Platjenwerbe und Stubben / Opfer von Krieg und Gewalt

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Erster Weltkrieg 1914-1918


Platjenwerbe

In der Chronik der Schule Platjenwerbe wird über die Zeit des 1. Weltkrieges ausführlich berichtet:

In unserem stillen Dorf zeigte sich in den Tagen vor Ausbruch des Krieges im Leben und Verhalten der Bewohner eine erklärliche Aufregung. Ernst und still waren alle beschäftigt, die Roggenernte zu beenden. Die sonst bei derselben vielfach herrschende Fröhlichkeit wollte nicht aufkommen. Wie ein Alp drückte es auf die Gemüter, alle fühlten den Ernst der schweren Tage.

Und als dann am Abend des 1. August die Nachricht von der Mobilmachung der Deutschen Heere zu Lande und zu Wasser unseren Ort durcheilte, sah man die Einwohner vielfach in Gruppen beisammenstehen und das gefürchtete Ereignis besprechen.

Vielfach hörte man die Meinung: Bei unseren jetzigen Heereseinrichtungen wird vermutlich der Krieg nicht lange dauern. Weihnachten sind wir wohl wieder zurück!.

Im Dorf beginnt wie überall ein hochherziges Treiben. Hilfsbereitschaft dominiert. Der neu gegründete Frauenverein ist unermüdlich tätig, Liebesgabenpakete ins Feld zu schicken. Es wird gestrickt, genäht und geschneidert. Geld wird gesammelt für Bedürftige, auch Kinder opfern ihre Sparbüchsen. Gesang- und Turnvereine veranstalten Wohltätigkeitskonzerte. Die Schulkinder sammeln Rohstoffe wie Gummi, Metall und Gold, später Bucheckern, Heilkräuter und die letzten Getreidekörner von den abgeernteten Feldern.

Doch bald kommen auch schon die ersten staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Getreide wird beschlagnahmt. Zum erstenmal taucht die Brotkarte auf. Es folgen Lebensmittelkarten und Kohlenkarten, auf die es zum Schluß gar nichts mehr gibt. Mehrere Kriegsanleihen wurden zur Zeichnung ausgelegt. Immer mehr muß rationiert werden, bis es zum Leben nicht mehr ausreicht. Die Preise laufen trotz staatlicher Gegenmaßnahmen davon, und der Typ des Hamsterers und Schibers läuft durch das Land.

Auch die erste Stellprobe für das spätere Flüchtlingsproblem findet schon statt. Vor den in Ostpreußen eingefallenen Russen flüchtend, trafen Anfang 1915 aus dem Kreis Pilkallen in Platjenwerbe drei Familien ein - acht Erwachsene und sieben Kinder. Nach Stubben kamen fünf Erwachsene und fünf Kinder. Allerdings konnten sie nach einigen Monaten zurückkehren.

1916 klingen in der Schulchronik noch einmal hoffnungsvolle Töne auf:

Die Berichte über die unvergleichliche Tapferkeit unserer Heere und ihrer Führer und die ungeahnten großen Erfolge zu Lande und zu Wasser wurden mit gerechtem Stolz gelesen und besprochen und dadruch der Glaube an unseren Sieg immer mehr befestigt.

Doch die Tatsachen beleuchten die wachsende Not. Das Mehl wurde mit Kartoffelmehl gestreckt. 3,3 kg Schwarzbrot kosten eine Mark. Die Futtermittel für die Landwirte verteuern sich. 1916 zahlten sie für einen Zentner Heu 8,50 Mark, ein Jahr später 20 Mark. Stroh kostete erst 3 Mark, dan 9,50 Mark. Ausländisches Gerstenfuttermehl wurde mit 35 Mark pro Zentner bezahlt, Maiskörner mit 36 Mark. Infolge dieser Teuerung mußte der Viehbestand verringert werden, wodurch wiederum Fleisch und Butter knapper und teurer wurden. Ein Pfund Butter kostet 2,55 Mark, ein Dutzend Eier 2,80 Mark - wenn sie überhaupt zu bekommen waren.


Im ersten Kriegsjahr wurden 54 Mann eingezogen, 1915 nochmals 44. In der Schulchronik sind die Namen der Soldaten, wo sie gekämpft haben, verwundet wurden oder gefallen sind aufgeführt.

Die auf dem Kriegerdenkmal in der St.-Magnus-Straße ursprünglich genannten Soldaten waren:


gefallen 24.08.1915 bei Mariampol (Litauen), dort begraben
Schulterschuß, Schuß durch beide Oberschenkel, Gasvergiftung
gefallen 17.07.1916 an der Somme
Tischler
gefallen 29.07.1917 Galizien
Maschinenbauer
  • Harenborg, Johann
gefallen 19.11.1916 bei Miraumont (Frankreich)
gefallen 07.09.1914 Biala (Ostpreußen), dort begraben
Kopfschuß
Gefreiter, Dreher auf der A.G.Weser in Bremen
gestorben 29.08.1915 in Frankreich (Lazarett), dort begraben
Ruhr
Stellenanerbe
gefallen 07.09.1916 an der Somme
Arbeiter
gefallen 10.08.1915 Krasme, dort begraben
Wirbelsäulenschuß und Oberschenkelbruch
Maurermeister
gefallen 15.04.1916 bei Dünaburg
Arbeiter
gefallen 12.12.1918 Rußland (?)
Arbeiter
gestorben 16.09.1916 Frankreich
Verwundung
Arbeiter
gefallen 24.06.1917 Frankreich
Maurer


Leider wurde die Bronzetafel gestohlen, sie wurde ersetzt durch eine einfache Steintafel mit der Inschrift:

Den Opfern
Zweier Weltkriege
Zum Gedächtnis
1914-18 1939-45



1921 Einweihungsfeier S. 1.jpg
1921 Einweihungsfeier S. 2.jpg
Kriegerdenkmal Platjenwerbe aus einer Festschrift der St. Martinikirche zu Lesum von 1929
Das Denkmal im Jahr 2014
Steinplatte im Jahr 2014

Einweihung des Kriegerdenkmals in Platjenwerbe am 26. Juni 1921

Aus der Schrift zur Einweihung des Denkmals

Am 20. Februar 1920 wurde vom Gemeinde-Ausschuß beschlossen, den Söhnen und Mitgliedern unserer Gemeinde, welche in dem großen Kriege ihr Leben gelassen haben, ein würdiges Denkmal zu setzen.

Ein Entwurf von Herrn Gartenarchitekt Chr. H. Roselius wurde zur Ausführung bestimmt.

In großer Dankbarkeit für unsere Gefallenen haben sich unsere Bewohner des Denkmalbaues angenommen; die Gemeinde hat sich, jeder nach besten Kräften, selbst geholfen und die geplante Durchführung ermöglicht. Die von den vielen Bewohnern gestifteten Feldsteine wurden vom erfahrenen Maurermeister Christoffer Eilers, Lesum, mit seinen Gehilfen kunstgerecht zusammengebaut, die Bronze-Tafel von einer Dresdner firma in besonders schöner getriebener Handarbeit geliefert.

Am Eingange zum Ehrenmale halten gleichsam Wache zwei größere Findlinge. Der linke wurde von dem Mitbürger Meyer gestiftet. Der Stein hat hier im Dorfe wohl über 120 Jahre dem Schmiedehandwerk gedient. - Der rechte Findling wurde der Tiefe unserer Sandgrube entnommen. Alle, die mitgeholfen haben, diesen schweren Stein seinem schöneren Berufe zuzuführen, werden gewiß noch in späteren Jahren des denkwürdigen Transport-Abends gedenken.

Die gärtnerischen Arbeiten wurden von kundiger Hand ausgeführt und während der großen Trockenheit liebevoll gepflegt.
Ihnen allen, die so geholfen haben, gebührt unser besonderer Dank.

So wird kommenden Geschlechtern einst Zeugnis geben von einer großen, traurigen Zeit - aber auch Zeugnis ablegen von Opfersinn und Liebe zur heimatlichen deutschen Erde.

Möge den kommenden Geschlechtern aus den Gebeinen unserer Gefallenen dermaleinst eine größere, hoffnungsvollere Zeit entstehen.

Seedorf
Vorsteher der Gemeinde.




Kriegstagebuch Titelseite s-w.jpg

Hinweis:


Ein Tagebuch von Arnold Bruns senior aus Platjenwerbe Nr. 1 über seinen Einsatz im 1. Weltkrieg befindet sich auf der Seite
Berichte von Zeitzeugen, Erzählungen und Überlieferungen

Kriegstagebuch des Kanoniers Arnold Bruns - Platjenwerbe - 1916-1918

Ersatz Bataillon Fußartillerie Regiment Nr. 15 II.
Batterie - Graudenz – Deutsch Wangerau
und
3. Batterie I. Batallion. Reserve Fußartillerie Regtiment Nr. 4 - im Felde



Stubben

Ort Stubben bei Lesum Kriegerdenkmal (1).JPG
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Kriegerdenkmal von Stubben an der Wollaher Straße, erbaut 1920, Gesamtansicht, 2009



  • Behrens, Albert
gefallen 05.10.1916 an der Somme
vermißt 20.10.1918 Westfront
Hofbesitzer
gestorben 27.11.1914 Rostock, in Lesum begraben.
schwere Krankheit während der Ausbildung
Kaufmann
  • Meyer, Friedrich
gefallen 15.04.1917 Verdun
gefallen 31.01.1915 bei Arras
Maurer
verwundet 11.04.1915 bei St.Pierre Dinon, bald darauf verstorben, dort begraben.
Granatsplitterwunden am Hals, Rücken und Bein
Werftarbeiter
  • Strudthoff, Hermann
gefallen 15.10.1918 Frankreich
gefallen 30.10.1916 Frankreich
Tischler


Quelle: KRUMPETER, Jürgen: Platjenwerbe und Stubben: Gang durch die Geschichte, Osterholz-Scharmbeck, 1985, S.36-37.


1933-1945 - Militärangehörige und Zivilpersonen aus Platjenwerbe

Der Bäckermeister Arnold Bruns (1875-1952), der auch im ersten Weltkrieg Tagebuch führte, hat in einer kleinen schwarzen Kladde mit Bleistift die Kriegsereignisse und das Leben im Dorf während des zweiten Weltkrieges tagebuchartig aufgezeichnet. Die Kladde selbst ist verschwunden (2022), aber Jürgen Krumpeter führt in seinem Buch „Platjenwerbe und Stubben“ weite Auszüge auf, die die Unmittelbarkeit seiner Eindrücke lebendig werden lassen. Der zweite Weltkrieg


In Kriegshandlungen gefallene und vermißte sowie in Gefangenschaft gestorbene Soldaten

Nachname Vorname Geburtsdatum Sterbedatum Ort/Frontabschnitt Dienstgrad/Funktion Letzter Wohnort
Behrens Friedrich 08.04.1914 14.06.1942 Warschau, Rela.I Obergefreiter Stubbenerstr.
Brinkmann Dieter 13.11.1921 25.12.1944 Daleiden/Trier Obergefreiter Wollaherstr.
Buschhorn Günter 16.11.1926 Dorfstraße
Dodt Bernhardt 09.05.1925 27.01.1945 Lenas, südl. Schrunden/Lettland Grenadier Schulstraße
Feldhusen Johann 13.09.1946 Lazarett in Oberneuland Dorfstraße
Gerull* Ernst 07.11.1911 06.08.1942 im Osten Obergefreiter St. Magnusstr. 25
Harenborg Louis 28.04.1909 08.06.1940 Doullens/Frankreich Oberleutnant Fredeholz (Pl. 22)
Hashagen Alfred Adolf 06.12.1914 30.11.1942 H.V.Pl. Sanko 2/290/Rußland Unteroffizier Schulpfad
Hashagen Martin H. 05.01.1924 05.07.1943 Krasnaja Slobotka/Orel Grenadier Dorfstraße (St. 03)
Hasselbach Heinz 16.03.1920 08.03.1942 Kishkino, Rußland Gefreiter Auf der Heide 1 (St. 11)
Kettenburg H.Günther 16.03.1925 01.06.1944 Rocca Priora/Italien Kanonier Schulpfad
Likrau Edelbert 27.02.1913 01.07.1941 Nordausgang Jeziornica/Weißrußland Koppelweg
Müller* Gerhard 11.12.1923 13.01.1945 Deutschland Obergefreiter Stubbenerstr.(Tiedemann)
Nietert Georg 17.10.1904 17.05.1944 Res. Lazarett Warschau Obergefreiter Auetalweg (Pl. 30)
Orthmann* Waldemar 25.09.1919 26.09.1944 Frankreich Seefahrerstr.
Schnibben Fred 31.12.1927 01.03.1945 Greifenhagen/Kolbitzow Auetalweg (Pl. 30)
Schrader Heinrich 23.05.1910 07.02.1943 Woronesh/Gremajatschje, Rußland Schmiedeweg 15 (Pl. 36)
Schrader Bernhard 17.08.1912 26.12.1942 Krakau Feldwebel Schmiedeweg 15 (Pl. 36)
Schrader Alfred 08.06.1919 30.03.1942 H.V.Pl. Usadba, B.Shistra Obergefreiter Schmiedeweg 15 (Pl. 36)
Seebeck* Christian 21.09.1912 09.03.1945 Lazarett in Oldenburg Wachtmeister
Siemer Heinrich 15.04.1924 28.10.1943 Krugi, Dymer/Ukraine Grenadier St. Magnusstr. (Pl. 14)
Wessel Albert 19.06.1911 02.02.1942 Subzow/Rußland Gefreiter Stubbenerstr.
Wolf Dietrich 1902 06.11.1946 Lagerkrh. 3318 Sewastopol Obergefr./Schütze Auetal-Weg 3 (Pl. 21)
Wulf* Johann 10.08.1908 13.08.1944 Sidgunde/Lettland Gefreiter Auetalweg 3

Durch unmittelbares Kriegsgeschehen im Ort getöteter Bewohner

Nachname Vorname Geburtsdatum Sterbedatum Ort Letzter Wohnort
Köster Hermann 21.01.1869 26.04.1945 Schulstraße - getroffen von einer Artilleriegranate Auf dem Kamp (Pl. 33)

Durch Ermordung ums Leben gekommene Personen

Nachname Vorname Geburtsdatum Sterbedatum Ort Letzter Wohnort
Sinasohn Leopold 22.01.1877 10.11.1938 Platjenwerbe - von SA in seinem Haus erschossen Dorfstr. 62
Banehr Ella Margarete 14.05.1916 02.05.1944 Filiale Irsee der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren - Ermordung nach Euthanasie-Gesetzgebung, Details unter Ergänzende Angaben [1] und Lindenstr. (Pl. 7)

Die Ermittlung der Personen erfolgte durch Befragung der älteren Dorfbewohner im Jahre 2009.
Die mit * gekennzeichneten Personen wurden von Jürgen Krumpeter in seiner Schrift "Gang durch die Geschichte Platjenwerbe und Stubben" zusätzlich benannt.
Die Daten für die Wehrmachtsangehörigen sind, soweit vorhanden, aus dem "Gräbernachweis des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V." entnommen.

Stand der Ermittlungen: 06.11.2009


Ergänzende Angaben


Leopold Sinasohn,
geb. 22.01.1877 in Naumburg, ermordet in der Reichsprogromnacht am 9./10.11.1938 in Platjenwerbe

Leopold Sinasohn, jüdischer Herkunft, wurde in Naumburg/Saale geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Emanuel Sinasohn und Anna Sinasohn, geb. Mendershausen, verzogen von dort nach Berlin, wo Leopold das Mechanikerhandwert erlernte. Anschließend fuhr er mehrere Jahre zur See, bevor er seinen Militärdienst in Frankfurt an der Oder leistete.

1909 heiratete Leopold Sinasohn Emma Königsmark (1888-1933) aus Parey bei Magdeburg. Mit ihr zog er 1911 nach Kiel, als er dort eine Anstellung als Elektromonteur bei Siemens-Schuckert-Werke AG gefunden hatte. Noch im gleichen Jahr versetzte ihn die Firma in ihre Abteilung "Schiffbau" bei der Werft AG "Weser" in Bremen, wo er zum Obermonteur und Mitglied des Technischen Büros avancierte und sogar mit der Montageaufsicht beim Einbau elektrischer Anlagen auf Kriegs- und Handelsschiffen betraut wurde.

Das Ehepaar Sinasohn wohnte in der nähren Umgebung der Werft in Gröpelingen, die Söhne - Paul am 8. Mai 1912 und Waldemar am 14.11.1913 - wurden hier geboren. 1914 zog die Familie nach Platjenwerbe, das Dorf wurde zu ihrem Heimatort. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Marine einberufen, kehrte Leopold Sinasohn schon 1917 in seine Firma zurück, vom "Waffendienst" dank seiner hohen Qualifikation freigestellt.

Durch Fleiß und Sparsamkeit konnten die Sinasohns ein Grundstück in Platjenwerbe erwerben und ein Haus in der Dorfstr. 62 bauen. Sie fühlten sich bis in die Nazizeit hinein von der Dorfgemeinschaft "völlig akzeptiert". Die Söhne wurden im Sinne ihrer Mutter christlich erzogen. Im Dorf spielten Paul und Waldemar, in späterer Zeit auch ihr nachgeborener Bruder Karl-Heinz, eine überragende Rolle als Vereinssportler, ihre Eltern nahmen am gesellschaftlichen Leben des Ortes ebenso regen Anteil.

Als Emma Sinasohm 1929 schwer nierenkrank wurde, änderte sich das bis dahin frohe Leben im Hause Sinasohn. Am 17.02.1933, kurz nach dem Machtantritt der Nazis, entließ man Leopold Sinasohn aus seiner Firma, angeblich wegen "Arbeitsmangels"; im Oktober des gleichen Jahres starb seine Frau. Nachbarn und Freunde kümmern sich um den bescheidenen Mann, der dem Männerchor und der Feuerwehr angehörte und dem das Dorf zum Teil die Elektrifizierung verdankte, wie Bäckermeister Arnold Bruns zitiert. Aber Trauer und Existenzangst und die Sorge um die Zukunft seiner vom Arierparagraphen bedrohten Söhne verdüsterten seine letzten Lebensjahre.

Nach der Reichsprogromnacht schleicht sich in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 ein in Lesum zusammengestellter SA-Trupp in die Dorfstraße, holt den 61-jährigen Leopold Sinasohn aus dem Bett, tötet ihn mit mehreren Schüssen und verscharrt den Leichnam nach einem gespentisch anmutenden Transport auf einer Wiese in der Nähe des Gasthauses "Lambckens Garten" in Wollah. Dort wird das Platjenwerber Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes wenig später entdeckt, weil ein Arm aus dem Acker ragt. Leopold Sinasohn hat danach seine letzte Ruhestätte auf dem Lesumer Friedhof gefunden.

Die Verfolgung der Familie Sinasohn hatte damit kein Ende gefunden. Bis Kriegsschluss waren Paul und Waldemar Sinasohn in Arbeitslagern interniert. Beide überlebten, ihr Bruder Karl-Heinz kehrte als schwerverletzter Soldat zurück.

um 1920 - Karl-Heinz, Leopold, Paul, Emma und Waldemar Sinasohn

Der Lesumer Bürgermeister Fritz Köster und der SA-Scharführer August Frühling aus Lesum und andere müssen sich 1948 vor dem Landgricht Bremen verantworten. Frühling wird zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, der Hauptangeklagte Köster zu lebenslanger Haft. Vorsatz liegt nach Ansicht des Gerichts nicht vor. Köster geht in die Revision, die Strafe wird auf 15 Jahre herabgesetzt, der Verurteilte 1953 vorzeitig entlassen. Anschließend arbeitet der Mann, der die Goldbergs in Burgdamm und Sinasohn in Platjenwerbe erschießen ließ, bei der Horten AG in Düsseldorf, später als Berater für die Vegesacker Lürssen-Werft. Und August Frühling wird 1951 auf Veranlassung des US-amerikanischen Hohen Kommissars für Deutschland begnadigt.

Quelle und Literatur: Rolf Rübsam: Sie lebten unter uns. Zum Gedenken an die Opfer der "Reichskristallnacht" 1938 in Bremen und Umgebung, Bremen 1988. Grundlage: Familiendokumente und Fotos, Zeitzeugen.
Auszugsweise aus "Erinnerung an Nazi-Morde" von Klaus Grunewald, veröffentlicht in den "Bremer Nachrichten" am 05.11.2013

Quellen:
Rolf Rübsam †, Bremen-Lesum
(Lesumer SA-Trupp)
(Familie Goldberg in Burgdamm)





Ella Banehr um 1918


Ella Margarete Mariechen Banehr

Ella Banehr wurde am 14. Mai 1916 in Burgdamm in der Kellerstraße als Tochter des Bahnarbeiters Diedrich Banehr und seiner Ehefrau Ella Catharine geb. Früchtenicht geboren. Sie war das zweite Kind, ihre ältere Schwester Lieselotte Ella wurde am 2. Juli 1913 in Bremen geboren.

Im Laufe der Jahre stellte sich heraus, dass Ella sich nicht normal entwickelte und behindert war, sie besuchte auch nur ein Vierteljahr die Volksschule in Platjenwerbe, wohin die Familie zwischenzeitlich gezogen war. Am 20.08.1940 verstirbt der Vater, vier Wochen später, am 23.09.1940 versucht die Mutter sich mit ihrer Tochter das Leben zu nehmen. Die Mutter ertrinkt in der Lesum, die Tochter kann sich retten oder wird gerettet. Als Vormund für Ella wird der Bäckermeister Arnold Bruns in Platjenwerbe eingesetzt.

Ende des Jahres 1940 wird das Staatliche Gesundheitsamt des Landkreises Osterholz eingeschaltet und am 9.12.1940 ein Gutachten durch den Amtsarzt erstellt. Darin werden die Symptome aufgeführt und zusammenfassend ein Schwachsinn erheblichen Grades festgestellt. Es wird auf eine Gefahr für das 6 Monate alte Kind der Schwester, die zwischenzeitlich geheiratet hatte, hingewiesen und eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt für unbedingt notwendig erachtet.

Am 27.03.1941 wird Ella in den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission unter der lfd. Nr. 4357 aufgenommen, ihr allgemeiner Zustand und ihr psychisches Verhalten werden diagnostiziert. Die Kosten für ihren Aufenthalt bestreitet die Familie zum Teil durch den Verkauf von Einrichtungsgegenständen.

Am 4.10.1941 werden die Rotenburger Anstalten aufgelöst und es erfolgt ihre Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt in Günzburg. Im Mai 1942 wird von dort der körperliche Zustand als gut beschrieben, Ella hat sich eingelebt, neigt aber durch ihr „widerstrebendes, gewalttätiges Wesen zu störendem Verhalten“

Am 16.11.1943 wird Ella in die Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren eingeliefert und bereits am 03.12.1943 erfolgt die Verlegung nach Irsee mit einer kurzen Bewertung. Am 02.05.1944 wird ein knappes Krankheitsbild erstellt – fortschreitende Tuberkulose, Abmagerung, versagende Herzkraft. Um 9 Uhr exitus. Im Leichenschauschein wird „Tuberculose der Lungen und des Darms“ diagnostiziert und die Freigabe zur Beerdigung ab dem 04.05.1944 von Dr. Faltlhauser festgelegt. Ella Banehr wurde auf dem erst im April 1944 neu angelegten „Euthanasie“-Friedhof (Abteilung I, Grab Nr. 23) hinter der Klosterkirche bestattet.

Der Name „Ella Banher“ taucht aber auch in den Opferlisten auf, deren Tötung der „Krankenschwester“ Pauline Kneißler zur Last gelegt wurden (Der Augsburger Strafprozess, Seite 210). In den Heil- und Pflegeanstalten wurden die Patienten nach dem „Hunger-Erlass“ des Bayerischen Innenministeriums vom 30.11.1942 durch sogenannte Schmal- oder Entzugskost, aber auch mit Tabletten und Injektionen ermordet. Entsprechend einer Zeugenaussage der Pauline Kneißler wurden die Patienten in Irsee mit Luminal oder Veronal, vereinzelt auch Trional in Tablettenform sowie Luminal und Morphium-Skopolamin getötet, Zahl und Stärke der Dosen waren ihr überlassen, die erforderlichen Medikamente bekam sie von Dr. Faltlhauser. Pauline Kneißler wird verhaftet und vor Gericht gestellt, kommt aber mit einer geringen Strafe davon. In den Irsee angeschlossenen Tötungsanstalten in Grafeneck und Hartheim wurden unter dem ärztlichen Direktor Dr. Faltlhauser in den Jahren 1940 und 1941 400 Menschen ermordet, in Irsee bis Kriegsende weitere 800 Menschen.

Quellen:
Dr. Diet­mar Schul­ze „Auch der ‚Gna­den­tod‘ ist Mord“ Der Augs­bur­ger Straf­pro­zess über die NS-„Eu­tha­na­sie“-Ver­bre­chen in Kauf­beu­ren und Ir­see“, Ir­see 2019
Uwe Ka­mins­ky, Über Le­ben in der christ­li­chen Ko­lo­nie – Das Dia­ko­nis­sen-Mut­ter­haus, die Ro­ten­bur­ger An­stal­ten der In­ne­ren Mis­si­on und die Rol­le der Vor­ste­her 1905-1955, Bre­men 2016

Verweise

Verlustlisten 1. WK Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e.V. / Gräbersuche