Herforder Chronik (1910)/266

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Herforder Chronik (1910)
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blutigen Wüten Albas die Evangelischen die Flucht ergriffen. Sie fanden in Köln eine Zuflucht, und dort, fern der Heimat, wurde ihnen im Jahre 1607 Anna Maria geboren. Erst nach öfterem Umherziehen sahen sie ihr Vaterland wieder, und nach dem Tode ihres Vaters wohnte Anna Maria mit ihrer Mutter in Utrecht, der Universitätsstadt.

Wir können nur schwer der Versuchung widerstehen, von den Mitteilungen ihrer zeitgenössischen Lobpreiser Einzelheiten zu berichten, es sei hier nur der Inhalt jener begeisterten Auslassungen angedeutet. Man erging sich in überschwenglichen Hymnen auf die frühzeitige staunenswerte Entfaltung ihrer Geisteskräfte, auf ihre Leistungen in allem Wissenschaftlichen und Künstlerischen; war sie doch in den Werken der Schriftsteller der älteren und neueren Zeit ebenso bewandert wie in der Mathematik und verwandten Wissenschaften; finden wir sie doch in allen Zweigen der Kunst heimisch, als Musikerin und Schauspielerin, als Zeichnerin und Malerin, ebenso als Bildnerin in Holz, Stein, Metall und Elfenbein.

In ihrem Utrechter Hause war ein Gehen und Kommen von Gelehrten uud Künstlern, von ihrem Schreibtische flogen ihre in vielerlei Sprachen abgefaßten Schriften hinaus in alle Welt. Und wie ihre Freundin Elisabeth hatte sie in dem schöngeistigen und wissenschaftlichen Treiben die Reinheit ihres Herzens bewahrt und in dem hastigen Drangen die Grundlage ihrer Glückseligkeit, die Gottesfurcht, gerettet. Die sie in näherem Verkehr kennen lernten, standen darum, das ist zu begreifen, vor diesem staunenswerten Wesen wie vor etwas Unglaublichem, Überirdischem; sie sprachen von ihr in einer Fülle hochtönender Namen, die alle den Sinn hatten, daß in dieser Jungfrau ein fast anbetungswürdiges Geschöpf auf Erden erschienen sei.

Unter einem Brustbilde Annas befindet sich die Inschrift:

Non nisi dimidia spectatur imagine virgo,
Maxima quod totam nulla tabella capit.

D. i.:

Nur im halben Bilde sieht man die Jungfrau,
Weil kein, noch so großes, Gemälde sie ganz faßt.


Elisabeths heißes Ringen nach tieferer und reicherer Erkenntnis fand in dem nach einem sehr bewegten Leben aus Frankreich nach Holland gekommenen Philosophen Descartes oder Kartesius, dem „scharfsinnigsten Denker der Franzosen“, einen Führer durch die theologischen Grübeleien, denen sie mit Vorliebe nachhing. Er lehrte sie in seiner Weise denken und fand in der Prinzessin eine ebenso lernbegierige wie dankbare Schülerin. Auf dem Grunde gegenseitiger Hochachtung erwuchs zwischen dem damals 45jährigen Weltweisen und Elisabeth, die erst 22 Jahre zählte, ein Freundschaftsbund von solcher Festigkeit, daß auch dann, als das Geschick trennend zwischen sie trat, in einem regen Briefwechsel bis zum Tode Descartes', 1650 fortdauerte.