Gicht-medizinische Sonnenbank
Jedes Ende hat einen neuen Anfang von Gerhard Krosien
Der Memeler Hochflieger schien mit der Flucht aus Memel im Jahre 1945 vor seinem Aus zu stehen. Doch es ist anders gekommen. Gott sei Dank! In unerwarteter Weise haben er und sein Traditionsverein sich als erstaunlich lebenstüchtig erwiesen. Ein Stück Heimat konnte so in eine neue Umgebung hinübergerettet werden.
Die Fast-Katastrophe ist da Am 26. Januar 1945 krachte es fürchterlich auf den Karton, in den 23 Memeler Hochflieger hineingepfercht worden waren. Von Richard Krosien senior, der seit der Evakuierung seiner Nachkommen im Juli 1944 alle Memeler Hochflieger seines seit 1941 an der Ostfront stationierten Sohnes Richard hütete und versorgte. Die Tiere waren der ganze Stolz einer langjährigen Zucht: hübsch, rassig, fit, einmalig!
Dann kam „der Russe" näher und näher - und auch für die paar Tauben war der letzte Tag in der angestammten Heimat angebrochen. Mit fachkundigem Auge wurden die Besten unter den Guten ausgesucht und ohne viel Federlesen in den Pappkarton gesteckt. Für die vielen anderen Tauben öffnete sich für dauernd die Ausflugklappe des vertrauten Taubenschlages - und ab ging`s mit denen in den kalten Memeler Himmel! Wer weiß wohin? Ein Abschied für immer?
Das Schicksal ist gnädig Und nun hatte es hier unheilvoll gekracht! Eine schwere Munitionskiste war auf einem der wohl letzten deutschen Munitionsdampfer mit Flüchtlingen aus Memel auf den Karton herniedergesaust. 14 Tiere waren sofort tot, andere starben an ihren Verletzungen oder an Entkräftung während der langen, beschwerlichen Fahrt. Ganze neun Tauben erreichten das rettende Ziel, Schleswig-Holstein. Deren Unglück hatte jedoch noch kein Ende. Ratten töteten weitere zwei Tiere, so dass schließlich nur sieben Tauben von ursprünglich 23 übrig blieben.
Aber was für welche! Sozusagen die Stammeltern einer altehrwürdigen Tümmlerrasse im 1945 darniederliegenden, hungernden und frierenden westlichen Teil Deutschlands. Dies, nachdem der zu seiner Familie nach Bremervörde in Niedersachsen verschlagene Sohn des Richard Krosien senior nach langer Odyssee die Memeler Hochflieger in seine Obhut genommen hatte. Er holte nämlich seinen alten, kranken Vater und die Tauben kurzerhand aus deren Elendsquartier in Kollmar an der Elbe zu sich in die niedersächsische Kleinstadt. Der Junior machte sich sogleich daran, seinen Lieblingen aus Abfallbrettern und Dachpappe eine einigermaßen passable Unterkunft zu zimmern. Immer nur in engen Kaninchenställen zu hausen - wie zuvor -, war für die Tauben nicht artgerecht und durfte doch kein Dauerzustand bleiben! Dann gingen er und seine Kinder bei den Bauern, die Getreide droschen, und bei den Mühlen der Umgebung Dreschabfälle betteln. Nach den voherigen Entbehrungen war dieses Futter - so karg es auch war - für die Tauben die notwendige Überlebenschance, ja geradezu eine Verwöhnung! Das war eine Gnade bei dem damaligen schweren Los der Tiere.
Der Beginn - ein Wunder Aber mit der Zeit ging es im Lande mit Mensch und Tier wieder aufwärts. Für beide Spezies gab es wieder etwas Richtiges zu beißen. Um die Gesundheit der Tauben bemühte sich liebevoll ein befreundeter Tierarzt - ein wahrer Hüne von Gestalt, mit weichem Herz, mit großen, aber sanften Händen. Und die Tiere bedankten sich bei ihrem „Ziehvater" für all die Mühe mit zahlreichem, strammem Nachwuchs! Denn bald flatterte und gurrte ein buntes, quicklebendiges Völkchen Memeler Hochflieger in der weiträumig ausgelegten Bremervörder Voliere. Einige „Ausreißer" unter den Tieren - zumeist „Neue, Unerfahrene" - wurden von Familienangehörigen in näheren oder ferneren Dörfern wieder „aufgegriffen und eingesperrt", sofern sie nicht vorher von einem hungrigen „Hawke" ( Habicht ) weggeschnappt worden waren.
Die Züchter sammeln sich Richard Krosien junior wollte aber mehr. Er, der schon seit seinem 14. Lebensjahr den Memeler Hochflieger züchtete und in Memel einen guten Namen in Züchterkreisen hatte, „sammelte" in mühevoller Kleinarbeit ihm bekannte Memeler Züchter zusammen, die jetzt - soweit sie geflüchtet waren - verstreut über das ganze westliche Deutschland lebten. Nahezu alle, die er irgendwie erreichen konnte, folgten seinem Ruf nach Bremervörde, wo sie sich - nun in der Fremde - erneut Züchtertreue schworen und den Sitz des 1921 gegründeten „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" bestimmten, und zwar zu der Zeit den Wohnort Richard Krosiens, des ab dann langjährigen Vereinsvorsitzenden, später - bis zu seinem Tode - Ehrenvorsitzenden.
Ein Leben für den Memeler Hochflieger Dieser muss „seine Memeler" so geliebt haben, dass er sogar aussichtsreiche Berufsangebote in anderer Umgebung Deutschlands ausschlug. Er glaubte, dort weniger günstige Lebensbedingungen für seine „Schutzbefohlenen" zu sehen, und nahm so für sich und seine Familie lieber Nachteile in Kauf, als dem Ruf zu folgen. Ja, sogar in Bremervörde selbst „belegte" er Teile seiner Familienwohnung mit gerade geschlüpften Jungtieren. Die brauchten für gutes Gedeihen doch unbedingt ununterbrochen wohlige Wärme! Außerdem musste es mit der Aufzucht schon früh im Jahr losgehen, auch wenn es nachts im Taubenschlag noch ganz schön kalt war! Als er schon dem Tode geweiht war, ließ er sein Krankenbett sogar so aufstellen, dass er seine Lieblinge durch das Fenster hindurch in der Voliere beobachten konnte. Bis zuletzt gab er noch Ratschläge zur weiteren Zucht des Memeler Hochfliegers. Wirklich ein Leben für seine Tauben!
Der Memeler Hochflieger in neuer Heimat Der Memeler Hochflieger gefiel aber nicht nur vielen alten Memelländern! Nein, schon bald verliebten sich auch zahlreiche Menschen aus der „neuen Heimat" in diese Rasse. Sie holten sich geeignete Zuchtpaare von Richard Krosien junior, ließen sich von den „alten Memeler Hasen" in die typischen Merkmale des Memeler Hochfliegers einweisen und züchteten die für sie neue Rasse munter darauf los. Erfolgreich, wie heute guten Gewissens und stolz gesagt werden kann! Denn sowohl hier in Deutschland als auch in verschiedenen anderen europäischen Ländern (z. B. in den nordischen Staaten und in den Niederlanden), ja sogar in Südafrika!! gibt es inzwischen tausendfache Nachkommenschaft des Memeler Hochfliegers. Für den Luftfrachtversand der Tauben nach Südafrika zimmerte Richard Krosien junior eigenhändig!! eine Spezial-Versandkiste: leicht, stabil, genügend geräumig! Diese Versandkiste hätte er sich gut und gern patentieren lassen können! Den Tauben bekam übrigens überall die gegenüber Memel doch recht andersartige Luft gut!
Memelländischer Geist im geteilten Deutschland An dieser Stelle einige Randbemerkungen zur Nachkriegspolitik in Deutschland, einem unerfreulichen Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit. Während hier in der Bundesrepublik Deutschland die memelländische Züchtervereinigung weiterhin ihren traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" fortführen durfte, mussten sich die Züchter des Memeler Hochfliegers in der ehemaligen Sowjetzone und späteren, heute nicht mehr existierenden Deutschen Demokratischen Republik unter der Bezeichnung „SZG Memeler Hochflieger" (SZG bedeutet Spezial-Zucht-Gemeinschaft) betätigen. Trotz dieses Unterschiedes muss heute klar und deutlich gesagt werden: Dort waren die Züchter genau so zielstrebig wie hier! Auch dort waren ehemalige Memelländer am Werk, die wussten, was sie wollten, und die viel von den Memeler Hochfliegern verstehen! Auch politische Knebelung konnte sie nicht daran hindern, diese Rasse wieder hochzupäppeln. Die Verbindungen hinüber und herüber rissen zu keiner Zeit ab.
Fazit: In ganz Restdeutschland ging`s mit dem Memeler Hochflieger beständig aufwärts. Wie sehr, konnte und kann jeder auf den alljährlichen Taubenausstellungen in Ost und West, in Nord und Süd sehen!
Das Gestern heute Was aus den zurückgelassenen „Differts" ( Tauben ) geworden ist, weiß niemand so recht. Kodderig wird`s ihnen aber bestimmt ergangen sein! Wie den Menschen dort, deren Lebensstandard und Wohnverhältnisse jeder Memelländer heute als Besucher seiner früheren Heimat ja selbst sehen kann. Fest steht aber mit Sicherheit: Rasserein gibt es den Memeler Hochflieger dort wohl nicht mehr. Mit anderen Rassen und „Feldflüchtern" werden sich die „Memeler" vermischt haben - wie die Menschen das dort ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Herkunft auch oft getan haben. Das bedeutet ja nichts Schlechtes! Wo die Liebe gerade hinfällt! Jedoch reinrassige Memeler Hochflieger sind`s halt eben nicht mehr!
Aber es gibt im heutigen Litauen auch litauische Taubenzüchter, die von fern hinter die Merkmale der memelländischen Rasse zu kommen bemüht sind. Viele Fragen - viele Antworten! Viele Bitten - viele Hilfen zur Selbsthilfe! Nur - die Tradition ist schwer an fremde, anders denkende Menschen zu vermitteln. So etwas muss eigentlich wachsen, so wie das bei den Memeler Züchtern seit langem der Fall ist. Dennoch herrscht Freude darüber, dass Menschen anderer Zunge und Herkunft im Memelland Interesse an dem Memeler Hochflieger zeigen.
Der traditionelle Zuchtverein lebt weiter Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland haben sich die beiden - aus rein politischen Gründen - getrennten Taubenvereine des Memeler Hochfliegers ab 1991 wieder unter ihrem traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" zusammengeschlossen. Eine der ersten Aufgaben des neuen/alten Klubs war die Erstellung eines zeitgemäßen, einheitlichen Standards für diese Rasse. Im Laufe der unnatürlichen, politischen Teilung Deutschlands hatte sich doch so einiges auseinanderentwickelt. Jetzt liegt eine moderne Musterbeschreibung für den Memeler Hochflieger vor. Der Verein hat praktikable Bestimmungen für seinen Vorstand, für die Finanzen und für die Ehrungen verdienter Mitglieder erarbeitet. Und die Tauben - die eigentliche Seele im Leben der Züchter dieser Rasse - können wieder „hoch fliegen", denn auch der Hochflugsport wurde in einer zeitgemäßen Hochflugordnung geregelt. Schon heute - und bald hoffentlich viel öfter - werden Menschen in vielen Gegenden Deutschlands und der Welt ihren Blick himmelwärts richten, um die hoch oben ihre Kreise ziehenden Memeler Hochflieger zu beobachten. Das war im Memelland an vielen Tagen - vor allem an den Wochenenden - so. Und so wird es wieder sein!
Summasummarum: Alles beste Voraussetzungen für eine gedeihliche Zukunft des Memeler Hochfliegers - in der neuen Heimat!
Die Zukunft hat schon begonnen 1996 hatte der „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" seinen 75. Geburtstag. Ja, so lange ist diese Taubenrasse schon organisiert! Das ist doch was! Beim 100. Geburtstag gibt`s auf jeden Fall den vorerst absoluten Höhepunkt in dessen Vereinsgeschichte! Das wird ein Fest werden! Dann sollen weitere - hoffentlich friedlichere - 100 Jahre für den Memeler Hochflieger anbrechen. Auf jeden Fall: Der Name „Memeler Hochflieger" wird zu jeder Zeit und überall, wo diese Rasse gezüchtet oder gezeigt wird, Zeugnis davon ablegen, wo die Stammheimat dieser Tauben gewesen ist. Mancher wird möglicherweise so veranlasst, in einen Atlas oder in ein Lexikon zu schauen, weil er nichts mehr von einem Memel gehört hat, das ja ab 1945 Klaipeda heißt.