Fluchtgedenken 1944 – 1946 von Hartmut Toleikis Teil 2
Treck
Obwohl ich als Jugendlicher meinte, die Abläufe der Reihenfolge nach im Gedächtnis zu behalten, sind jetzt doch große Lücken entstanden, zumindest die Folge der Orte ist verschwunden. Nie wollte ich, dass die Erinnerung mein Leben bestimmt. Die Mitteilungen über traumatisierte Helfer bei großen Unfällen in den Zeitungen und Berichte, der dann anschließenden psychischen Betreuung fand ich einfach lächerlich. Wer hat uns betreut ? und wir lebten doch auch „normal“. Später dann, mit 70 Jahren etwa, merkte ich, dass auch ich traumatisiert war. Das Wort hatte man wohl seinerzeit nicht gekannt. Einmal nur, weder auf der Flucht, noch im Treck, sondern in der Ruhepause hatte ich Angst. Sonst, bei allen Gefahren, Überraschungen, brenzligen Situationen blieb ich immer „eiskalt“, beherrscht, Herr der Situation, genauer Beobachter, richtig Handelnder. Reaktionen, wenn überhaupt, kamen später. Allerdings konnte ich mich auch nie richtig freuen. Fotoaufnahmen von mir mit der Aufforderung des Photographen zu lächeln lösten immer das Gegenteil bei mir aus. Was für ein Unsinn – aus welchem Grund und warum soll ich jetzt lächeln ? Wenn z.B. Fußballanhänger über ein erzieltes Tor jubeln konnten, war diese Reaktion für mich unverständlich. Der Ball war im Tor – na und ? Weihnachten – alle sollen sich freuen – weshalb ? Wenn ich auf einer Feier in einer etwas gelösten Stimmung war und ein Wort, ein Geräusch, ein Geruch (Das Schreien der Frauen, der süßliche Geruch der Leichen, der Geschmack von Schwarzbrot mit Butter, der Geruch der Abgase der russischen Fahrzeuge) löste die Erinnerung an den Treck aus.
Versuchte ich diese mit viel Alkohol zu verscheuchen, vergeblich. Weder die Erinnerung wich noch der Rausch kam, nur die Betrunkenheit zeigte sich – keine ver- schwommenen Bilder. Dann war es Zeit, die Feier oder Zusammenkunft zu verlassen. Wie beneidete ich die Alterskameraden, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken konnten ! Heute weiß ich: hier wäre Hilfe notwendig gewesen ! Die Auslöser bestehen heute noch, aber wenn keine weitere Belastung seelischer oder moralischer Art hinzu kommt, ist der Bedarf an Alkohol auch nicht vorhanden, obwohl ich vermutlich abhängig war. Starker Wille hat mich jede Abhängigkeit überwinden lassen.
Das erste Bild beginnt mit dem Treck im tiefen Schnee. Meine Mutter schiebt den Kindersportwagen, in dem mein Bruder Arno sitzt. Ich gehe an der rechten Seite und halte mich am Wagen fest. So lasse ich mich teilweise mitziehen. Ich bin soo müde und lege mich manchmal mit dem Oberkörper auf den Wagen. Die Beine wollen mich einfach nicht mehr tragen. Am Wagen baumelt eine Bratpfanne aus Aluminium. Der Boden ist schon nach außen durchgewölbt, der hölzerne Stiel angebrannt, aber sie ist leicht und tut ihren Dienst. Die Kinderwagenräder waren mit Federn mit Spurzapfen in einer Nut in den Achsen befestigt. Wenn diese nicht geschmiert waren, nutzten die die Zapfen schnell ab, die Späne sorgten für zusätzlich Reibung, die Nabe wurde heiß, quietschte lange – bis das Rad ablief. Die Mütter hatten dann ein großes Problem. Entkräftet den notwendigsten Haushalt und das Kind zu tragen und das Tempo des Trecks zu halten.
Niemand wusste das Ziel des Trecks, kannte den Sinn nicht, nicht den Standort, wann eine Rast eingelegt wird, was uns am Ziel erwartet. Der Soldat in der Gefangenschaft hat, so unsinnig das auch klingt, im Vergleich mit der Zivilbevölkerung, einen gewissen Schutz.
Schier unglaubliche Leistungen dieser tapferen Frauen, die die Folgen dieses irrsinnigen Krieges im wahren Sinn des Wortes zu tragen hatten und da ist heute eine kleine Partei, die auf Gewinnmaximierung spezialisiert ist, sich aber beharrlich weigert die Leistungen dieser Frauen in Form von Rentenzuschlägen für Kinder anzuerkennen, obwohl gerade diese Frauen durch ihre übermenschlichen Anstrengungen ihnen die Wähler erhalten haben.
Eine Schande für Deutschland !
Der Schnee lag sehr hoch zu beiden Seiten des Weges. Nur wenn man auf einem Hügel war konnte man den Treck einigermaßen über- blicken. Wie ein geschlängeltes schwarzes Band aus Frauen, Kindern, Männern zog er sich durch das weiße Leichentuch. Der Schnee
hatte Vieles am Wegesrand gnädig zugedeckt. Ab und zu eine Leiche am Wegrand, ein Fahrzeugwrack unter dem Schnee erkennbar. Die Erwachsenen sagten, wer wegen Ent- kräftung sich an den Wegrand in den Schnee setzt, wird von den Begleitposten erschossen. Unter den vorhandenen Bedingungen war das wohl die „humanste“ Lösung. Meine Mutter ging immer ziemlich am Ende des Trecks. Da war der Schnee schon recht festgetreten und das Schieben des Kinderwagens leichter. Der Kinderwagen musste ständig an dem richtigen Schwerpunkt geschoben werden. Sonst wurden die Räder ungleichmäßig belastet und liefen schließlich ab. Auch da konnte man sich behelfen wenn nur ein Rad ohne Feder war.
Z. B. konnte man dieses Rad vorne links aufsetzen, den Druck beim Schieben auf die Hinterräder legen und den Wagen etwas diagonal nach vorne links ausrichten, dadurch war der Druck etwas auf das linke Vorderrad Richtung Achse. Wir fanden viele Kinder- wagenräder auf unserer Position im Treck, aber alle hatten keine Federn mehr.
Neben uns ging ein Wachsoldat. Ziemlich klein, wohl auch schon etwas älter, mit einem martialischen Schnauzbart unter der Nase. Er hatte, so schien es mir, ein freundliches Gesicht. Noch heute versuche ich die Menschen nach ihren Gesichtern zu beurteilen
– irre mich selten. Er gab meiner Mutter ein Stück Brot. Eines dieser klitschigen, schweren, schwarzen Brote. Meine Mutter konnte es nicht auch noch tragen ! Welche Ironie – da fällt man vor Entkräftung fast um und kann das rettende Lebensmittel nicht schleppen. Der Russe nahm es dann wieder an sich und gab es ihr am Treckziel zurück. In irgendeinem großen Raum fanden wir dann Unterkunft für die Nacht. Der kleine Russe kam dann zu uns mit einem Kochgeschirr voller Gulasch. Er aß mit einem grob geschnitzten Holzlöffel und, nachdem er satt war, gab er es meiner Mutter. Vermutlich hatte er Nachschlag geholt. Nachdem meine Mutter gegessen und den Arno gefüttert hatte, bekam ich das Kochgeschirr und den Holzlöffel. Ich war und bin bez. der Hygiene sehr empfindlich. Der dicke, raue Holzlöffel wollte sich so gar nicht an das Empfinden meiner Lippen anpassen, aber, nachdem ich denen beim Essen zugeschaut hatte und das Gulasch schmeckte und ich wohl auch Hunger hatte, konnte der Widerwille überwunden werden.
Die Winterzeit hatte auch Vorteile. Die kurze Helligkeit erlaubte keine langen Wege. Das sollte später anders werden. In der Dunkelheit konnten sich die Menschen aus dem Treck entfernen, was unter allen Umständen vermieden werden sollte. Im Treck war noch ein gewisser Schutz vorhanden, aber in der „freien Wildbahn“ war jeder den marodierenden Banden ausgeliefert und die Russen hatten Angst vor angeblichen geheimen „Wolfseinheiten“.
Irgendwann spürte uns unser Vater auf. Er hatte über eine Kommandantur einen Passier- schein erhalten und einen Panjewagen mit einem Pferd organisiert. Er beherrschte die Sprachen litauisch, russisch, polnisch, englisch. Erstaunlich für ein Kind einer Familie mit 12 Kindern. Wohin er fahren wollte, weiß ich nicht. Wir kamen öfter durch Kontrollen: Fragen und Antworten:“ Pajechale damoi“.
Lesen und Schreiben konnten die meisten nicht. Der Passierschein und die russische oder litauische Sprache reichten aus. Bei einer Kontrolle jedoch wurde ihm dieser Passier- schein weggenommen. Nach den Erzählungen meiner Mutter hat der Kontrollierende gesagt: Scheiß Kommandant, nix Kommandant, ich Kommandant, den Passierschein zerrissen und mit den Füßen zertreten, das Zug- geschirr durchgeschnitten und das Pferd mitgenommen. So waren wir wieder ganz normale Besiegte. Einmal setzten wir die Reise auf einem russischen Lastwagen mit Munition fort. Oben auf den Kisten lagen wir flach unter der Plane. Der Wagen lag unter Beschuss der Deutschen. Die Munition wurde aber nicht getroffen. Anscheinend ging aber eine Kugel oben durch die Plane und meine Mutter musste meinen Vater auf eine Schuss- verletzung untersuchen, fand aber keine. Es war eine tolle Fahrt. Wir meinten manchmal, der Wagen müsse umkippen. Wo wir dann abgestiegen sind kann ich nicht sagen.
Schließlich landeten wir wieder in einem Treck. Bei irgend einer Kontrolle entdeckte man bei meinem Vater den Führerschein.
Damit war er Maschinist, wie die Russen zum Lastwagen sagten: Maschinka. Er landete auf der Kommandantur, denn Maschinisten brauchte Russland. Seither war er verschwunden.
Viele Orte wurden durchzogen. Pillkallen (=Schlossberg), Korschen, Schneidemühl, Insterburg, Hohensalzburg, Vierhöfen, zuletzt Passargen. Es ist klar, dass dazwischen viele andere Orte lagen, und manches Mal landeten wir wieder an dem Ort, den wir vor ein paar Tagen verlassen hatten. Wenn man sich die Strecken auf der Landkarte anschaut, ist es schier unglaublich, was ausgemergelte Körper schaffen. Eine Auslese. Nur wenige Alters- kammeraden aus dieser Hölle haben überlebt. Immer die aufmunternden Worte der Begleit- soldaten:“ Bistra, bistra, dawai, dawai“ und die Flüche: „Ti gebut waio matka“ und „chuia“ und „churwa matsch“ als ständige Begleit- musik. Von Übergriffen dieser Begleit- soldaten auf die Frauen habe ich aber nie gehört und von Übergriffen auf Kinder in der ganzen Treckzeit nicht.
Wenn ein Ort am Ende des Tages erreicht war, wurde zuerst nach zwei Ziegelsteinen und Brennmaterial gesucht. Die Ziegelsteine ergaben den Herd. Meist hatte schon einer ein Feuer und bei dem konnte man dann die Flamme holen. Ich war ja klein und hatte es näher zum Boden und konnte so auf dem Bauch liegend, mit Pusten das Feuer richtig entfachen. Der Topf mit Wasser stand auf den Ziegelsteinen und mit dosierter Puste ging das meist gut. Gemein war es, wenn der Wind umschlug und der Rauch dann in den Augen brannte oder die Asche hineinflog oder gar die Glut die Haare versengte. Meine Mutter war dann inzwischen auf der Suche nach Essbarem. Manchmal mit einem Stück Pferdefleisch wenn in der Nähe ein Schlachtfeld war, kehrte sie zurück. Meine Mutter hatte immer ein Messer, aus noch Kebbeln , mit Silbergriff, in ihrem Stiefel. Manchmal mit Knochen aus der Müllhalde der Russen, oder mit hartem, getrocknetem Brot aus einem verlassenen Lager. Dieses Ritual an jedem Ende eines Trecktages. Die Knochen, die wir dann zurück ließen, waren sauber präpariert. Garantiert kein Fleischrest haftete daran und das knöcherne Gerüst enthielt kein Mark mehr. Zunächst wurde kräftig alles ausgesaugt und wenn dann noch Widerstand im Luftstrom war, etwas Spucke hinein gepustet und wieder gesaugt, bis man die Luft durchsaugen konnte. Das mache ich heute z.T. auch noch, nur ohne Spucke. Später, im Frühling, fand man auch Brennnesseln oder Sauerampfer und sonstige essbare Kräuter, oder die Russen kochten Kapuska – nur mit Wasser – unser Bäuche machten den Eindruck einer wohlgenährten Bevölkerung.
Einmal übernachteten wir in einem festen Haus. Der Raum war voll Stroh. Am Morgen stellten wir fest, dass uns als Kopfkissen eine tote Frau gedient hatte. So hatte sie noch im Tode einen guten Zweck gehabt. Meist lagen alle in der Nacht dicht nebeneinander in einer Reihe, um die Wärme zu halten. Irgend ein Frauenkörper katte immer auf beiden Seiten Kontakt mit mir. Die Unterlage meist aus Stroh. Zugedeckt mit allem Möglichen, Decken, Mäntel, Plane usw. über alle sorgfältig verteilt. Lange kann man aber nicht auf einer Seite, ohne Schmerzen zu bekommen, liegen.
Wenn sich einer bewegen musste, wachten alle wie durch einen Zauber auf, die Decken flogen hoch, die ganze Reihe drehte sich auf die andere Seite, die Decken senkten sich und alles schlief weiter. Wehe wenn einer nicht mitmachte, aus welchen Gründen auch immer, Tod oder Gebrechen. Die ganze Gesellschaft geriet in Aufruhr und alles musste neu gerichtet werden. Noch heute wende ich automatisch diese Technik an, wenn ich mich im Schlaf umdrehen muss. Auch zum Aufwachen genügt eine kleine Berührung und ich bin hellwach und reaktionsbereit. Des Morgens saßen die Frauen meist mit nacktem Oberkörper auf dem Fußboden und waren auf Läusejagd. Die schlaffen Brüste an den ausgemergelten jungen und älteren Körpern waren wirklich kein erhebender Anblick . Es war eine Not- gemeinschaft. Erfahrungen wurden aus- getauscht, welche Pflanzen als Nahrungsmittel geeignet waren, welche als Heilmittel, wie sie zuzubereiten waren. Wie man Krankheiten behandelte. Es kam in der Not eine ganze Reihe altes, verschüttetes Wissen hervor. Wie man Zugsalbe gegen Geschwüre oder Krätze machte, wie Durchfall mit Holzkohlenpulver gestoppt wird, wie man Fieber senkt, Fieber mit Schwitzen bekämpft, was man bei Entbindungen beachten muss, welche Rinde von welchen Bäumen für welchen Zweck geeignet ist, wie Birkenbäume angezapft werden und Vieles mehr.
Auch aus dem Aberglauben wurde vieles Ausgegraben. Rief des Nachts ein Käuzchen, dann hieß es: da stirbt wieder einer. Es starben auch viele, wenn kein Käuzchen rief. Ein gängiger Spruch war: komm mit, komm mit ins kühle Grab, da reiß ich dir die Haare ab. Das war ohne Sinn, aber oft gesagt. Da wurde mittel Pendel ermittelt, ob eine bestimmte Person noch lebe. Dazu brauchte man ein Foto der zu befragenden Person, oder wenn keines vorhanden war, genügte auch ein Blatt Papier. Dann brauchte man einen Fingerring oder wenn der nicht mehr vorhanden war, genügte auch ein sonstiger kleine schwerer Gegenstand. Der wurde dann an einer Halskette oder einer Schnur befestigt. Das Ende der Schnur hielt man mit über dem Bild aufgestützten Ellen- bogen in den Händen und dachte intensiv an den Gesuchten. Wenn die Person noch lebte, begann das Pendel vor und zurück zu schwingen, wenn sie tot war, schwang es links- rechts. Ein kleines Körnchen Wahrheit ist daran. Wenn der Pendler im Unterbewusstsein überzeugt ist, dass die Person nicht mehr lebt, schwingt das Pendel links-rechts. Wenn da beim Pendler absolut keine Eingebung vorhanden war, begann das Pendel zu kreisen. Oder es wurde eine Bibel mit einem Faden einfach umwickelt. Dann ein Messer hineingeschoben, an dem Faden gezogen und die Seite, die dann aufschlug gelesen und gedeutet, was unmittelbar bevor stand, oder wie man sich verhalten sollte. Ein Heilmittel war z. B. eine Kartoffel durchzuschneiden, mit einer der offenen Hälften über die Wunde oder Verletzung zu streichen, die Hälften wieder zusammen zu fügen und die Kartoffel bei Vollmond an der Wassertraufe zu vergraben. Man durfte aber mit niemand darüber sprechen. Das sechste und siebente Buch Mose tauchte in vielen Gesprächen auf. Was und ob was davon geholfen hatte ? Wenn der Mensch verzweifelt ist, fragt er nicht von wem und unter welchen Umständen die Hilfe möglich erscheint.