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Das Gut Winge fasziniert mich seit über 30 Jahren. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Leben meines Ur-Ur-Ur-Großvaters George Loerke (1784-1829), der dort zu Beginn des 19.Jahrhunderts Administrator war, für mich noch immer weitgehend im Dunkeln liegt. Er war 1784 in Westpreußen geboren, heiratete 1822 in 2.Ehe Lovisa Goerke aus Deutsch Pillwarren und war damit mein erster Loerke-Vorfahre in Ostpreußen. Viele Jahre lang wusste ich nicht einmal, wo dieses geheimnisvolle Gut zu suchen ist. | Das Gut Winge fasziniert mich seit über 30 Jahren. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Leben meines Ur-Ur-Ur-Großvaters George Loerke (1784-1829), der dort zu Beginn des 19.Jahrhunderts Administrator war, für mich noch immer weitgehend im Dunkeln liegt. Er war 1784 in Westpreußen geboren, heiratete 1822 in 2.Ehe Lovisa Goerke aus Deutsch Pillwarren und war damit mein erster Loerke-Vorfahre in Ostpreußen. Viele Jahre lang wusste ich nicht einmal, wo dieses geheimnisvolle Gut zu suchen ist. |
Version vom 30. Juni 2021, 14:46 Uhr
Ein ausführlicher Bericht über das Gut Winge von Gabriele Bastemeyer
Das Gut Winge fasziniert mich seit über 30 Jahren. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Leben meines Ur-Ur-Ur-Großvaters George Loerke (1784-1829), der dort zu Beginn des 19.Jahrhunderts Administrator war, für mich noch immer weitgehend im Dunkeln liegt. Er war 1784 in Westpreußen geboren, heiratete 1822 in 2.Ehe Lovisa Goerke aus Deutsch Pillwarren und war damit mein erster Loerke-Vorfahre in Ostpreußen. Viele Jahre lang wusste ich nicht einmal, wo dieses geheimnisvolle Gut zu suchen ist.
Dank der Hilfe von Helmut von der Werth aus dem benachbarten Wiesenbauern-und Schifferdorf Uszpirden erfuhr ich vor Jahren mehr über das Gut Winge, das inmitten der Wiesen des Urstromtals der Memel lag, auf der Hälfte des Weges zwischen Tilsit und dem Kirchdorf Plaschken. In seinem Bericht von 1981 „Bauernhöfe des Memellandes“ beschreibt er das flache und weitläufige Wiesenland, die Lank, mit den alten Kopfweiden und hohen Weidensträuchern entlang der Wiesenwege und Gewässerufer. In der Nähe des Stroms standen vereinzelt mächtige Pappeln und Eschen. Das Land am Memel-und Rußstrom wurde regelmäßig im Frühjahr überschwemmt. Die Überschwemmungen verursachten Unannehmlichkeiten, aber sie waren auch die Ursache für die große Fruchtbarkeit und den Reichtum der Landschaft. Die Memel selbst und ihre Nebenflüsse waren sehr fischreich. Hechte, Bressen, Zander, Schleie, Quappen, hin und wieder sogar Lachse und Welse wurden gefangen, schreibt Helmut von der Werth. Im Sommer wurden in großer Zahl Ukelei und Plötze geangelt. Im Herbst und Winter gab es reichlich Flug-und Niederwild, besonders große Hasenstrecken.
Das Wort Winge leitet sich von vingus ab und bedeutet Biegung, Krümmung(eines Flusses), Bogen, Windung. Das sieht man auf der Karte über den Abriss der Ströme von 1650 (Geh.Staatsarchiv Preuß.Kulturbesitz in Berlin-Dahlem) sehr deutlich. Aber auch auf dem Messtischblatt des 20.Jahrhunderts ist noch gut zu erkennen, wie sich die Alte Memel im Halbkreis um das Gutsland schmiegt.
In Winge war eine Dampferhaltestelle. Morgens fuhren zwei Paddeldampferlinien vorbei, die nachmittags zurückkamen. Eine Wagenfähre ging über den Strom zum gegenüberliegenden Ort Kallwen. Auch einen Krug und Kolonialwarenladen gab es in Winge/Uszpirden. Im rechten Teil des Gebäudes befanden sich der Laden und die Privatwohnung und links die Gastwirtschaft, erzählte mir Herr von der Werth. In der Hinterstube konnten Feste gefeiert werden, und im Vorraum war die Theke. Vor dem Haus wurden- ein bisschen wie im Wilden Westen- die Pferde an einem Geländer festgemacht. Um 1930 war dort Otto Kuprat Wirt. Später Bernhard Raschowsky, der vor 1935 nach Memel ging . Nach ihm bewirtschaftete bis zuletzt die Familie Karwelat den Krug und Laden. Sie soll nach Kanada ausgewandert sein. Auf den alten Ansichtskarten steht als Ortsbezeichnung des Kruges Uszpirden. Für das 19.Jahrhundert findet sich auch die Bezeichnung Neu-Uszpirden in den Prästationstabellen und Kirchenbüchern. Etwa seit 1939 sind das ehemalige Alt-und Neu-Uszpirden in Winge eingemeindet. Die schöne alte Mühle von Winge, die Fähre und der verpachtete Krug gehörten aber immer zum Gut Winge, wie mir Frau Ute Rademacher freundlicherweise mitteilte. Der Müller Gottschalk war gleichzeitig Fährmann. Die Bewohner von Krug, Mühle und Fähre lebten nach Auskunft von Herrn von der Werth in Rademacherschen Deputathäusern.
Im 18.Jahrhundert und zu Beginn des 19.Jahrhunderts (bis 1818) war Winge Sitz des gleichnamigen Domainenamtes Winge, das zum Hauptamt Tilsit gehörte. Das Gutshaus Winge wird somit damals auch Sitz des jeweiligen Amtmanns gewesen sein.
Der letzte Besitzer des Gutes Winge war Ernst Rademacher. Er wurde am 18.Juli 1903 in Winge geboren. Er war eine bekannte Persönlichkeit des Memellandes (siehe auch Memel Jahrbuch 2003). Vom 1.10.1919 bis zum 30.9.1921 hatte er eine Landwirtschaftslehre bei Karl Bender auf dem Gut Lenkonischken absoviert. Danach folgte ein Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Jena. Nach dem Tode seines Vaters übernahm er am 1.1.1923 das Gut Winge. Bis zum Jahre 1934 war er Präsident der Landwirtschaftskammer des Memellandes, als Nachfolger von Dressler-Schreitlaugken. Rademacher setzte sich in der Zeit der litauischen Besetzung des Memellandes für das Deutschtum ein und wurde deshalb aufgrund seiner politischen Überzeugungen zu einer 10jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er von 1934-1938, zusammen mit Dr.Ernst Neumann, im Zuchthaus in Kowno ableistete. Die Tochter Ute Rademacher in 99444 Blankenhain erinnert sich daran, dass sie zusammen mit ihrer Schwester Gertraute und der Mutter den Vater einmal in Kowno besuchte. Die litauischen Gefängniswärter waren sehr freundlich zu den Kindern, nahmen sie an die Hand und führten sie herum. Aber dennoch wurde der Mutter damals die Ausreise verweigert. Sie nahm daraufhin, für die Litauer unerwartet, mit den Kindern das Flugzeug nach Königsberg. 1938 war Erst Rademacher Abgeordneter des memelländischen Landtags. Nach der Wiedereingliederung des Memellandes in das Deutsche Reich im Jahre 1939 war er, nach Bertuleits Tod, einer der beiden Vertreter des Memelgebiets im Deutschen Reichstag, neben Dr.Neumann .
Ernst Rademacher heiratete im Jahr 1925 in Weimar Ursula Ponndorf (geb.am 25.8.1904 in Weimar), die Tochter des Sanitätsrats und Hofarztes bei der Großherzogin, Dr.Wilhelm Ponndorf. Sie, die junge Frau aus der Stadt, war für die Bauern der Umgebung sicher voller eigenwilliger, buntschillernder Ideen. Wenn sie nach Tilsit fuhr, ließ sie groß anspannen. Sie züchtete Windhunde, Blaufüchse und italienische Hühner. Rademachers bekamen 4 Kinder: Sabine, Gertraute, Ute und 1941 den Sohn Teja. Uschi Rademacher ließ während des 2.Weltkrieges die alte Veranda am Gutshaus abreißen, um mehr Licht im Haus zu haben. Die Kinder gingen in Uszpirden zur Schule, wo Gustav von der Werth(1887-1951), der Vater von Helmut von der Werth, Lehrer und Besitzer eines 240 Morgen großen Wiesenhofes war. Er brauchte zum Unterricht nur bequem über die Straße zu gehen. Er unterrichtete auch die Rademacher-Kinder. In Uszpirden , ebenso wie im gegenüberliegenden Kallwen, machten früher die Memelschiffer im Winter ihre kurischen Reisekähne fest. Sie hatten dort Haus oder Wohnung, und die Schifferkinder gingen dort zur Schule. Der Höhepunkt der Frachtschiffahrtszeit, sicher auch für das Gut Winge von Bedeutung, war während des Krimkrieges 1855 und während der napoleonischen Kriege. Damals lagen in Alt-und Neu-Uszpirden und Kallwen etwa ein Dutzend Kähne, darunter auch der des Urgroßvaters von Helmut von der Werth. 1939 gab es in Uszpirden nur noch die „Auguste“ des Schiffers Otto Kropat, die 1945 mit Möbeln von Uzspirder Familien in der Oder versenkt wurde.
Ute Rademacher, Tochter von Ernst Rademacher, von der ich freundlicherweise Fotos, einen Lageplan und zahlreiche Informationen erhielt, schreibt 1994: „ In meiner Kinderzeit hatten wir einen Inspektor und einen Eleven, wenn unser Vater auf dem Hof sein konnte. Im Inspektorenhaus, links neben dem Speicher, hat einmal ein Inspektor mit Frau und mindestens 4 Kindern gelebt. Wenn Sie das Gutshaus betrachten, dann sehen Sie einen extra Eingang.Hier war das Büro der Gutsverwaltung und auch ein Zimmer, in dem ein Inspektor oder Eleve gewohnt hat. Wie wir, wenn denn alle zu Hause waren,dazu noch die Großeltern, mit Anna , die zum Urlaub oft mitgenommen wurde, die guten Geister des Hauses- heißt Hausdame, Mamsellchen und unser Kindermädchen, zusätzlich in dem Friedenshalbjahr März bis September 1939 eine Haustochter und unsere Reitlehrerin- gewohnt haben, ich weiß es nicht mehr, nehme aber an, dass einige von ihnen im Inspektorenhaus untergebracht waren. Bis zum Brand in der Käserei hatten wir durch eine eigene Elektroanlage Licht aus der Dose, ab Januar oder Februar Petroleumlampen. Sinnigerweise wurde im Frühjahr 1944 der Anschluss an das Überlandwerk gelegt. Im September/Oktober 1944 war dann alles zu Ende. Das Haus wurde mit Kachelöfen beheizt. Nach dem Brand gab es auch wieder nur Wasser aus der Pumpe. Wenn sich heute Kinder vorstellen sollen, wie eng und einfach es auch bei nicht gerade armen Familien zuging, sie müssen begeisterte Pfadfinder sein, oder sie werden es nicht begreifen.„
Frau Rademacher übergab 1990 dem Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg zur Erinnerung an das Gut Winge 1.ein Gestütsbuch 2.zwei silberne Becher aus dem Jahre 1927, Ehrenpreise der Stuten Insel und Loreley. 3.eine vergoldete Medaille für 25jährige Mitgliedschaft im Reichsverband für Zucht und Prüfung deutschen Warmbluts 4.eine bronzene Erinnerungsmedaille vom Heimatfest Tilsit 1930 5.eine Familienmedaille Rademacher aus dem Jahr 1884 (zur Silberhochzeit von Julius u.Minna Rademacher am 8.12.1884. Auf der Rückseite steht: „Seit Ihr gewechselt habt die Ringe, Ihr lebet 25 Jahr auf Winge. So mögen auch die nächsten 25 Jahr Euch finden dort als Jubelpaar. 1859- 8.12.1884„ . Die Reliefmedaille war angefertigt worden von dem Bildhauer Brackhausen, einem Verwandten der Silberbraut.)
Das Wiesengut Winge, mit Gr.-Lasdehnen, Uszpirden und den Bebrubwiesen, war 1905 409 ha groß. Davon waren 100 ha Ackerland und Garten, 173 ha Wiesen, 74 ha Weiden, 11 ha Holzungen, 8ha Umland,Hofräume und Wege und 43 ha Wasser. Der Grundsteuer-Reinertrag betrug 9800 Mark. Das Gut lag nördlich der Memel, dort, wo der Mündungsfluss Gilge abfließt. Es war 12 km von der Kreisstadt Tilsit entfernt und hatte eine eigene Meierei. Unter Besonderheiten wird im Güterverzeichnis von 1905 angegeben: Käsefabrikation, Remontezucht, Schweine-und Ochsenmast. 76 Pferde, 190 Stück Rindvieh(davon 100 Kühe), 12 Schafe und 100 Schweine gehörten um 1905 zum Gut. Kirchlich war Winge dem Kirchspiel Tilsit-Land zugeordnet. Das zuständige Amtsgericht war Tilsit. Im Güterverzeichnis von 1922 ist schon Heydekrug als zuständiges Amtsgericht angegeben. Das blieb bis 1939 so, als das Memelland wieder zum Deutschen Reich gehörte. Die zuständige Post-und Telegrafenstation war das 6 km entfernte Kallwen am jenseitigen Memelufer. Als nächste Eisenbahnstation wird 1913 Tilsit angegeben, 1922 Pogegen. 1905 ist Winge Sitz des Standesamts. Mir liegen aus dieser Zeit noch Urkunden mit der Unterschrift Rademacher vor. Der Gutsbesitzer von Winge muss also auch Standesbeamter gewesen sein. 1922 ist Lasdehnen als zuständiges Standesamt angegeben. 1913 war Johann Neufang Verwalter des Gutes, 1922 Otto Müller. Auch ein Herr Skrandries mit 7 Töchtern war früher Verwalter auf Gut Winge. Er soll in den Dreißiger oder Vierziger Jahren nach Gut Adlig Prökuls gegangen sein. Winge hatte 1922 die Telefonnummer Uszpirden 1.
Winge war ein großes Gut. Angebaut wurde nur, was unbedingt nötig war. Das Land wurde als Weidefläche für Pferde und Rinder(Milchwirtschaft) genutzt. Das Gut Winge war bekannt für seine Trakehnerzucht. Das „Gestütsbuch„ des Gutes ist im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg noch heute zu bewundern. Die Winger Mutterstuten Insel, Isar, Parade, Sara und Schalmei waren berühmt und erhielten u.a.1930 auf dem Heimatfest in Tilsit zahlreiche Preise. Winge war Deckstation. Zu Winge gehörte auch ein eigener Gutsfriedhof. Das Gut hatte oft unter schweren Überschwemmungen zu leiden, was Eigentümer und Pächter in früheren Jahrhunderten immer wieder in den Ruin geführt hatte.
Ernst Rademacher besaß das Gut Winge schon in dritter Generation. Sein Großvater Julius Rademacher hatte es 1858 von Johann Wilhelm Reimer für 60 000 Taler gekauft. Julius Rademacher war am 26.8.1831 in Darkehmen als Sohn eines Apothekers geboren. Er heiratete am 9.12.1859 Minna Brakenhausen, die Pflegetochter seines Vorbesitzers Reimer. Sie war die Tochter des königl.Wegebaumeisters Ferdinand Theodor Alexander Brackenhausen und der Wilhelmine Dorothea Reimer vom Gut Schilleningken. Minna war nach dem frühen Tod ihrer Mutter in Winge aufgewachsen. 1868 verteilt Frau Rademacher vom Gut Winge Kleider an die Schulkinder von Pogegen. Anhaltender Regen hatte den ganzen Sommer hindurch die Ernte fast zunichte gemacht. Große Überschwemmungen im Juli verdarben das Heu, sodass der Viehbestand verringert werden musste(lt.Schulchronik Pogegen-Bericht von G.Grentz im Memeler Dampfboot v.5.2.1957)
Nach Angabe von Dietrich Lenski-Kattenau wirkte Julius Rademacher sehr segensreich auf Gut Winge. Er verbesserte den Besitz auf verschiedenste Weise, durch Landzukäufe , Eindeichungen und Errichtung von neuen Wirtschaftsgebäuden. Er war nicht nur ein sehr erfolgreicher Landwirt, sondern auch ein aktiver Politiker, der als Abgeordneter in den Preußischen Landtag gewählt wurde.
Julius Rademacher und Minna hatten drei Kinder. Der älteste Sohn Franz wurde am 11.Oktober 1860 in Winge geboren. Ernst Rademacher war etwa 8 Jahre jünger. Er studierte in Heidelberg Jura, und bekam auf Betreiben seiner Mutter das Gut Winge. Er lernte dann die Landwirtschaft und heiratete Helene Fargel(Fergel?). Sie hatten keine Kinder. Er starb im Jahre 1903 infolge eines Bootsunfalls. Ernst Rademacher war Tilsiter Dragoner. Er wollte im März an einem Fest in Tilsit teilnehmen. Die Wege waren überschwemmt. Deshalb segelte er mit seiner Frau und einigen Leuten dorthin. Auf der Höhe der Mühle kippte das Boot infolge des Sturms um. Alle konnten sich am Boot festhalten und trieben bis zur Teilung des Memelstroms. Dort wurden sie von Edu Millat aus Lasdehnen und einigen anderen aus dem eisigen Wasser gerettet. Aber seitdem hatte Ernst gekränkelt und war im April 1903 gestorben.
Nach dem Tod des Bruders übernahm Franz Rademacher (1860-1921) das Gut Winge, der Vater des letzten Gutsbesitzers Ernst Rademacher. Er hatte am 5.1.1886 Jenny Reimer aus Schilleningken geheiratet. Er hatte 10 Jahre lang auf dem Gut Blecken im Kreis Gumbinnen gelebt, das ihm sein Vater Julius gekauft hatte. Dort sind auch die drei ältesten Kinder geboren,u.a. 1886 der Sohn Erich, der 1918 im ersten Weltkrieg fiel. Nach dem Verkauf von Blecken zog Franz R. mit der Familie nach Gumbinnen, dann nach Tilsit, denn Jenny hatte nach dem Tod von zwei Kindern immer Sehnsucht nach ihrer Heimat. 5 Jahre lang lebten sie sehr glücklich auf dem Gut Paßkallwen, zwischen Ragnit und Tilsit gelegen. Ich weiß nicht, wieviele Kinder Franz Rademacher insgesamt hatte. Seine Tochter Emmy schrieb eine kleine zweiseitige Gutschronik für die Zeit der Rademacher-Familie auf Winge. Nach der Geburt ihres Sohnes Ernst (Juli 1903, ein Vierteljahr nach dem Tod seines Onkels Ernst Rademacher)erkrankt Jenny Rademacher an einer Venenentzündung und stirbt schon im Jahre 1906 in Königsberg an Thrombose.
Franz Rademacher hat in Winge den Speicher und den Schweinestall gebaut, die Käserei verbessert und die Unterfahrt für die Pferde auf dem Hof. Den Pferdestall hatte der Großvater Julius noch gebaut. „Das Wohnhaus steht schon lange vor den Befreiungskriegen“, hat Emmy Rademacher geschrieben. Laut Jenny Kopps Güterchronik wurde es 1778 unter Oberamtmann Cöler erbaut. Franz Rademacher begann das Gestütsbuch von Winge. Er starb am 28.2.1921 in Winge.
Die frühe Geschichte des Gutes Winge bis zur Rademacher-Zeit beschreibt Jenny Kopp in ihrer Güterchronik und in ihrer Geschichte des Landkreises Tilsit. Danach erscheint der Name des Gutes Winge um das Jahr 1500 in einem Güterverzeichnis der Familie von Schlieben als Ordensgut. Es ist aber nicht sicher, ob damit unser Gut Winge gemeint ist. Vermutlich eher nicht, denn Kaspar von Nostitz erwähnt 1560 bei seiner genauen Inspektion der Tilsiter Gegend zwar Baubeln und Linkuhnen, aber nicht Winge. Vermutlich ist das Amt Winge in den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I. aus einem der Krone gehörenden Chatoulgut in eine Königliche Domaine umgewandelt worden, also zu Beginn des 18.Jahrhunderts. Im roten Hausbuch des Amts Tilsit Nr.3 findet sich ein Dokument von 1634, wonach „der Winge am Kalweschen Hof“ die Zunft der Tilsiter Fleischhauer in Arrende genommen hat. Dort sind Angaben über die Schäferei am Vorwerk nachzulesen, die auf 12 Jahre verpachtet ist.
Die Pächter bzw.Besitzer von Winge folgen - nach dem Buch von Jenny Kopp und eigenen Ergänzungen- in chronologischer Reihenfolge. (Die vorher schon ausfühlich besprochene Familie Rademacher ist , der Vollständigkeit halber, nur noch kurz erwähnt.)
1724-1736 ist Winge verpachtet an Amtmann Hans J a c o b LAUDIEN , verheiratet mit Lovisa BROCK. Seine Ehefrau stirbt am 15.1.1744 in Ragnit. Hans Jacob Laudien wurde 1683 in Neuhausen geboren. Er war der Sohn des Amtsschreibers Jacob Laudien in Neuhausen(*Zinten 4.8.1656 ). Hans Jacob Laudien war von 1715 bis 1721 Landschöppe zu Tilsit und Coadjuthen(?). 1724 bis 1736 war er dann Pächter des Amtes Winge. Am 28.5.1736 wird er als Gutsbesitzer auf Pillwarren genannt, das in unmittelbarer Nähe von Winge liegt. 1736 ist er Pächter des Amtes Kassigkehmen.
Mitte des 18.Jahrhunderts ist Johann Friedrich HOLSTEIN Generalpächter zu Winge. Er ist 1709 geboren und stirbt am 28.9.1774. Er ist verheiratet mit Barbara Stumber. 1743 ist Herr Amtmann Holdstein von Winge Pate in Heinrichswalde Kr.Niederung (Kirchenbuch Heinrichswalde).
1761 übergibt der Amtsrat Holstein seinem späteren Schwiegersohn Löffke das Gut Winge zur Bewirtschaftung. Löffke lebt ständig in Fehde mit den scharwerkspflichtigen Bauern der umliegenden Dörfer und in „schwerer Besorgnis„ wegen der ständigen Memelüberschwemmungen.. Am 24.5.1764 heiratet Herr Amtmann Johann Albrecht LÖFFKE von Winge die Jungfrau Sophia Dorothea Holdstein (Kirchenbuch Heinrichswalde).
1770 ist Johann Gottlieb CÖLER , Oberamtmann zu Winge und Ballgarden, Generalpächter von Winge. Er heiratet am 7.3.1771, tituliert als „Herr Leutnant„, die Frau Dorothea Sophia, seel.Herrn Amtmanns aus Winge Joh.Albrecht Löffke, nachgel.Witwe. (Kichenbuch Heinrichswalde). Dor.Sophia geb.Holstein, ist um 1742 als Tochter des Amtmanns Joh.Friedr.Holstein geboren und stirbt am 11.5.1813.(in Ballgarden, lt.Grigoleit, Die ostpr.Amtmänner).Johann Gottlieb Cöler ist Sohn des Amtsrats Heinrich Anton David Cöler auf Linkuhnen.
1783 wird Justizamtmann Carl David CÖLER , ein Bruder des Johann Gottlieb Cöler, Generalpächter von Winge.(Joh.Gottlieb übernimmt dafür Ballgarden von Amtmann Possern , der in Ballgarden schwere Verluste erlitten hat.) 1797 ist COELER noch Oberamtmann von Winge. Er kauft damals ein Haus mit Hintergebäude u.1 Morgen neuem Säland in Tilsit, Hohe Str.37 u.Garnisonstr.32. Dieses Haus ist bald weiterverkauft an Accise-Inspektor Joh.Heinr.Ulmer(lt.Kenkel, Häuserbuch der Stadt Tilsit). 1803 legt Carl David Cöler eine Ölmühle an. Er verhandelt gerade, um Winge vom Staat zu Erbpachtrechten zu erwerben, als er am 30.1.1805 stirbt.
Justine Henriette CÖLER geb.Stenzler, , die Witwe des Carl David Cöler, vollzieht den Contract und erhält die Domäne für 14250 Taler u. 1193 Taler jährlichen Kanon.
Bald darauf verkauft sie Winge zu den gleichen Bedingungen an den Amtmann Johann Heinrich MOELLER . Johann Heinrich MOELLER war von 1806 -1819 Amtmann in Winge. Er wurde geboren am 28.1.1774 in Friedrichsburg Kr.Labiau, wo sein Vater seit 1768 Festungsprediger der Veste Friedrichsburg war. Joh.Heinr.Moeller kaufte am 29.7.1799 den Besitz Adl.Schuelzen bei Drengfurth, den er 1805 wieder verkaufte. Er war Jurist. Als Amtmann erwarb er 1806 die königliche Domaine Winge an der Memel. 1807 vertrieb er die bei ihm einquartierten französischen Offiziere von seinem Gut . Dann musste er vor ihnen fliehen, weil sie aus Rache sein Anwesen niederbrannten. 1817 zerstörte die Überschwemmung der Memel die Hälfte seiner Gebäude. Das alles brachte ihm den wirtschaftlichen Ruin. 1819 verkaufte er Winge für 18 000 Taler an den Rittmeister von SANDEN, zog nach Jägerischken und 1819 nach Tilsit. 1820 ging er als Sequestor auf das Gut Kanditten nahe Kreutzburg,Kr.Pr.Eylau. Er starb am 11.November 1824 in Gr.Labehnen nahe Kreuzburg im Keis Pr.Eylau. Er beging Selbstmord.
Johann Heinrich Moeller hatte am 15.10.1801 in Tilsit Marie Henriette ROSENBAUM (*25.3.1772 in Karkeln,+5.8.1818 in Winge) geheiratet, die Tochter des lutherischen Erzpriesters Johann Friedrich Rosenbaum in Tilsit. Sie hatten 5 Kinder. Die beiden ältesten Ludwig Wilhelm Heinrich Moeller(1802-1862) und Gustav Adolf Moeller(1804-1884, Gutsbesitzer von Mallwischken Kr.Gumbinnen,verheiratet mit Hermine Kaeswurm)sind noch im Kreis Rastenburg geboren. Die dritte Tochter Friederike Mariana, am 22.12.1806 geboren(wo?) starb jung, eventuell während der Flucht vor den Franzosen. Die beiden jüngsten Kinder Otto Ferdinand Moeller(1810-1876,Gutsbesitzer von Gr.Gerhardwalde im Kreis Niederung, verheiratet mit Auguste Schulz)und Hermann Julius Moeller (1813-1890, Gutsbesitzer auf Margen Kr.Niederung, Feldmesser in Tilsit, verheiratet mit Louise Kaeswurm), sind in Winge geboren.
1818 kaufte der Rittmeister von SANDEN das Gut Winge von Joh.Heinr.Moeller. Auch ihm scheint das Gut kein Glück gebracht zu haben. Aus seiner Zeit stammt der ausführliche Gartenplan des Gutes Winge, den Jenny Kopp in ihrem Buch über die ostpreußischen.Güter beschreibt.
Unter Johann Heinrich Moeller und Rittmeister von Sanden,vielleicht auch noch unter dem Pächter Schumacher, war mein Vorfahre George Loerke, der 1784 im Kreis Berent in Westpreußen geboren wurde , Verwalter auf Gut Winge , also zur Zeit der napoleonischen Kriege und der Freiheitskriege. Vielleicht ist er als Soldat nach Ostpreußen gekommen. Leider habe ich es trotz intensiver Suche nie herausbekommen. Jedenfalls hat er auf Winge keine leichte Zeit gehabt. Er starb im Alter von 45 Jahren in Kassigkehmen und hinterließ seine Frau Lovisa geb.Goerke und eine große Schar Kinder erster und zweiter Ehe.
1825 ist das Gut Winge dem Fiskus adjudiziert. Der Fiskus hat das Gut für 6 Jahre einem Pächter SCHUMACHER überlassen. 1829 brachte die größte Überschwemmung seit 2 Jahrhunderten (man konnte mit dem Kahn von Labiau bis Tilsit durch die Niederung fahren) schwere Verluste. Auch die am höchsten gelegenen Wirtschaftsgebäude standen damals noch 5 Fuß unter Wasser. 24 Kühe und 2 Pferde ertranken. Weitere Tiere gingen an den Folgen ein. Deshalb kommt es schon 1830 zur Neuverpachtung.
1830(?) POLENZ will das bisherige Erbpachtgut zu Eigentumsrechten erwerben, kommt aber nicht dazu.
Johann Wilhelm REIMER , bisher Pächter von Grünheide, kauft das Gut Winge am 14.2.1832 für 14 970 Taler und zahlt dem bisherigen Pächter 1063 Taler für das Inventar.Reimer ist verheiratet mit Minna ZERWEL(1848). Er kauft eine Wiese von ca.100 Morgen in Uszpirden dazu. Minna Zerwel und Wilhelm Reimer haben keine Kinder und nehmen deshalb eine Nichte zu sich, Minna Renata Regine Brackenhausen. Sie wächst nach dem frühen Tod der Mutter in Winge auf.
1858 kauft Julius RADEMACHER für 60 000 Taler Gut Winge von J.W.Reimer. Er heiratet am 8.12.1859 Minna Renata Regine Brackenhausen. Er vergrößert das Gut durch Zukauf von Areal in den letzten Jahrzehnten des 19.Jhs. u.1901. Die Größe des Gutes beträgt nun insgesamt 404 ha(400Hektar=1600 Morgen), davon 129 Hektar in Uszpirden, 69,2 Hektar in Lasdehnen und 206 Hektar in Winge.
Julius Rademachers jüngerer Sohn Ernst RADEMACHER , geboren um 1868, übernimmt das Gut Winge (wann?). Er stirbt im April 1903 infolge eines Bootsunfalls.
Ernst Rademachers Bruder Franz RADEMACHER (1860-1921), verheiratet mit Jenny REIMER aus Schilleningken, übernimmt Winge 1903 nach dem Tod des Bruders. Ernst RADEMACHER (1903-1964), Franz' Rademachers jüngster Sohn, übernimmt das Gut am 1.1.1923 nach dem Tod des Vaters, weil der älteste Sohn Erich(geb.1886), der eigentliche Erbe, 1918 gefallen war. Ernst R. war in erster Ehe verheiratet mit Ursula Ponndorf(geb.25.8.1904 in Weimar, verstorben in Hamburg am 8.11.1983) , in zweiter Ehe mit Margarete Wald (geb.1905 in Lötzen, verstorben 1971 in Lübeck). Nach dem Krieg arbeitete Ernst Rademacher zuletzt in der Außenhandelsstelle des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in Brüssel. Dort starb er am 7.Januar 1964 an den Folgen eines Verkehrsunfalls.
Laut Jenny Kopp wurde das Herrenhaus Winge 1778 unter Oberamtmann Cöler erbaut. Das Gutshaus Winge wurde 1944 von der deutschen Armee zerstört. Es ist in der Zeit vom 8. - 10.Oktober 1944 in Brand gesteckt worden. Nach Angabe von Ute Rademacher sollte dort ein Brückenkopf gebildet werden. Die Fähre über die Memel gehörte zu Winge. Ute Rademachers Mutter Ursula kehrte im Oktober 1944 noch einmal zurück. Damals brannte die Scheune von Winge noch. Die Front lag dann etwa drei Monate lang an der Memel. Die Reste von Winge und Uszpirden sind später in den Sechziger Jahren systematisch vernichtet worden, erzählt Herr von der Werth. Ute Rademacher stand bei ihrer Spurensuche vor etwa 10 Jahren auf den Grundmauern des Pferdestalls von Winge. Die Überfahrt von Winge zum Damm war noch vorhanden. So ist Winge heute fast vollständig vom Winde verweht. Damit wenigstens die Erinnerung an das schöne alte Gut am Strom in den Herzen der Menschen bleibt, habe ich diesen Bericht geschrieben.
Gabriele Bastemeyer
Quellen Jenny Kopp, Chronik des ostpreußischen Grundbesitzes (Reg.Bez.Gumbinnen und Kreis Memel )(1913) und Geschichte des Landkreises Tilsit(1918) Helmut von der Werth, Bauernhöfe des Memellandes,in:Memeler Dampfboot v.April 1981, sowie Korrespondenz und Gespräche. Ute Rademacher, Korrespondenz und Gespräche Emmy Rademacher, Erinnerungen(2 Seiten,handgeschrieben) H.Passauer, Corpstafel der Littuania zu Königsberg(zur Genealogie der Familie Moeller) Friedwald und Walter Moeller, Beitrag zur Genealogie des Geschlechts Moeller(47 Seiten mit einigen Fotos der Personen), in:Altpreußische Geschlechterkunde - Familienarchiv (Verein f.Familienforschung in Ost-u.Westpreußen,1967) G.Grentz,Die gute alte Zeit war schrecklich. Memeler Dampfboot v.5.2.1957, S.30-31 Dietrich v.Lenski -Kattenau, Bericht für das Ostpr.Landesmuseum in Lüneburg Bekannte Landwirte an der Memel und am Kurischen Haff (zu Ernst Rademacher) , in : Memel Jahrbuch 2003 S.100-101.