Fluchtgedenken 1944 – 1946 von Hartmut Toleikis Teil 3

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Ruhepause

In Passargen wohnten wir in einem Insthaus, das bei dem Gut lag. Zusammen mit der Familie General, die aus 4 Personen bestand in einer Wohnung mit einem einzelnen Hauseingang. Die Frau General war großgewachsen, hatte 3 Kinder. Den älteren Gerhard, ich vermute um die 15 Jahre alt, den Werner, der in meinem Alter war und die Traute, vermutlich 4 Jahre alt. Neben unserem Insthaus mit, ich glaube drei Eingängen, lag ein zweites, dass etwas versetzt, aber genau so groß war.

In dem Gutshaus war die Kommandantur untergebracht. Dem entsprechend waren auch mehrere Soldaten in der Nähe. Übergriffe gab es nicht.

Links vom Gutshaus war ein parkähnlicher Garten. Rechts vom Gutshaus schloss sich am hinteren Teil rechtwinklig ein großer Viehstall an. Rechts, parallel zum Gutshaus, stand die große Scheune und bildete so mit den anderen Gebäuden einen großen, fast geschlossenen Innenhof, in dessen Zentrum ein riesiger Misthaufen in einem See aus Jauche schwamm, in welchem ein PKW, vermutlich P 4, stand. Zwischen Stall und Scheune war ein kleiner Weiher. Vermutlich als Viehtränke und im Notfall als Löschteich. Die offene Seite wurde von einem Holzbau, vermutlich Remise, abgeschlossen. Diese diente den Russen als Brennstofflieferant, bis sie verraucht war. Uns Kindern war das recht. So konnten wir uns durch die entstandenen Lücken in den Brettern hineinschleichen und gelegentlich einen Schlauch oder Draht, oder was immer wir brauchten, klauen. Draht und Gummi waren zum Basteln von Katapulten notwendig. Damit konnte man Spatzen schießen, um wenigstens etwas Fleisch auf dem Speisezettel zu haben. Es wurden gute bis sehr gute Trefferquoten erzielt. Gelegentlich gelang es auch, einem russischen Wachsoldaten das Butterbrot zu stehlen. Hunger tut weh und wer das Stehlen in der Not nicht lernt, stirbt. Schwierig war es später, unter geordneten Verhältnissen, diese „Kunst“, die ja so überlebenswichtig war, wieder abzulegen. Stehlen war kein böser Wille oder eine Sucht. Brot, Korn, Mehl waren äußerste Mangelware. Viele Stoppelfelder wurden systematisch nach verstreuten Körnern abgesucht. Jedes Korn sorgfältig aufgesammelt und in ein kleines Tuch gelegt. Die Körner wurden zum Teil auf der Herdplatte geröstet und zu Kaffe gemacht, mit dem dann Brat- kartoffeln „gebraten“ wurden. Ich empfehle jedem Leser, das einmal auszuprobieren, damit er eine Vorstellung davon bekommt, wie stark der Hunger sein muss, um das zu genießen. Versuche, die Körner in der Schmiede, die hinter der Remise lag, im Schraubstock zu Flocken zu quetschen, brachten keine guten Ergebnisse. Die alten Schmiedeschraubstöcke hatten eben keine parallel laufenden Backen. Die waren speziell für andere, gröbere Belastungen gebaut.

In dem Stall wurden die fehlenden Glasscheiben in den Fenstern mit Stroh oder anderem Material abgedichtet. Die Kippfenster mit langen Schnüren miteinander verbunden und offen gestellt. In den Stall kam dann Mist, der für die Spatzen interessant sein könnte. Lange, buschige Äste wurden bereitgelegt und einer von uns wurde als Wache abgestellt. War eine ausreichende Anzahl Spatzen im Stall, wurden über die Schnur die Fenster geschlossen und die übrigen Jugendlichen und Kinder hergeholt, die in den Stall flutschten und mit den Ästen die Spatzen bis zur Ermattung jagten. Die griff man dann, zog mit der anderen Hand kurz am Kopf und drehte Kopf und Körper in die Gegenrichtung. Irgend wann gab es nicht mehr genug Spatzen. Heute füttere ich die Spatzen, wo ich welche antreffe. So schlimm kann doch unsere Jagd nicht gewesen sein, dass sich der Bestand bisher nicht mehr erholt hat ?

Den Insthäusern gegenüber lag ein großer Karpfenteich. Natürlich mit den Fischereimethoden der Soldaten fast total leergefischt. Durch Angeln etwas zu fangen war aussichtslos. Es gab auch weitere Teiche, die aber alle im selben Zustand waren.

Da gab es noch ein Rapsfeld, mit dem die Sieger anscheinend nichts anzufangen gewusst haben. Die Körner wurden gesammelt und versucht in einem Tuch auszudrücken. Mit mäßigem Erfolg. Die älteren Jungs brachten einen kurzen Baumstamm in die Küche, der quer durch ein Loch hatte. Dieser wurde auf zwei Stühlen gelegt, das Tuch mit dem Raps in das Loch gesteckt und mit einem Hammer ein Holzkeil hineingetrieben. Der Erfolg war verblüffend: der Stamm spaltete sich der Länge nach. Beim nächsten Versuch hatte der Stamm einen Schlitz längs zum Stamm und es wurden zwei Keile, je einer links und rechts und dazwischen das Tuch mit den Körnern eingesetzt. Jetzt lohnte es sich auch, eine Schüssel darunter zu stellen.

Die schlimmsten Plagen, außer den Soldaten und dem Hunger, waren Läuse und Flöhe. Den Läusen konnte man mit geklautem Treibstoff und Kämmen beikommen. Zur Bekämpfung der Flöhe stellte man sich auf eine Decke, zog sich nackend aus, rollte die Decke mit den Kleidern fest zusammen und steckte das Bündel in den zuvor beheizten Backofen. Der Erfolg war verblüffend. Die Flöhe platzten auf und lagen wie Fladen in der Kleidung, meist in den Nähten, in denen auch die Nissen abgelegt waren; allerdings verlor mancher seine Kleidung, wenn der Backofen noch zu warm war.

Eine der weiteren Plagen war die Krätze. Man konnte zwar aus Wagenschmiere, da kein anderes Fett zur Verfügung stand, und Schwefel eine Salbe anrühren, aber Wagenschmiere allein schon lässt sich kaum noch ab- oder auswaschen. Eines Abends stellte mich meine Mutter in die Küche, zog mich aus, pinkelte in einen Topf und ich musste das auch tun und damit wurde ich gründlich abgewaschen – ekelhaft und ich heulte – aber es half.

Eine andere Plage waren die Furunkel. Dagegen kam ein Rezept auf: auf einen Teller kam ein Löffel voll Honig und darin wurde soviel Roggenkleie eingerührt, bis die Masse eine knetbare Kugel wurde. Die konnte breitgedrückt auf dem Furunkel festgebunden werden und ergab so eine gute Zugsalbe.

Einmal hat sich ein Fuchs in unsere Wohnumgebung eingeschlichen. Er wurde entdeckt und es begann eine Treibjagd. Die Treiber waren nur mit Steinen bewaffnet und so wurde der arme Fuchs gesteinigt. Hunger macht erfinderisch. Der Fuchs wurde „fachgerecht“ zerlegt und in unserer Küche gekocht. Es stank fürchterlich. Von dem Fleisch hat niemand gegessen.

Links hinter dem Gutshaus führte ein Pfad quer durch ein Gurkenfeld hin zum Dorf, in dem ich aber nie war. Am Ende des Pfades, also beim Dorfanfang stand ein Schilderhaus und ein Soldat hielt Wache. Wir beobachteten, dass bei der Wachablösung auch die Waffen übergeben wurden. Kurz vor der Ablösung war wohl die Aufmerksamkeit des Postens geteilt und so schlichen wir uns in das Gurkenfeld, aßen tüchtig Gurken, stopften uns die Hosentaschen voll und bei der Ablösung liefen wir los. Die Posten schossen uns hinterher. Ob gezielt oder nur zur Warnung ? Von uns Dreien wurde aber keiner verletzt. Dem kleinen Steinke waren fast alle Gurken aus der viel zu engen Hose gerutscht. Der „Flieger“, so nannten wir den Werner General, weil er immer eine Fliegerkappe, so eine aus olivgrünem Stoff mit Ohrenklappen, trug und ich, wir hatten unsere „Beute“ noch.

Einmal griffen die älteren Jungs ein mageres, räudiges Pferd auf. Das wurde gegen irgend etwas mit den Leuten aus einem Nachbardorf eingetauscht. Die haben es dann gleich geschlachtet und wir meinten, das hätten wir auch gekonnt.

Wir Jüngeren durchstreiften die Gegend. So gelangten wir einmal an einen verlassenen größeren Bauernhof. Dort gab es nichts für uns Interessantes. In der Remise fand ich einen Eimer mit Staufferfett. Das war ja immer soo wichtig. Also schleppte ich ihn mit zur Wohnung und war entsprechen verschmiert. Statt einer Belohnung erhielt ich eine Tracht Prügel, wobei mir die Heftigkeit seltsam vorkam – es tat gar nicht weh. Aber ich schrie prophylaktisch. Wenn man von Erwachsenen verprügelt wird hat man zu schreien, das macht sich für beide Teile gut. Dann stieß mich meine Mutter in den Keller und schloss die Klappe. Auf einer Kiste verbreitete ein Hindenburglicht Helligkeit und beleuchtete einen Teller mit einem Spiegelei und einer Scheibe Brot, auf der richtige Butter gestrichen war. Die anderen Kinder sollten nicht sehen, dass ich etwas zu essen hatte. Nach einer Weile fragte sie mich von oben, ob ich jetzt anständig sein wolle. Das beantwortete ich mit verstellter zaghafter Stimme mit : „ja“ und kletterte aus dem Verließ.

Die Soldaten ließen uns in Ruhe und waren recht ausgelassen, kletterten an der Außenwand des Gutshauses hoch, um einen Blick in das Zimmer der Freundin des Kommandanten zu tun, rauchten ihren machorka, den sie einhändig in der Jackentasche in einem Stück prawda zu einer papirossi formten, oder sie kauten die obligatorischen Sonnenblumenkerne. Eines Tages kam ein Soldat zu meiner Mutter mit der Aufforderung: „Frau komm“. Meine Mutter weigerte sich natürlich, worauf er wieder ging. Das Verhalten war höchst merkwürdig für diese Zeit. Kurze Zeit später war er wieder da mit der selben Aufforderung und erklärte umständlich, dass er der Adjutant sei und der Kommandant wolle mit ihr reden. Nach einiger Überzeugungsarbeit ging sie mit zum Gutshaus. Der Kommandant erklärte ihr, dass er seinerzeit der verhörende Offizier war, der ihren Ehemann festgesetzt hatte. Im selben Gefängnis in einer anderen Zelle saß ein Pole zum Abtransport nach Sibirien wegen einer Straftat. Das Wachpersonal, das den Abtransport vornehmen sollte, bestand aus zwei Polen. Die ließen ihren Landsmann frei und brachten meinen Vater zum Transport. Bei den Russen galt die Regel: einen Gefangenen empfangen – einen Gefangenen abgeliefert.Die Person war egal. Wurde eine flüchtig, fing man eben eine von der Straße und lieferte sie ab. Das klappte immer – so auch bei meinem Vater.

Wir Kinder waren uns selbst überlassen. Einmal wollten wir wie die Soldaten fischen. Stielhandgranaten lagen ja genügend umher. Etwas enttäuscht waren wir, als keines dieser Dinger im Wasser explodierte. Was für ein Glück für uns. Dann fanden wir Pulver, das aussah wie die heutigen Filter bei den Zigaretten und kleine Silbersäckchen. Beides ließ sich wunderbar anzünden. Die Pulver- stücke wurden in Gasmaskenbehälter gefüllt und die Säckchen in den Deckel eingeklemmt als Zünder. Damit wollten wir Fuchsbauten im Wald sprengen. Klappte zum Glück auch nicht. Oder wir machten ein kleines Loch in die Erde, füllten es mit den Silbersäckchen, stellten einen Hackklotz hinein, zündeten die Ladung und freuten uns, wenn der Hackklotz zu tanzen anfing. Zum Feuermachen hatte jeder ein Brennglas in der Tasche und die Ausrüstung wurde durch ein Katapult und einen Poggenritzer (ein kleines Taschenmesser o.ä.) ergänzt. Wenn ich heute einen meiner 5- bis 6-jährigen Enkel mit einer Stielhandgranate sähe, ich würde in Panik geraten. So viel Glück kann es nicht auf Dauer geben. Eines der Geduldsspiele war, einen Faden am Ende etwas zusammenknüllen, dieses in ein Nasenloch zu stecken, das andere Nasenloch zuzuhalten und so oft die Luft durch die Nase einzusaugen, bis man das Ende aus dem Rachen herausziehen konnte. Mit Verwendung von Schafswollfäden kam es gelegentlich zu Verletzungen beim Herausziehen des Fadens. So wurde das Spiel zu einer Mutprobe. Ein anderes Spiel bestand darin, einen langen Faden an den Enden miteinander zu verknüpfen, um jede Hand daraus eine Schlinge zu legen, die Handflächen parallel zu spannen, den jeweiligen Mittelfinger unter die Schlinge der Innenseite der anderen Hand zu schieben. Wenn man die Hände wieder spannte, hatte man vier parallele Fäden. Der andere Mitspieler konnte nun durch.

Spiel mit dem Faden

Hineingreifen seiner Finger und spannen des Fadens neue Figuren formen, wenn der erste Spieler den Faden freigab. Es ergaben sich schöne symmetrische Figuren, für die man Namen erfinden konnte.

Aus dem folgenden Winter machten wir das Beste, was uns einfiel. In die Eisfläche mitten im Karpfenteich wurde ein Loch gehackt. Dahinein ein Pfahl in den Grund geschlagen, der etwa einen Meter über der Eisfläche endete. Am nächsten Morgen war dann der Pfahl festgefroren und auf ihm wurde ein Balken quer mit einem dicken Bolzen befestigt. Wenn man jetzt an einem Ende des Balkens eine Kette befestigte und sich daran einige Schlitten hängten und am anderen einige Kinder schoben, dann gab das ein herrliches Eiskarussell. Wer nicht mehr genügend Kraft hatte und los ließ, sauste sich drehend und schleudernd in das Schilf des Ufers. Nie hatte ein Kind einen Knochenbruch. Andere bauten sich Rutschbretter. Die bestanden aus 1 ½ Fuß langen Brettern. Von der Oberseite eines dieser Brettchen liefen parallel im Abstand von ca. 4 cm zwei dicke Drähte über die Unterseite zum anderen Ende und dort wieder auf die Oberseite. Auf dieser waren Riemchen oder Bänder befestigt. So konnte man sich die Brettchen an den Schuhen befestigen und hatte so ein Paar „Schlittschuhe“. Ergänzt wurde diese Ausrüstung durch einen Stock, in den am unteren Ende ein Nagel eingeschlagen war. Damit konnte man sich Abstoßen. Mit den Gleitbrettchen an den Füßen konnte man sich auch am Eiskarussell beteiligen. Der Frühling wurde aber doch herbeigesehnt. Die „Schuhe“, die man als solche bezeichnete, waren zu klein oder immer nass, die Furunkel quälten und der rundblättrige Wegerich wurde gebraucht, so viel Knochenabfälle auf den Abfallhaufen der Russen gab es auch nicht mehr. Die Kochtöpfe bekamen Löcher. Es waren solche, die einen angeschweißten Ring hatten und deren unterer Teil im Herdfeuer hing. Zur Reparatur brauchte man Uniformknöpfe. Die wurden mit einer Packung Stofffetzen hinterlegt, die Öse von innen durch das Loch gesteckt und von außen ein Nagel durch die Öse gezwängt. Die Reparatur war nicht von Dauer, aber man konnte einige Male mit dem Topf kochen.

Dann kam auch der Frühling. Er war schön und wir streiften wieder durch die Landschaft und die Wälder. Links neben dem Gutshaus war eine Trafostation auf einem hohen Gerüst.

Natürlich zerschossen und das Öl hatte das Gras darunter total verödet. Wir gingen öfter hindurch zu einem Weg, der am Gutshaus vorbeiführte. Von Dioxin wussten wir natürlich nichts, aber der Ort war uns so unheimlich, dass wir uns dort nie aufhielten. Auf dem Sandweg fanden wir, vor allem nach starken Regenfällen, Donnerkeile. Wir nannten sie auch so, weil meistens nach starken Gewit- tern diese Keile zu finden waren und wir wetteiferten, wer die größten und schönsten hatte. Manchmal wurden Frösche gegriffen, der Bauch aufgeschlitzt und die Tiere dann wieder in’s Wasser geworfen. Das war dann nicht so schön und ich trennte mich von der Gruppe. Ein anderer Zeitvertreib war, die Frösche mit einem Strohhalm aufzupusten, sie dann wieder auf das Wasser zu setzen und sie bei dem vergeblichen Bemühen zu beobachten, untertauchen zu wollen. Nach einiger Zeit entwich die Luft und die Frösche machten wieder, was sie konnten.

Bei den Streifzügen durch die Wälder fanden wir auch Birkenbäume, die von den Mädchen angebohrt waren. In den Löchern staken Strohhalme und von dort tropfte das „Birkenwasser“ in Behälter. Die Mädchen sammelten es zu Haar-/ Körperpflege, wenn wir es vorher nicht ausgetrunken hatten.

Einmal fand ich ein Jagdgewehr. Es war ein Drilling. Soweit ich mich erinnere, lagen oben zwei dicke Läufe nebeneinander und darunter in der Mitte ein dritter dünnerer. Das Gewehr lag auf den unteren Zweigen einer, in der Mitte einer in einer quadratischen Lichtung stehenden, Fichte. An jeder Ecke der Lichtung stand ebenfalls eine Fichte. Eigentlich müsste der Eigentümer dieses Jagdgewehres anhand dieser Beschreibung sein Eigentum wieder- erkennen. Leider war ich erst so spät in der Lage zu schreiben, ich bin jetzt 75 Jahre alt und der Eigentümer ist sicher schon mit Nimrod auf der Jagd.

Ein anderes Mal suchten wir, es mag um Ostern gewesen sein, ein kleines Gehöft auf. Es war unbewohnt, lag sehr romantisch, kaum zerstört in einer Senke. Es scheint so, als sei es der Sitz eines Försters gewesen, an dem auch ein größerer Teich lag. Wir fanden nichts, das uns mitnehmenswert erschien. So kletterten wir auf den First der kleinen Stalles und ließen Dachpfannen hinunter rutschen. Herrlich – immer rattattattatattata - - - - platsch.

Irgendwann waren wir dieses Spieles müde und wollten auf den Rückweg. Der „Flieger“ meinte aber, vorher noch in den See kacken zu müssen und ging in das Schilf. Plötzlich erschreckte ihn eine auffliegende Wildente. Dann rief der „Flieger“ jayka und wir stürzten los. Der „Flieger“ stand immer noch wie gelähmt vor so viel Glück, wir aber nicht und jetzt stürzten wir uns alle drei auf das Nest. Kein Ei ging verloren. Der „Flieger“ hatte zwei, der kleine Steinke und ich hatten je eines und so machten wir uns auf den Heimweg. Der „Flieger“ als der Entdecker, war nicht ganz zufrieden: immerhin war er der Entdecker, hatte 2 Geschwister und nur zwei Eier und so versuchte er den kleinen Steinke zu überreden, seines herzugeben, was mich dann wieder auf die Seite vom kleinen Steinke schlagen ließ. So blieb denn alles wie es war und wir Freunde. – Sagen wir, weil es so schön passt: es war Ostern.

Dann starb die Frau Behrend. In unserem Eingang müssen doch wohl mit ihr 3 Familien gewohnt haben. Die Frau Behrend war immer sehr nett zu mir und ich mochte sie. Da sie die Augen nicht schließen wollte wurden ihr, wie üblich, Geldstücke auf die Augenlieder gelegt, bis die Totenstarre eingetreten war. In eine Decke gehüllt, wurde sie im Park des Gutshauses beigesetzt. Wieder war ein Stück von mir fortgenommen worden.

Eines Tages waren die Russen weg. Wir stöberten im Gutshaus nach Verwertbarem. Für mich fand ich ein Schränkchen, dessen Tür eine durchbrochene Holzarbeit hatte, die mit grünem Glas hinterlegt war. Mit Stolz ? oder Eroberungsfreude ? oder was auch immer, schleppte ich es in unsere Wohnung.

Dann brannten die Stoppelfelder. Es hieß: die Polen haben jetzt das Ganze. Es wurde noch schwieriger zu Überleben. Keine Körner mehr auf den Stoppelfeldern zu finden. Keine Knochen mehr in den Abfallhaufen der Russen. Was jetzt ? Dann kam so ein selbsternannter Großkotz. Er trug einen polnischen Militär- mantel. Das war das einzige Zeichen seiner “Hoheit“. Zunächst holte er die älteren Jugendlichen zu Treibjagd, die aber von der Organisation her anscheinend ein Chaos war. Außerdem versagte sein Schießprügel. Er wurde der „Glithener“ genannt. Den Grund kenne ich nicht, aber es gab einen Ort mit diesem Namen. Der „Glithener“ erließ Verhaltensmaßregeln, die keiner verstand und wenn doch, dann nicht beachtete. Die umher- liegenden Autowracks wurden abgeschleppt.

Was sonst noch verwertbar schien auf Pferde- wagen verladen. Wenn diese überladen waren, wollten die Pferde nicht anziehen und waren auch durch heftige Schläge nicht zu bewegen. Dann zündete man Papier an und warf es unter den Pferdebauch, worauf die armen Tiere dann doch anzogen.


In der folgenden Zeit wurden wir wiederholt des Nachts überfallen. Die Verbrecher hatten sich die Gesichter geschwärzt und kamen des Nachts mit Militärlastwagen. Bewaffnet waren sie mit zu Schlagstöcken geschnittenen dicken Starkstromkabeln (deutsche Wertarbeit) und machten davon auch regen Gebrauch. Alles was essbar oder sonst anscheinend wertvoll war, wurde geraubt. Nach dem ersten Überfall hatten wir zu den umliegenden Dörfern eine Alarmkette gebildet und so konnten wir uns einigermaßen vorbereiten. Beim nächsten Überfall hatte ich das erste Mal in der gesamten Zeit Angst – richtige Angst und lief draußen umher, bis meine Mutter an das Fenster klopfte und mich herein rief. Die Leute vom Nachbarinsthaus hatten ihre Kleidung in ein leeres Ölfass gesteckt und dieses mit der Öffnung nach unten vor das Haus gestellt. Der Lastwagen der Räuber fuhr dagegen, kippte es um und damit waren die Kleider fort. In unserem Eingang waren zwei Keller, einer, den bereits erwähnten, von der Küche aus erreichbar, der andere von einer Kammer aus erreichbar, die vom Zimmer aus betretbar war. Vor diese Tür hatten wir einen Kleiderschrank gestellt und die Schwelle dieser Tür mit einem Brett verblendet. Das Raubgesindel nahm den letzten Rest der Lebensmittel aus dem Küchenkeller mit, leuchtete unter alle Betten und Schränke, fand aber den zweiten Keller nicht und zog wieder ab.

Die Ernährungslage wurde immer schlechter. Da die russischen Soldaten fort waren, konnte die große Scheune des Gutes geöffnet werden. Da lagen doch tatsächlich große Mengen von Korngarben, an denen sich die Mäuse gütlich taten. Nun wurden Dreschflegel gebastelt und jeweils drei bis vier Personen droschen die Garben auf dem festen Boden der Scheune. Wie Jungen fingen inzwischen die Mäuse mit der Hand und steckten diese in ein leeres Ölfass. Als der Boden mit Mäusen bedeckt war, wurde ein Strohhalm schräge hineingelegt. Die Mäuse versuchten an ihm hinauf zu klettern und wenn es zu viele wurden und das Gewicht zu groß, knickte der Halm ein und alle lagen wieder unten. Das wurde auf die Dauer zu langweilig und einer von uns schleppte eine Katze an. Die kam ebenfalls in das Fass.

Zunächst fand die Katze das anscheinend ganz toll und biss in drei oder vier Mäuse, bekam aber dann Panik und wollte aus dem Fass herausspringen, was ihr aber nicht gelang. Dann hatte sie so eine Art Starre und die Mäuse kletterten auf ihr umher. Das wurde nun auch wieder langweilig und wir nahmen die Katze heraus. Was jetzt mit den Mäusen anfangen ? Da hatte einer die schöne Idee, sie mit dem Fass in den Teich zu werfen. Ein voller Erfolg ! Die Mäuse schwammen alle an das andere Ufer, das etwa zwei bis drei Fuß hoch war und verschwanden dort im Wurzelwerk der Uferbäume.

In der Scheune stand auch eine Walzenmühle mit einem großen Handrad. An die Kurbel dieses Handrades wurde ein Seil gebunden und an jedem Ende standen drei bis vier Personen und versetzten das Rad in Drehung. Eine schüttete dosiert das Korn hinein und endlich hatten wir genügend Mehl um Brot zu backen. Eine Scheibe Brot war also schon einmal in der Hand eines Kindes zu sehen, ohne dass es ihm weggenommen wurde. So eine Scheibe frisch gebackenes, duftendes Schwarzbrot und zur Krönung noch Butter darauf  ! ! Auch das ruft heute bei mir noch Erinnerungen wach. Wenn ich mit der Butterbrotscheibe hinaus ging drehte, ich sie mit der Butter nach unten, um keine Begehrlichkeiten bei den anderen zu wecken.

Eines Tages kam der Glithener, als unsere Leute mit den Flegeln gedroschen haben. Er trieb sie mit dem Gewehr zum Gutshaus, stellte alle der Reihe nach an die Wand und nahm Aufstellung, sie zu erschießen. In diesem Augenblick kam in voller Fahrt ein zwei- spänniges Pferdefuhrwerk auf dem staubenden Sandweg links vom Gutshaus um die Ecke, besetzt mit polnischen Polizisten oder Milizen. Sie hatten grünlichbraune Mäntel an und mehreckige Mützen auf den Köpfen. Der Glithener wurde entwaffnet und mitgenommen. Wir Kinder standen etwas erhöht Richtung Schmiede und schauten machtlos zu. Keiner von uns hat geschrien oder geweint – der Tod war uns schon lange allgegenwärtig und zum normalen Alltag geworden. Anscheinend wurde nun die Scheune geschlossen und bewacht.

Da für uns die Ernährungslage immer schlechter wurde, schmiedete man heimlich Fluchtpläne.

Die 3. Flucht startete am Bahnhof Korschen

Mit den letzten „wertvollen“ Sachen wurde ein Bahnbeamter der nächsten Bahnstation bestochen. Aus angemunkeltem (verschimmeltem) Maismehl Brot gebacken. Heimlich, in der Nacht, schlichen wir zu dem kleinen Bahnhof. Anscheinend sah der Plan vor, Richtung Russland zu fliehen, da es zum Ende des Abzugs der russischen Soldaten immer noch besser war als jetzt. In einem Raum der Bahnstation wurden wir untergebracht und ermahnt, sehr leise zu sein. In der Nacht hörte ich mehrere Männerstimmen vor dem Gebäude und sah Umrisse von Gestallten auf den Milchglasscheiben. Am nächsten Tag sagte der Vorsteher, dass nach uns gefahndet wurde und er froh war, dass niemand geschnarcht hätte. Dann hielt irgendwann in einer Nacht ein Güterzug und wir konnten unser Versteck verlassen und in einen der Waggons steigen. In dem Waggon war noch der begleitende russische Offizier mit seinem Adjutanten.

Die Fahrt ging aber nicht ostwärts wie angenommen, sondern, zu unserem Glück, in westlicher Richtung. Von dem Maisbrot habe ich nur sehr wenig gegessen. Es schmeckte fürchterlich und mit jedem Tag fürchterlicher. Dann hielt der Zug. Die Lokomotive musste zum Bunkern von Wasser und Kohle. Plötzlich wurde die Waggontür aufgeschoben und es erschienen die Gleichuniformierten wie in Passargen mit ihren eckigen Mützen und holten uns aus dem Zug. Es waren anscheinend lebensrettende Engel in anderer Aufmachung. Von der Lokomotive her kam der Adjutant angelaufen und schoss mit der Pistole in die Luft. Unsere Begleiter störte das aber nicht. Sie kannten anscheinend schon das Procedere und schafften uns in ein Auffang- und Abschiebelager in Stettin.

Ab in den Westen

In Stettin war ein Stadtteil mit einem Zaun und Stacheldraht gesichert. Da hinein kamen alle, die der werdende Staat Polen nicht haben wollte. Es war ein Hungerlager. Für ca. 8 cm schwarzes klitschiges Brot pro Tag und Person musste man stundenlang anstehen. Ein „Aufseher“ versuchte in die Reihen der Wartenden mit seinem: „Lustig, lustig“ Ordnung hinein zu bringen. Sein Spitzname war denn auch: „Der Lustig“. Meine Mutter pflückte ihm einmal, als er wieder mit seinen Kommandos in Positur stand, Läuse vom Jackenkragen. Sie kerbte das Brot mit dem Messer in Scheiben ein für jeden und für jede Tagesmahlzeit. Als sie 90 Jahre alt war gestand sie mir, dass ich sie einmal überraschte, als sie sich heimlich eine Scheibe abschnitt. Ich hatte den Vorgang vergessen. Sie sagte, so Hunger gehabt zu haben, dass sie es einfach nicht mehr ausgehalten habe.

In dem Lager war ein Bombentrichter, aus dem ein Rohr heraus ragte, aus dem Wasser lief. Dort versorgten sich alle mit Wasser. Hier ging ich zum ersten Mal und wohl auch zum vorerst letzten Mal zum Betteln. Unter einem Zaun war ein Loch, durch welches ich schlüpfte. Dann ging ich von Haus zu Haus und fragte nach Essen. Eine Frau sagte mir, dass sie heute nichts habe, aber ich solle morgen kommen, da hätte sie etwas Suppe. Damit war ich zu frieden und ging voller Erwartung zurück und durch das Loch in das Lager. Am nächsten Tag war das Loch zu. Wie mag die Frau doch auf mich gewartet haben! Am besten mit der Situation kamen die Fahrenden zurecht. Mit irgendwelchen Gegenständen machten sie Musik, tanzten und verbreiteten gute Laune.

Irgendwann wurden wir in Güterwagen verladen und in den Westen transportiert. Vorher aber mussten wir ja registriert und durchgeschleust werden, damit alles seine Ordnung hat. In einer Fabrikhalle wurden wir wie das liebe Vieh im Zickzack an Gattern entlang zu einem langen Tisch geleitet. Darauf musste jeder seine Habseligkeiten, die in Rucksäcken, Beuteln, Taschen oder ähnlichem waren, ausbreiten. Alles wurde gründlich in Augenschein ge- und bei Verdacht, abgenommen, Wollkneule durchschnitten und so der Inhalt geprüft, Kleidersäume aufgeschnitten. So, buchstäblich erleichtert, begann die Reise in den Westen. Das nächste Bild: Ich wache auf, liege im Stroh in einem großen Stall, richte mich auf und sehe Kinder, die mich ansehen und lachen und – dann lache ich auch – über sie. Unsere Gesichter sind mit Punkten übersät – Fliegenkacke. Solche Reaktionen haben Menschen, die der Hölle entronnen sind, die mit Leib und Leben davongekommen sind. Sie freuen sich, haben keine Beschwerden vorzutragen, keine Forderungen. Ich habe jahrelang Asylanträge bearbeitet und über Forderungen nachgedacht, die Menschen haben können, die ihr Land angeblich wegen Lebensgefahr verlassen haben.

Das nächste Bild entsteht in Friedland, es ist Nacht, ich liege auf Stroh unter einer Decke in einer dieser großen Wellblechbaracken als meine Mutter mich weckt. Sie hat einen Pappbecher dabei. Kunsthonig – sie gratuliert mir zum Geburtstag und schiebt mir einen Löffel mit diesem süßen Zeug in den Mund. Gute Miene machen, es soll was Gutes sein, aber noch einen Löffel voll mag ich nicht.

Dann sind wir in Lo-La (Lockstädter Lager) und werden von hier nach Wulsten in Holstein verteilt und landen auch dort in den Baracken eines ehemaligen Gefangenenlagers. Die Vorgänger waren Zwangsarbeiter in der Lederfabrik im Stadtteil Eckfleht. Die Decke der Baracke hatten sie mit schönen Bildern ausgemalt. Dafür hatten die Einheimischen aber keinen Blick und für uns kein Willkommen, was sie uns auch offen spüren ließen – die ganze Palette von Spott bis Verachtung, von Neid bis Hass. Wir kamen aus z.T. besserer Umgebung in der Heimat und hatten Schlimmeres durchgemacht, was konnte uns deren Engstirnigkeit anhaben ? Kopf aus Holz und Herz aus Stein ….

Nachträge / Notizen

Meine Mutter zeigte mir einmal getrocknete graue harte Pilzköpfe. Eine Daumennagel groß. Sie sollten tödlich giftig sein und für den Notfall. Sie nannte sie „Judengeld“.

Bei Vierhöfen zog die Frau des Standesbeamten einen kleinen Handwagen mit den Büchern des Standesamtes Peter Sakuten, die sie retten wollte.