Platjenwerbe und Stubben / Opfer von Krieg und Gewalt
Diese Seite wird betreut von der Forschungsgruppe des Platjenwerber Heimatvereins. Bitte unterstützen Sie uns mit Bildern und Informationen: Nehmen Sie Kontakt auf ! |
Erster Weltkrieg 1914-1918
Platjenwerbe
In der Chronik der Schule Platjenwerbe wird über die Zeit des 1. Weltkrieges ausführlich berichtet:
In unserem stillen Dorf zeigte sich in den Tagen vor Ausbruch des Krieges im Leben und Verhalten der Bewohner eine erklärliche Aufregung. Ernst und still waren alle beschäftigt, die Roggenernte zu beenden. Die sonst bei derselben vielfach herrschende Fröhlichkeit wollte nicht aufkommen. Wie ein Alp drückte es auf die Gemüter, alle fühlten den Ernst der schweren Tage.
Und als dann am Abend des 1. August die Nachricht von der Mobilmachung der Deutschen Heere zu Lande und zu Wasser unseren Ort durcheilte, sah man die Einwohner vielfach in Gruppen beisammenstehen und das gefürchtete Ereignis besprechen.
Vielfach hörte man die Meinung: Bei unseren jetzigen Heereseinrichtungen wird vermutlich der Krieg nicht lange dauern. Weihnachten sind wir wohl wieder zurück!.
Im Dorf beginnt wie überall ein hochherziges Treiben. Hilfsbereitschaft dominiert. Der neu gegründete Frauenverein ist unermüdlich tätig, Liebesgabenpakete ins Feld zu schicken. Es wird gestrickt, genäht und geschneidert. Geld wird gesammelt für Bedürftige, auch Kinder opfern ihre Sparbüchsen. Gesang- und Turnvereine veranstalten Wohltätigkeitskonzerte. Die Schulkinder sammeln Rohstoffe wie Gummi, Metall und Gold, später Bucheckern, Heilkräuter und die letzten Getreidekörner von den abgeernteten Feldern.
Doch bald kommen auch schon die ersten staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Getreide wird beschlagnahmt. Zum erstenmal taucht die Brotkarte auf. Es folgen Lebensmittelkarten und Kohlenkarten, auf die es zum Schluß gar nichts mehr gibt. Mehrere Kriegsanleihen wurden zur Zeichnung ausgelegt. Immer mehr muß rationiert werden, bis es zum Leben nicht mehr ausreicht. Die Preise laufen trotz staatlicher Gegenmaßnahmen davon, und der Typ des Hamsterers und Schibers läuft durch das Land.
Auch die erste Stellprobe für das spätere Flüchtlingsproblem findet schon statt. Vor den in Ostpreußen eingefallenen Russen flüchtend, trafen Anfang 1915 aus dem Kreis Pilkallen in Platjenwerbe drei Familien ein - acht Erwachsene und sieben Kinder. Nach Stubben kamen fünf Erwachsene und fünf Kinder. Allerdings konnten sie nach einigen Monaten zurückkehren.
1916 klingen in der Schulchronik noch einmal hoffnungsvolle Töne auf:
Die Berichte über die unvergleichliche Tapferkeit unserer Heere und ihrer Führer und die ungeahnten großen Erfolge zu Lande und zu Wasser wurden mit gerechtem Stolz gelesen und besprochen und dadruch der Glaube an unseren Sieg immer mehr befestigt.
Doch die Tatsachen beleuchten die wachsende Not. Das Mehl wurde mit Kartoffelmehl gestreckt. 3,3 kg Schwarzbrot kosten eine Mark. Die Futtermittel für die Landwirte verteuern sich. 1916 zahlten sie für einen Zentner Heu 8,50 Mark, ein Jahr später 20 Mark. Stroh kostete erst 3 Mark, dan 9,50 Mark. Ausländisches Gerstenfuttermehl wurde mit 35 Mark pro Zentner bezahlt, Maiskörner mit 36 Mark. Infolge dieser Teuerung mußte der Viehbestand verringert werden, wodurch wiederum Fleisch und Butter knapper und teurer wurden. Ein Pfund Butter kostet 2,55 Mark, ein Dutzend Eier 2,80 Mark - wenn sie überhaupt zu bekommen waren.
Im ersten Kriegsjahr wurden 54 Mann eingezogen, 1915 nochmals 44. In der Schulchronik sind die Namen der Soldaten, wo sie gekämpft haben, verwundet wurden oder gefallen sind aufgeführt.
Die auf dem Kriegerdenkmal in der St.-Magnus-Straße ursprünglich genannten Soldaten waren:
- Bröcker, Arend, aus Platjenwerbe Nr.52 = Koppelweg Nr.24
- gefallen 24.08.1915 bei Mariampol (Litauen), dort begraben
- Schulterschuß, Schuß durch beide Oberschenkel, Gasvergiftung
- Eickhoff, Friedrich, aus Platjenwerbe Nr.24
- gefallen 17.07.1916 an der Somme
- Tischler
- Harenborg, Hermann, aus Platjenwerbe Nr.49 = Schulstraße Nr.15
- gefallen 29.07.1917 Galizien
- Maschinenbauer
- Harenborg, Johann
- gefallen 19.11.1916 bei Miraumont (Frankreich)
- Hashagen, Hermann, aus Platjenwerbe Nr.43 = Lindenstraße Nr.28
- gefallen 07.09.1914 Biala (Ostpreußen), dort begraben
- Kopfschuß
- Gefreiter, Dreher auf der A.G.Weser in Bremen
- Hashagen, Hinrich, aus Platjenwerbe Nr.15
- gestorben 29.08.1915 in Frankreich (Lazarett), dort begraben
- Ruhr
- Stellenanerbe
- Kröger, Wilhelm, aus Platjenwerbe Nr.7a
- gefallen 07.09.1916 an der Somme
- Arbeiter
- Meyer, August, aus Platjenwerbe Nr.60
- gefallen 10.08.1915 Krasme, dort begraben
- Wirbelsäulenschuß und Oberschenkelbruch
- Maurermeister
- Murken, Hinrich, aus Platjenwerbe Nr. 6
- gefallen 15.04.1916 bei Dünaburg
- Arbeiter
- Niebank, Heinrich, aus Platjenwerbe Nr.27
- gefallen 12.12.1918 Rußland (?)
- Arbeiter
- Sievers, Johann, aus Platjenwerbe 29a
- gestorben 16.09.1916 Frankreich
- Verwundung
- Arbeiter
- Tiedemann, Albert, aus Platjenwerbe Nr.62
- gefallen 24.06.1917 Frankreich
- Maurer
Leider wurde die Bronzetafel gestohlen, sie wurde ersetzt durch eine einfache Steintafel mit der Inschrift:
Den Opfern
Zweier Weltkriege
Zum Gedächtnis
1914-18 1939-45
Einweihung des Kriegerdenkmals in Platjenwerbe am 26. Juni 1921
Aus der Schrift zur Einweihung des Denkmals
Am 20. Februar 1920 wurde vom Gemeinde-Ausschuß beschlossen, den Söhnen und Mitgliedern unserer Gemeinde, welche in dem großen Kriege ihr Leben gelassen haben, ein würdiges Denkmal zu setzen.
Ein Entwurf von Herrn Gartenarchitekt Chr. H. Roselius wurde zur Ausführung bestimmt.
In großer Dankbarkeit für unsere Gefallenen haben sich unsere Bewohner des Denkmalbaues angenommen; die Gemeinde hat sich, jeder nach besten Kräften, selbst geholfen und die geplante Durchführung ermöglicht. Die von den vielen Bewohnern gestifteten Feldsteine wurden vom erfahrenen Maurermeister Christoffer Eilers, Lesum, mit seinen Gehilfen kunstgerecht zusammengebaut, die Bronze-Tafel von einer Dresdner firma in besonders schöner getriebener Handarbeit geliefert.
Am Eingange zum Ehrenmale halten gleichsam Wache zwei größere Findlinge. Der linke wurde von dem Mitbürger Meyer gestiftet. Der Stein hat hier im Dorfe wohl über 120 Jahre dem Schmiedehandwerk gedient. - Der rechte Findling wurde der Tiefe unserer Sandgrube entnommen. Alle, die mitgeholfen haben, diesen schweren Stein seinem schöneren Berufe zuzuführen, werden gewiß noch in späteren Jahren des denkwürdigen Transport-Abends gedenken.
Die gärtnerischen Arbeiten wurden von kundiger Hand ausgeführt und während der großen Trockenheit liebevoll gepflegt.
Ihnen allen, die so geholfen haben, gebührt unser besonderer Dank.
So wird kommenden Geschlechtern einst Zeugnis geben von einer großen, traurigen Zeit - aber auch Zeugnis ablegen von Opfersinn und Liebe zur heimatlichen deutschen Erde.
Möge den kommenden Geschlechtern aus den Gebeinen unserer Gefallenen dermaleinst eine größere, hoffnungsvollere Zeit entstehen.
Seedorf
Vorsteher der Gemeinde.
Hinweis:
Ein Tagebuch von Arnold Bruns senior aus Platjenwerbe Nr. 1 über seinen Einsatz im 1. Weltkrieg befindet sich auf der Seite
Berichte von Zeitzeugen, Erzählungen und Überlieferungen
Kriegstagebuch des Kanoniers Arnold Bruns - Platjenwerbe - 1916-1918
- Ersatz Bataillon Fußartillerie Regiment Nr. 15 II.
- Batterie - Graudenz – Deutsch Wangerau
- und
- 3. Batterie I. Batallion. Reserve Fußartillerie Regtiment Nr. 4 - im Felde
Stubben
- Behrens, Albert
- gefallen 05.10.1916 an der Somme
- Hashagen, Friedrich, aus Stubben Nr.18
- vermißt 20.10.1918 Westfront
- Hofbesitzer
- Jachens, Hermann, aus Stubben Nr. 5
- gestorben 27.11.1914 Rostock, in Lesum begraben.
- schwere Krankheit während der Ausbildung
- Kaufmann
- Meyer, Friedrich
- gefallen 15.04.1917 Verdun
- Meyer, Wilhelm, aus Stubben Nr.23
- gefallen 31.01.1915 bei Arras
- Maurer
- Rodenberg, Johann, aus Stubben Nr.6a
- verwundet 11.04.1915 bei St.Pierre Dinon, bald darauf verstorben, dort begraben.
- Granatsplitterwunden am Hals, Rücken und Bein
- Werftarbeiter
- Strudthoff, Hermann
- gefallen 15.10.1918 Frankreich
- Wessel, Hinrich, aus Stubben Nr.21
- gefallen 30.10.1916 Frankreich
- Tischler
Quelle: KRUMPETER, Jürgen: Platjenwerbe und Stubben: Gang durch die Geschichte, Osterholz-Scharmbeck, 1985, S.36-37.
1933-1945 - Militärangehörige und Zivilpersonen aus Platjenwerbe
Der Bäckermeister Arnold Bruns (1875-1952), der auch im ersten Weltkrieg Tagebuch führte, hat in einer kleinen schwarzen Kladde mit Bleistift die Kriegsereignisse und das Leben im Dorf während des zweiten Weltkrieges tagebuchartig aufgezeichnet. Die Kladde selbst ist verschwunden (2022), aber Jürgen Krumpeter führt in seinem Buch „Platjenwerbe und Stubben“ weite Auszüge auf, die die Unmittelbarkeit seiner Eindrücke lebendig werden lassen. Der zweite Weltkrieg
In Kriegshandlungen gefallene und vermißte sowie in Gefangenschaft gestorbene Soldaten
Nachname | Vorname | Geburtsdatum | Sterbedatum | Ort/Frontabschnitt | Dienstgrad/Funktion | Letzter Wohnort |
Behrens | Friedrich | 08.04.1914 | 14.06.1942 | Warschau, Rela.I | Obergefreiter | Stubbenerstr. |
Brinkmann | Dieter | 13.11.1921 | 25.12.1944 | Daleiden/Trier | Obergefreiter | Wollaherstr. |
Buschhorn | Günter | 16.11.1926 | Dorfstraße | |||
Dodt | Bernhardt | 09.05.1925 | 27.01.1945 | Lenas, südl. Schrunden/Lettland | Grenadier | Schulstraße |
Feldhusen | Johann | 13.09.1946 | Lazarett in Oberneuland | Dorfstraße | ||
Gerull* | Ernst | 07.11.1911 | 06.08.1942 | im Osten | Obergefreiter | St. Magnusstr. 25 |
Harenborg | Louis | 28.04.1909 | 08.06.1940 | Doullens/Frankreich | Oberleutnant | Fredeholz (Pl. 22) |
Hashagen | Alfred Adolf | 06.12.1914 | 30.11.1942 | H.V.Pl. Sanko 2/290/Rußland | Unteroffizier | Schulpfad |
Hashagen | Martin H. | 05.01.1924 | 05.07.1943 | Krasnaja Slobotka/Orel | Grenadier | Dorfstraße (St. 03) |
Hasselbach | Heinz | 16.03.1920 | 08.03.1942 | Kishkino, Rußland | Gefreiter | Auf der Heide 1 (St. 11) |
Kettenburg | H.Günther | 16.03.1925 | 01.06.1944 | Rocca Priora/Italien | Kanonier | Schulpfad |
Likrau | Edelbert | 27.02.1913 | 01.07.1941 | Nordausgang Jeziornica/Weißrußland | Koppelweg | |
Müller* | Gerhard | 11.12.1923 | 13.01.1945 | Deutschland | Obergefreiter | Stubbenerstr.(Tiedemann) |
Nietert | Georg | 17.10.1904 | 17.05.1944 | Res. Lazarett Warschau | Obergefreiter | Auetalweg (Pl. 30) |
Orthmann* | Waldemar | 25.09.1919 | 26.09.1944 | Frankreich | Seefahrerstr. | |
Schnibben | Fred | 31.12.1927 | 01.03.1945 | Greifenhagen/Kolbitzow | Auetalweg (Pl. 30) | |
Schrader | Heinrich | 23.05.1910 | 07.02.1943 | Woronesh/Gremajatschje, Rußland | Schmiedeweg 15 (Pl. 36) | |
Schrader | Bernhard | 17.08.1912 | 26.12.1942 | Krakau | Feldwebel | Schmiedeweg 15 (Pl. 36) |
Schrader | Alfred | 08.06.1919 | 30.03.1942 | H.V.Pl. Usadba, B.Shistra | Obergefreiter | Schmiedeweg 15 (Pl. 36) |
Seebeck* | Christian | 21.09.1912 | 09.03.1945 | Lazarett in Oldenburg | Wachtmeister | |
Siemer | Heinrich | 15.04.1924 | 28.10.1943 | Krugi, Dymer/Ukraine | Grenadier | St. Magnusstr. (Pl. 14) |
Wessel | Albert | 19.06.1911 | 02.02.1942 | Subzow/Rußland | Gefreiter | Stubbenerstr. |
Wolf | Dietrich | 1902 | 06.11.1946 | Lagerkrh. 3318 Sewastopol | Obergefr./Schütze | Auetal-Weg 3 (Pl. 21) |
Wulf* | Johann | 10.08.1908 | 13.08.1944 | Sidgunde/Lettland | Gefreiter | Auetalweg 3 |
Durch unmittelbares Kriegsgeschehen im Ort getöteter Bewohner
Nachname | Vorname | Geburtsdatum | Sterbedatum | Ort | Letzter Wohnort | |||
Köster | Hermann | 21.01.1869 | 26.04.1945 | Schulstraße - getroffen von einer Artilleriegranate | Auf dem Kamp (Pl. 33) |
Durch Ermordung ums Leben gekommene Personen
Nachname | Vorname | Geburtsdatum | Sterbedatum | Ort | Letzter Wohnort | |
Sinasohn | Leopold | 22.01.1877 | 10.11.1938 | Platjenwerbe - von SA in seinem Haus erschossen | Dorfstr. 62 | |
Banehr | Ella Margarete | 14.05.1916 | 02.05.1944 | Filiale Irsee der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren - Ermordung nach Euthanasie-Gesetzgebung, Details unter Ergänzende Angaben [1] und | Lindenstr. (Pl. 7) |
Die Ermittlung der Personen erfolgte durch Befragung der älteren Dorfbewohner im Jahre 2009.
Die mit * gekennzeichneten Personen wurden von Jürgen Krumpeter in seiner Schrift "Gang durch die Geschichte Platjenwerbe und Stubben" zusätzlich benannt.
Die Daten für die Wehrmachtsangehörigen sind, soweit vorhanden, aus dem "Gräbernachweis des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V." entnommen.
Stand der Ermittlungen: 06.11.2009
Ergänzende Angaben
Leopold Sinasohn,
geb. 22.01.1877 in Naumburg, ermordet in der Reichsprogromnacht am 9./10.11.1938 in Platjenwerbe
Leopold Sinasohn, jüdischer Herkunft, wurde in Naumburg/Saale geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Emanuel Sinasohn und Anna Sinasohn, geb. Mendershausen, verzogen von dort nach Berlin, wo Leopold das Mechanikerhandwert erlernte. Anschließend fuhr er mehrere Jahre zur See, bevor er seinen Militärdienst in Frankfurt an der Oder leistete.
1909 heiratete Leopold Sinasohn Emma Königsmark (1888-1933) aus Parey bei Magdeburg. Mit ihr zog er 1911 nach Kiel, als er dort eine Anstellung als Elektromonteur bei Siemens-Schuckert-Werke AG gefunden hatte. Noch im gleichen Jahr versetzte ihn die Firma in ihre Abteilung "Schiffbau" bei der Werft AG "Weser" in Bremen, wo er zum Obermonteur und Mitglied des Technischen Büros avancierte und sogar mit der Montageaufsicht beim Einbau elektrischer Anlagen auf Kriegs- und Handelsschiffen betraut wurde.
Das Ehepaar Sinasohn wohnte in der nähren Umgebung der Werft in Gröpelingen, die Söhne - Paul am 8. Mai 1912 und Waldemar am 14.11.1913 - wurden hier geboren. 1914 zog die Familie nach Platjenwerbe, das Dorf wurde zu ihrem Heimatort. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Marine einberufen, kehrte Leopold Sinasohn schon 1917 in seine Firma zurück, vom "Waffendienst" dank seiner hohen Qualifikation freigestellt.
Durch Fleiß und Sparsamkeit konnten die Sinasohns ein Grundstück in Platjenwerbe erwerben und ein Haus in der Dorfstr. 62 bauen. Sie fühlten sich bis in die Nazizeit hinein von der Dorfgemeinschaft "völlig akzeptiert". Die Söhne wurden im Sinne ihrer Mutter christlich erzogen. Im Dorf spielten Paul und Waldemar, in späterer Zeit auch ihr nachgeborener Bruder Karl-Heinz, eine überragende Rolle als Vereinssportler, ihre Eltern nahmen am gesellschaftlichen Leben des Ortes ebenso regen Anteil.
Als Emma Sinasohm 1929 schwer nierenkrank wurde, änderte sich das bis dahin frohe Leben im Hause Sinasohn. Am 17.02.1933, kurz nach dem Machtantritt der Nazis, entließ man Leopold Sinasohn aus seiner Firma, angeblich wegen "Arbeitsmangels"; im Oktober des gleichen Jahres starb seine Frau. Nachbarn und Freunde kümmern sich um den bescheidenen Mann, der dem Männerchor und der Feuerwehr angehörte und dem das Dorf zum Teil die Elektrifizierung verdankte, wie Bäckermeister Arnold Bruns zitiert. Aber Trauer und Existenzangst und die Sorge um die Zukunft seiner vom Arierparagraphen bedrohten Söhne verdüsterten seine letzten Lebensjahre.
Nach der Reichsprogromnacht schleicht sich in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 ein in Lesum zusammengestellter SA-Trupp in die Dorfstraße, holt den 61-jährigen Leopold Sinasohn aus dem Bett, tötet ihn mit mehreren Schüssen und verscharrt den Leichnam nach einem gespentisch anmutenden Transport auf einer Wiese in der Nähe des Gasthauses "Lambckens Garten" in Wollah. Dort wird das Platjenwerber Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes wenig später entdeckt, weil ein Arm aus dem Acker ragt. Leopold Sinasohn hat danach seine letzte Ruhestätte auf dem Lesumer Friedhof gefunden.
Die Verfolgung der Familie Sinasohn hatte damit kein Ende gefunden. Bis Kriegsschluss waren Paul und Waldemar Sinasohn in Arbeitslagern interniert. Beide überlebten, ihr Bruder Karl-Heinz kehrte als schwerverletzter Soldat zurück.
Der Lesumer Bürgermeister Fritz Köster und der SA-Scharführer August Frühling aus Lesum und andere müssen sich 1948 vor dem Landgricht Bremen verantworten. Frühling wird zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, der Hauptangeklagte Köster zu lebenslanger Haft. Vorsatz liegt nach Ansicht des Gerichts nicht vor. Köster geht in die Revision, die Strafe wird auf 15 Jahre herabgesetzt, der Verurteilte 1953 vorzeitig entlassen. Anschließend arbeitet der Mann, der die Goldbergs in Burgdamm und Sinasohn in Platjenwerbe erschießen ließ, bei der Horten AG in Düsseldorf, später als Berater für die Vegesacker Lürssen-Werft. Und August Frühling wird 1951 auf Veranlassung des US-amerikanischen Hohen Kommissars für Deutschland begnadigt.
Quelle und Literatur: Rolf Rübsam: Sie lebten unter uns. Zum Gedenken an die Opfer der "Reichskristallnacht" 1938 in Bremen und Umgebung, Bremen 1988. Grundlage: Familiendokumente und Fotos, Zeitzeugen.
Auszugsweise aus "Erinnerung an Nazi-Morde" von Klaus Grunewald, veröffentlicht in den "Bremer Nachrichten" am 05.11.2013
Quellen:
Rolf Rübsam †, Bremen-Lesum
(Lesumer SA-Trupp)
(Familie Goldberg in Burgdamm)
Ella Margarete Mariechen Banehr
Ella Banehr wurde am 14. Mai 1916 in Burgdamm in der Kellerstraße als Tochter des Bahnarbeiters Diedrich Banehr und seiner Ehefrau Ella Catharine geb. Früchtenicht geboren. Sie war das zweite Kind, ihre ältere Schwester Lieselotte Ella wurde am 2. Juli 1913 in Bremen geboren.
Im Laufe der Jahre stellte sich heraus, dass Ella sich nicht normal entwickelte und behindert war, sie besuchte auch nur ein Vierteljahr die Volksschule in Platjenwerbe, wohin die Familie zwischenzeitlich gezogen war. Am 20.08.1940 verstirbt der Vater, vier Wochen später, am 23.09.1940 versucht die Mutter sich mit ihrer Tochter das Leben zu nehmen. Die Mutter ertrinkt in der Lesum, die Tochter kann sich retten oder wird gerettet. Als Vormund für Ella wird der Bäckermeister Arnold Bruns in Platjenwerbe eingesetzt.
Ende des Jahres 1940 wird das Staatliche Gesundheitsamt des Landkreises Osterholz eingeschaltet und am 9.12.1940 ein Gutachten durch den Amtsarzt erstellt. Darin werden die Symptome aufgeführt und zusammenfassend ein Schwachsinn erheblichen Grades festgestellt. Es wird auf eine Gefahr für das 6 Monate alte Kind der Schwester, die zwischenzeitlich geheiratet hatte, hingewiesen und eine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt für unbedingt notwendig erachtet.
Am 27.03.1941 wird Ella in den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission unter der lfd. Nr. 4357 aufgenommen, ihr allgemeiner Zustand und ihr psychisches Verhalten werden diagnostiziert. Die Kosten für ihren Aufenthalt bestreitet die Familie zum Teil durch den Verkauf von Einrichtungsgegenständen.
Am 4.10.1941 werden die Rotenburger Anstalten aufgelöst und es erfolgt ihre Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt in Günzburg. Im Mai 1942 wird von dort der körperliche Zustand als gut beschrieben, Ella hat sich eingelebt, neigt aber durch ihr „widerstrebendes, gewalttätiges Wesen zu störendem Verhalten“
Am 16.11.1943 wird Ella in die Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren eingeliefert und bereits am 03.12.1943 erfolgt die Verlegung nach Irsee mit einer kurzen Bewertung. Am 02.05.1944 wird ein knappes Krankheitsbild erstellt – fortschreitende Tuberkulose, Abmagerung, versagende Herzkraft. Um 9 Uhr exitus. Im Leichenschauschein wird „Tuberculose der Lungen und des Darms“ diagnostiziert und die Freigabe zur Beerdigung ab dem 04.05.1944 von Dr. Faltlhauser festgelegt. Ella Banehr wurde auf dem erst im April 1944 neu angelegten „Euthanasie“-Friedhof (Abteilung I, Grab Nr. 23) hinter der Klosterkirche bestattet.
Der Name „Ella Banher“ taucht aber auch in den Opferlisten auf, deren Tötung der „Krankenschwester“ Pauline Kneißler zur Last gelegt wurden (Der Augsburger Strafprozess, Seite 210). In den Heil- und Pflegeanstalten wurden die Patienten nach dem „Hunger-Erlass“ des Bayerischen Innenministeriums vom 30.11.1942 durch sogenannte Schmal- oder Entzugskost, aber auch mit Tabletten und Injektionen ermordet. Entsprechend einer Zeugenaussage der Pauline Kneißler wurden die Patienten in Irsee mit Luminal oder Veronal, vereinzelt auch Trional in Tablettenform sowie Luminal und Morphium-Skopolamin getötet, Zahl und Stärke der Dosen waren ihr überlassen, die erforderlichen Medikamente bekam sie von Dr. Faltlhauser. Pauline Kneißler wird verhaftet und vor Gericht gestellt, kommt aber mit einer geringen Strafe davon. In den Irsee angeschlossenen Tötungsanstalten in Grafeneck und Hartheim wurden unter dem ärztlichen Direktor Dr. Faltlhauser in den Jahren 1940 und 1941 400 Menschen ermordet, in Irsee bis Kriegsende weitere 800 Menschen.
Quellen:
Dr. Dietmar Schulze „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“ Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee“, Irsee 2019
Uwe Kaminsky, Über Leben in der christlichen Kolonie – Das Diakonissen-Mutterhaus, die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission und die Rolle der Vorsteher 1905-1955, Bremen 2016
Verweise
Verlustlisten 1. WK Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e.V. / Gräbersuche