Taubensonntag in Memel-Schmelz

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Von Gerhard Krosien


Es war wieder so weit! Sonntag war's. Und noch ganz früh. Da wurde auch schon von jemand der Riegel an der Pforte mit einigem unüberhörbaren Geräusch zur Seite geschoben. In den noch stillen Hof, vorn von der kleinen Pforte für Menschen und einem breiten zweiflügeligen Tor für Fuhrwerke oder ähnliche Gefährte, sonst von einem zweieinhalb Meter hohen, dick braun-schwarz mit Karbolineum imprägnierten Bretterzaun mit Traufbrett obenauf eingerahmt, stapft ein älterer Mann in blauem Anzug, weißem Hemd ohne Krawatte und mit blauer Schirmmütze auf dem Kopf. In der linken Hand trägt er einen geflochtenen Weidenkorb mit Tauben darin. Er gibt seine Ankunft erst gar nicht im Hause bekannt. Vielmehr setzt er sich an einen mitten im Hof stehenden, von mehreren Stühlen und Hockern umgebenen Tisch, holt seine Tabakpfeife heraus und schmaucht sie an. So, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt sei und nie anders sein könnte!

Nach und nach kamen noch mehr Männer auf dem Hof an, ebenfalls in dunklem Anzug, mit Schirmmütze auf dem Kopf und Weidenkorb in einer Hand. Nach wort- und gestenreicher Begrüßung setzten auch sie sich - wie selbstverständlich - irgendwo an den Tisch und stellten ihre "Mitbringsel" etwas seitlich davon ab. Ein munteres Geschabbere hinüber, herüber und durcheinander folgte. Irgendwann kam auch der Hausherr, mein Vater, dazu, ganz offensichtlich der Jüngste unter all den Ankömmlingen. Auf dem Tisch standen bald Teller mit belegten Broten und Gänseschmalzstullen, eine Kanne Kaffee, Milch, Zucker und einige Tassen. Die Männer griffen zu und ließen es sich schmecken, als ob die Bewirtung wie selbstverständlich zu ihrem Kommen gehört hätte!

Alle diese Männer waren Taubenzüchter von Schmelz, "aus der Stadt" (gemeint war Memel!) oder sonstwoher aus der Umgebung und von der Kurischen Nehrung. Sie hatten mal wieder "ihren Tag" und wollten "ihre Differts splissen", wie sie sagten.

Und dann ging's los! Zuerst wanderten die mitgebrachten Tauben und einige "Auserwählte" aus dem Taubenschlag des Hausherrn durch die Hände der Männer. Die Tiere wurden von allen Seiten begutachtet, deren Flügel gespreizt, deren Köpfe hin- und hergedreht, die Augenfarbe, die Kopfform und der kurze Schnabel kritisch in Augenschein genommen, quasi die Tauben von oben bis unten gemustert. Da war von Fahlen, von Schwarzweißspitzen, von Tippelköpfen, von Rotbunten und von wer weiß noch was die Rede. Fachleute unter sich! Mit Kennerblick wussten sie ohne viele Umstände sogleich die Qualität der Tiere einzuschätzen.

Nach diesem Fach-Palaver war die Hauptsache, der Hochflug, dran. Die "Taubenkapteins" entließen ihre "Lieblinge" aus den Weidenkörben, der Hausherr öffnete die Luke des Taubenschlags. Und schon schraubte sich ein Pulk Memeler Hochflieger höher und höher in den morgendlichen Himmel.

Die Männer platzierten sich daraufhin wieder rund um den Tisch. Einige rauchten ihre Pfeifen oder ihren Stumpen weiter, einige schoben sich ein Stück Priem hinter die Backenzähne, andere genehmigten sich eine Prise "Schniefke" aus mitgebrachter Schnupftabakflasche, wieder andere kramten einen Flachmann aus irgendeiner Jackentasche hervor, nahmen ein "Schlubberche" und ließen die Flasche kreisen. Ein Bild des Friedens, des Vertrautseins, der Gemeinschaft!

Oft wurde mit zusammengekniffenen Augen in die Höhe geschaut, wo ihre "Lieblinge" am blauen Himmelszelt, nahezu in den Wolken, im Kreise flatterten - genau über den Kapteins. Gesprächsfetzen, Ausrufe der Freude, aber manchmal auch des Entsetzens waren zu hören. Letztere besonders dann, wenn plötzlich ein "Hawke" - ein Habicht - in den flatternden Kreis am Himmel fuhr, wenn die Federn da oben dann nur so stoben und ein "Liebling" wohl daran glauben musste. Dann wurde von allen rasch ein Brett ergriffen und damit laut krachend gegen den Bretterzaun geschlagen. Sogar wir Kinder mussten oft dabei mitmachen! Ob es geholfen hat, dass der hungrige Habicht vor Schreck seine Beute fahren ließ, was ja der Zweck der Krachmacherei sein sollte, kann heute nicht gesagt werden. Manchmal schien diese Krachmacherei aber doch Erfolg gehabt zu haben. Denn Vater nähte dann später wie ein gelernter Schneider mit Nadel und Faden den einen oder anderen zerrissenen Kropf oder sonst etwas an einer Taube zusammen. Meist überlebten seine "Patienten" diesen "Eingriff" auch! Jedenfalls legte sich bald darauf die Erregung bei den versammelten Taubenkapteins, wenn manchmal später auch einer von ihnen den Verlust eines "Lieblings" zu beklagen hatte.

Da der Hochflugtaubensport viele Stunden dauerte, mussten die Taubenzüchter sehr viel Sitzfleisch und viel Ausdauer beweisen. Oft reichte der "normale" Tag nicht aus. Jedenfalls schleppten die Hausfrau, meine Mutter, und einige inzwischen eingetroffene Verwandte von Zeit zu Zeit immer wieder Eß- und Trinkbares zu dem Tisch mitten im Hof. Wie selbstverständlich bedienten sich die "Fachmänner". Wie selbstverständlich ließen sie sich auch mittags mit Speise und Trank bewirten. Es wurde ja auch genug angeboten! Am Nachmittag mundete allen auch der Raderkuchen als Vesperschmaus recht gut. Und die belegten Stullen am Abend waren auch nicht zu verachten. Wenn die Tauben wieder "unten" waren, gingen die Schmelzer und die Memeler Züchter mit ihren "Lieblingen" nach Hause. Auswärtige Taubensportler blieben aber oft "übernacht" oder sogar für ein paar Tage da. Sie fanden immer eine Logiergelegenheit im Hause. Memelländische Gastfreundschaft!

Ja, so sah mancher Sonntag im früheren Memel-Schmelz aus!

Nach vielen, vielen Jahren schreibt ein litauischer Taubenzüchter, der den früheren Brauch aus eigenem Erleben kannte: „Euer Grundstück gibt es so wie früher nicht mehr. Auch Memeler Hochflieger fehlen dort. Ebenso sauber gekleidete, fachkundige Taubenkapteins. Ich finde: Das Bild des Friedens, des Vertrautseins, der Gemeinschaft von früher gibt es heute auch nicht mehr!"

Andere Zeiten, andere Sitten!


Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Krosien


(Priem = Kautabak
Raderkuchen = Ölgebäck)