Fluchtgedenken 1944 – 1946 von Hartmut Toleikis Teil 2

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Treck

Obwohl ich als Jugendlicher meinte, die Abläufe der Reihenfolge nach im Gedächtnis zu behalten, sind jetzt doch große Lücken entstanden, zumindest die Folge der Orte ist verschwunden. Nie wollte ich, dass die Erinnerung mein Leben bestimmt. Die Mitteilungen über traumatisierte Helfer bei großen Unfällen in den Zeitungen und Berichte, der dann anschließenden psychischen Betreuung fand ich einfach lächerlich. Wer hat uns betreut ? und wir lebten doch auch „normal“. Später dann, mit 70 Jahren etwa, merkte ich, dass auch ich traumatisiert war. Das Wort hatte man wohl seinerzeit nicht gekannt. Einmal nur, weder auf der Flucht, noch im Treck, sondern in der Ruhepause hatte ich Angst. Sonst, bei allen Gefahren, Überraschungen, brenzligen Situationen blieb ich immer „eiskalt“, beherrscht, Herr der Situation, genauer Beobachter, richtig Handelnder. Reaktionen, wenn überhaupt, kamen später. Allerdings konnte ich mich auch nie richtig freuen. Fotoaufnahmen von mir mit der Aufforderung des Photographen zu lächeln lösten immer das Gegenteil bei mir aus. Was für ein Unsinn – aus welchem Grund und warum soll ich jetzt lächeln ? Wenn z.B. Fußballanhänger über ein erzieltes Tor jubeln konnten, war diese Reaktion für mich unverständlich. Der Ball war im Tor – na und ? Weihnachten – alle sollen sich freuen – weshalb ? Wenn ich auf einer Feier in einer etwas gelösten Stimmung war und ein Wort, ein Geräusch, ein Geruch (Das Schreien der Frauen, der süßliche Geruch der Leichen, der Geschmack von Schwarzbrot mit Butter, der Geruch der Abgase der russischen Fahrzeuge) löste die Erinnerung an den Treck aus. Versuchte ich diese mit viel Alkohol zu verscheuchen, vergeblich. Weder die Erinnerung wich noch der Rausch kam, nur die Betrunkenheit zeigte sich – keine verschwommenen Bilder. Dann war es Zeit, die Feier oder Zusammenkunft zu verlassen. Wie beneidete ich die Alterskameraden, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken konnten ! Heute weiß ich: hier wäre Hilfe notwendig gewesen ! Die Auslöser bestehen heute noch, aber wenn keine weitere Belastung seelischer oder moralischer Art hinzu kommt, ist der Bedarf an Alkohol auch nicht vorhanden, obwohl ich vermutlich abhängig war. Starker Wille hat mich jede Abhängigkeit überwinden lassen.

Das erste Bild beginnt mit dem Treck im tiefen Schnee. Meine Mutter schiebt den Kindersportwagen, in dem mein Bruder Arno sitzt. Ich gehe an der rechten Seite und halte mich am Wagen fest. So lasse ich mich teilweise mitziehen. Ich bin soo müde und lege mich manchmal mit dem Oberkörper auf den Wagen. Die Beine wollen mich einfach nicht mehr tragen. Am Wagen baumelt eine Bratpfanne aus Aluminium. Der Boden ist schon nach außen durchgewölbt, der hölzerne Stiel angebrannt, aber sie ist leicht und tut ihren Dienst. Die Kinderwagenräder waren mit Federn mit Spurzapfen in einer Nut in den Achsen befestigt. Wenn diese nicht geschmiert waren, nutzten die die Zapfen schnell ab, die Späne sorgten für zusätzlich Reibung, die Nabe wurde heiß, quietschte lange – bis das Rad ablief. Die Mütter hatten dann ein großes Problem. Entkräftet den notwendigsten Haushalt und das Kind zu tragen und das Tempo des Trecks zu halten.

Niemand wusste das Ziel des Trecks, kannte den Sinn nicht, nicht den Standort, wann eine Rast eingelegt wird, was uns am Ziel erwartet. Der Soldat in der Gefangenschaft hat, so unsinnig das auch klingt, im Vergleich mit der Zivilbevölkerung, einen gewissen Schutz.

Schier unglaubliche Leistungen dieser tapferen Frauen, die die Folgen dieses irrsinnigen Krieges im wahren Sinn des Wortes zu tragen hatten und da ist heute eine kleine Partei, die auf Gewinnmaximierung spezialisiert ist, sich aber beharrlich weigert die Leistungen dieser Frauen in Form von Rentenzuschlägen für Kinder anzuerkennen, obwohl gerade diese Frauen durch ihre übermenschlichen Anstrengungen ihnen die Wähler erhalten haben. Eine Schande für Deutschland !

Der Schnee lag sehr hoch zu beiden Seiten des Weges. Nur wenn man auf einem Hügel war konnte man den Treck einigermaßen über- blicken. Wie ein geschlängeltes schwarzes Band aus Frauen, Kindern, Männern zog er sich durch das weiße Leichentuch. Der Schnee hatte Vieles am Wegesrand gnädig zugedeckt. Ab und zu eine Leiche am Wegrand, ein Fahrzeugwrack unter dem Schnee erkennbar. Die Erwachsenen sagten, wer wegen Ent- kräftung sich an den Wegrand in den Schnee setzt, wird von den Begleitposten erschossen. Unter den vorhandenen Bedingungen war das wohl die „humanste“ Lösung. Meine Mutter ging immer ziemlich am Ende des Trecks. Da war der Schnee schon recht festgetreten und das Schieben des Kinderwagens leichter. Der Kinderwagen musste ständig an dem richtigen Schwerpunkt geschoben werden. Sonst wurden die Räder ungleichmäßig belastet und liefen schließlich ab. Auch da konnte man sich behelfen wenn nur ein Rad ohne Feder war. Z. B. konnte man dieses Rad vorne links aufsetzen, den Druck beim Schieben auf die Hinterräder legen und den Wagen etwas diagonal nach vorne links ausrichten, dadurch war der Druck etwas auf das linke Vorderrad Richtung Achse. Wir fanden viele Kinderwagenräder auf unserer Position im Treck, aber alle hatten keine Federn mehr.

Neben uns ging ein Wachsoldat. Ziemlich klein, wohl auch schon etwas älter, mit einem martialischen Schnauzbart unter der Nase. Er hatte, so schien es mir, ein freundliches Gesicht. Noch heute versuche ich die Menschen nach ihren Gesichtern zu beurteilen – irre mich selten. Er gab meiner Mutter ein Stück Brot. Eines dieser klitschigen, schweren, schwarzen Brote. Meine Mutter konnte es nicht auch noch tragen ! Welche Ironie – da fällt man vor Entkräftung fast um und kann das rettende Lebensmittel nicht schleppen. Der Russe nahm es dann wieder an sich und gab es ihr am Treckziel zurück. In irgendeinem großen Raum fanden wir dann Unterkunft für die Nacht. Der kleine Russe kam dann zu uns mit einem Kochgeschirr voller Gulasch. Er aß mit einem grob geschnitzten Holzlöffel und, nachdem er satt war, gab er es meiner Mutter. Vermutlich hatte er Nachschlag geholt. Nachdem meine Mutter gegessen und den Arno gefüttert hatte, bekam ich das Kochgeschirr und den Holzlöffel. Ich war und bin bezüglich der Hygiene sehr empfindlich. Der dicke, raue Holzlöffel wollte sich so gar nicht an das Empfinden meiner Lippen anpassen, aber, nachdem ich denen beim Essen zugeschaut hatte und das Gulasch schmeckte und ich wohl auch Hunger hatte, konnte der Widerwille überwunden werden.

Die Winterzeit hatte auch Vorteile. Die kurze Helligkeit erlaubte keine langen Wege. Das sollte später anders werden. In der Dunkelheit konnten sich die Menschen aus dem Treck entfernen, was unter allen Umständen vermieden werden sollte. Im Treck war noch ein gewisser Schutz vorhanden, aber in der „freien Wildbahn“ war jeder den marodierenden Banden ausgeliefert und die Russen hatten Angst vor angeblichen geheimen „Wolfseinheiten“.

Irgendwann spürte uns unser Vater auf. Er hatte über eine Kommandantur einen Passierschein erhalten und einen Panjewagen mit einem Pferd organisiert. Er beherrschte die Sprachen litauisch, russisch, polnisch, englisch. Erstaunlich für ein Kind einer Familie mit 12 Kindern. Wohin er fahren wollte, weiß ich nicht. Wir kamen öfter durch Kontrollen: Fragen und Antworten:“ Pajechale damoi“.

Lesen und Schreiben konnten die meisten nicht. Der Passierschein und die russische oder litauische Sprache reichten aus. Bei einer Kontrolle jedoch wurde ihm dieser Passierschein weggenommen. Nach den Erzählungen meiner Mutter hat der Kontrollierende gesagt: Scheiß Kommandant, nix Kommandant, ich Kommandant, den Passierschein zerrissen und mit den Füßen zertreten, das Zuggeschirr durchgeschnitten und das Pferd mitgenommen. So waren wir wieder ganz normale Besiegte. Einmal setzten wir die Reise auf einem russischen Lastwagen mit Munition fort. Oben auf den Kisten lagen wir flach unter der Plane. Der Wagen lag unter Beschuss der Deutschen. Die Munition wurde aber nicht getroffen. Anscheinend ging aber eine Kugel oben durch die Plane und meine Mutter musste meinen Vater auf eine Schussverletzung untersuchen, fand aber keine. Es war eine tolle Fahrt. Wir meinten manchmal, der Wagen müsse umkippen. Wo wir dann abgestiegen sind kann ich nicht sagen.

Schließlich landeten wir wieder in einem Treck. Bei irgend einer Kontrolle entdeckte man bei meinem Vater den Führerschein. Damit war er Maschinist, wie die Russen zum Lastwagen sagten: Maschinka. Er landete auf der Kommandantur, denn Maschinisten brauchte Russland. Seither war er verschwunden.

Viele Orte wurden durchzogen. Pillkallen (=Schlossberg), Korschen, Schneidemühl, Insterburg, Hohensalzburg, Vierhöfen, zuletzt Passargen. Es ist klar, dass dazwischen viele andere Orte lagen, und manches Mal landeten wir wieder an dem Ort, den wir vor ein paar Tagen verlassen hatten. Wenn man sich die Strecken auf der Landkarte anschaut, ist es schier unglaublich, was ausgemergelte Körper schaffen. Eine Auslese. Nur wenige Alterskammeraden aus dieser Hölle haben überlebt. Immer die aufmunternden Worte der Begleitsoldaten:“ Bistra, bistra, dawai, dawai“ und die Flüche: „Ti gebut waio matka“ und „chuia“ und „churwa matsch“ als ständige Begleitmusik. Von Übergriffen dieser Begleitsoldaten auf die Frauen habe ich aber nie gehört und von Übergriffen auf Kinder in der ganzen Treckzeit nicht.

Wenn ein Ort am Ende des Tages erreicht war, wurde zuerst nach zwei Ziegelsteinen und Brennmaterial gesucht. Die Ziegelsteine ergaben den Herd. Meist hatte schon einer ein Feuer und bei dem konnte man dann die Flamme holen. Ich war ja klein und hatte es näher zum Boden und konnte so auf dem Bauch liegend, mit Pusten das Feuer richtig entfachen. Der Topf mit Wasser stand auf den Ziegelsteinen und mit dosierter Puste ging das meist gut. Gemein war es, wenn der Wind umschlug und der Rauch dann in den Augen brannte oder die Asche hineinflog oder gar die Glut die Haare versengte. Meine Mutter war dann inzwischen auf der Suche nach Essbarem. Manchmal mit einem Stück Pferdefleisch wenn in der Nähe ein Schlachtfeld war, kehrte sie zurück. Meine Mutter hatte immer ein Messer, aus noch Kebbeln, mit Silbergriff, in ihrem Stiefel. Manchmal mit Knochen aus der Müllhalde der Russen, oder mit hartem, getrocknetem Brot aus einem verlassenen Lager. Dieses Ritual an jedem Ende eines Trecktages. Die Knochen, die wir dann zurück ließen, waren sauber präpariert. Garantiert kein Fleischrest haftete daran und das knöcherne Gerüst enthielt kein Mark mehr. Zunächst wurde kräftig alles ausgesaugt und wenn dann noch Widerstand im Luftstrom war, etwas Spucke hinein gepustet und wieder gesaugt, bis man die Luft durchsaugen konnte. Das mache ich heute z.T. auch noch, nur ohne Spucke. Später, im Frühling, fand man auch Brennnesseln oder Sauerampfer und sonstige essbare Kräuter, oder die Russen kochten Kapuska – nur mit Wasser – unser Bäuche machten den Eindruck einer wohlgenährten Bevölkerung.

Einmal übernachteten wir in einem festen Haus. Der Raum war voll Stroh. Am Morgen stellten wir fest, dass uns als Kopfkissen eine tote Frau gedient hatte. So hatte sie noch im Tode einen guten Zweck gehabt. Meist lagen alle in der Nacht dicht nebeneinander in einer Reihe, um die Wärme zu halten. Irgend ein Frauenkörper hatte immer auf beiden Seiten Kontakt mit mir. Die Unterlage meist aus Stroh. Zugedeckt mit allem Möglichen, Decken, Mäntel, Plane usw. über alle sorgfältig verteilt. Lange kann man aber nicht auf einer Seite, ohne Schmerzen zu bekommen, liegen.

Wenn sich einer bewegen musste, wachten alle wie durch einen Zauber auf, die Decken flogen hoch, die ganze Reihe drehte sich auf die andere Seite, die Decken senkten sich und alles schlief weiter. Wehe wenn einer nicht mitmachte, aus welchen Gründen auch immer, Tod oder Gebrechen. Die ganze Gesellschaft geriet in Aufruhr und alles musste neu gerichtet werden. Noch heute wende ich automatisch diese Technik an, wenn ich mich im Schlaf umdrehen muss. Auch zum Aufwachen genügt eine kleine Berührung und ich bin hellwach und reaktionsbereit. Des Morgens saßen die Frauen meist mit nacktem Oberkörper auf dem Fußboden und waren auf Läusejagd. Die schlaffen Brüste an den ausgemergelten jungen und älteren Körpern waren wirklich kein erhebender Anblick . Es war eine Notgemeinschaft. Erfahrungen wurden ausgetauscht, welche Pflanzen als Nahrungsmittel geeignet waren, welche als Heilmittel, wie sie zuzubereiten waren. Wie man Krankheiten behandelte. Es kam in der Not eine ganze Reihe altes, verschüttetes Wissen hervor. Wie man Zugsalbe gegen Geschwüre oder Krätze machte, wie Durchfall mit Holzkohlenpulver gestoppt wird, wie man Fieber senkt, Fieber mit Schwitzen bekämpft, was man bei Entbindungen beachten muss, welche Rinde von welchen Bäumen für welchen Zweck geeignet ist, wie Birkenbäume angezapft werden und Vieles mehr.

Auch aus dem Aberglauben wurde vieles ausgegraben. Rief des Nachts ein Käuzchen, dann hieß es: da stirbt wieder einer. Es starben auch viele, wenn kein Käuzchen rief. Ein gängiger Spruch war: komm mit, komm mit ins kühle Grab, da reiß ich dir die Haare ab. Das war ohne Sinn, aber oft gesagt. Da wurde mittels Pendel ermittelt, ob eine bestimmte Person noch lebe. Dazu brauchte man ein Foto der zu befragenden Person, oder wenn keines vorhanden war, genügte auch ein Blatt Papier. Dann brauchte man einen Fingerring oder wenn der nicht mehr vorhanden war, genügte auch ein sonstiger kleine schwerer Gegenstand. Der wurde dann an einer Halskette oder einer Schnur befestigt. Das Ende der Schnur hielt man mit über dem Bild aufgestützten Ellenbogen in den Händen und dachte intensiv an den Gesuchten. Wenn die Person noch lebte, begann das Pendel vor und zurück zu schwingen, wenn sie tot war, schwang es links- rechts. Ein kleines Körnchen Wahrheit ist daran. Wenn der Pendler im Unterbewusstsein überzeugt ist, dass die Person nicht mehr lebt, schwingt das Pendel links-rechts. Wenn da beim Pendler absolut keine Eingebung vorhanden war, begann das Pendel zu kreisen. Oder es wurde eine Bibel mit einem Faden einfach umwickelt. Dann ein Messer hineingeschoben, an dem Faden gezogen und die Seite, die dann aufschlug gelesen und gedeutet, was unmittelbar bevor stand, oder wie man sich verhalten sollte. Ein Heilmittel war z. B. eine Kartoffel durchzuschneiden, mit einer der offenen Hälften über die Wunde oder Verletzung zu streichen, die Hälften wieder zusammen zu fügen und die Kartoffel bei Vollmond an der Wassertraufe zu vergraben. Man durfte aber mit niemand darüber sprechen. Das sechste und siebente Buch Mose tauchte in vielen Gesprächen auf. Was und ob was davon geholfen hatte ? Wenn der Mensch verzweifelt ist, fragt er nicht von wem und unter welchen Umständen die Hilfe möglich erscheint.

Einmal näherte sich dem Treck von hinten sehr schnell eine Panzereinheit. Ein Ausweichen in den tiefen Schnee war uns nicht möglich, erst recht nicht in kurzer Zeit. So rechneten wir damit unter die Panzerketten zu kommen. Ein Aufschrei pflanzte sich vom Ende des Trecks nach vorne fort. Der ganze Treck geriet ins Stocken. Da bog der führende Panzer nach links vom Weg ab, walzte einen Baum nieder und überholte den Treck vorschriftsmäßig links. Die anderen folgten.

Eines Tages hielt der Treck auf der Straße an einem freien Feld. Es regnete. Links von der Straße waren die Menschen in einem Viereck aufgestellt. Hier erfolgte eine Selektion. Junge, alleinstehende Frauen auf einer Seite, junge Männer auf der Seite quer zum Treck, alte Männer, alte Frauen und Frauen mit Kindern auf der anderen Seite. Vor uns wollte sich ein Mädchen nicht von den Eltern trennen und ihr Vater hielt es fest. Der Mann und das Mädchen wurden mit Gewehrkolbenschlägen gefügig gemacht. Viele solche Dramen spielten sich auf diesem Feld ab, bis unser ganzer Treck in drei Teile aufgelöst war.

Die Frauen hatten die Aufgabe die riesigen Viehherden zusammenzuhalten und zu treiben. An Melken der Kühe war bei der Menge wohl nicht zu denken. Die Tiere brüllten vor Schmerzen. Sicher sind viele auf dem Trieb verreckt. Dass die Frauen vergewaltigt wurden, unterstelle ich aufgrund der Erfahrungen. Sie landeten im Sowjetparadies, wie die Russen ihre Heimat zu nennen pflegten.

Die Männer hat man wohl zum Beseitigen der vielen Leichen und Kadaver verwendet. Ganze Fabriken wurden demontiert und wahllos auf Zugwaggons verladen. Ich habe ausgeräumte Meiereien gesehen, in denen die Transmissionen noch an der Decke hingen. Die Treibriemen waren wohl zu Schuhsohlen verarbeitet worden und wenn man die Funktion der Transmission nicht kennt, erachtet man diese als unwichtig. So ging es wohl mit allen Maschinen der ausgeräumten Fabriken. Ganze Schiffe wurden verladen – über zwei Güterwagen ohne Drehkreuz - es wäre ein Erlebnis gewesen diesem Zug bei einer Havarie zuzuschauen. Auch diese Männer lernten das Sowjetparadies kennen.

Bei einem Treckziel war auch eine Rinderherde. Das Brüllen der Rinder überlagerte fast alle anderen Geräusche. Der Geruch der Herde bedeutete Leben, Überleben. Kann man sich so auf einen Kuhgeruch freuen ? Für Außenstehende unvorstellbar – der stinkt nach Stall.

Es war eine Milchausgabestelle eingerichtet worden. Die Frauen trauten sich nicht dort hin aus Angst in eine Falle zu geraten. So wurden wir Kinder dort hingeschickt. Jedes mit irgendeinem Gefäß ausgerüstet. Ich glaube, ich hatte tatsächlich eine Milchkanne. Ein kleines Schiebefenster in der Außenwand der Hütte, oder war es so eine Art Wohnwagen ? war die Ausgabestelle und durch eine Russin besetzt. Es war schon dunkel und das Fensterchen erleuchtet. Man reichte das Gefäß hinein, es wurde in einen Kübel mit Milch getaucht und es wurde tropfend wieder herausgereicht. Vor mir war noch ein Kind an der Durchreiche, als ein Soldat von hinten den Raum betrat. Nun fing ein Gelächter und Gequietsche an und schließlich das Fenster geschlossen und ein Vorhang zugezogen. Milchholende Kinder als Zuschauer brauchte man bei diesem Akt nicht. Die Milchausgabe war wegen wichtiger Vorhaben unterbrochen oder beendet. So genau weiß ich das nicht mehr.

Der gemischte Treck wanderte wieder ziellos weiter. Die wehrhaften jungen Männer waren fort. Aus Russland kamen immer mehr aus der Mongolei rekrutierte „Soldaten“. Die Frauen waren zu einer Art Freiwild geworden.

„Frau komm -. idissuda und paninka ? vieke vieke, wobei sie die eine Hand zur Faust machten und mit dem Zeigefinger der anderen dort hineinstießen und chure chure ( für: ich will eine Armbanduhr) und Frietz für einen Deutschen, war das übliche Vokabular. So fragten sie freundlich lächelnd uns Kinder. Uns war das peinlich, unser Schamgefühl, dass wir noch hatten, wurde tief getroffen. Was hatten diese Bestien für eine Vorstellung von uns ? Keine Frau war vor ihnen sicher. Wurde eine aufgegriffen, zerrte man sie in einen Hausgang oder in ein Gebüsch. Meist warteten dort schon ein paar „Kameraden“. Die Schreie der gequälten Frauen konnte man jeden Tag und jede Nacht hören. Später machte ich mir Gedanken darüber, wie diese Menschen in der Folgezeit mit ihren Taten leben, überleben, konnten. Denn es waren Menschen – Tiere sind zu solchen Taten nicht fähig. Immer geht eine Werbung und dann ein Einverständnis bei den Tieren voraus. Es wäre eine Beleidigung der Tiere, diese mit Menschen zu vergleichen. Erst wenn wir begreifen und akzeptieren, dass solche Taten menschlich sind und nicht viehisch, schweinisch usw., sondern von Menschen verübt werden, werden wir in der Lage sein, uns zu ändern – Gott ähnlich zu werden. Eine schwache Hoffnung. 2000 Jahre christlicher Religion haben keinen kleinen Beitrag zur Veredelung des Menschen beigetragen und die anderen Religionen auf der Welt auch nicht (wie man den Zeitungsberichten bez. Indien u.a. entnehmen kann). Weshalb lebt der Mensch denn überhaupt auf dieser Welt. Was ist seine Aufgabe ? Einem Gott zu dienen, der dies alles zulässt und dafür noch Anbeter braucht ? Die jüngeren Frauen verkleideten sich, hüllten sich in Lumpen, verschandelten die Gesichter mit Asche oder schwarzer Kohle. Es nützte ihnen nichts. Anscheinend, ob jung oder alt, waren sie immer noch anziehender als deren Frauen in den Jurten oder Erdlöchern im Sowjetparadies. Eines Nachts kamen einige dieser Bestien in unser Nachtlager und meine Mutter war weg. Für mich war klar, ich war jetzt für meinen kleinen Bruder verantwortlich, saß aufrecht auf dem Fußboden und hielt ihn in meinen Armen ganz fest umschlungen.

Die Frauen in dem Raum sahen uns mitleidig an. Ich kannte die Folgen. Sie kam nicht wieder und ich musste jetzt für uns sorgen, Essen, Kleidung, Kochen, Aufpassen. So schnell wird man erwachsen ! In der Nacht kam sie dann doch wieder. Barfuß, bei der Kälte und in dem Schnee, aufgelöst, in ihrem blauen Trainingsanzug , Blutüberströmt. Man hatte sie mit Gewehrkolbenschlägen auf den Kopf gefügig gemacht. An den Folgen dieser Behandlung litt sie bis zum Tod mit 93 Jahren. Bei jedem Wetterumschwung litt sie an Kopfschmerzen. Sie war jetzt wieder da, aber mein Erwachsensein blieb. Der Gerhard General berichtete später einmal, dass er von einem „Soldaten“ verschleppt wurde. Zunächst nahm er ihm die Hose weg und durchsuchte die Taschen. Als er darin eine Tabakpfeife fand fragte er ihn, ob er ein Knabe sei. Dann schickte er ihn wieder weg. Das war offensichtlich ein Fehlgriff. Sonst habe ich keine Erinnerung an Übergriffe auf Kinder.

Im weiteren Verlauf des Trecks mussten wir auch über eine Behelfsbrücke einen Fluss überqueren. Kein Geländer schützte, nur lose Bretter als Abdeckung. Zu allem Missstand sollte gleichzeitig eine Viehherde hinüber. Wir waren am äußersten rechten Rand. In der Tiefe lagen Fahrzeuge und einige Menschen.

Mehrere Kühe stürzten ab. Sich mehrmals überschlagend, sah man sie fallen. Von hinten drängten andere, Menschen und Vieh. Wir waren diesmal in die Mitte des Trecks geraten. Ich war dem Absturz nahe, als meine Mutter mich an der linken Hand zurückriss. Warum bin ich nicht geblieben, was für eine Aufgabe hat das Schicksal noch für mich bereit ? Alles nur Zufall ? Vermutlich ist es so – nochmehr Nietzsche lesen. (Der) Gott (der Religionen) ist tot, es lebe (der wirkliche) Gott.

Einmal wurden wir durch einen Ort getrieben, ich glaube es war Schneidemühl, in welchem entweder kurz zuvor noch gekämpft worden war oder sich eine Explosion ereignet hatte. Ein Soldat mit nacktem Oberkörper schien aus einem Grabenrand zu wachsen. Der Unterteil des Körpers schien noch in der Erde zu stecken – so sah es aus. Rechts des Weges ein noch rauchender Panzer. Die Turmlucke stand offen. Ein russischer Soldat hing aus dem Turm. Ein Stück weiter drei frisch rot gestrichene ca. 2 Meter hohe schlanke Kegel. Der mittlere war etwas höher und trug einen goldfarben gestrichenen Sowjetstern. Vermutlich war es eine katastrophale Explosion gewesen, denn es gab keinerlei Ausschreitungen gegen den Treck. Die Soldaten hatten alle leere Gesichter.

Ein anderes Mal landeten wir in einem Gefangenenlager für Soldaten. So richtig mit Stacheldrahtzaun, Todesstreifen, Lagertor, Donnerbalken usw. Die Soldaten waren gerade abtransportiert worden.

Auf dem Weg des Trecks nach Kraupischken oder Breitenstein, wie der Ort ab 1938 hieß, musste mein kleiner Bruder abgehalten werden (er musste kacken). Auf dem oberen Teil des Grumpels (Kackhaufen) war Blut und mitten drin etwas grün, das war das Zeichen des unumgänglichen Todes. Er hatte die Ruhr.

In Kraupischken wurden wir unter den Ausnahmezustand gestellt. Keiner durfte die Häuser verlassen und es wurde die sofortige Erschießung angedroht. Anscheinend wurden aber alle Einheiten zur Stürmung von Königsberg dorthin abgezogen. Wir hatten aber Hunger und die Frauen schlichen sich des Nachts aus den Häusern und kamen mit Säcken von getrocknetem Brot, Zwiebeln und Salz wieder. Dies und Wasser hat uns eine Zeit überleben lassen. Vier Familien in einem Raum – es wurde geraten, wer am längsten furzen konnte und „Mensch ärgere Dich nicht“ mit einem Knopf auf Papier gezeichnet. Ein Würfel aus Papier gebastelt, Regeln aufgestellt und mit dem Spiel die Zeit vertrieben. Ein Mädchen, wir nannten es Juddelmaschine, saß den ganzen Tag im Bett, am Kopfende, neigte sich vor und schlug dann mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes. Dabei wiederholte es rythmisch und endlos: Ma–ma ich will Brot, Ma-ma ich will Ku-chen, Ma-ma ich will es-sen, Ma-ma ich will Scho-ko-la-de. Es war nicht zum Aushalten. Alle hatten Hunger und dann dieser Gesang. Hier fiel mir dann sehr schmerzhaft gierig mein angebissenes Brötchen in Lichtenhagen wieder ein. Wie habe ich gelitten. Nie wieder im Leben werde ich meine Portion nicht aufessen, um nie mehr in der Erinnerung an liegengelassenes Essen so leiden zu müssen. Meinen Kindern habe ich später geboten, nur soviel sich auf den Teller zu legen, wie sie meinten essen zu wollen. Lieber noch einmal nachfassen, aber was dann auf dem Teller war, musste aufgegessen werden. Sie sollten nie in solch eine Situation kommen.

Das Warum konnte ich ihnen nicht erklären. Zu der Zeit war das Sprechen darüber für mich noch nicht möglich und zum Verständnis darüber waren sie noch zu jung. Auch mit meiner Ehefrau habe ich über das hier Geschriebene nie gesprochen. Weshalb auch – wer das nicht durchlebt hat, versteht es nicht.

Mein Bruder lag immer im Bett, in dem wir alle drei in der Nacht schliefen, und wurde immer schwächer. Eines Tages, ich saß gerade bei ihm, hörte er zu atmen auf. Viele hatte ich sterben sehen und wusste wann ein Mensch tot war, aber wenn es einen doch persönlich berührt - - -. Ich warf mich auf ihn – er sollte doch wiederkommen. Ich würde ihm auch nie wieder mein Spielzeug wegnehmen. Er war ja nicht nur mein Bruder. Ich fühlte mich auch für ihn seit der Vergewaltigung meiner Mutter verantwortlich. Nein, das half nichts - ich musste den Tod als wirklich hinnehmen. Diese Situation bringt mich, wenn sie mir in den Sinn kommt, auch heute noch zum Weinen. Kurz darauf wickelte ihn meine Mutter in eine Decke. Wir zogen ihn in der Deckung eines Grabens über dessen Eisdecke zu dem kleinen Heldenfriedhof des I. Weltkrieges von Kraupischken. Hier war der Vater meiner Mutter in den ersten Tagen des Krieges gefallen und unter dem Namen Maus beigesetzt. Meine Mutter hatte eine Grube ausgehoben. Der kleine Leichnam wurde in seiner Decke da hineingelegt. Es tat sehr weh die ersten gefrorenen Erdbrocken auf ihn zu werfen. Nachher ging es leichter. Der Friedhof war mit Lebensbaum umrandet. Wir brachen mehrere Zweige ab und steckten sie in den kleinen Grabhügel, in der Hoffnung einige würden anwachsen und so in späterer Zeit das Wiederfinden erleichtern. Nun waren Großvater und Enkel, die sich nie gesehen hatten, vereinigt.

Aus einem Heldenbericht einer Reitereinheit in einem Buch des v. Mackensen las ich später, das sich eine russische Einheit mit der Landwehr bei Kraupischken ein heftiges Gefecht am Todestag meines Großvaters lieferte. Das Gefecht ermattete, die meisten Soldaten der Landwehr waren tot oder verwundet . Nun brach diese heldenhafte Reitereinheit, die die ganze Situation aus einem oberhalb des Kampfplatzes liegenden Gebüsch beobachtet hatte, mit Hurra hervor, worauf die russische Einheit unter Zurücklassung aller Ausrüstung floh. Der Anführer dieser Reiter- einheit wurde dann wegen seiner Tapferkeit ausgezeichnet. Meine Großmutter hatte Schwierigkeiten ihre Kriegerwitwenrente zu bekommen, weil sie keine Unterlagen hatte. Lediglich der Pfarrer in Plicken verlas die Gefallenenliste von der Kanzel und hielt einen Dankgottesdienst ! ab.

In Kraupischken sahen wir des Nachts, wie „Tannenbäume“ in Richtung Königsberg abgeworfen wurden. Anscheinend brennendes Magnesium an Fallschirmen. Dann folgten Explosionen und der Himmel färbte sich glutrot. Die Bombardierung dauerte die ganze Nacht. Der Kommentar der Erwachsenen nach jeder Explosion: „das waren die letzten Mauern von Königsberg“. Es gab noch viele letzte Mauern in dieser Nacht. Am nächsten Tag war die Gegend mit Asche übersät, Papier lag auf den Feldern und Scheiben aus Glas. Ich fand auf einem Acker ein bunt bemaltes Glasbild, eine frühe Form eines Dias, das man in einen Projektor schob, an die Wand projizierte und so z. B. den Vortrag eines Märchens illustrierte. Tauwetter hatte eingesetzt. Wir hörten immer wieder Explosionen in der Nähe. Die Frauen stellten fest, dass die Russen mit Handgranaten fischten. Wenn die „Fischer“ abgezogen waren, sammelten sie die kleineren Fische. Es wurde auch ein Schlachtfeld mit toten Pferden gefunden. Wenn man die Kadaver umdrehte konnte, man aus der noch gefrorenen Seite Fleischstücke heraus- schneiden. Der Ausnahmezustand war wohl aufgehoben worden. Die Übergriffe auf die Frauen, die Vergewaltigungen, nahmen ab.

Irgendwann ging der Treck weiter. In einem Ort, in dem übernachtet wurde ließ der Kommandant bekanntgeben, dass die Frauen laut schreien sollten, wenn Übergriffe drohten. Er würde dann ein Kommando losschicken. Die Frauen in unserem Raum hatten ein Feuer in einem Waschkessel angefacht und diesen mitten im Raum auf Ziegelsteine gestellt. Es qualmte fürchterlich. In einiger Entfernung von uns fingen die Frauen an zu schreien. In anderen Häusern wurde der Alarm übernommen und setzte sich von Haus zu Haus fort. Plötzlich standen auch in unserem Raum russische Soldaten. Der Qualm brannte ihnen in den Augen und sie mussten in die Hocke gehen. Nun fingen auch die Frauen in unserem Raum an zu schreien. Die Soldaten wollten sie beruhigen, aber die Panik und die Erfahrung taten ihren Dienst und die Frauen schrien, bis die Soldaten uns verließen. Sagte der Igel zum Fuchs:“ lasse Du Dir Deine Zähne ziehen, dann lege ich meine Stacheln ab“. Vermutlich war es das Wachkommando, das auf Patrouille war und die Häuser nach den Verbrechern durchsuchte. Die Schreie der Frauen verfolgen mich heute noch und ich würde unter allen Umständen eingreifen, wenn ich solche Abscheulichkeiten sähe. Da gibt es doch Filme in den Medien und bestimmte Zeitungen, die solche Taten beschreiben und natürlich immer mit dem Hinweis auf die Schlechtigkeit solcher Taten. In Wirklichkeit immer mit dem Ziel, die Einschaltquoten zu erhöhen oder die Auflagen, was natürlich nicht so gesagt wird, aber dieser Effekt gerne zur Bilanzverbesserung gesehen wird. Wo ist da noch der Unterschied zu den Tätern ? Was sind wir Menschen doch für eine Gesellschaft. Pfui Deibel – da muss man sich schämen zu der Gattung Mensch zu gehören, die auch noch solche Medienzaren feiert (nur weil sie „Erfolg“ haben und „Reich“ sind !)

In einem anderen Ort erzählten die Erwachsenen, dass die v. Eulenburg in ihrer Kapelle ermordet lägen und Füchse bereits an ihnen gefressen hätten. Ich suchte diese kleine Kirche und fand sie. Die Tür stand offen, aber eine gewisse Scheu hielt mich davon ab hineinzugehen. Tote aus Neugier zu suchen brauchte ich nicht. Davon hatte ich viele gesehen.

In einem weiteren Ort, es war schon Frühling, der rundblättrige Wegerich wuchs schon, bekam meine Mutter Typhus. Nach langer Zeit erholte sie sich wieder. Ich bekam große Furunkel, die sehr schmerzhaft waren und deren Narben geblieben sind. Sie wurden mit dem rundblättrigen Wegerich, der als Zugsalbe diente, abgedeckt und mit selbstgemachten Stoffbinden befestigt. Es war immer das Tagesgeschäft: Binden waschen und trocknen und die getrockneten Binden schön glatt aufrollen. Einmal war eine Explosion im Hof. Durch das Fenster sah ich einen meiner Spielkameraden blutüberüberströmt. Die rechte Hand hing in Fetzen. Er hatte einen Drehbleistift gefunden und diesen perfiden Blindgänger zur Explosion gebracht. Wie durch ein Wunder hat er diese schwere Verletzung und deren Folgen überlebt. Es machte uns Spaß zuzugucken, wie die Läuse durch seinen Verband spazierten. Viele in diesem Ort hatten Durchfall. Wenn man meinte mit dem Kacken fertig zu sein und aufstand, dann schoss die braune Brühe wie bei einem Reiher nach hinten hinaus. Niemand mehr setzte sich auf eine Klobrille. Es war zu gefährlich angesteckt zu werden. Entweder auf die Brille steigen oder das Gelände düngen. Seit Monaten hatte niemand die Toiletten geleert und die Wärme im Verein mit den Fliegen tat das Übrige. Die ganzen Kloaken bewegten sich durch Maden.

An einem Rastort blieben wir mehrere Tage. Meine Mutter wurde zu Arbeiten heran- gezogen: nix rabotti nix pakuschitte. Ich war mir selbst überlassen und streifte durch die Ruinen der Häuser. In einer fand ich in den Trümmern einen angesengten schönen Blechkasten. Darin befanden sich schön bemalte Ritter mit Lanzen, Schwertern, Fahne usw. auch Reiter und die dazu passenden Pferde. Die packte ich immer wieder zurück in den Blechkasten und verstaute ihn unter den Ziegeltrümmern. Wenn am nächsten Tag mir danach war, ging ich wieder in das Versteck zum Spielen. Einmal beobachtete ich aus der Ruine heraus, wie eine Gruppe Soldaten lernen wollte Fahrrad zu fahren. Einer setzte sich darauf und fiel immer wieder um. Das Vorderrad hatte keinen Mantel und der war durch einen dicken Strick ersetzt. Ein Soldat hielt jetzt den Kandidaten fest und zwei andere schoben ihn an. Bei einer ausreichenden Geschwindigkeit ließen sie los und der Fahrer landete im Rosengebüsch. Seine Kammeraden haben sich vor Freude auf die Schenkel geklopft und ich bin schnell in Deckung gegangen.

Eines Tages suchte ich meine Mutter auf. Sie arbeitete auf einem Feld. Ein Flintenweib führte einen Pflug. Vorne am Pflug war ein Seil angebunden. An dem Seil war in gewissen Abständen ein Rundholz in der Mitte angebunden. Auf jeder Seite war eine Frau platziert und so wurde gepflügt. Wofür eigentlich ? mit welchen Früchten wolle man den Acker bestellen ? Für mich war das ein sehr deprimierender Anblick: meine Mutter vor einen Pflug gespannt. Neben dem Acker lag ein abgestürztes Flugzeug. Die Bordmunition lag noch überall umher. Das war für mich ein richtiger Abenteuerspielplatz. Zum Feierabend wurde im Dorf auf eine am Draht aufgehängten Pflugschar geschlagen. Der Ton trug sehr weit – deutsche Wertarbeit. Irgendwann erzählten die Soldaten, jedem den sie trafen, freudestrahlend: „ Chietler charpuut, Chietler charput“ und dabei machten sie die Geste des Aufhängens, indem sie mit der einen Hand einmal um den Hals kreisten und dann vom Nacken her nach oben über den Kopf zeigten. Sicher war das für sie eine Freude - der Kampf war vorbei – wir schauten nur unverständig hin. Hitler tot - was s ollte uns das sagen – was änderte das. Die stolzen Sieger erklärten uns bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: „Deutschland Deutschland über alles, drei kartoschka das ist alles, oder woina prima, woina gut, denomewitsch ti gebut, oder nima jaika nima Speck, alles Scheiße alles weg, oder auch sehr gerne: Deutschland nix Kultura“ und warfen Schreibmaschinen aus den Fenstern oder rissen gut funktionierende Kachelöfen auseinander und bauten daraus Öfen nach eigenem Gusto. Wenn im I. Stockwerk eines Hauses die Toilette verstopft war, wurde sie abgerissen und die Notdurft durch das Loch verrichtet. Kultur ist anscheinend Ansichtssache.

Dann ging unser Treck zum Bahnhof Korschen. Dort, auf dem Bahnsteig, warteten wir auf einen Zug. In dem Bahngebäude lagen italienische Soldaten. Die waren in ausgelassener Stimmung. Sie warteten auf den Transportzug in die Heimat und radebrechten mit uns Wartenden. Es dauerte bis ich merkte, dass meine Mutter verschwunden war. Panik hatte ich keine. Es waren ja keine Russen da. Dann tauchte sie wieder mit einem Brot unter dem Arm auf. Ein Italiener winkte freundlich aus einem Fenster, die Umstehenden lächelten auch. Nicht abschätzig, nicht verächtlich eher anerkennend, verständlich. Bei den Vergewal- tigungen bestand die Belohnung aus Kolbenschlägen. Hier ging es ums Überleben. Vermutlich wurden wir von hier in die Nähe von Passargen transportiert, wo wir bis in den Herbst des nächsten Jahres blieben.


Fortsetzung