahren zu betreiben. Dies diente als Druckmittel zur Einigung. Die durchschnittliche Entschuldung betrug zwischen 10 und 20 %.
Quelle: Landwirtschaftliches Schuldenregelungsverfahren – Wikipedia
Nach seinem 64sten Geburtstag am 01.12.1932 überschrieb Ferdinand Tuttlies, sein Anwesen an seinen zweiten Sohn Erich Tuttlies, der es auch bewirtschaftet. Das Anwesen war schuldenfrei, nicht zuletzt durch den Landverkauf von 1902 und die erfolgreiche gewerbliche Nebenerwerbe von Ferdinand Tuttlies als Maurer und Schneider, die er das ganze Jahr über ausübte.
17. Herr Meyer in Aulenbach
Lothar Kuparat berichtet aus Aulenbach, der Nachbargemeinde von Wilkental:
In: Ein Spaziergang durch mein altes Aulenbach Lothar Kuprat Bremen Februar 2013
„… Ich gehe die Flötkestraße zurück bis an die Kreuzung (Insterburger Str.). Über die Brücke der Aula hinter Gefeller komme ich nach ca. 100m, rechts, an das erste Haus. Herbert Meyer, man sagte nur Jud Meyer, hatte hier bis 1938 sein Konfektionsgeschäft. Mein Spaziergang geht weiter, doch an das Haus komme ich zurück. …
Ich gehe zurück an das Konfektionsgeschäft Herbert Meyer. Da meine Mutter hier einkauft, gehe ich ab und zu mit. Eigentlich soll sie hier nicht einkaufen. Das bekomme ich erst später mit. Mein Stiefvater ist Beamter. Irgendwann steht vor dem Haus ein Schaukasten, innen "Der Stürmer", dem Hetzblatt von Julius Streicher. Ich habe mir die Bilder angeschaut und über die Karrikaturen gelacht. Die Schaufenster werden 1938 eingeschlagen, einige Tage wird Meyer in die Zellen des Spritzenhauses eingesperrt. Ich sehe seine Frau mit dem kleinen Kind, wie sie ihrem Mann das Essen bringt. Bürgermeister Ehmer bemüht sich um die Ausreise und bringt die Familie persönlich nach Insterburg. Ob er Erfolg hatte, habe ich bis heute nicht eindeutig klären können. In meinem Alter habe ich dieses Drama nicht verstanden. Der Vater war ein dekorierter Soldat des 1.Weltkrieges und im Ort beliebt und angesehen. Für den Ort ist es kein Ruhmesblatt, auch wenn der Einzelne sicher machtlos war.“
Quelle: Aulenbach_(Ostp.)__Ein_Spaziergang_durch_mein_altes_Aulenbach_2013.pdf (genealogy.net)
Nach den bekannten Quellen gab es keine "jüdische Bevölkerung" in Willkental
18. Das Reichserbhofgesetz
Das Reichserbhofgesetz für das Dritte Reich wurde am 29. September 1933, zwei Tage vor dem ersten Reichserntedankfest erlassen. Ein preußisches Erbhofgesetz wurde bereits am 15.5.1933 vorhergegangen. Nach seinem 64sten Geburtstag am 01.12.1932 überschrieb Ferdinand Tuttlies, auch aus gesundheitlichen Gründen und aufgrund des zukünftigen erlassenen Verbotes der Erbteilung an alle leiblichen Kinder sein Anwesen an seinen zweiten Sohn Erich Tuttlies, der es auch bewirtschaftet. Erich Tuttlies wurde 1938 eingezogen.
Das beschloss Reichserbhofgesetz sollte die Vererbung von Hofstellen reglementierte und die Erbteilung ausschließen. Im Dritten Reich erhielten rund eine Million landwirtschaftliche Betrieb mit einem Besitz von 7,5 bis 125 Hektar, insgesamt mit 14,2 Millionen Morgen Land einen neuen Rechtsstatus. Sie wurden zum staatlich garantierten, unverkäuflichen, unteilbaren, allein an den erstgeborenen Sohn vererbbaren Dauerbesitz erhoben. Der größte Schwachpunkt der neuen Agrarordnung lag darin, dass „aus politischen Gründen“ die ökonomisch überlegenen Großgrundbesitzer in den Umbau nicht einbezogen wurden. Auch aus dem Planungsvorhaben, die kleinen Höfe und Zwergbetriebe mit weniger als 7,5 Hektar Land durch staatliche Zwang zusammenzulegen wurde nicht. Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia
19. Ostarbeiter
Nach Ausbruch der Zweiten Weltkrieges verlor der RNST an Einfluss. Die Kriegswirtschaft und der massiven Armeaufbaus hatten Vorrang.
„Die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft wurden knapp. Hilfskolonnen der HJ, des BDM und des RAD, dazu Tausende von Mädchen, die das neugeschaffene „Pflichtjahr“ in einem Haushalt absolvieren mussten, wurden zum „Ernteeinsatz“ abkommandiert, ohne jedoch die abgewanderten Fachkräfte ersetzen zu können. Der Hauptgrund der Abwanderung lag in den deutliche besseren Einkommensmöglichkeiten in Industrie und Handel und im Reichshofgesetz.“ (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1)
Im Januar 1942 befahl Göring mit dem „Ostarbeitererlass“ vom 19. Dezember 1941 die Ostanwerbung und unterstellte alle Bewohner der besetzten Ostgebiete der öffentlichen Arbeitspflicht, da der Übergang zu einem Abnutzungskrieg zu einem dramatischen Arbeitskräftemangel in Deutschland geführt hatte. Die Anwerbung sollte in größtem Umfang in allen besetzten russischen Gebieten erfolgen. Ideologische und volkstumspolitische Erwägungen der Nationalsozialisten gerieten in den Hintergrund.
Foto: Junge ukrainische Frauen werden 1940 am Kiewer Hauptbahnhof an Güterwagen nach Deutschland zugewiesen
Quelle: Quelle: BArch, Bild 183-R70660
Die „Ostarbeitererlasse“ enthielten folgende Bestimmungen:
· Verbot, den Arbeitsplatz zu verlassen
· Verbot, Geld und Wertgegenstände zu besitzen
· Verbot, Fahrräder zu besitzen
· Verbot, Fahrkarten zu erwerben
· Verbot, Feuerzeuge zu besitzen
· Kennzeichnungspflicht: ein Stoffstreifen mit der Aufschrift „Ost“ musste gut sichtbar auf jedem Kleidungsstück befestigt werden
· Die Betriebsführer und Vorarbeiter besaßen ein Züchtigungsrecht
· schlechtere Verpflegung als für Deutsche
· weniger Lohn als Deutsche
· Verbot jeglichen Kontakts mit Deutschen, selbst der gemeinsame Kirchenbesuch war verboten
· Gesonderte Unterbringung der Ostarbeiter, nach Geschlechtern getrennt
· Bei Nichtbefolgen von Arbeitsanweisungen bzw. Widersetzlichkeiten drohte die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager
· Strenges Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Deutschen, darauf stand zwingend die Todesstrafe "
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/OstarbeiterOstarbeiter – Wikipedia
Die deutsche Kriegswirtschaft, Industrie und Landwirtschaft hätte ohne das Millionenheer deportierter Fremdarbeiter und Kriegsgefangener nicht funktioniert; deren Zahl stieg von 1,2 Millionen im Jahr 1941 auf 7,8 Millionen im Jahr 1944 – davon knapp fünf Millionen Russen und Polen.
Die „Zuteilung“ der Ostarbeiter erfolgte über die Landesbauernschaft aufgrund der „Arbeits-Meldungen“ des lokalen Ortsbauernführer. Die Ostarbeiter mussten sich durch ein Volkstumsabzeichen kenntlich machen.
Quelle: ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (onb.ac.at)
und https://de.wikipedia.org/wiki/OstarbeiterOstarbeiter – Wikipedia
Auf dem ehemaligen Gut Alt Lappönen wurde in einem Gebäude ein "Lager" für 40 Ostarbeiter eingerichtet, die alle auf den umliegenden Gütern arbeiten mussten. Das Gebäude wurde früher als "Schnitterkaserne" genutzt. In der übrigen Jahreszeit waren dort Tageslöhnen untergebracht gewesen. (Quelle: Erinnerung von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies)
Eine junger weißrussischer Ostarbeiter Michael Kitursko,18 Jahren alt; wurde 1941 dem Hof der Tuttliesen „zugeteilt“ und er wohnte auch dort. Er wurde zu einem geachteten Familienmitglied mit gemeinsamen Mahlzeiten und einem eigenen Zimmer im Wohnhaus. Seine Teilnahme an der Flucht 1945 wurde ihm vom Bürgermeister in Willschicken untersagt. Sein späteres Schicksal ist trotz Nachforschungen durch das Rot Kreuz in Weißrussland im Heimat-Rajon Maladsetschna (belarussisch Маладзечанскі раён; russisch Молодечненский район) ungewiss geblieben.
20 . Ausblick
Zwischen dem Foto von 1930 von Berta und Ferdinand Tuttlies mit Enkel und dem Luftbild von 1980 liegen 50 Jahre in denen viel passiert ist. Das folgende Foto zeigt Berta und Ferdinand Tuttlies 1930 mit den Enkeln Manfred und Carlhorst :
Das folgende Luftbild zeigt Teile von Willschicken und Lindenhöhe um 1980:
Das Foto zeigt die ehemalige Hoffläche von Tuttliesen 1992
Quelle: Foto Privat
Bei dem Besuch von Hildegard Kiehl 1972 in Willschicken mit einer Reisegruppe waren der Vierkanthof der Familie Tuttlies und das Soldatengrab nicht mehr vorhanden. Einige Mitreisende hatte ihre alten Hausschlüssen dabei. Die Unterkunft in Insterburg war das Hotel „Zum Bären“ in der Tunnelstraße. In den Jahren 1992 und 1995 folgten weitere Besuche. Das Hotel „Zum Bären“ ist 1972 gebaut. Das Hotel hat 5 Einbett-, 18 Doppelzimmer und 4 Dreibettzimmer. Alle Zimmer sind mit Telefon, Bad oder Dusche/WC ausgestattet. Es gibt eine Bar und ein Restaurant. In der Nähe des Stadtzentrums, unweit vom Bahnhof gelegen.
Adresse: Uliza Tunnelnaya 2, Tscherjakovst in im Oblast Kaliningrad
Anlage 1: Schadensberechnung
Anlage 2: Links zu Willschicken und Umgebung:
http://wiki-de.genealogy.net/GOV:WILTALKO04VT
Wilkental – GenWiki (genealogy.net)
Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)
Paducken – GenWiki (genealogy.net)
Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)
Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)
Bambullen – GenWiki (genealogy.net)
Birkenhof (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)
Grünheide (Kirchspiel) – GenWiki (genealogy.net)
Klein Schunkern – GenWiki (genealogy.net)
GOV: Willschicken, Wilkental (genealogy.net)
GOV: Pillwogallen, Lindenhöhe (genealogy.net)
https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette
https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2021/Ausgabe29.shtml
Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink
Wirtschaft_und_Statistik-1939-13.pdf (statistischebibliothek.de)
Siehe den Familienstammbaum der Familien Podewski, Tuttlies und Kiehl
FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski — FamilySearch.org
und Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)
und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)
und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)
Ein besonderer Dank gilt Herrn und Frau Mattulat. Sie haben dankenswerterweise wichtige Eigenarbeiten zur Verfügung gestellt.
Der Text wurde im April 2021 von Hildegard Kiehl erstellt und im März 2022 von Klaus Kiehl und Simon Kiehl überarbeitet.
Berichtigungen und neue Informationen sind herzlich willkommen,
bitte an Sie diese an die E-Mail Adresse von Klaus Kiehl: [[6]]
Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies * 21.03.1920 in Willschicken † 19.06.2021 in Hamburg.
Der litauische Name Tuttlies heißt übersetzt Wiedehopf.
Hamburg 2022
"Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang", Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies
Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies, wurde am 21. März 1920 in Willschicken in Ostpreußen geboren und ist am 19.06.2021 in Hamburg verstorben. Das langjährige Mitglied der Insterburger Heimatgruppe Hamburg hatte bei den Treffen immer viel aus der Jugend zu erzählen.
- Zu Hause
Im März 2020 genau vor 100 Jahren wurde ich 100 Jahre alt. Aufgewachsen bin ich auf dem Lande in einem warmen Nest; in keinem Heuhaufen, sondern auf einem Bauernhof, mit zwei Brüdern und einer Schwester. (Max, Friedel und Erich - der jüngste Bruder Otto ist schon mit 3 Jahren verstorben)
Unsere Eltern haben uns mit viel Liebe und Fürsorge erzogen. Meine Spielgefährten waren alle Tiere, die ein Bauernhof besitzt. Meinen kleinen Ziegenbock, meinen Mäck, darf ich nicht vergessen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt und ich tobte mit ihm um die Wette — besonders im Blumengarten, wenn dieser sauber hergerichtet war. Zur Freude meiner Mutter!! Ich war damals noch keine 5 Jahre alt, mein Mäck höchstens ein halbes Jahr alt. Für meine älteren Geschwister war ich stets die Kleine, sie behielten mich immer am Auge, soweit es ging. Nur wenn ich bei Lux, unserem Hofhund in seiner Hütte saß und mich nicht meldete, wenn ich gerufen wurde, waren sie etwas besorgt.
Knappe 10 Minuten Fußweg von uns entfernt war mein Gerhard Kiehl daheim. Seine Eltern besaßen ein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich einmal dazu gehören werde! Aber mein Vater ging gerne dort hin. Überhaupt, wenn ein großes Treffen der bekannten Bauern aus der Umgebung war, am Tage der Schweineablieferung in Grünheide auf dem Bahnhof. Alle Bauern kehrten dann ( ...die Fuppen voller Geld, es war der Erlös für die Schweine) zum Umtrunk bei meinen Schwiegereltern in Pillwogallen ein.
Zum Stammbaum der Padefke siehe auch die folgenden Links:
FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski — FamilySearch.org
und Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)
und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)
und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)
Pillwogallen kommt aus dem Litauischen und heißt deutsch: „Bauchende". Das gefiel den Einwohnern schon lange nicht. Auf Sondergenehmigung des Landrates Insterburg wurde der Name schon 1928 in „Lindenhöhe" unbenannt! Dort wurde der Insterburger Reiter-schnaps ausgeschenkt. Ein Stück Würfelzucker und zwei ganze Kaffeebohnen wurden zerkaut und mit einem Korn nachgespült. Oder es gab einen Pillkaller. Wieder ein Gläschen Korn mit einer Scheibe deftiger Leberwurst mit einem Klacks Mostrich drauf! Vater kam dann reichlich verspätet nach Hause — aber stets lustig!
Bei der Gelegenheit sollte er einmal 10 Heringe mitbringen. Machte er gerne! Natürlich dauerte die Sitzung länger als geplant. Er legte das völlig durchnässte Paket in Packpapier verpackt auf den Küchentisch. Mutter konnte endlich ihre Heringe auspacken — und fand nur noch einen einzigen Hering darin! Waren doch die übrigen aus dem Papier gerutscht, ohne dass es Vater bemerkt hatte.
Mutter war sehr verärgert. Vater verkrümelte sich schnell mit seiner Decke und einem Kissen auf den Heuboden, um seinen Rausch auszuschlafen! Ich wurde aber, die kleine Merjell, von Mutter mit einer Blechschüssel losgeschickt, um am Straßenrand im Gras nach ihnen zu suchen; denn 1 Hering kostete damals 1 Dittchen und 10 Stück 1 Mark —und siehe da, ich kam mit allen „Neunen" nach Hause! Sie wurden unter der Pumpe auf dem Hof gespült und gespült — und die Welt war wieder in Ordnung!
Anfang April 1926 wurde ich in ein Matrosenkleid gesteckt, die langen Strümpfe hatte Mutter selbst aus Schafswolle gestrickt (kratzten fürchterlich). Meine schwarzen Spangenschuhe wurden gewienert und einen Tornister bekam ich aufgehubbelt! An Mutters Hand ging es in die zweitklassige Schule nach Pillwogallen. Ich war sehr neugierig auf sie. Als ich dann einige Tage artig auf meinem Platz gesessen und mir alles angesehen hatte, fiel mir ein, dass gerade unsere Küken aus den Eiern zu der Zeit rausgekrabbelten, und ich musste dabei sein! Also ließ ich meinen Ranzen in der Bank liegen und ging nach Hause. Doch ich kam nicht weit. Lehrer Wiederhöft holte mich ein, fasste mich am Schlafittchen und meinte: „Ille (so nannte er mich) Du gehörst in die Schule!" Gefiel mir gar nicht. Viel schöner war es Zuhause, bei meinem Ziegenbock!
Auf dem Schulweg kamen wir an der „Haus-Schmiede" vorbei. Sie war tipp topp und er ein guter Schmied. Er hatte schon die dritte Frau am Haken und 12 Kinder und ein sehr baufälliges Wohnhaus, in das es reinregnete. War es des Nachts, wenn sie schon im Bett lagen, sagte sie zu ihm: „Papake, spann dem Scherm op! On et wer wi im Himmel!" In der Schule saßen hinter mir zwei Lautze von der Sorte. Ich hatte lange Zöpfe und die steckten sie mir ins Tintenfass, das hinter mir stand. Und ich hatte ein weißes besticktes Nesselkleid an. Worüber sich Mutter wieder sehr freute! Auch Martha gehörte zur Familie. Sie war eine drugglige Merjell und plinste oft, wenn sie in der Schule nicht weiterwusste.
Viele Jahre lebten wir in guter Nachbarschaft mit Hermann Weinowsky. Er war der Opa von unserem „Heinz Weinowsky", der 2001 mit seiner Ursel zu unserer Heimatgruppe kam, und wir wussten beide nicht, wer wir waren! Die Überraschung war groß!
Die Jahren vergingen und ich durfte schon mal auf den Schwoof gehen. Am schönsten waren die Manöverbälle bei meinen Schwiegereltern im Garten, auch dort war eine Tanzfläche aus Holz vorhanden. Mein Vater hatte meiner Schwester und mir vor dem Gehen zur Aufgabe gemacht, jede noch zwei Kühe zu melken. Meine „Muschekühe" waren artig, ich erzählte mich oft mit ihnen und streichelte sie auch. Aber bei meiner Schwester war es anders. Sie bedeckelte sie oft mit dem Melkschemel — und dann tanzten sie im Ross-garten Polka, zur Soldatenkapelle, die wir schon spielen hörten!
Und wieder verging die Zeit – und ich hatte meinen Gerhard geangelt, oder er mich? Wir wollen meinen 18. Geburtstag gebührend feiern. Nicht daheim, sondern in Insterburg im Kaffee Alt-Wien! Mein Mann war damals in Insterburg als Berufssoldat stationiert. Ich hatte meine Bleibe bei meinem ältesten Bruder und seiner Familie in der Albrechtstraße 15, dem großen Eckhaus, das heute noch steht. Alles war vorbereitet und wir saßen mit unseren geladenen Gäste im Kaffee Alt-Wien. Die Musik spielte die schönsten Weisen von „Waldeslust" und „Es war einmal ein treuer Husar...".
Der Wein mundete hervorragend und wir waren sehr lustig und vergnügt! Bis ich beim Tanzen plötzlich auf meinem Rücken einen leichten „Schurrr..." vernahm. Ob mich der Gerhard zu sehr an sich gedrückt hatte 9 Ich wollte es wissen und ging zur Garderobenfrau. „Freileinchen — Sie sind aufgeplatzt...!" ...rief sie. Der ganze Rücken meines schwarzen Taftkleides vom Ausschnitt bis zum Gürtel war bloß...! Und nun stand das aufgeplatzte „Freileinchen" da — was war zu machen? Es war ein Kleid aus Mutters Beständen, das uralt war und für mich umgearbeitet worden war. Die Musik spielte, und ich feierte meinen 18. Geburtstag. Heute wäre ein bloßer Rücken (und noch etwas Nacktes) in Mode gewesen; aber damals?
Aber Dank Mutters Fürsorge hatte ich meine lange selbstgestrickte Jacke aus Schafswolle unter dem Mantel an. Sie zog ich über, ging zurück zum Tisch und tanzte und schwitzte mit allen Gästen und meinem Gerhard als „aufgeplatzte Braut"... Das Taftkleid war lange Jahre unbenutzt, es hing gut aufgehoben auf der Lucht in dem großen Schrank, hinter Vaters „Schößchenrock". Taft verschleißt nach Jahren, und das war der Fall.
2. Kornaust, Kruschkemus und Wrukensuppe
Nun ist es über 75 Jahren her, dass wir aus unserer geliebten Heimat vertrieben wurden. Fast nichts konnten wir mitnehmen.
Aber wir sind voll mit unserem Ostpreußen verbunden und verstehen die alten Ausdrücke, mit denen wir aufgewachsen sind. Wer weiß, was ein „Pomuchelskoopp" ist? (Ein dicker, großer Fisch — oder auch ein Schimpfwort „Du Dammliger....!") Oder was auch ein „Kalabräser" ist?
Ich konnte nicht stillsitzen und war immer neugierig. Wenn unsere lieben Nachbarn Onkel Hermann & Tante Auguste Weinowski zu uns in die „Uhleflucht" zum „kadreiern" (erzählen) kamen, war es für mich ein Ereignis! Vater saß dann mit Onkel Hermann auf der Bank vor der Haustüre. „Mien Mutterke" aber mit Tante Auguste im Garten; und ich sauste von einem zum anderen, um viel mitzubekommen!
Die lieben Nachbarn waren die Großeltern von unserem Heinz Weinowski, der 2001 mit seiner Ursula zu uns in die „Heimatgruppe lnsterburg/Sensburg" kam. Bis dahin wussten wir aber noch nichts voneinander.
Die schönsten Zeiten waren für mich im Sommer die „Kornaust" und im Winter das „Federreißen" am warmen Kachelofen. Herrlich war es, wenn es draußen schneite oder gar „stiemte"! Wir saßen ja im Geborgenen. Da durften wir Kinder keine „Flunsch" ziehen, wenn uns die Arbeit nicht passte! Wurden wir noch „oppstornosch", gab es von Vater einen kleinen „Mutzkopp", ab und zu „plinsten" wir uns noch aus und wir waren dann nicht mehr „gluppsch", vielleicht noch ein wenig „dreibastig"... (frech)!
Mutter hat immer gut für Essen und Trinken gesorgt! Von „Klunkermus" mit Farin gesüßt, „Keilchen", „Pierag", selbstgemachte „Glumse" mit selbst gekochter Kirschkreide im großen Waschkessel in der Waschküche unter ständigem Rühren mit Zucker einige Stunden gekocht. „Brennsuppe", „Wrukensuppe", „Kruschkemus", „Kissehl", „Königsberger Fleck" mit 6 Gewürzen, gebackene Stinte — und meine „Spirgel", die ich heute noch gerne esse! Einige Leute daheim waren „Gniefke" (Geizhälse). Sie saßen auf ihren „Dittchen". Selten, daß sie einen „Kornus" geschweige einen „Pillkaller" ausgaben; und zum „Barbutz" gingen sie auch nicht. Dann kam ein „Bowke", er musste aber schon älter sein aus der Nachbarschaft und schnitt ihnen die Mähne mit der Schere. Zuhause wurden von Männern viel „Klumpen" und von Frauen „Schlorren" getragen. Prima waren sie zum „Schorren" auf dem Eis. Es ging aber auch ohne sie — auf selbstgestrickten dicken Socken aus Schafswolle! Im Hause schlüpfte man in warme „Wutschen", die oft per Hand hergestellt waren. http://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html
Gingen wir aber zum „Schwoofen", wurden die Sonntagsschuhe angezogen. Während des „Schwoofens" bekam man auch ab und zu mal einen „Bärenfang" spendiert. Die Männer tranken gerne „e Tulpche Bier", aber nicht zu viel, dass man sich nicht de „Tuntel" begoss! Auch wenn derjenige seine Spendierhosen anhatte, und noch gerne einen ausgegeben hätte! Aber auf dem Nachhauseweg hätte man sich leicht „verbiestern" können! Schlimm war es, wenn ich als kleine „Marjell" einer „Ziegahnsche" oder einem „Pracher" begegnete. Dann nahm das Betteln kein Ende. Hatte ich für sie etwas inne „Fupp", einen „Knasterbombom" oder einen Dittchen, war ich sie los!
Mein Vater war wütend, wenn der „Koppschäller" (Pferdehändler) immer wieder zu uns kam. Dieser hatte es auf unsere „Rieke" abgesehen. Sie kam aus Trakehnen, Vater hat dann immer überlegt, wie er den Kerl auf Nimmerwiedersehen los würde!
Aus der Gegend Friedrichsdorf und Große Friedrichsdorf kamen häufig auch die Zwiebelfahrer. Sie kamen zu uns mit Pferd und Wagen und riefe: „Zippeln, Zippeln“. Sie tauschten Zwiebeln gegen Roggen. Gemessen wurde nach Scheffel, ein hölzernes Hohlmaß ca. 40 Inhalt.
Zu unserer Nachbarschaft gehörte auch die „Familie Baltruweit". Sie saßen auch auf einem Bauernhof, Vater, Mutter, Opa, Oma und vier „Marjellens". Opa und Oma waren auf dem Altenteil. Sie bewohnten die kleinste Stube, nur dass sie zur Nacht eine Bleibe hatten. Am Tage waren sie immer noch mit leichter Arbeit in Haus und Hof beschäftigt.
Nun hatte Opa Baltruweit in der Nacht oft Nacken- und Kopfschmerzen. Also stand er wieder mal im Halbdunkel auf, tastete sich an sein Regal mit dem verschiedenen Einreibemittel in Fläschchen. Das Mittel wirkte Wunder, dachte er, er konnte schlafen und kam am anderen Morgen munter in die Küche. Doch „o Schreck" — Opa war blau im Gesicht, an den Händen, am Nacken! Ja, das war das Ende vom Lied — Opa hatte im Dämmerlicht de Tintenflasche erwischt; die in Reserve im Regal stand! Vater gab aber Opa den guten Rat: Bloß nicht mit Tinte de Kopke önriewe, dat helpt nich...!
Eine der vier Marjellens ist meine liebe Gerda. Mit ihr bin ich zusammen zur Schule gegangen, sie ist genau so alt wie ich. Sie wohnt in Bielefeld. Wir stehen bis zum heutigen Tage noch immer in Verbindung und sind dick befreundet. Wir telefonieren oft miteinander und tauschen unsere Erinnerungen aus — meistens auf platt! Auch unsere liebe Heimatgruppe ist immer im Gespräch... Ja, das war mein Zuhause, mein warmes Nest!
3. Der Zweite Weltkrieg
Am 1. September 1939 war der Krieg ausgebrochen — aber wir fühlten uns in unserem Ostpreußen in Sicherheit. Wir waren ja weit weg vom Schuss, vom großen Deutschen Reich und hatten reichlich zu essen und zu trinken, und wir waren ja die Kornkammer Deutschlands!
„Denn heute gehört uns Deutschland", sang die Jugend vor Begeisterung! Ich war 19 Jahre alt und hatte mir nach der Handelsschule eine Stelle im Büro auf dem Lande, im herrlichen Masuren in Pristanien/Paßdorf bei Angerburg gesucht. Zur Lage siehe: Ziegelei Mauerwald – GenWiki (genealogy.net)
Es war die große Baumschule „Bruno Wenk" mit 12 Angestellten, vom Obergärtner bis zu den Lehrlingen; dazu war mein Chef „Bürgermeister" und die Postagentur gehörte auch da hinein. Im Büro waren wir zwei Angestellte, also gab es reichlich zu tun. Aber trotzdem war ich viel am Mauersee, der ganz in unserer Nähe lag. (Wo dann später das Führerhauptquartier, die „Wolfsschanze" gebaut wurde).
Wir hatten ein weibliches Arbeitsdienstlager mit über 100 Maiden in unserem Bezirk (Kreis Rastenburg). Sie waren im „Reich" beheimatet und bekamen viel Post, die sie sich selbst abholten.
Der folgende Text wurde eingefügt:
“Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes. Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.”
“Neben dem männlichen Arbeitsdienst war mit dem Reichsarbeitsdienstgesetz auch der weibliche Arbeitsdienst (RADwJ) für junge Mädchen (Arbeitsmaiden) im Alter von 18 bis 21 Jahren eingeführt worden. Ab dem Jahr 1938 entstanden überall im damaligen Deutschen Reich 327 Lager des weiblichen Arbeitsdienstes, von denen 108 als Bauernlager, 116 als Siedler- und 108 als NSV-Lager (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) anzusprechen waren. Damit zeigte sich bereits die Einsatzart der weiblichen Arbeitsdienstangehörigen. Sie wurden entsprechend auf Bauerhöfen als Hilfskräfte (Mägde) eingesetzt oder in landwirtschaftlichen Siedlungen als Kindermädchen, Säuglingsschwestern, Lehrerinnen oder als eine Art von Sanitätspersonal.“ Quelle: https://www.bildarchiv-ostpreussen.de/cgi-bin/bildarchiv/suche/show_foto.cgi?lang=deutsch&id=17450
Mitarbeiterinnen der Baumschule Bruno Wenk 1940, Hildegard Tuttlies zweite von rechts
Quelle: privat Die folgende Abbildung zeigt das Zeugnis von Hildegard Tuttlies, ausgestellt von der Baumschule Bruno Wenk
Hildegard Kiehl fährt fort:
Auch ich bekam viel Post von Opa! (d.h. ihrem späteren Ehemann. red.) Zuerst aus Insterburg, später kamen dann Feldpostbriefe von der Front. Auch besucht hat er mich oft in Masuren.
Die Zeit lief dahin. Ich war dort von 1939 bis 1943, vier Jahre — und dann kam der grausame Krieg immer näher an unsere Heimat. Mein Bruder Erich, der auf dem Hof bei meinen Eltern lebte, wurde zur Front eingezogen. Als Sanitäter arbeitete er meistens in Lazaretten. Für ihn erhielten Uropa und -Oma einen Weißrussen, Michael, als Arbeitskraft. Er war ein anständiger und fleißiger junger Mann, er war gerne bei uns.
Dann erkrankte mein Vater am Herzen, meine Mutter schaffte es auch nicht mehr, und so ging ich dann nach Hause. Ich wäre auch gerne dort geblieben. Ich hatte großen Spaß an der vielseitigen interessanten Arbeit. Zwar waren fast alle deutschen Baumschulangestellten zur Wehrmacht eingezogen. Aber an ihrer Stelle kamen 20 polnische Hilfsarbeiter, die kaum deutsch sprachen mit einem deutschen Wachmann, der stets eine Pistole bei sich trug, es war grausam! Doch der Versand der vielen Obstbäume, der Nadelhölzer, der Nutz- und Ziersträucher musste ja weitergehen.
So war ich dann wieder Zuhause. Opa kam ab und zu mal von der Front in Urlaub. Die Rückfahrt zur Front war dann immer am schlimmsten. Im Oktober 1943 haben wir geheiratet. Ich blieb aber in Wilkental wohnen. Die Front rückte immer näher. Nachdem die Wehrmacht in Polen besiegt war, rückte Russland weiter vor. Die größten Städte in Ostpreußen wurden schon bombardiert.
Im Sommer 1944 musste nach Königsberg auch Insterburg daran glauben. Es war sehr schlimm; denn mein ältester Bruder Max wohnte in der Albrechtsstraße Nr. 15 mit seiner Familie dort. Es blieben alle verschont und wurden nach Kroslitz bei Leipzig evakuiert.
Für mich war es immer eine Freude, wenn ich zu meinem Bruder Max mit meiner Schwester fahren durfte. Er hatte ein Geschäft mit vielen, vielen Bonbons
Meine Schwester Friedel wohnte in Königsberg. Ihr Mann war an der Front und sie wurde nach Lugau im Erzgebirge evakuiert.
Im Herbst 1944 mussten auch große Teile der Landbevölkerung die Heimat verlassen. Sämtliche Kühe wurden zu großen Herden zusammengetrieben, und weiter in den Westen sollte es gehen; was wir aber nicht glaubten! Ich höre heute noch das verzweifelte Brüllen der Tiere und unsere älteste Kuh stand eines Tages vor dem Stall auf dem Hof. Sie war heimgekehrt, und wir haben sie behalten. Pferde durften bleiben; denn der Flüchtlingstreck ging mit Pferd und Wagen in den Kreis Mohrungen in Ostpreußen. Der größte Kastenwagen wurde mit einer Plane überspannt und mit Hab und Gut, so viel hineinging, beladen.
Unser Termin war der 15. November 1944. Doch plötzlich wurde Vater wieder sehr krank. Er hätte wohl den langen Treck mit der großen Aufregung nicht überstanden. So beschlossen wir, noch etwas Daheim zu bleiben.
Unser Michael war noch immer bei uns. Noch einmal, zum letzten Male in unserem Leben, haben wir Weihnachten Zuhause erlebt, mit einem kleinen Weihnachtsbaum — es war sehr traurig. Michael versprach Vater, auf alles zu achten; denn er wollte in Wilkental wohnen bleiben.
Feldpost kam auch nicht mehr. Unsere Wehrmacht war auf dem Rückmarsch. Mit der Bahn nach Königsberg, in die leerstehende Wohnung von Tante Friedel und weiter bis über die Weichsel. (Denn es war eine Hoffnung, daß der Russe dort zum Stillstand käme!)
4. "Dann in Gottes Namen!"
So packten wir nur Handgepäck, soviel wir schleppen konnten. Alles wurde auf einen kleinen Wagen geladen, Michael spannte beide Pferde davor und fuhr am Wohnhaus vor. Vater und Mutter gingen noch einmal durchs Wohnhaus, Stall und Scheune, schlossen alles ab und stiegen zu Michael und mir in den Wagen. Die Schlüssel übergab Vater an Michael. Vater nahm Michael die Leine ab, sagte: „Dann in Gottes Namen.!" Vater trieb die Pferde an; und wir fuhren von unserem geliebten Hof und Grundstück zur Bahnstation Grünheide. Es war der 10 Januar 1945. Die Flucht begann. Wer nach Westen wollte, brauchte eine Reisegenehmigung, um Fahrkarten für einen der wenigen noch verkehrenden Züge zu erwerben.
Der völlig verspätete Räumungsbefehl für Kreuzburg im Samland/Ostpreußen vom 29.01.1945, Quelle:Kreuzburger Erinnerungen - Familienforschung Ostpreußen (tharauvillage.de)
Auf dem Bahnhof nahm Vater Michael in den Arm, uns allen liefen die Tränen; wir stiegen in den Zug in Richtung lnsterburg und von hier aus ging es nach Königsberg weiter. In Königsberg kamen wir in der Wohnung meiner Schwester Friedel, trotz Fliegeralarm, etwas zur Ruhe. Das Zweifamilienhaus war Kasernengelände und vor der Stadt gelegen. Mein Schwager war Hausmeister in der Kaserne, zusammen mit einem zweiten, der in demselben Haus wohnte — und dieser war noch da, während mein Schwager an der Front war.
Die Freude war groß — aber nicht zu lange! Einmal war ich noch nach Hause gefahren. Michael war nicht mehr da. Auch Lisa, unsere treue Kuh, war weg. In der Veranda lag unser Hofhund, aber erschlagen. Die Haustür aufgebrochen; aber das Haus war nicht ausgeräumt. Viele Einheiten von deutschen Soldaten hatten sich in der Umgebung niedergelassen, die auf dem Rückzug waren. Auch Opas Einheit war dabei, allerdings einige Kilometer entfernt. Sie alle schützten unser Hab und Gut vor Plünderungen, so gut es ging. Der Russe plante weitere Großangriffe, die kamen dann auch, es war ein bitterkalter Winter mit 20 Grad minus und mehr und viel Schnee.
Der folgende Text wurde eingefügt und stammt aus: Der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder, Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band I/1 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 1, Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1954. Es ist folgender Text entnommen:
„Die Königsberger Bevölkerung war zunächst mit Eisenbahnzügen geflohen, bis der Zugverkehr nach dem Reich am 21. Januar aufhörte. Danach hatten sich große Teile nach Pillau begeben, um von dort aus entweder über die Nehrung nach Westen zu gelangen oder über See ins Reich abtransportiert zu werden. Als Ende Januar 1945 die Einschließung der Stadt vollendet war, wurden noch geringe Teile der Bevölkerung zu Schiff von Königsberg nach Pillau gebracht, und Mitte Februar, nachdem im Norden der Stadt die Verbindung nach dem Samland für einige Wochen wieder freigekämpft war, konnten noch weitere Teile der Zivilbevölkerung aus Königsberg ins Samland übergeführt werden. Dennoch blieben ca. 100 000 Menschen in Königsberg zurück. Viele von ihnen kamen den Räumungsaufforderungen der Partei absichtlich nicht nach, weil sie sich in der Stadt sicherer glaubten als im Samland oder auf dem gefahrvollen Fluchtweg über Pillau Fortgesetzte Bombenabwürfe und Artilleriebeschuss auf Königsberg zerstörten während der Wochen der Einschließung einen großen Teil der ohnehin durch Luftangriffe schon früher schwer mitgenommenen Stadt und richteten unter der nur noch in Kellern lebenden Zivilbevölkerung hohe Verluste an. Als schließlich am 6. Bis 9. April der Generalangriff der Roten Armee auf Königsberg erfolgte, wurden nochmals viele Zivilisten in die Kriegsereignisse hineingerissen. Ca. 25 Prozent der in Königsberg verbliebenen Bevölkerung waren im Laufe der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, als am 9. April die Stadt an die Russen übergeben wurde.
Als letzte Bastion in Ostpreußen blieb nunmehr nur noch der Streifen entlang der Samlandküste und der Raum um Pillau—Fischhausen in deutscher Hand. Noch immer betrug die Zahl der aus Königsberg, dem Samland und aus weiter östlich gelegenen Kreisen in Pillau, Fischhausen, Palmnicken, Rauschen und Neukuhren untergebrachten Menschen viele Tausende, obwohl die Hauptmasse der Flüchtlinge bereits von Pillau aus über See abtransportiert worden war. Die ersten mit Flüchtlingen beladenen Schiffe hatten am 25. Januar Pillau verlassen, und am 15. Februar konnte in Pillau bereits registriert werden, daß 204 000 Flüchtlinge mit Schiffen abbefördert und weitere 50000 nach Neutief übergesetzt und im Treck oder Fußmarsch auf der Frischen Nehrung weiter geleitet worden waren. Aber noch immer strömten viele Tausende nach Pillau. Sie kamen nicht nur über Land, sondern auch von Neukuhren aus mit kleinen Schiffen an. Die Stadt beherbergte an manchen Tagen über 75 000 Menschen, unter denen die ständigen sowjetischen Fliegerangriffe hohe Verluste anrichteten. Allein in der Zeit von Anfang März bis Mitte April fanden 13 schwere Luftangriffe auf Pillau statt, während gleichzeitig auch sowjetische Artillerie Stadt und Hafen beschoss.
Vom 8. März an musste für ca. drei Wochen der Abtransport von Flüchtlingen aus Pillau eingestellt werden, weil aller zur Verfügung stehende Schiffsraum in dieser Zeit zum Abtransport der Flüchtlinge aus den Städten Danzig und Gdingen benötigt wurde, denen in Kürze die Einnahme durch sowjetische Truppen drohte. In dieser Zeit, als keine Schiffe von Pillau abfuhren, zogen viele Tausende nach Neutief herüber und die Nehrung entlang, denn von der Danziger Niederung aus verkehrten auch nach der Einnahme Danzigs noch Fährprähme nach Hela, von wo aus dann der Weitertransport ins Reich erfolgen konnte. Ab Ende März wurde der Schiffsverkehr von Pillau aus nach dem Westen wieder aufgenommen. Quelle: Die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung.
Auch der Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch begab sich auf die Flucht. „Erich Koch floh am 24. April 1945 mit einem Flugzeug von Pillau-Neutief auf die Halbinsel Hela, von wo er auf dem eigens für ihn extra bereitgehaltenen Hochsee-Eisbrecher Ostpreußen am 27. April 1945 vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee über die Ostsee entkommen konnte. Am 29 April 1945 erreichte er Saßnitz, das ebenfalls schon von der Roten Armee bedroht wurde, am 30. April 1945 Kopenhagen und am 5. Mai 1945 Flensburg. Dort nahm er eine neue Identität an, indem er sich falsche Papiere ausstellen ließ. Sein „ Hitlerbärtchen” rasierte er ab, zudem trug er nun zur Tarnung eine Brille.” 1949 wurde er verhaftet und an Polen ausgeliefert. 1986 starb er dort im Gefängnis. Quelle: Erich Koch – Wikipedia
Hildegard Tuttlies berichtet weiter:
In Königsberg kam der Bescheid, dass die Stadt sofort von Zivilisten geräumt werden müsste. Dieses Mal sollte es per Schiff weitergehen. Unser Nachbar brachte uns zum Hafen. Hier lag ein Riesenschiff vor Anker (den Namen weiß ich nicht mehr...), im Begriff auszulaufen. Die Zugangsbrücke war schon eingefahren, aber an Strickleitern zogen sich Flüchtlinge noch eilig an Bord, und wir sollten auch hoch — aber Uropa und -Oma wehrten sich dagegen. Und das war unser Glück! Das so überladene Schiff bekam auf hoher See einen Volltreffer und ist mit Mann und Maus gesunken!
Und nun kam der gefürchtete Fliegeralarm. Wir liefen in einen Bunker, es ging alles glimpflich ab. Plötzlich tauchten deutsche Soldaten auf. Sie trennten die Männer von ihren Familien, sie sollten zur Verteidigung der Stadt zurückbleiben, so auch mein Vater — und das mit 76 Jahren! Frauen und Kinder mussten geschwinde aus dem Bunker, wir wurden mit der Menschenmasse nach draußen gedrängt, Vater blieb fassungslos zurück!
5. Abschied von der Heimat
In großen Militärtransportern ging es zum Nordbahnhof, von hier dann mit dem Zug nach Pillau, in den nächsten Seehafen; vom Bahnhof dann bis zum Hafen mit unserem schweren Gepäck zu Fuß. Ich hatte einen großen Koffer — mit Schinken und Speck und noch einen zweiten Koffer mit Bekleidung. Es war ja tiefer Winter... Ich packte beide Koffer übereinander, zurrte sie mit langen Riemen sehr fest und schleppte sie im Schnee und Eis hinter mir her.
Mutter hatte einen Riesenmarmeladeneimer voller Schweineschmalz und eine große Tasche dazu gepackt. Bei Vater war ein Rucksack mit Würsten und eine Tasche mit Zeug zum Anziehen. Er hatte seinen großen Fahrpelz über seine Bekleidung gezogen, dazu Pelzmütze und Pelzhandschuhe, also frieren konnte er nicht! Auch Mutter hatte ihren Pelz an. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben eine lange Hose an, die Trainingshose von meinem Bruder.
In Pillau kamen wir auf kleine Seesicherungsboote, dicht gedrängt. Mutter saß auf dem Schmalzeimer, ich mit einer jungen Frau zusammen auf meinen Koffern. Die Reisestrecke war Pillau—Stettin.
Wir waren sehr lange unterwegs. Gott sei Dank, wir kamen, trotz Fliegeralarm, heil in Stettin an. Ab hier ging es mit der Bahn quer durch Deutschland nach Chemnitz und weiter nach Lugau im Erzgebirge zu Tante Friedel und ihren Kindern. Das Ziel hatten wir uns schon zu Hause vorgenommen.
Die Bahnfahrt im Güterzug hat fast acht Tage gedauert. Wir hatten oft Fliegerbeschuß, mussten dann ganz schnell aus dem Zug heraus, uns in Büschen und Gräben verstecken. Wenn die Gefahr vorbei war, pfiff der Zug — alles rannte wieder zum Zug — und weiter ging es. Des Nachts standen alle Räder still. Mich wunderte es nur, dass wir immer wieder unseren wertvollen Schmalzeimer und den Speckkoffer vorfanden.
Aber wieder „Gott sei Dank..."! Es ging alles gut — und dann standen wir vor der Tür von Tante Friedel, es war früh an einem Morgen. Müde, dreckig, hungrig, alles verloren, ohne unseren Vater. Es war ein trauriges Wiedersehen.
Allmählich lebten wir uns ein; trotz der großen Flüchtlingszahl — und der sehr knappen Verpflegung auf Lebensmittelkarten, obwohl wir immer noch etwas aus unserem Mitbringsel zuzusetzen hatten. Es gab keinen Fliegeralarm, dafür sehr viele Russen als Besatzung; man ging ihnen aus dem Wege und so blieb man ungeschoren! So konnten wir wenigstens in der uns zugewiesenen Bodenkammer lange und ruhig schlafen, um vielleicht eine Mahlzeit einzusparen; denn unsere Vorräte wurden immer weniger. Dazu kam das bange Warten auf Nachricht von meinem lieben Gerhard, meinem Vater, meinem Bruder, meinem Schwager, dem Mann meiner lieben Schwester.
6. Der 8. Mai 1945
Und dann kam der große Tag — 8. Mai 1945, „Tag der Kapitulation". Meine Mutter und ich standen draußen am Hofzaun, schauten ins weite Land und weinten, weinten. Wir hatten Heimweh nach unserem Ostpreußen und Sehnsucht nach unseren Lieben. Ob sie noch am Leben waren? Dazu die bange Frage, was sollen wir kochen, wieder eine Wassersuppe von Rübenblättern, die wir von den Feldern stibitzten, oder vielleicht lieber „Spinat von Brennnesseln" mit nichts drin?
So verging die Zeit... Mai und Juni war auch fast vorbei — und dann kam sie, die lang ersehnte Nachricht von meinem lieben Mann, Eurem Opa! Den Brief mit der vertrauten Schrift hielt ich lange in den Händen. Ich wagte ihn kaum zu öffnen, ging nach draußen, setzte mich in eine stille Wiesenecke und habe den Brief geöffnet! „Mollhagen bei Trittau in Holstein", stand neben dem Datum. Er schrieb mir, dass er gesund den furchtbaren Krieg überstanden habe und dass er beim Engländer auf einer Entlassungsstelle arbeite. Er hoffe nur, dass ich mit meinem Lieben alles gut überstanden hätte und dass wir uns recht bald in Mollhagen wiedersehen mögen. Tante Friedels Anschrift aus Lugau hatte er nach unserer Abreise aus Königsberg zufällig in der unbewohnten Wohnung gefunden! „Glück muss der Mensch haben!"
Ich fuhr dann sofort zu Eurem Opa. Ab Chemnitz nach Hamburg im offenen Güterzug. Es war Sommer, die Sonne schien und uns stand das Wiedersehen bevor! In Trittau (Schleswig-Holstein) trafen wir uns. Ein halbes Jahr ohne Nachricht waren wir; und ich war so schüchtern ihm gegenüber — er aber auch!
Es gab kein jauchzendes Wiedersehen; sondern leise weinend lagen wir uns in den Armen. Dann ging es mit einem Dienstwagen nach Mollhagen, unserer Unterkunft. Es war ein großer Bauernhof mit einem schönen geräumigen Wohnhaus. Über die Diele gelangte man zur Treppe nach oben in unser Zimmer.
Es war klein und ärmlich möbliert. Ein breites Bett mit einer Strohschütte, darüber eine alte Decke, ein gebrauchtes Kopfkissen und eine zweite Decke zum Zudecken (ohne Bettwäsche!). Dann ein winziger Tisch und zwei verdreckte Gartenstühle, eine Kochhexe und ein Brett als Ablage für einen Eimer, einen alten Kochtopf, zwei Teller, zwei Löffel, zwei Gabeln und Messer und zwei Becher! „Na, gode Morje — ös dat alles?" sagte wütend Euer Opa! Aber zwischen den zwei Fenstern hing ein riesiger Wandspiegel von der Decke bis zum Erdboden!
Die Wirtsleute verhielten sich sehr reserviert — wir aber auch! Wir waren ja Flüchtlinge aus Ostpreußen, die für den Krieg verantwortlich waren. „Vielleicht kommen DIE sogar aus Polen...", hieß es von unserem Gastgeber, dem Herrn ehem. „Ortsbauernführer"! Über unsere Schwelle kam der Bauer nie. Wenn er uns großzügig mal ein trocknes Brot zukommen ließ, riss er die Türe auf und warf es uns zu!!! Wir bedankten uns überschwänglich und lachten dabei! Das stand bei uns fest, unsere Bleibe war dort nur von kurzer Dauer! Wir waren glücklich, nachdem wir uns wieder aneinander gewöhnt hatten. Der Krieg war vorbei — wir waren jung und gesund und hatten die Zukunft, ganz gleich wie, vor uns! Über die erste Bettwäsche auf Bezugsschein haben wir uns riesig gefreut!
Ich betätigte ich mich jede Woche einmal beim Hausputz. Dann stand der Altbauer, ihr Vater, mit Spazierstock Schmiere, ob ich auch alles gut machte! Ich feudelte dann wie wild um ihn herum, und jedes Mal rief er: „Aufhören!
7. Neubeginn beim Zoll
In unserem gemeinsamen Leben ist aber alles gut gegangen. Mein Mann und ich hatten immer einen Schutzengel, und ich bin unserem Herrgott dankbar, dass wir fast 55 Ehejahre gemeinsam erleben durften. Nun hatte sich Euer Opa bei den örtlichen Behörden, die es noch gab, beworben.
Im Juni 1946 bekam er die Einberufung zum Zollgrenzschutz nach Vennebrügge, Kr. Grafschaft Bentheim an der holländischen Grenze. Mit Dienstwohnung — was waren wir froh! Zwei Tage und eine Nacht waren wir von Trittau bis Neuenhaus, die letzte Bahnstation vor der Grenze, also Vennebrügge, unterwegs. Des Nachts standen alle Räder still.
Die letzten 12 km ging es per Anhalter — nur mit Pferdefuhrwerk — weiter! Die Welt war dort zu Ende und die Zeit wohl stehen geblieben! Es war ein winziges Grenzdorf mit drei holländischen Bauern (Kampherbeek, Stegink, Schulding – auf der deutschen Seite) einem Arbeitshaus, ein bewirtschaftetes Zollhaus, d.h. Zollamt für den kleinen Grenzverkehr, vor dem Krieg neu erbaut und von zwei Zollbeamten mit Familien bewohnt, ein altes ausgeräubertes Zollamt, das wieder später als Dienstwohnung in Stand gesetzt wurde. Ein Beamter wohnte dort schon und empfing uns und hat uns in unsere Wohnung eingewiesen.
8. Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Stall — und Plumpsklo
Wir fingen an mit einem selbst gestopften Strohsack, einem Tisch aus alten Dielenbrettern, mit zwei Stühlen ohne Sitze, einer kleinen Hängelampe mit Petroleum. Keinen Herd, nur mit einem Kanonenofen und einem Kochgeschirr wurde gekocht! Das war unser neues Leben in unserer neuen Wohnung.
Sie hatte drei Zimmer, eine geräumige Küche und Stallungen für Schwein und Hühner und ein Plumpsklo! Ein Garten für Gemüse gehörte auch dazu. Aber keine Türen, kaum Fensterscheiben, kein Strom, kein Wasser, weder Herd noch Ofen, natürlich hatten wir auch keine Möbel! Aber zwei frischgestopfte Strohsäcke lagen für uns bereit. Euer Opa hatte zwei Decken und seinen dicken Wehrmachtsmantel aus dem Krieg mitgebracht. Dazu noch zwei Paar Knobelbecher, meine waren in der kleinen Größe, aber zu groß — also wir haben sie in der kalten Jahreszeit getragen. Das war der Anfang unseres gemeinsamen Lebens.
Der Pole war dort Besatzungsmacht und hat bei seinem Abzug alles „kurz und klein geschlagen", hieß es.
Der folgende Text wurde eingefügt:
Die polnische Besatzungszone war von 1945 bis 1948 ein Sondergebiet innerhalb der Britischen Besatzungszone im Nachkriegsdeutschland und befand sich im mittleren nördlichen Gebiet des heutigen Landkreises Emsland sowie in der Gegend von Oldenburg und Leer. Sie grenzte an die Niederlande und umfasste ein Gebiet von 6470 km². Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannt. Weitere Orte, die von der deutschen Bevölkerung geräumt werden mussten, waren Teile von Papenburg und Friesoythe (der Ortsteil Neuvrees wurde in Kacperkowo umbenannt und weist aus dieser Zeit noch heute eine so genannte „Polenkirche“ auf). Das Straßendorf Völlen wurde nicht evakuiert. Hier erfolgte die Trennung der Bevölkerungsgruppen entlang der Straßenmitte: die deutschstämmige Einwohnerschaft wurde auf der östlichen Straßenseite konzentriert, während in die leer geräumten Häuser auf der westlichen Straßenseite Polen einzogen.
Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannte Besatzungszone.
Die neue polnisch stämmige Bevölkerung setzte sich zusammen aus etwa 30.000 Displaced Persons, vor allem ehemaligen Häftlingen der Emslandlager – zu diesen gehörten auch Angehörige des Warschauer Aufstandes vom August 1944 – und 18.000 polnischen Soldaten.
Da die überwiegende Zahl aus den damaligen polnischen Woiwodschaften Lwów und Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, kamen, wurde die Stadt Haren zuerst in Lwów umbenannt. Die wichtigsten Straßen der Stadt erhielten polnische Namen dieser Orte. Bereits nach einem Monat wurde auf sowjetischen Druck der Name am 24. Juni 1945 erneut geändert.
Die Stadt wurde nunmehr nach dem polnischen General Maczek benannt, der mit seiner 1. Panzerdivision die umliegenden Gefangenenlager befreit hatte. Da sich ein großer Teil der in deutschen Lagern internierten polnischen Intelligenz hierauf in Maczków niederließ, entwickelte sich der Ort sehr dynamisch zum Zentrum des polnischen Verwaltungsgebietes, hinter dem die antikommunistische polnische Exilregierung stand.
Die polnische Exilregierung soll sogar darüber nachgedacht haben, die Enklave auf bis zu 200.000 Polen aufzubauen, um so indirekt Druck für freie Wahlen in Polen ausüben zu können. Die durch die polnische Exilregierung verwaltete polnische Besatzungszone im Emsland war für die Sowjetunion nicht tolerierbar. Deshalb verlangte die Sowjetunion von den britischen Behörden, die polnische Zone aufzulösen.“
Quelle: Polnische Besatzungszone – Wikipedia
In den 15 Emslandlagern der Nazis mußten die Häftlinge unter KZ-Bedingungen schwerste Moorarbeiten leisten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Moorsoldaten) Der Ort Vennebrügge liegt in Höhe der Lagers Wietmarschen (XIII) direkt an der Grenze und die genaue Lage ist durch das Schild Wietmarschen (XIII) verdeckt, Quelle: Emslanlager- Wikipedia
Displaced Persons bauen 1945 eine Kirche in Friesoythe. Quelle: Als ein Dorf im Emsland polnisch war
In den 15 Emslandlagern der Nazis mußten die Häftlinge unter KZ-Bedingungen schwerste Moorarbeiten leisten.
Displaced Persons „heimatlosen Ausländern“ wurden u.a. im Dorf Neuvrees, ein heutiger Stadtteil der Gemeinde Friesoythe - umbenannt in Kacperkowo, kurzfristig nach 1945 angesiedelt. Dort wurde 1945 sogar eine neue Kirche von Displaced Persons gebaut.
Der polnischen Historiker Rydel hat als Erster die militärgeschichtlichen Quellen aufgearbeitet und den verwickelten politischen Entscheidungsprozess nachgezeichnet, der zu der Einrichtung einer polnischen Enklave im Emsland innerhalb der britischen Besatzungszone führte (Jan Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland, fibre Verlag, Osnabrück 2003).
Hildegard Kiehl berichtet weiter:
In Vennebrügge kam aber alles wieder zurecht, Türen und Fenster zuallererst. Zwei eiserne Bettgestelle ohne Rahmen (da kamen einfach Dielenbretter aus dem alten Zollhaus hinein!), dann zwei neue Stühle, auch ohne Sitze, ein Herd und ein Kanonenofen ohne Rohre! Im nahen Wald lagen genug leere Konservenbüchsen, das wurden die Ofenrohre; die wahnsinnig räucherten! Machte nichts, wir waren glücklich in unserer Wohnung!
Euer Opa hat dann aus Dielenbrettern einen Tisch und ein kleines Regal gezimmert. Strom hatten wir immer noch nicht. Aber wir bekamen eine kleine Petroleum-Wandlampe von einer lieben Einheimischen geschenkt. Sie (die Lampe) war unser kostbarstes Stück, ohne Zylinder! Zwei große leere Benzinkanister aus dem Wald hat Euer Opa zu Wasserbehältern umgebaut, das Wasser mussten wir von den Bauern schleppen! Auch Waschbehälter entstanden daraus. Die Tage vergingen sehr schnell; denn wir hatten immer eine Beschäftigung. Ich half den Bauern viel auf den Feldern, gegen Naturalien. Wenn Euer Opa Zeit hatte, gingen wir gemeinsam hin, pro Tag gab es für beide 1 Zentner Kartoffeln, auch in der Getreideernte waren wir dabei.
Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!
9. „Nich griene, mien Marjellke wie schaffe et!"
Inzwischen ist es Herbst geworden. Euer Opa und ich haben im nahen Moor Topf gestochen; denn wir brauchten ja Brennmaterial, und der Winter stand bevor. An Kohlen war nicht zu denken! Acht Kilometer war es bis zum Moor, wir hatten nur ein Fahrrad, das Dienstrad! Es war unser einziges Verkehrsmittel „die Fietz", hieß es holländisch! Das Fahren auf dem nur „einen Rad" ging für zwei Personen immer nur abwechselnd; fahren, überholen, abstellen — zu Fuß weiter, bis man wieder zum abgestellten Rad gelangte. Viel später gab es aber dann ein Damenfahrrad und ein Moped. Darauf bin ich, Eure Oma, mit Eurem noch „kleinen Papa" wie die Feuerwehr auf den schlimmen, ausgefahrenen Straßen, wo nur ein schmaler Pfad für „Fietsen" war, entlang gebraust! Es ging aber immer alles gut.
Großen Spaß hatten wir an der nahen „Holländischen Grenzbevölkerung". Auch sie waren nur auf ihre Fahrräder angewiesen, ob Jung oder Alt, alle kamen sie am Sonntagmorgen an uns vorbei, die älteren Frauen in langen Röcken — eine Halbschürze davor, Bluse und Jacke und eine Haube gehörte dazu, an den Füßen hatten sie holländische Botten aus Holz an. Wenn's regnete, hatten sie in einer Hand noch einen Regenschirm aufgespannt! Sie fuhren in eine bestimmte Kirche – die altreformierte Kirche in Uelsen.
Der folgende Text wurde eingefügt: “Ihr Gründer der Pastor Hendrik de Cock gestorben 1842 in Gronigen wurde zur Leitfigur der in Holland und in Ostfriesland und der Grafschaft Bentheim nach ihm benannten „kokschen“ Kirchenabspaltung. 2004 kam es als Abschluss des sogenannten „Samen op weg (Gemeinsam auf dem Weg)“-Prozesses zur Wiedervereinigung mit der Niederländisch-reformierten Kirche zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden”
Quellen: https://www.altreformiert-uelsen.de/ https://de.wikipedia.org/wiki/Protestantische_Kirche_in_den_Niederlanden https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_de_Cock
Wir hatten als junge Zöllnerfamilie in Vennebrügge an allem großen Spaß, es war ein einfaches, aber schönes Leben für uns — noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Gehalt — anfangs nur 160,85 Reichsmark, es gab noch immer fast nichts zu kaufen; alles nur auf Bezugsscheine, die kaum zu haben waren.
Abbildung: Bezugsschein für Fritz Stiesger, 1946, Quelle: Emslandmuseum Lingen
Dazu die Sorgen um meinen Vater und meinen Bruder. Beide galten als vermisst. Ob sie noch lebten? Meine Mutti war noch im Erzgebirge, bei Tante Friedel. Zwar hatten wir für Vater und Bruder Suchmeldungen an das „Rote Kreuz" nach Hamburg geschickt — aber alles vergebens.
Inzwischen war der November des Jahres 1947 vorbei. Die Tage waren auch dort dunkel und regnerisch. Ich strickte für die Bauern Strümpfe, Pullover, Schals für wenige Lebens-mittel, sie waren geizig. Euer Opa machte den Grenzdienst bei Wind und Wetter!
Und eines Tages, Anfang Dezember 1947 kam über das „Rote Kreuz" Nachricht von meinem Vater — und auch zugleich über Onkel Erich, beide lebten! Vater war in einem Ort bei Walsrode. Mein Bruder in Lübeck in einem Lazarett als Sanitäter. Sofort fuhr ich zu Vater, der bei einem Bauern lebte. Wieder war die Fahrt beschwerlich; aber ich bin dort gut angekommen.
Angekommen fragte ich mich erstmal nach dem Bauern durch. Auf mein Klopfen an die Küchentüre trat ich ein und sah vor mir eine lange vollbesetzte Tafel, es war Mittagszeit. Ich stellte mich vor und fragte nach meinem Vater — und sah ihn am unteren Ende des Tisches sitzen. Als er seinen Namen hörte schaute er auf — und wir lagen uns in den Armen. Vaters erste Frage war nach Mutter; auch sie lebte und wurde etwas später zu Vater nach Vethem gebracht, mein Bruder Erich siedelte aus Lübeck. Unsere Lieben hatten ein wunderbares Leben bei Bauer „Heini" Lühmann. Ihm herzlichen Dank!
Ich war wieder wohlbehalten in Vennebrügge gelandet. Mein Gerhard, Euer Opa, konnte aus dienstlichen Gründen nicht zu uns kommen. So gab es viel zu berichten — und nun nahte schon Weihnachten; das Wiederfinden unserer beiden Lieben war schon „ein Ge-schenk vom lieben Gott!" Wir waren arm, schliefen immer noch auf einem Strohsack, und waren unsagbar froh und glücklich! Und nun stand das schönste Fest aller Feste, nämlich Weihnachten vor der Türe.
10. Weihnachtsbaum in der Konservendose
„Ohne Baum keine Weihnachten", meinte euer Opa. Also holte er einen kleinen Baum aus dem Wald. Er wurde in eine mit Erde gefüllte Konservendose gestellt. Ich schmückte ihn mit kleinen Äpfeln, die ich in flüssige Schlemmkreide getaucht hatte. Er sah prächtig aus in seinem einfachen Schmuck — ohne Kerzen und Lametta. Es war unser erster Weihnachtsbaum in unserem gemeinsamen Leben!
Am Heiligen Abend saßen wir dann auf unseren zwei Stühlen, schon mit richtigen Sitzen! Die brennende Petroleumlampe hing an der Wand. Im Herd knisterten die Dannäpfel, die Herdtür stand offen und beleuchtete unseren Naturweihnachtsbaum. Ein Lied kam aber nicht über unsere Lippen, es fiel uns schwer – das Singen.
Wir gingen unseren Gedanken nach — jeder für sich. Der schreckliche Krieg war vorbei, wir waren gesund geblieben und hatten uns wieder! Ich bekam aber doch nasse Augen. Euer Opa nahm mich in den Arm und sagte in seiner ruhigen Art zu mir: „Nich griene —mien Marjellke — wie schaffe et!"...Und wir haben es geschafft!
Die Zeit lief so langsam dahin. Noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Geld, ein knappes Gehalt von 160,85 Reichsmark. Es gab fast nichts zu kaufen, doch zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf hatten wir ja — das war das Wichtigste!
Bis dann am 20. Juni 1948 die große Wende eintrat. Die neue Währung war da! Die „Deutsche Mark" löste die alte Reichsmark ab. Pro Person gab es 40.- DM Kopfgeld. Die Spareinlagen betrugen für 10.- Reichsmark 1.- DM. Wir hatten keine Spareinlagen — also hatten wir auch keine DM-Gutschrift. Aber der Lebensstandard raste in die Höhe. Es gab mit einem Male alles zu kaufen, was das Herz begehrte. Lebensmittelkarten und Bezugsscheine verschwanden. Ein Lebensmittelhändler kam einmal wöchentlich mit seinem vollen Auto vor unsere Haustür. Endlich gab es mal wieder Schokolade!
Ja — und langsam konnten wir uns auch Möbel kaufen — auf Kredit, gefiel Eurem Opa gar nicht, aber wir haben es geschafft! Es war ein Freudentag, als zuerst die Küche dran war: Dann das Schlafzimmer, dann das Wohnzimmer, zuletzt das Kinderzimmer! Wir schwebten auf „rosa Wolken".
Leider verstarb mein lieber Vater, Euer Uropa Ferdinand Tuttlies 01.08.1949 in Vethem. Eure Uroma, meine Mutter haben wir dann von Vetem zu uns geholt. Berta Tuttlies stab am 03.07.1968 in Hamburg. Wir hatten ein schönes, ruhiges Leben an der holländischen Grenze. Gemeinsam mit den wenigen holländischen Einwohnern, ihnen halfen wir immer noch bei der schweren Feldarbeit gegen Naturalien; denn Arbeiter waren knapp und wir hatten ja noch „Franz" (unser liebes Schwein) und unsere Hühner zu versorgen.
Wir Zöllner gehörten zur Dorfgemeinschaft. Wenn eine Familienfeier bei den Holländern war, gehörten auch wir alle dazu, wurde ein „Söpken" (klarer Schnaps) ausgeschenkt, es ging der Bauer oder sein Sohn mit der vollen „Schnapsflasche" und nur einem „Schnaps-glas" von einem zum anderen.
11. Zwei Enkel und die Heimatgruppe Insterburg füllen mein Leben aus
Euer Papa Klaus kam im April 1949 angerauscht, wurde dann später in Wielen, 4 km entfernt, eingeschult. Auch er war nur auf seinen Drahtesel angewiesen! Euer Opa wurde 1956 noch für kurze Zeit nach Nordhorn versetzt. Und dann ging er 1958 nach Hamburg ins „Hauptzollamt-Oberelbe" mit einer Wohnung in der Eduardstraße 41c in Hamburg.
Das war mein Leben in kurzen Zügen. Inzwischen bin ich 100 Jahre jung geworden! Mein Gerhard, unser lieber Opa, ruht nun schon fast 22 Jahre. Ich fühle mich aber nicht einsam, denn ich habe ja Euch, Ihr Lieben, zwei an der Zahl. Ihr füllt mein Leben aus. Sehr viel gibt mir auch meine „Insterburger Heimatgruppe".
Hildegard Kiehl (1920-2021) geb. Tuttlies, zuletzt Königsberg, Belowstr. 5, später Eduardstr 41 c, 20257 Hamburg
Dieser Bericht wurde zuerst im „Insterburger Brief“ 2/2020-3/2021 veröffentlicht
Die Fotos, die Abbildungen und die markierten Textstellen wurden nachträglich von Klaus Kiehl eingefügt,
Berichtigungen und neue Informationen sind herzlich willkommen,
bitte senden Sie diese an die E-Mail Adresse von Klaus Kiehl: [[7]
Hamburg, 2022
Hier enden die Texte von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies. Die folgenden Infos sind Voreinstellungen auf GenWiki
Amtliche Zählung
Wohngebäude
Haushalte
Einwohner
- 134 (1867) [2]
- 154 (1871) davon 77 männlich[2]
- 150 (1905) davon 75 männlich [2]
- 146 (1925) davon 66 männlich[2]
- 127 (1933) [3]
1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabethen, 5 ortsabwesend. [2]
1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]
1925 alle evangelisch, [2]
Ortsgrundfläche
- Im Jahr 1905 : 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]
Weitere Informationen
Orts-ID :
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung :
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung (Lautschrift):
russischer Name : Ort exisitiert nicht mehr
Kreiszugehörigkeit nach 1945 :
Bemerkungen aus der Zeit nach 1945 :
weitere Hinweise :
Staatszugehörigkeit :
Ortsinformationen nach D. LANGE, Geographisches Ortsregister Ostpreußen (2005)
Karten
Daten aus dem Genealogischen Ortsverzeichnis
<gov>WILTALKO04VT</gov>
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Niekammers Güteradressbuch 1932
- ↑ 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 2,13 Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970
- ↑ Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A. [1]