Abschrift eines Berichtes von Hildegard Sturm

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Erlebnisse in den Kriegsjahren 1943 – 1945

Abschrift eines Berichtes von Hildegard Sturm, geborene Kallweiß, geboren am 17.5.1916

Wir sind erst im September 1942 nach Schirwindt gezogen. Mein Mann, Horst Sturm, hat nur wenige Amtssandlungen als Pastor während seines Fronturlaubes in Schirwindt im November 1942 wahrnehmen können.

Er ist am 20. 2. 1943 mit 30 Jahren im großen Donez-Bogen in Russland gefallen. Ich wohnte weiterhin allein in unserem Pfarrhaus in Schirwindt, einer Kleinstadt an dem Grenzfluss Schirwindte, in die hier die litauische Scheschuppe mündete. Sie bildete einen Teil der Grenze zwischen Ostpreußen und Litauen.

Ab Oktober 1943 besuchte ich in Königsberg/Pr. das Seminar für kirchlichen Frauendienst, um Gemeindehelferin zu werden. Ich wohnte auch dort. Wenn ich mich recht erinnere, gehörte das Haus früher der Inneren Mission und war von der Partei (NSDAP) enteignet worden. Im 1. Stock war eine Abteilung des Finanzamtes untergebracht. Wir bewohnten den 2. Stock mit ca. 14 Zimmern. Zu dieser Zeit waren in Ostpreußen schon viele evgl. Pfarrer und Gemeindeglieder von den Nazis verhaftet worden. Heimlich besuchten wir damals die abendlichen Fürbittgottesdienste, die in der Steindammer Kirche bei verschlossenen Türen abgehalten wurden.

In der Nacht zum 28. 8. 1944 erlebten wir den ersten schweren Bombenangriff auf Königsberg. Unser großes Haus am Theater-Platz 12 hatte einen öffentlichen Luftschutzkeller, in den auch Menschen aus der Nachbarschaft kamen, vor allem Frauen mit kleinen Kindern. In dieser Nacht wurden ganze Stadtteile in Trümmer gelegt und es gab viele Tote. Aber wir kamen mit dem Schrecken davon. Wir hatten nur totalen Glasschaden und auch die Wände trugen Schäden, sodass wir 12 Seminaristinnen und unsere Leiterin, Vikarin Maria Trute, zwei Tage lang damit beschäftigt waren, unsere Räume wieder bewohnbar zu machen. Nichtsdestotrotz hielt ich am nächsten Tag eine Katechese vor Konfirmandinnen, die vollzählig erschienen waren.

Unsere Leiterin hatte mich mit dem Einkaufsamt betraut und so ging ich jeden Morgen um 7:00 Uhr mit allen Lebensmittelkarten zu den Geschäften, um unsere Rationen zu erstehen. Als ich am 29. 8. 1944 von meinem Einkauf zurückkam, stand ein Wagen, gezogen von zwei schweren Pferden, vor unserer Haustür. Zwei Männer waren damit beschäftigt, große, flache blaue Kisten in die Keller der Partei in unserem Hause zu tragen. Ich fragte die Männer, was die Kisten enthielten und bekam die Antwort: „Butter". Meine Beobachtung teilte ich unserer Leiterin mit. Die Keller der Partei lagen nach der Hofseite. Von den Fenstern der Burgstr. und der Gr. Schloßteich-Str. konnte man in unseren Hof einsehen. Dennoch wagte unsere Vikarin ein riskantes Unternehmen. Als es dunkel wurde, öffnete sie von außen ein Kellerfenster und die Kleinste und zierlichste von uns stieg durch das Fenster und öffnete eine der geheimnisvollen Kisten. Sie enthielten Munition. Und der Keller war bis zur Decke voll davon! Am nächsten Morgen wagte sich unsere Vikarin in die Parteizentrale im Nachbarhaus. Dort wollte sie wissen, was die blauen Kisten enthielten und ob unser öffentlicher Luftschutzkeller auch ohne Gefahr zu benutzen sei. Das wurde bejaht. Daraufhin ging unsere Vikarin zu dem Hausmeister des Opernhauses, das uns schräg gegenüberlag. Was sie ihm erzählt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls verkündete sie uns am Nachmittag, dass wir beim nächsten Fliegeralarm in den Luftschutzkeller des Opernhauses gehen würden. Sie befestigte ein großes Schild an unserer Haustür "Luftschutzkeller gesperrt! Nächster öffentlicher Luftschutzkeller Opernhaus!". Nachts erfolgte der große Angriff mit Flammenstrahlbomben. Nach dieser Nacht wurden wir an die Samlandküste gebracht. Hier eine Abschrift des Briefes, den ich nach dieser grauenvollen Nacht an meine Eltern in Allenstein schrieb:


Sorgenau bei Fischhausen/ Samland
Haus Sorgenfrei, den 31.6.1944
Meine lieben Eltern!
Hoffentlich habt Ihr die rote Lebenszeichen-Karte von mir bald bekommen, sodass Ihr Euch nicht lange um mich zu sorgen brauchtet. Wir haben eine grauenvolle Nacht hinter uns und können es noch gar nicht fassen, dass wir lebend herausgekommen sind. Gott hat ein Wunder an uns getan! Um 0:45 Uhr heulten die Sirenen. In Eile zogen wir uns an und liefen zu dem Keller des Opernhauses, da in unserem Keller immer noch die Munition lag und wir Angst hatten, dort zu bleiben. Kaum waren wir mit vielen anderen Menschen drüben, als es auch schon um uns herum entsetzlich krachte. Die Kellerwände wackelten und wir schnellten bei jedem Einschlag vom Stuhl, ohne dass wir es wollten. Die Eisentüren zwischen den beiden Kellern, wir saßen im zweiten, flogen hin und her. Irgendwo klirrten Scherben. Wir hielten uns nasse Handtücher vor den Mund, denn es staubte sehr. Den Menschen sprach die Angst aus den Augen, aber alle blieben vorbildlich ruhig, sonst wäre es wohl nicht so glatt abgegangen. Die Bomben fielen ununterbrochen. Wir hatten immer das Gefühl, dass es sehr nahe sein musste und es war wirklich so. Unser Haus bekam zuerst einen Treffer, dann das Gauhaus neben uns, danach das Haus links neben uns. Der ganze Theater - Platz steht nicht mehr! Kurz nach zwei Uhr gab es ein ungewöhnlich lautes Krachen. Alles war totenstill. Ich hatte das Gefühl, gleich stürzt die Decke ein. Unheimlich schrillte die Theaterklingel. Adelheid verlor die Nerven und ohrfeigte mich ununterbrochen. Dabei schrie sie: „Ich will heraus zu meiner Mutter und Du kommst mit!" Frau Trute sprang auf und gab ihr eine kräftige Ohrfeige. Da wurde sie still. Jemand rief: "Alle Männer zum Löschen!" Nach einer Weile ging das Licht aus. Zum Glück hatte ich noch zwei Weihnachtskerzen und meine Taschenlampe. Das war sehr günstig. Es entwickelte sich ein starker Brandgeruch. Vikarin Trute wollte zum Ausgang, um zu fragen, was los sei. Uns waren, zwei Soldaten zur Brandwache zugeteilt. Als Fräulein Trute durch den Luftschutzkeller der vor uns lag ging, rief ihr eine Frau zu: "Sofort heraus, es brennt!!“ Uns im zweiten Keller hätte man beinahe vergessen, denn die Leute aus dem ersten Keller waren bereits draußen. Fräulein Trute kam zurück und sagte ganz ruhig: "Kinder, wir sollen aus dem Keller heraus." Wir ahnten schon, dass auch das Opernhaus brannte. Doch davon sagte sie nichts. Ruhig begaben wir uns zum Ausgang. Es dauerte eine kleine Weile bis wir herauskamen, denn es waren auch alte Leute dabei und eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Da rief ein Soldat: „Schnell, sonst bleiben sie hier!" Endlich erreichten wir den Ausgang. Uns bot sich ein schreckliches Bild, das ich wohl nie vergessen werde. Über uns brannte das Opernhaus. Vor uns das Nebengebäude der Universität, dann die ganze Häuserreihe, in der auch unser Haus stand. Wir sahen nichts als rote Flammen vor uns, die wie ein wildes Meer wogten. Von dem Luftdruck wurden wir gegen die Wände gedrückt und hatten Mühe, uns auf den Beinen zu halten. Aus unserem Haus schlugen die Flammen schon zur Haustür heraus. Doch wohin nun? Es war noch keine Entwarnung. Zum Glück war es aber die letzte Bombe, die die Engländer auf das Opernhaus geworfen hatten. 10 m vom Luftschutzkeller hatte sie eingeschlagen. Wir sahen es heute, als wir noch einmal dort waren. Aber da riefen Soldaten: "Sofort aus der Stadt heraus!" Sie wiesen uns in eine Straße ein. Es kann die l. Fließstraße gewesen sein. Doch nach 5 Minuten mussten wir schon haltmachen, denn vor uns brannte alles. So ging es alle Augenblicke. Kreuz und quer liefen wir mit unserem Gepäck. Rechts und links brannte es und dauernd fielen Fensterscheiben auf die Straße. Ich hatte Angst, uns würden die Scherben, wie viele andere, auch treffen. An jeder Straße, die gesperrt war, stand ein Soldat und wies uns einen anderen Weg. Der eine zeigte uns den einzigen Weg, der uns nach ca. 1/2 Std. noch blieb. Wir glaubten, nicht durchzukönnen, denn uns schlug nichts als dicker, undurchsichtiger Qualm entgegen. Dazwischen flogen überall Funken herum. Wir mussten unsere Gasmasken aufsetzen, das Handtuch über den Kopf binden und vorwärts ging es. Manchmal dachte ich: Jetzt musst du dich irgendwo hinsetzen. Zu tragen hatte ich die volle Büchertasche, den kleinen Lederkoffer, meine Markttasche und eine zweite Markttasche vom Seminar mit Esswaren für uns alle. Der große Koffer mit allen Kleidern u. a. ist im Keller Theater Platz 12 geblieben. Ich hätte ihn auch nicht tragen können. Anfangs erschien mir mein Gepäck gar nicht so schwer, aber nun fiel es mir alle Augenblicke aus den Händen. Dazu die Hitze und die Gasmaske auf dem Gesicht! Mein graues Kostüm und der schwarze Mantel klebten an mir, so lief das Wasser an meinem Körper hinunter. Das Kopftuch hatte ich verloren und die Haare hingen mir wild herum. Es waren qualvolle Stunden und immer ging es noch weiter. Mir war oft, als schlüge mir jemand in die Knie, sodass ich gleich hinfallen würde. Mit einmal hatte ich alle Mädels und Fräulein Trute verloren. Um mich waren nur Fremde. Jetzt konnte ich es erst erkennen, denn nun war nicht mehr schwarzer Qualm, sondern helle Flammen um uns. Ich lief weiter vorwärts. Da sah ich plötzlich Fräulein Trute mir entgegenkommen. Sie nahm mir einen Teil des Gepäcks ab und mich beim Arm. Die Maske hatte ich vorher schon vom Gesicht gerissen, denn ich bekam bei dem Laufen kaum noch Luft. Am brennenden "Haus der Technik" warteten die anderen auf uns. Aber da durften wir auch nicht stehen bleiben. So gingen wir bis in die Anlagen am Oberteich und legten uns auf den Rasen. Ich war wie tot. Doch bald musste ich aufstehen, da mir in den nassen Kleidern kalt wurde. So standen wir alle am Oberteich und sahen dem grausigen Schauspiel zu. Die Stadt war ein Flammenmeer! Dauernd hörten wir Detonationen. Der erste Angriff war längst nicht so schlimm. Adelheid fing schaurig an zu lachen. Ich musste sie tüchtig schütteln, bis sie ruhig wurde.
Vikarin Trute wollte nach dem Haus ihrer Eltern in Maraunenhof (Stadtteil) sehen und ging fort. Bald kam sie mit ihrer Schwester zurück, um uns zu holen. Ihr Elternhaus stand noch, wenn auch die Dachpfannen fehlten. Türen und Fenster waren herausgerissen. Wir bekamen jeder eine Portion eingemachte Stachelbeeren und dann zu zweien ein Lager. Es war 5:30 Uhr. Aber wir konnten nicht schlafen. So standen wir um 7:30 Uhr auf und gingen zur Post, um die roten Karten auszuschreiben, die heute früh an uns Überlebende verteilt wurden. Dann gingen wir zu zweien weiter und erledigten die nötigen Gänge. Da aber in der ganzen Stadt keine Straßenbahn mehr verkehrt und manche Straßen gesperrt sind, dauerte es sehr lange, ehe wir vorwärts kamen. Universität und Theater-Platz sind nur noch qualmende Ruinen. Die Altstadt mit ihren historischen Bauten ist nicht mehr!
Mittags war ich bei den Schwiegereltern auf den Hufen. Papa hatte sich schon aufgemacht, mich zu suchen und war noch nicht zurück. Ihr Haus hatte Dach- u. Glasschäden. Viele Straßen sind vollständig zerstört, viele ganz gesperrt. Es sollen in dieser Nacht viele Menschen ums Leben gekommen sein. Hoffentlich geht es Tante Martha gut. Der Hauptbahnhof ist noch heil, ebenso Ponarth und ein Teil der Hufen. Sonst sind alle Stadtteile stark zerstört. Viele Kirchen, mehrere Krankenhäuser, auch das Krankenhaus der "Barmherzigkeit" sind stark mitgenommen. Man kann nur immer wieder sagen: „In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen!" und über allem liegt der beißende Brandgeruch.
Am Nachmittag zogen wir dann nach dem Hauptbahnhof. Das war ein Gewimmel! Tausende waren unterwegs. Der Sommerhimmel war immer noch von Qualm und Aschenregen verdunkelt und die Sonne hatte Ihren Schein verloren. Um uns herum dieses Elend! Alte Menschen schleppten sich mit letzter Kraft vorwärts und Mütter mühten sich um ihre verstörten Kinder. Viele Bauern waren mit ihren Pferdefuhrwerken in die Stadt gekommen und nahmen Frauen und Kinder auf ihre Wagen. Wir kamen mit Mühe und Not in einen Zug und landeten hier in Sorgenau in einem Altersheim der Inneren Mission, das von zwei freundlichen Diakonissen betreut wird. Die lieben alten Menschen sind zusammengerückt, damit wir Platz fanden. Wir wohnen zu zweien in einem Zimmer und sind zufrieden und dankbar. Gestern haben wir noch am Abend in der See gebadet. Es war herrlich. Die Ruhe tat so gut. Wenn unsere ganze Habe nun auch in einem kleinen Koffer Platz hat, so ist doch die Hauptsache, dass wir noch am Leben sind. Dazu haben wir ein so gutes Quartier, ein gutes Bett und auch Essen. Nicht viele werden so gut untergebracht sein. Eben kam ein junges Mädchen aus Königsberg und erzählte, dass alle Menschen zum Abend die Stadt verlassen müssen und erst am Morgen wieder hinein dürfen.
Nun, meine lieben Eltern, braucht Ihr Euch um mich nicht mehr zu sorgen. Dafür werde ich nun um Euch Angst ausstehen. Ich bitte Euch dringend, immer in den Keller zu gehen, wenn es Alarm gibt. Habt immer viel Wasser bereit, auch etwas Essen. Dann aber die Koffer, die am wichtigsten sind, handbereit neben Euch. Für das Herauskommen aus dem brennenden Haus sind Minuten entscheidend.
Nun Gott befohlen, meine lieben Eltern, und herzliche
Grüße von Eurer dankbaren Tochter
Hildegard.


Anfang September 1944 war ich noch einmal in Königsberg, um nach dem Bruder meiner Mutter und seiner Familie zu suchen. Sie wohnten auf der Dominsel. Die Straßenbahn fuhr nicht mehr und so ging ich vom Bahnhof zu Fuß. Doch Häuserschutt versperrte mir oft den Weg und ich brauchte lange, bis ich vor dem Haus meiner Verwandten stand. Auch hier gab es nur noch Ruinen. In den Kellern glühte noch der Koks und die Luft war von einem unangenehmen Geruch erfüllt. Weit und breit kein Mensch, den ich hätte fragen können. Mich packte das Grauen und ich hastete weiter. Später bekamen wir Nachricht, dass die ganze Familie ein Opfer des Terrorangriffs geworden und unter Nr. Sechstausend - soundsoviel begraben worden sei. ----------

Es war ein herrlicher, warmer Sommer 1944 und Anfang September machte ich mich von Sorgenau/Samlandküste nach Schirwindt auf, um Winterkleidung und Wäsche für mich zu holen. Über Königsberg/Pr. - Insterburg - Gumbinnen - Ebenrode ging die lange Bahnfahrt, ca. 210 km. Doch in Stehlau, eine Station vor Schloßberg, hielt der Zug und wir mussten alle aussteigen. Ich ging mit vielen Frauen die 4 km an der Bahnstrecke entlang zum Bahnhof Schloßberg. Schon von Ferne sah ich, dass es auf dem Bahnsteig von Menschen wimmelte und eine weiße Schwesternhaube blitzte immer wieder auf. Als ich den Bahnhof erreicht hatte, rief ich unsere Schirwindter Gemeindeschwester Maria mit Namen an, denn sie war es, die mit den Schirwindtern den Bahnhof Schloßberg bevölkerte. Sie fiel mir vor Freude um den Hals und sagte: „Sie schickt der Himmel!" - Die Schirwindter Nazis hatten lange ein Abreisen aus der Stadt verhindert. Doch schon Ende August hatten sie sich heimlich aus der Stadt abgesetzt. Als Volkssturm und Hitlerjugend durch die Grenzstadt in Richtung Front marschierten und einige bald wieder als Verwundete zurückkamen, wurden sie von Schwester Maria betreut. Dabei erfuhr sie, wie weit die Sowjets vorgedrungen waren. So wurde es Zeit, Schirwindt zu verlassen. Unsere 53-jährige Diakonisse bereitete die Abreise der Bevölkerung vor und ließ keinen Kranken in der Stadt zurück. Einige hatten schon jahrelang krank zu Bett gelegen. Alle wurden zur Kleinbahn geschafft. Reisekörbe und Koffer sollten von den Bürgersteigen abgeholt werden. Doch da kam ein russischer Tiefflieger und schoss auf alles, was sich auf der Straße bewegte. Es gab einige Tote und das meiste Gepäck war durchlöchert und unbrauchbar geworden. Auch Schwester Maria behielt nur einen kleinen Handkoffer. So kamen ca. 500 Menschen, vor allem Alte und Kranke, Frauen und Kinder verstört in der Kreisstadt Schloßberg an. Doch hier gab es keinen Eisenbahnzug, der die Schirwindter weitergebracht hätte. Der Bahnhofsvorsteher bemühte sich immer wieder darum, doch ohne Erfolg. Die Kranken hatten z. T. ihre Matratzen mit und Schwester Maria und ich mühten uns, ihnen die Nacht unter freiem Himmel erträglich zu machen. Es war eine warme, sternenklare Sommernacht. Wir lagen beide am Giebel des Bahnhofsgebäudes in eine Decke gerollt und konnten nicht schlafen. Wann würden wir hier wegkommen? Es gab auch schwangere Frauen und Säuglinge. In der Frühe gingen Schwester Maria und ich durch die Reihen, beruhigten und trösteten. Noch hatten fast alle etwas Essbares bei sich. Am Nachmittag wurde ein Eisenbahnzug in den Bahnhof geschoben. Doch die Lokomotive dampfte wieder ab. Die Abteile mit den Polstersitzen reservierten wir für die Kranken. Da nicht genügend Platz war sie hinzulegen, mussten sie auf den gepolsterten Bänken sitzen. Einige waren so kraftlos, dass sie vornüberkippten. Wir nahmen lange Schals und Tücher, legten sie den Kranken über die Brust, banden sie auf dem Rücken zusammen und befestigten die Tuchenden am Gepäckhalter. So kam die nächste Nacht. Schwester Maria und ich lagen wieder unter freiem Himmel. Früh um 4 Uhr versorgten wir die Kranken und gingen dann nach Schloßberg hinein, um für unsere Flüchtlinge um Essen zu bitten. Wir hatten keine Lebensmittelkarten, doch Bäcker und Fleischer halfen, soweit sie konnten. Auch heißen Tee für Säuglinge und Kranke gaben sie uns mit. Zurückgekehrt versuchten wir alles gerecht an die Schirwindter zu verteilen. So bekam jeder ein Stückchen Brot und ca. 3 - 4 cm Wurst. Die meisten waren dankbar, aber einige beschimpften uns, als ob wir an ihrer ganzen Notlage Schuld wären.

Endlich kam am Nachmittag eine Lokomotive und bald setzte sich der Zug mit den Schirwindter Flüchtlingen in Bewegung. Aber die Bahn war durch Militär- und Flüchtlingstransporte überlastet und so blieb unser Zug oft auf freier Strecke stehen. Dann sprang unsere treue Diakonisse aus ihrem Abteil, um nach den Kranken und Schwangeren in den anderen Wagen zu sehen. Als sie gegen 23 Uhr wieder am Zug entlanglief, setzte dieser sich in Bewegung und fuhr davon. In Insterburg hielt der Zug und es gelang mir mit Hilfe eines freundlichen Beamten, eine werdende Mutter ins Krankenhaus bringen zu lassen. Er wollte auch versuchen, unsere Gemeindeschwester uns nachzuschicken, sobald sie zu Fuß den Bahnhof Insterburg erreicht hatte. Wir fuhren, mit vielen Unterbrechungen, die Strecke Gerdauen - Korschen weiter und gegen 2:00 Uhr nachts stieg unsere Schwester Maria wieder zu uns. Alle waren erleichtert! Gegen Mittag kamen wir nach Bartenstein. Hier und in den Dörfern der Umgebung fanden die Schirwindter erstmals eine Unterkunft. (Später kamen sie mit dem Schiff nach Dänemark in ein Lager und Schwester Maria starb dort an Leichenvergiftung.) Ich fuhr von Bartenstein gleich zu meinen Eltern nach Allenstein weiter und von dort am nächsten Tag wieder nach Sorgenau, um mit meiner Ausbildung voranzukommen. Unsere Vikarin bestritt den Unterricht und manchmal kam eine Lehrkraft von Königsberg herüber.

Am 27. u. 28. 9. 1944 versuchte ich noch einmal nach Schirwindt zu kommen, um vielleicht doch noch etwas von meinen Sachen, vor allem Kleidung, zu retten. Ich war damals 28 Jahre alt. Meine Eltern wussten nichts von meinem Unternehmen. Sie hätten das Wagnis nicht erlaubt. Aber meine 53 jährige Gemeindeschwester Maria Paulat, die jetzt in Bartenstein saß, war dabei. Wir trafen uns auf dem Königsberger Hauptbahnhof und konnten diesmal sogar bis Schloßberg fahren. Dort besorgten wir uns vom Kreisbauernführer eine Aufenthaltsbescheinigung für Schirwindt, das schon Kriegssperrgebiet war. Aus Schloßberg durfte die arbeitende Bevölkerung nicht fort. So kamen wir am Abend bei einem Bäckermeister unter. Ich verbrachte die Nacht auf zwei zusammengeschobenen Sesseln. Am frühen Morgen waren wir für ein Frühstück ohne Lebensmittelkarten dankbar. Da es keine Bahnverbindung mehr nach Schirwindt gab, machten wir uns zu Fuß auf. 25 km lagen vor uns. Bald nahm uns ein Soldat auf seinem Pferdefuhrwerk eine Strecke lang mit. Dann ging es zu Fuß weiter. Später nahm uns ein anderer Soldat mit, der Briketts geladen hatte. Endlich erreichten wir das Gut der Familie Schlemminger in Barajehlen, ca. 6 km vor Schirwindt gelegen. Alle Gutsleute hatten zurückkommen müssen, um die Kartoffelernte einzubringen. Das Gutshaus war mit Militär und Hilfskräften übervoll. Aber wir konnten in einem Zimmer noch auf dem Teppich übernachten. Hier trafen wir noch drei Frauen, die auch nach Schirwindt wollten. Am anderen Morgen riet uns der Gutsherr, erst die 1-2 Bomben abzuwarten, die der Russe jeden Morgen gegen 7 Uhr abwarf. Danach machten wir uns auf den Weg. Die Sonne schien, als wir unsere kleine Stadt erreichten. Fünf Frauen in einer menschenleeren Stadt! Unheimlich hallten unsere Schritte über das Pflaster. Sonst Totenstille! Unsere Begleiterinnen baten uns, mit in ihr Haus zu gehen. Uns bot sich ein Bild der Verwüstung. Betten waren aufgeschlitzt, Glas und Porzellan zerschlagen. Schwester Maria und ich eilten weiter. Ihr Haus war von Bomben zerstört. Die Kirche und das Pfarrhaus standen noch. Aber auch hier sinnlose Verwüstung! Betten, Gardinen und Teppiche waren verschwunden. Wäsche- u. Kleiderschränke gewaltsam geöffnet und ausgeräumt. Nur der Talar meines Mannes lag in der Küche im Kohlenkasten. Im Schlafzimmer fand ich noch eine Bibel und im Esszimmer einen einzigen silbernen Teelöffel. Auch das Porzellan war verschwunden. Die Fußböden in allen Zimmern waren mit zerrissenen Büchern, Akten, Briefen, Fotos, Nähzeug, dem Inhalt zweier Schreibtische und mit Glasscherben übersät. Aus dem Keller hatte man das Eingemachte aus mehr als hundert Gläsern über die Fußböden geschüttet. Mir wankten die Knie. Ich begann, Fotos aufzusammeln. Auch im Garten und auf dem Hof lagen viele Briefe und verschiedene andere Sachen. Als wir hinausgingen, um noch etwas zu retten, fielen Schüsse. Der Russe hatte uns wohl bemerkt. Bald danach erschien ein deutscher Hauptmann, der sehr überrascht war, hier zwei Frauen anzutreffen. Er erzählte uns, dass bis vor wenigen Tagen ein Offiziersstab im Pfarrhaus gelegen hätte. Da wäre das ganze Haus noch in Ordnung gewesen. Aber der Russe hätte jede Bewegung registriert und so hätte man den Stab verlegen müssen. Seitdem hätten die Soldaten geplündert. Darauf stünde zwar die Todesstrafe, aber wer will hier richten? Wir sahen später Soldaten mit großen Paketen vor dem Postamt in Schloßberg Schlange stehen.

Hauptmann Petri, wie sich herausstellte Pastor, riet uns, die Stadt bald zu verlassen, da der Russe gegen 17:00 Uhr zu schießen beginne. Er wollte versuchen, uns ein Fuhrwerk zu besorgen. Nach einiger Zeit kam er wieder, mit ihm ein Oberfeldwebel, der gleichfalls Pastor war. Er hieß Schmidtpott und stammte aus Schleswig-Holstein. Jeder trug ein volles Essgeschirr für uns. Schwester Maria und mir schmeckte die kräftige Suppe vorzüglich. Dann verließen wir mit den letzten Habseligkeiten unser Pfarrhaus für immer. Wir gingen dicht an den Häusern entlang. Die drei anderen Frauen waren nicht mehr da. Wieder fielen Schüsse. Am Stadtrand von Schirwindt wartete ein Pferdefuhrwerk auf uns. Ein freundlicher Soldat brachte uns bis kurz vor die Stadt Schloßberg. Wir erreichten am späten Nachmittag einen Zug, der uns über Ebenrode bis nach Insterburg brachte. Hier gab es Fliegeralarm und wir landeten in dem Luftschutzkeller eines Hotels. Bald nach der Entwarnung fuhr ein D - Zug in den Bahnhof ein und nachts gegen 1:00 Uhr kamen wir in Allenstein an. Meine aus dem Schlaf geklingelten Eltern waren sehr erstaunt, als sie von unserem Unternehmen erfuhren.

Einen Tag später fuhren Schwester Maria und ich nach Königsberg/Pr. Hier trennten wir uns. Sie fuhr nach Bartenstein zu den evakuierten Schirwindtern und ich nach Sorgenau, um meine Ausbildung fortzusetzen. Als ich mich drei Tage vorher dort von meiner Zimmermitbewohnerin verabschiedet hatte, wusste ich plötzlich, dass ich in diesem Hause nicht mehr schlafen noch Unterricht haben würde. Meine Vorahnung hatte mich nicht getäuscht. Auf dem Bahnhof Sorgenau stand Vikarin Trute mit ihren Seminaristinnen. Alle Evakuierten mussten die Samlandküste verlassen. Meine wenigen Habseligkeiten hatten sie vorsorglich mitgenommen. So bestieg ich wieder den Zug und fuhr zu meinen Eltern nach Allenstein zurück.

Es bestand für uns die Möglichkeit, unsere Ausbildung zur Gemeindehelferin in Breslau fortzusetzen. Außer mir wagten es nur noch zwei Seminaristinnen. Das dortige Seminar war der Diakonissenanstalt Bethanien angeschlossen. Anfang Oktober 1944 setzten wir unsere Ausbildung dort fort. Das Essen wurde schon knapp. Es war nicht leicht, in solch einem großen Betrieb alle Mitbewohner satt zu machen. Lästig war, dass gerade zur Mittagszeit, wenn das warme Essen auf dem Tisch stand, sehr oft die Sirenen heulten und wir den Luftschutzkeller aufsuchen mussten. Die Verdunkelung wurde sehr streng beachtet. Aber nachts gab es selten Alarm.

Zu Weihnachten 1944 fuhr ich zu meinen Eltern nach Allenstein. Mein einziger Bruder war 1940 mit 20 Jahren in Frankreich gefallen, mein Mann 1943 in Russland. Seine beiden Brüder fielen 1943 in Stalingrad bzw. 1944 in Afrika. So wurde es ein stilles Weihnachtsfest. In Allenstein waren kurz vor Weihnachten die ersten Bomben gefallen und es gab die ersten Toten. Die Bevölkerung war bedrückt. Am 3. Januar 1945 bestieg ich den Zug nach Breslau. Meine Mutter stand an dem kalten Wintermorgen vor dem Fenster meines Abteils. Da wusste ich plötzlich, dass ich auch Allenstein für immer verlasse. Ich wäre am liebsten ausgestiegen.

In Breslau waren die Tage ausgefüllt. Vom 12. - 16. 1. 1945 war Pastor Herntrich, der spätere Bischof von Hamburg, aus der Hansestadt zu einem katechetischen Lehrgang zu uns gekommen. Er war ein begnadeter Ausleger der Hl. Schrift. Besonders erinnere ich mich an die Auslegung von Lukas 21. Am 18. oder 19. Januar 1945 hörten wir im Rundfunk, dass die Russen in Ostpreußen vorgedrungen sein. Am 20. Januar hieß es, sie hätten Allenstein erreicht. Ich war in großer Sorge um meine Eltern. - Wir hatten an diesem Tag keinen Unterricht mehr. Schlesierinnen, die in der Nähe zu Hause waren, fuhren zu ihren Eltern. Es blieben zehn oder elf Seminaristinnen übrig, die gemeinsam auf die Flucht gehen wollten. Ich wurde von unserer Leiterin gebeten, für uns alle Fahrkarten auf dem Bahnhof zu besorgen. Gleich nach dem Mittagessen machte ich mich auf den Weg. Auf den Straßen sah ich die ersten Flüchtlinge. In der Bahnhofshalle drängten sich aufgeregte Menschenmassen. Vergeblich versuchte ich, einen Schalter zu erreichen. Aber alle wurden geschlossen. Das Gedränge war so groß, dass ich dabei bald totgedrückt wurde. Als ich wieder Luft bekam, eilte ich durch die verschneiten Straßen zur Diakonissenanstalt zurück. Unterwegs hörte ich durch Lautsprecher, dass Frauen mit Kindern, die rechts der Oder wohnten, noch heute die Stadt verlassen sollten. Wenig später hieß es dann, auch die linke Oderseite muss geräumt werden.

Im Seminar saßen die ersten jungen Mädchen an der Nähmaschine, um sich aus Schwesternstoff einen Rucksack zu nähen. Jeder bekam eine halbe Stunde Zeit dazu. Dann wurde uns gesagt, dass wir die Säuglinge aus dem Säuglingsheim mitnehmen müssten, da die Mütter nicht mehr zu erreichen sein. Morgens um 6:00 Uhr sollten wir auf dem Güterbahnhof sein. Ein Flüchtlingszug sollte hier eingesetzt werden. Meinen Rucksack konnte ich erst um 22 Uhr nähen. Danach packte ich meine Sachen ein und wollte gerade zu Bett gehen, als eine Diakonisse klopfte. In den Toiletten war durch den starken Frost ein Rohr gebrochen und das Wasser lief die Treppen hinunter. Sie bat mich, ihr zu helfen. Meine Zimmergenossin und ich arbeiteten, bis der Schaden behoben war. Alle Diakonissen mussten ja bleiben und wollten darum das Haus in Ordnung halten. Inzwischen war der 21. Januar 1945 angebrochen. Wir legten uns für 1 1/2 Stunden hin. Um 4:00 Uhr verließen wir mit den Säuglingen, einer Säuglingsschwester, die einen großen Wäschekorb mit Säuglingswäsche und Flaschen gepackt hatte, unserer Seminarleiterin Charlotte Pregner??, die Theologin und Diakonisse war, die Anstalt. Zwei Diakonissen halfen uns bis zum Güterbahnhof. Wir fanden alle in einem Personenabteil Platz und fuhren in Richtung Süden bis zum Eulengebirge. Am Nachmittag stiegen wir in Langenbielau aus. Ich wurde vorgeschickt, um in dem Säuglingsheim, von Breslauer Diakonissen geleitet, für die Säuglinge Quartier zu machen. Zum Glück waren die meisten Kinder des dortigen Heimes von ihren Müttern schon abgeholt. Ich half, die Bettchen zu beziehen. Dann holten wir mit Schlitten die Wartenden vom Bahnhof ab. Bald lagen die Kinder sauber und gefüttert in ihren Betten. Unsere beiden Diakonissen blieben im Haus und wir wurden bei Familien untergebracht. Es gab ein Unter-, Mittel- u. Oberbielau, ein langgestreckter Ort. Zu Dreien gingen wir durch die Kälte ca. 50 Minuten bergan zu unserem Quartier in der Villa eines Leinenfabrikanten. Am nächsten Morgen waren wir schon um 7:00 Uhr im Säuglingsheim, um in Küche und Haus zu Helfen. Vor- u. nachmittags hatten wir täglich noch 2-3Stunden Unterricht. Der Weg durch die verdunkelten Straßen zu unserem Quartier war etwas unheimlich. Wir begegneten immer vielen russischen Kriegsgefangenen und uns kam die Frage, wie würden sie sich verhalten, wenn die Front näher rückt. Eines Nachts, wir hörten schon das ferne Grollen der Front, bemerkten wir, dass vom Grundstück des Fabrikanten, - der auch Kriegsdienst tat, - ein bepackter Lastwagen davonfuhr. Das bedeutete nichts Gutes.

Am nächsten Vormittag halfen wir den Diakonissen in der Küche. Sie hatten ihre kleinen Vorräte geplündert und wollten uns zum Mittagessen mit einem Braten und einer süßen Speise erfreuen. Das war damals eine seltene Kostbarkeit. Doch gegen 11:30 Uhr kam eine Dame aus der Stadt mit der Nachricht, dass wir in 50 Minuten mit den Säuglingen abgeholt würden, um den letzten Zug zu erreichen. Das Mittagessen blieb stehen. In Eile wurden die Säuglinge reisefertig gemacht und noch einmal gefüttert. Die Seminaristinnen, die in der Nähe ihr Quartier hatten, holten noch schnell ihre Sachen. Aber wir drei mit 1/2 Stunde Fußweg dachten traurig an unsere in der Villa zurückgelassenen Sachen. Jetzt hatte ich meinen letzten Schlafanzug verloren. Auch Zahnbürste, Zahnpaste und Seife blieben zurück. An Ersatz war vorläufig nicht zu denken. Es gab ja nichts mehr! Aber meine Büchermappe hatte ich noch. Jeder bekam eine Doppelschnitte Brot mit und dann bestiegen wir alle einen Leiterwagen, der mit Stroh ausgelegt war. Bei winterlicher Kälte und viel Schnee, es kann der 26. oder 27. Januar 1945 gewesen sein, fuhren wir ca. 6 km weit, um einen Lazarettzug z.u erreichen. Wir erhielten im letzten Wagen einen Raum, in dem einige Betten zweistöckig standen. Unsere Säuglinge legten wir nebeneinander auf zwei Betten. In Breslau hatte jedes Kind ein festes Pappschild mit Namen und Geburtsdatum um den Hals gehängt bekommen. Wir dachten, der Lazarettzug würde bald abfahren. Aber es dauerte viele Stunden, bis er sich, in Bewegung setzte. Abwechselnd legten wir uns auf die Betten. Am nächsten Tag hatten wir nichts mehr zu essen. Mittags beobachtete ich, wie ein Soldat aus dem fahrenden Zug einen großen Kochtopf voll Nudelsuppe durchs Fenster schüttete. Ich rief ihn an und schilderte ihm unsere Situation. Von da an bekamen wir die Reste der täglichen Soldatenverpflegung und auch unsere Säuglinge wurden versorgt. Wir waren viele Tage unterwegs, weil unser Zug immer wieder auf Nebenstrecken umgeleitet wurde. Eines Nachts gegen 5:00 Uhr, es kann der 10. oder 11. Februar 1945 gewesen sein, lief unser Lazarettzug in Dresden ein. Wir wankten hinaus. Hier sahen wir zum ersten Mal wohlgenährte Männer der Partei in Uniform, die uns halfen. Einer von ihnen nahm mir meinen kleinen Jungen ab und meinte: "Der Kleine ist aber ganz die Mutti." Ich ließ ihn in dem Glauben. Im Bahnhofsgebäude führten sie uns in einen warmen Raum, in dem uns N.S. -Frauen heißen Tee reichten. Unsere Säuglinge bekamen sogar frische Windeln. Wir hatten fast alle Magen- und Darmbeschwerden. Dann wurde um 4:00 Uhr nachts extra für uns eine Straßenbahn eingesetzt, die uns zu der Diakonissenanstalt brachte. Obwohl wir nicht angemeldet waren, wurden wir herzlich aufgenommen. Die Kinder wurden zuerst versorgt. Bald kam auch ich in den Genuss eines eigenen, frisch bezogenen Bettes. Am Morgen rieten uns die Dresdner Diakonissen, die Stadt möglichst bald zu verlassen, da mit einem Luftangriff zu rechnen sei. Unsere Säuglinge konnten wir in ihre Verantwortung übergeben. Sie wollten sie noch am Vormittag in ein Säuglingsheim nach Halle bringen. So machten sich einige von uns selbstständig, um zu Angehörigen zu gelangen. Wir wanderten zum Dresdner Hauptbahnhof, der von Flüchtlingen überfüllt war. Ich wollte zu meiner Schwägerin[1], die mit drei kleinen Kindern[2], das vierte war unterwegs, von Ostpreußen ins Erzgebirge evakuiert worden war. So versuchte ich viele Stunden lang, in einen Zug hineinzukommen. Das Gedränge auf den Bahnsteigen war so groß, dass niemand umfallen konnte. Am Nachmittag zog mich dann ein Soldat durch ein Abteilfenster hinein. Die Unterhaltung mit den Mitreisenden war mühsam, da ich den sächsischen Dialekt schlecht verstand. In unserem Abteil war es dunkel und draußen war nur die Schneelandschaft zu sehen. Auch die Bahnhöfe waren verdunkelt und ich bat mir zu sagen, wenn wir in Olbernhau wären. Da erklärte mir ein Mann mit Schiebermütze, dessen Gesicht ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, er stiege auch in Olbernhau aus und würde mir helfen. Einerseits war ich froh darüber, andererseits war mir auch unheimlich zu Mute. Es war nach 23:00 Uhr, als wir ausstiegen. Wir gingen durch den Schnee bergan und endlich hielt er vor einem Haus. Die Haustür war noch offen und im 1. Stock lief ein Rundfunkgerät. Wir tasteten uns hinauf und klingelten. Eine ältere Frau öffnete und ich sagte, wer ich wäre. Meine Schwägerin hatte ihr von mir erzählt. Doch nun erfuhr ich, dass sie vor einer Woche mit den Kindern weiter ins Gebirge nach Haselbach gezogen sei. Ich muss wohl sehr betroffen, ausgesehen haben, denn sie sagte: "Wenn Sie allein wären, könnten Sie ja diese Nacht bei mir bleiben." Ich versicherte ihr, dass der neben mir stehende Mann mich nur hergeführt hätte. So bekam ich noch eine Tasse gewärmten Kriegskaffee und ein Lager auf dem Sofa. Rührenderweise wollte sie mich am frühen Morgen zum Bus bringen. Wir standen um 5:00 Uhr auf, sie teilte ihr Frühstück mit mir und dann gingen wir durch den Schnee zum Bus. Viele Arbeiter stiegen ein. Wir fuhren eine ganze Zeit durch die Dunkelheit. An einer Kreuzung musste ich umsteigen. Doch der ankommende Bus war so voll, dass man mich nicht mitnehmen wollte. Ich musste betteln, bis man mich endlich hineinließ. Inzwischen war es hell geworden. An einer anderen Kreuzung, mitten zwischen tief verschneiten Feldern, stieg ich aus. Weit und breit keine menschliche Behausung. Ich ging in die mir angezeigte Richtung. Doch meine Kräfte ließen nach und ich taumelte nur noch voran. Da stand plötzlich ein etwa 12 jähriger Junge mit einem Schlitten vor mir. Ich durfte mich mit meinem Gepäck auf sein Gefährt setzen, und es ging hinab ins Tal bis nach Haselbach, wo ich meine Schwägerin mit ihren Kindern auf einem Bauernhof [3] fand. Zu meiner großen Überraschung war auch meine Schwiegermutter, Antonia Sturm, aus Königsberg/Pr. hier untergekommen. Mein Schwiegervater, Rudolf Sturm, hatte in Königsberg bleiben müssen, wurde bei der Eroberung der Stadt von den Russen mit vielen anderen Männern in ein Gefängnis gesperrt und starb dort an Hungertyphus. Meine Schwägerin wohnte mit ihren Kindern und ihrer Mutter sehr beengt. Nach wenigen Tagen hatten meine Schwiegermutter und ich die Möglichkeit, bei der Posthalterin in Haselbach ein kleines Zimmer zu bekommen. Da wir Brennmaterial brauchten, besorgte ich uns einen Bezugsschein und fuhr mit einem geliehenen Schlitten in den Wald, um unser Holz zu kaufen. Dann mussten wir es zersägen und ich lernte auch Holzhacken. Briketts schaffte ich auch heran, sodass unsere kleine Stube mollig warm wurde. Leider war die Lebensmittelversorgung sehr knapp, und wenn ich durch den Schneematsch ging, war mir oft, als stiege ich über Watteberge und mein Kopf schmerzte.

Am 6. März 1945, als über Chemnitz die Bomben fielen, gebar meine Schwägerin ihr viertes Kind[4] . Bald danach bekam sie die Nachricht, das ihr Mann vermisst sei.

In schlaflosen Nächten sorgte ich mich um meine Eltern, von deren Ergehen ich nichts wusste. Allenstein war ja am 21.1.1945 von den Russen eingenommen worden. Ich schrieb an eine nach Sachsen evakuierte Cousine und bald teilte sie mir mit: "Gestern erhielt ich Post von Deiner Mutter. Sie ist in Schleswig-Holstein gelandet und wohnt in Ramsdorf bei Owschlag bei Bauer Detlef Koll. Von Deinem Vater weiß sie nichts.“ Sofort schrieb ich an meine Mutter. Am 18.März 1945 in einer sternenklaren, kalten Nacht brachte mich ein Bauer zur nächsten Bahnstation. Gegen 9 Uhr fuhr mein Zug in Richtung Gera. In Mönchenbernsdorf besuchte ich die beiden Breslauer Diakonissen und die Seminaristinnen, mit denen ich von Breslau geflohen war. Sie waren alle im Pastorat untergekommen und setzten dort ihre Ausbildung fort. Nach einer Übernachtung im Pastorat fuhr ich am Morgen weiter. Ich wollte nach Schleswig-Holstein. Der Zug wurde immer wieder umgeleitet. Bei Fliegerangriffen liefen wir Reisenden in den nächsten Luftschutzkeller. Dabei dachte ich immer, sollte ich hier umkommen, so würden es meine Eltern nie erfahren. Eines Abends fuhr der Zug in Rathenow/Havel ein. Wir mussten gleich in den Splittergräben vor dem Bahnhofsgebäude Deckung suchen. Ich hatte Bekannte in der Stadt. Doch wagte ich in der Nacht nicht, sie aufzusuchen. Später, beim Einmarsch der Russen in Rathenow nahmen sie sich das Leben. Als es in dieser Nacht Entwarnung gab, ging ich in die Bahnhofshalle und legte mich auf den Fußboden. Den Rucksack benutzte ich als Kopfkissen. Ich schlief fest, bis es hell wurde. Als ich mich erhoben hatte, um zum Bahnsteig zu gehen, vermisste ich mein Pelzcape, das ich um die Schultern getragen hatte. Ich suchte und fand es bei einem Soldaten, der es sich unter den Kopf gelegt hatte. Vorsichtig zog ich es vor. Er merkte es gar nicht. Auf dem Bahnsteig warteten viele Flüchtlinge. Die Züge verkehrten nicht mehr regelmäßig. Aber ich kam mit, wenn ich eine ganze Strecke lang auch auf dem Deckel der Toilette sitzen musste. In Wittenberge gab es wieder Alarm. Diesmal blieb ich im Zug. Abends kam ich in Hamburg an und versuchte, die Stadt möglichst schnell zu verlassen. Es gelang. Bei Rendsburg fuhr ich dann zum ersten Mal über die Hochbrücke und bald hielt der Zug in Owschlag. Es war wohl gegen 23:00 Uhr. Ich ging in das verdunkelte Bahnhofsgebäude und fand einen freundlichen Beamten vor. Er sagte mir, dass ich bis Ramsdorf noch 3 km Fußweg vor mir hätte. Im Laufe des Gesprächs erzählte er, dass mein Vater vor kurzem nach der Flucht hier angekommen wäre und nun auf dem Bahnhof in Rendsburg Dienst tue. Meine Mutter sei mittags zu ihm gefahren, um ihn mit Essen zu versorgen. Vater habe in Büdelsdorf ein Zimmer bei einem Kollegen gefunden. Der nette Bahnbeamte rief meinen Vater in Rendsburg an und hielt für mich einen Güterzug an. Ich stieg in einen geschlossenen Güterwagen, in dem ein Schaffner neben einem Kanonenöfchen saß. Als ich in Rendsburg ausstieg, war es der 25. März 1945, 1:00 Uhr nachts. Vor gut zwei Monaten hatte meine Flucht in Breslau begonnen. Mein Vater erwartete mich und wir fielen uns vor Freude in die Arme. Er sah sehr elend aus. Wir hatten noch einen Fußweg von 3/4 Stunde, bis wir Büdelsdorf erreichten und meine überraschte Mutter mich in die Arme schloss. Am Vormittag fuhren meine Mutter und ich nach Owschlag zurück. Wir gingen 3 km zu Fuß nach Ramsdorf zu dem Bauernhaus, in dem meine Mutter ein Zimmer bekommen hatte. Hier begann der zweite Abschnitt meines Flüchtlingsdaseins.

  1. Leonore Lottermoser, geb. Sturm aus Königsfeld, Fußnoten Ergänzung von Günther Kraemer
  2. Kinder: Dietrich, Jutta, Ursula Lottermoser
  3. :Hofbesitzer Max Rutloff; neben einigen anderen Flüchtlingsfamilien befanden sich schon hier Gertrud Kraemer, geb. Lottermoser mit den Kindern: Günther und Wolfgang sowie Lisbeth Lottermoser aus Meißnersrode
  4. Brigitte Lottermoser