Viersen, Dülken, Süchteln/Adressbuch 1950/Einleitung zum alphabetischen Einwohnerverzeichnis von Viersen
Viersen
Eingebettet zwischen Bruch und dem Hohen Busch liegt Viersen anmutig als eine lang-gestreckte Stadt in nord-südlicher Richtung in der niederrheinischen Ebene.
Nach der Legende hat die heilige Helena, die Mutter des Kaisers Constantin d. Großen dorn Gereonsti£te in Köln die römische Villa vyrssen um 340 n. Chr. geschenkt. Das Gereonstift setzte auf den von ihm erbauten Herrenhof einen Verwalter für das Gebiet der Villa vyrssen ein. Mehrere andere Siedler fanden sich ein, bekamen Land von St. Gereon gegen Abgabe des Zehnten zugewiesen, und so entstand das Dorf, die villa virsensis. Der Verwalter des Herrenhofes heischte die Schulden der Siedler am Zehnten ein. Darum hieß er der Schuldheischer oder Schultheiss, dor Herrenhof darum der Schultheissenhof, eine Bezeichnung, die heute noch in Viersen erhalten ist. Der 1558 erbaute Schultheissenhof wurde 1902 abgebrochen. Eine Straße und eine Schule tragen heute noch seinen Namen. Seit 1929 bildet Viersen einen eigenen Stadtkreis.
Die Stadt hatte ursprünglich 2 Bürgermeister. Jeder der 7 alten Stadtteile Viersens stellte einen lebenslang fungierenden Schöffen, der auch in der Verwaltung der Ge¬meinde tätig war. Ein eigenes Schöffengericht, gebildet aus einem Gerichtsvogt, einem ständigen Gerichtsschreiber und den genannten 7 Schöffen besaß den Blutbann und hatte aul dem Galgenberge in Helenabrunn einen eigenen dreistämmigen Galgen.
Die beiden großen Steine an der Remigiuskirche verdienen in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. Sie dienten im Mittelalter jahrhundertelang als Weisenstein und Rabenstein; auf dem ersteren, kleineren Steine wurde dreimal im Jahre das Viersener Recht bewiesen, d. h. laut vorgelesen. Auf dem Rabensteine stand der zum Tode ver¬urteilte Verbrecher, der von hier aus seinen letzten Gang zum Galgenberg antrat.
Als einziges interessantes mittelalterliches Bauwerk von hervorragender Bedeutung in Viersen beherrscht die Remigiuskirche. den nördlichen Stadtteil. Von der ältesten frän¬kischen Kirche ist nichts mehr erhalten. Um 1150 entstand ein romanischer Bau, der um 1450 der heutigen Kirche wich. Die Fundamente des romanischen Baues liegen noch dicht unter dem Plattenbelag der heutigen Kirche und wurden im Winter 1946/47 bei Ausgrabungsarbeiten vorübergehend freigelegt. Kirche und Pfarrhof brannten am 24. 2. 1945 aus. Der Pfarrhof ist schon wieder hergestellt. Die Remigiuskirche ersteht zur Zeit in alter gotischer Pracht wie bei ihrem Bau um 1540 und wird Ende September 1949 'wieder für den Gottesdienst freigegeben. Der abgestumpfte Turm mit seinem Not¬dach ist ein Wahrzeichen des verlorenen 2. Weltkrieges. Auch die anderen Kirchen er¬litten mehr oder minder große Beschädigungen, im letzten Kriege.
Der Reichtum der Herrlichkeit Viersen bestand im ganzen Mittelalter bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aus dem Anbau und der Verarbeitung des Flachses. Der Boden der Viersener Gemarkung erwies sich als besonders geeignet Hierfür. Im Frühjahr wurde jeder siebte Acker mit Flachs besät, und es war ein schöner Anblick, die im Frühsommer blaublühenden Flachsfelder zu betrachten. Nach hunderttägiger Wachs¬tumszeit wurde der Flachs aus der Erde gezogen und in einem siebenfachen Arbeits¬prozeß von den Viersener Bauern und ihren Familien bis zum verkaufsfertigen Leinen verarbeitet. Das berühmte holländische Stulpenleinen, von Königen im Mittelalter getra¬gen, war Viersener Leinengarn, in Harlem in Holland gebleicht. Heute ist diese Heim¬arbeit in Viersen nicht mehr vorhanden. Die um 1800 aufkommende Samtweberei mit ihren 800 Webstühlen verdrängte die Flachsindustrie. Viersen war mit seinen 7G00 Ein-wohnern damals größer als M.Gladbach. Heute ist in der ganzen Umgebung nur noch die Viersener Aktienspinnerei mit der Verarbeitung von Flachs beschäftigt.
Der alteingesessene Viersener Weber, halb Handwerker und halb Bauer, mit gesicher¬ter wirtschaftlicher Grundlage Ist heute nicht mehr vorhanden. Es entwickelte sich nach 1800 zuerst eine Textilindustrie, deren Einseitigkeit bei Konjunkturrückschlägen der in den neuerbauten Fabriken arbeitenden Bevölkerung Viersens öfter herbe Schick¬salsschläge brachte. Erst als auch eine Reihe' anderer Industrien, z. T. großen Ausmaßes, sich hier niederließen, war eine gleichmäßige Beschäftigung der Bevölkerung gesichert. Den 1. Weltkrieg überstand Viersen ohne größere Schäden. Als die Belgier November 1918 von Hardt kommend in Viersen einrückten, fanden sie eine intakte Stadt vor. Eine größere Garnison wurde seitens der Belgier in Viersen stationiert und blieb längere Zeit hier.
Die Inflation von 1923 machte, wie alle im weiten Vaterlande, auch die Viersener arm, und man mußte von vorne anfangen. Die Folgewirkungen dieses 1. Weltkrieges ließen dann Hitler zur Macht und den zweiten Weltkrieg kommen. Er stieß Deutschland in das größte Elend. Die Fliegergeschwader der Alliierten überflogen in den letzten Kriegs¬jahren fast täglich unsere Gegend. Am 10. September 1942 erlebten die Stadtteile Bockert und Beberich den ersten größeren Fliegerangriff. Eine Reihe Höfe gingen in Brand. Zu¬letzt ertönten allnächtlich die Alarmsirenen. Man sah die Nachbarstädte M.Gladbach und Krefeld In Brand aufgehen. Viersen blieb zunächst von größeren Bombeneinschlägen verschont. Erst am 9. Februar 1945 fielen eine Anzahl Bomben, die großen Schaden an¬richteten. Am 24. Februar 1945 erfolgte nachmittags der letzte große Bombenangriff in 5 Wellen, der Spreng-, Phosphor und Thermitbomben in großer Menge auf Viersen her¬abregnen ließ. Die Stadt war vom Lichtenberg aus gesehen ein Feuermeer, über das sich Rauchwolken kilometerhoch In die Luft türmten. Der nördliche innere Stadtteil war besonders getroffen und bildete einen großen Schutthaufen, der Stadtkern war zu 40 Prozent zerstört. Die Bevölkerung floh in die Außenbezirke, da sie infolge der Strahlhitze nicht in der Stadt bleiben konnte. So blieb der Verlust an Menschenleben verhältnis¬mäßig gering. 8 Tage darauf drangen die Amerikaner, auch von Hardt kommend, in Viersen ein, ohne Widerstand zu finden.
Zwei Viersener Bürger, Dr. Carl Schaub und Hermann Hülser, der erste als Oberbürger-meister und der andere tls Polizelchef, übernahmen es, im Auftrage der neueingesetzten Militärregierung, das aus allen Fugen gegangene öffentliche Leben wieder aufzu¬bauen. Im Dezember 1946 wurde ein Stadtrat ernannt, der eine neue Gemeindeverfas-tung verabschiedete. Dr. Carl Schaub wurde von diesem Stadtrat zum Oberstadtdirektor und Hermann Hü'.ser zum Oberbürgermeister gewählt. Unmittelbar nach dem Zusam¬menbruch begann der Wiederaufbau mit aller Energie. Mit der Straßenbahn, mit langen Kipplorenzügen und mit Autos wurde enttrümmert, so daß Viersen heute eine der best¬aufgeräumtesten Städte des Rheinlandes ist. Gleichzeitig wurden überall Häuser repariert. Die Hauptstraße insbesondere bietet mit ihren jetzt neuerstehenden Geschäftshäusern ein eindruckvolles Bild von dem Wiederaufbauwillen der Viersener.
Das kulturelle Leben ist wieder erwacht. Alle Schulen sind seit langem in Betrieb. Eine Volkshochschule wurde eingerichtet und bietet durch einen Stab Dozenten dem Publikum weitere Bildungsmöglichkeiten. Viersen hatte das Glück, daß seine Festhalle im Bombenregen erhalten blieb. In dieser Festhalle wickelt sich durch die Initiative der Stadtverwaltung ein Kulturprogramm ab, das in jeder Beziehung den Ansprüchen einer Großstadt genügen kann. Die Halle sah im vorigen und diesem Jahre u. a. die Berliner Philharmoniker, 'zuletzt unter Furtwängler, in ihren Mauern.
Es wurde auch das Verkehrsnetz in und um Viersen ausgebaut. Die Besucher der Vier¬sener Festhalle haben abends bequeme Autobusverbindungen zu ihren Heimatorten. In der letzten Zeit ist die Viersener Verkehrsgesellschaft gegründet worden. Sie betreibt mit Ihren neuen schönen Omnibussen drei Linien durch Viersen, so daß man alle Stadt¬teile Viersens durch Umsteigen erreichen kann.
Ungeachtet der furchtbaren Wohnungsnot haben noch mehrere tausend Ostflüchtlinge In Viersen Aufnahme gefunden, so daß die Einwohnerzahl trotz der Kriegsverluste auf rund 36 000 gestiegen ist. So sind in Viersen alle Kräfte bestrebt, Im materiellen und geistigen Aufbau dem Vaterlande zu dienen.