Flegeljahre
Flegeljahre
Von Gerhard Krosien
Alle Jungs kommen mal in die Flegeljahre, sonst sind das keine richtigen Jungs. Auch Schmelzer Bowkes müssen sie durchlaufen. Was ist aber, wenn sie gerade diese wichtigen Jahre nicht in Schmelz, sondern irgendwo in der Fremde verbringen? Klar, dann "absolvieren" sie sie eben dort, wo sie gerade sind! Solch eine „Variante" war mir - leider - bestimmt.
Zu Hause war ich ja noch zu klein, um groß zu „flegeln". Aber in Osterode/Ostpreußen, meiner ersten Fluchtstation, ging es schon los damit. Ganz, ganz selten nur Schule, viel Freiheit – das heißt kaum Kontrolle durch den Vater (der ist ja an der Front) und durch die Mutter (die hat genug mit den Jüngeren zu tun). Da kommen Jungen schon mal auf dumme Einfälle. Ein paar Münzen bekam ich jeden Morgen von Mutter in die Hand gedrückt. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie tat das, um uns Bowkes tagsüber für einige Stunden los zu sein! Denn meinem Bruder und meinem Cousin, dem mit seiner Mutter, ging das ebenso.
Unser erster gemeinsamer Gang im Tagesablauf führte uns immer in einen Gemüseladen in der Hauptstraße. Dort kauften wir uns für wenig Geld eine große Spitztüte Tomaten. Von denen konnte man "Rippen" abtrennen und die Tomaten somit gut portioniert über den Tag verteilen. Das war dann auch unsere „Wegzehrung“ für den lieben langen Tag.
Dann nahmen wir - es war ja Sommer - ein erfrischendes Bad im Fluss oder in einem der vielen Seen rund um Osterode. Und da Wasser bekanntlich zehrt, verspürten wir gegen Mittag bald Hunger. Ihn stillten wir für 50 (Reichs-)Pfennig mit „Stammtisch", das war heißer Schmorkohl mit Pellkartoffeln, in einem Restaurant dort am Bahnübergang, wo man uns Bowkes als „Stammtischler" tagtäglich längst zu erwarten schien.
Am beschrankten Bahnübergang unterhalb des Krankenhauses lungerten wir Bowkes besonders gern herum. Aus den vorbeifahrenden Zügen flogen dort nämlich öfters Bonbons und andere Süßigkeiten vor unsere Füße. Sicherlich sahen wir für manche Fahrgäste wohl ein bisschen hilfsbedürftig aus, denn wir sammelten alles dort Hingeworfene auf. Geschmeckt hat das auch, gekostet nichts!
Wenn uns Bowkes dann mal der Hafer besonders stach, kletterten wir einfach auf den roten Wasserturm im Park nahe der Wohnung meiner Tante. Dort ließen wir die Beine irgendwo von einer Plattform baumeln und betrachteten uns Osterode von oben herab. So ganz ungefährlich war dieser „Spaß" allerdings nicht! Aber es ist ja immer gut gegangen.
Eines ärgert mich aber heute noch. Das ist der Verlust meines Fahrtenmessers, eines Geschenks meines seinerzeit an der Ostfront weilenden Vaters. Auf einem Streifzug durch die schöne Umgebung Osterodes war es plötzlich weg. Da half auch intensives Suchen nicht! Futsch ist futsch! Wer weiß, ob es inzwischen jemand gefunden hat oder ob es mit der Zeit verrostet ist?
In Pommern, meiner zweiten Fluchtetappe, war für Flegeljahre leider keine Zeit. Da Vater damals immer noch an der Ostfront war, hieß es für mich: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und Arbeit gab's auf dem Bauernhof, auf den unsere gesamte Familie gesteckt worden war, mehr als genug. Dort hatte man bald erkannt, dass wir Schmelzer Bowkes doch so einiges an überschüssiger Kraft besaßen. Und die wurde mit Dreschen, Stallausmisten und Dungstreuen von den Bauersleuten weidlich ausgenutzt. Uns „Flegeln“ blieb eigentlich nur noch dafür Zeit, die Dorfköter an ihren Ketten so zu reizen, dass wir manchmal - wenn die Köter frei umherliefen und sich also gegen uns wehren konnten - weite Umwege machen mussten, um unser Ziel ungebissen zu erreichen.
Und dann die ganz anderen Zeiten in der neuen Heimat: in Bremervörde. Arbeit, Arbeit, Arbeit - Not. Da hieß es, vor allem in der schweren Nachkriegszeit: „den Kopf immer schön über Wasser halten“. Für Flegeljahre war da überhaupt keine Zeit! Es wurde erst langsam besser. Aber da war es durch Schule und Beruf schon zu spät für richtige Flegeljahre. Ob ich da in meinem Leben etwas Wichtiges versäumt habe? Das werde ich wohl nie erfahren!