100 Jahre SGP

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100 Jahre Sportgemeinschaft Platjenwerbe e. V. 1910 - 2010

November des Jahres 1910: Der deutsche Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. von Russland begeben sich auf Hofjagd in Oranienburg. In Berlin wird der Sportpalast feierlich eingeweiht, in Mexiko die Revolution ausgerufen. In Blumenthal verklagen die Landwirte Johann Hashagen aus Platjenwerbe und Johann Lamcken aus Wollah die Gemeinde Brundorf wegen unterlassener Wegeunterhaltung und bekommen Recht. Und in Platjenwerbe heben einige junge Männer den „Turnverein Platjenwerbe“ aus der Taufe, Vorläufer der späteren Sportgemeinschaft.

In der „Norddeutschen Volkszeitung“ erscheinen eine Anzeige und ein Artikel, in denen zu einer Versammlung am Sonntag, den 20. November 1910, nachmittags um 4 Uhr, in Dodts Sommergarten zwecks Gründung eines Turnvereins geworben wird.

Die sportbegeisterten Männer der ersten Stunde, die auch gleichzeitig den ersten Vorstand des Vereins bilden, sind Vorsitzender Christian Wolf, Kassenwart Wilhelm Dodt, 1. Turnwart Johann Bellmer, 2. Turnwart Johannes Brummerhop, 1. Schriftführer August Holz, 2. Schriftführer Carl Rathjen, 1. Gerätewart Dietrich Hashagen und 2. Gerätewart Gerhard Siemer. Apropos Geräte: Sie zeichnen sich in den ersten Lebensjahren des jungen Vereins durch Bescheidenheit aus. Die Reckstange zum Beispiel besteht aus einem Rundholz, befestigt an einem Türrahmen der Gastwirtschaft Bellmer, die den Turnern als Treffpunkt und Vereinsheim dient.

Nachdem sich der Turnverein konstituiert hat, gewinnt der Turnbetrieb an Konturen. Zweimal wöchentlich wird in zwei Riegen geturnt, neue Mitglieder können gewonnen werden, die Männer aus dem 300-Seelen-Dorf messen ihre Kräfte in Wettbewerben mit anderen Vereinen. Bürgermeister Seedorf ist stolz auf seine Jungs.

Doch dann bricht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ aus, wie Historiker später analysieren. Der Erste Weltkrieg beginnt am 28. Juli 1914, die jungen Platjenwerber Turner müssen den Sportdress mit der Uniform vertauschen. Neun von ihnen lassen ihr Leben auf dem Schlachtfeld.

1919, neun Jahre nach seiner Gründung, steht der junge Verein vor einem völligen Neubeginn. Doch sein Werben um die turnerische Idee fällt trotz der Nachkriegswirren auf fruchtbaren Boden. Und sie färbt ab auf das weibliche Geschlecht: 1924 wird die erste Turnerinnenabteilung ins Leben gerufen. Im selben Jahr tritt der TV Platjenwerbe erstmals mit einer Faustball-Mannschaft an, und ein Jahr später gehört das Knabenturnen zur Angebotspalette.

1925 machen auch Handballer auf sich aufmerksam. Zunächst nicht mit dem runden Leder, sondern als Schwerstarbeiter, die in unzähligen Feierabendstunden einen gepachteten Acker beim Gasthaus Bellmer in einen Sportplatz verwandeln. Der erste an dieser Stelle. Doch die Freude währt nicht lange. Nach wenigen Jahren steht das gepachtete Gelände nicht mehr zur Verfügung, die Handballer sind zur Untätigkeit verdammt, die Mitgliederzahl des Vereins schrumpft.

Die Durststrecke dauert bis zum 22. Mai 1932. An diesem Tag kann auf dem Holthorster Feld ein neuer Sportplatz eingeweiht werden, ebenfalls hergerichtet in wochenlanger ehrenamtlicher Arbeit der Vereinsmitglieder. Das Grundstück, ein Acker, befand sich im Besitz von Vollhöfner Claus Lamcken auf Holthorster Gebiet, lediglich ein kleiner Keil wurde laut Bestätigung vom 6. Februar 1932 von Johann Bruns, Besitzer der Hofstelle Platjenwerbe Nr. 17, dem Verein zur Begradigung des Geländes zur Verfügung gestellt.

Dieser Sportplatz strahlt Anziehungskraft aus: Bereits einige Wochen nach der Einweihung kann auf dem neuen Sportareal ein Vier-Orte-Wettkampf mit Athleten aus Lesum, St. Magnus, Schönebeck und Platjenwerbe ausgetragen werden. Die Mitgliederzahl steigt, die Turner aus Platjenwerbe sind gern gesehene Gäste auf Turn- und Sportfesten in der Umgebung, sie nehmen 1933 erstmals am Deutschen Turnfest in Stuttgart teil.

Der eigene Sportplatz ist zwar eine ungemein wichtige Basis für einen Sportverein, doch es fehlt das zweite Standbein: eine Turnhalle, in der auch im Winter oder bei schlechtem Wetter geturnt und gespielt werden kann. Da trifft es sich gut, dass die Freiwillige Feuerwehr des Ortes eine Unterkunft sucht. Die Idee von einem „Dorfgemeinschaftsbau“ wird geboren, 1934 wird auf einem Dorfgemeinschaftsabend dafür geworben. Die Resonanz in der Bevölkerung ist groß, die Fest-Einnahmen bilden den finanziellen Grundstock für das „Dorfheim“. Darüber hinaus werden Spenden gesammelt sowie ein Darlehen der Arno-Kunath-Stiftung und Zuschüsse aus der Landschaftlichen Brandkasse in Anspruch genommen. Und einmal mehr sind unentgeltlicher Arbeitseinsatz der Vereinsmitglieder und Dorfbewohner gefordert. Am 24. August 1935 ist es dann soweit: in der neuen Turnhalle kann die erste Turnstunde stattfinden. Und wenige Monate später feiert der TV Platjenwerbe das Jubiläum seines 25-jährigen Bestehens.

Doch wie überall im Deutschen Reich weht der braune Wind auch durch Platjenwerbe. Die Turnvereine sollen ebenfalls als Nährboden für die Ideologie der Nationalsozialisten herhalten, auf Geheiß des Reichssportführers werden so genannte Dietwarte (Volkswarte) eingesetzt, die in den Vereinsvorständen insbesondere für die Festreden und die Jugendbetreuung zuständig sind.

Die Verheißungen des Dritten Reichs enden bekanntlich in zynischer Menschenverachtung und im Zweiten Weltkrieg, der das sportliche Leben erstickt. Erneut müssen männliche Vereinsmitglieder die Uniform anziehen, 15 von ihnen bezahlen Hitlers Wahn mit ihrem Leben. Und als sein 1000-jähriges Reich in Schutt und Asche gefallen ist, übernehmen die Alliierten das Kommando. Die Turnhalle wird zur Lagerstätte für das gerettete Hab und Gut der Ausgebombten aus Bremen umfunktioniert, an einen Turnbetrieb ist nicht zu denken. Zumal die Siegermächte die alten Strukturen der Sportvereine bewusst zerschlagen: Der „Turnverein“ wird zunächst zum Tabu erklärt, die Platjenwerber Sportler müssen sich einen neue Bezeichnung geben, wollen sie ihren Übungsbetrieb wieder aufnehmen: Am 10. November 1945, fast genau am 35. Jahrestag der Vereinsgründung, ist es soweit: die „Sportgemeinschaft Platjenwerbe“ wird als Nachfolgerin des Turnvereins aus der Taufe gehoben.

Und rasch nimmt die Mitgliederzahl zu. Zahlreiche Flüchtlinge aus dem Osten und Menschen aus der Umgebung, deren Häuser und Wohnungen im Krieg zerstört worden sind, finden in Platjenwerbe eine neue Heimat, stoßen zur Sportgemeinschaft. Turnerinnen und Turner, Handball- und Faustballmannschaften, Gymnastikgruppen und Tischtennisspieler sorgen wieder für reges Leben auf dem Sportplatz und in der Halle. Maßgeblichen Anteil am Aufschwung haben der technische Leiter, Sport- und Männerturnwart Fritz Selig und die Leiterin der Frauenabteilung, Renate Falkenhahn, deren Verdienste anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Vereins gebührend gewürdigt werden.

Doch die nächste Herausforderung lässt nicht lange auf sich warten, der Sportplatz auf dem Holthorster Feld muss aufgegeben werden. Die Sportlergemeinschaft zieht es zurück an die alte Wirkungsstätte: Neben Bellmers Garten, dem späteren „Platjenwerber Landhaus“, kann 1954 einmal mehr nach intensiver ehrenamtlicher Arbeit ein neuer Platz eingeweiht werden, auf dem die erste Handballmannschaft der Herren die Gegner Jahre lang das Fürchten lehrt. Die neue Sportanlage führt zudem zur Belebung der Leichtathletikabteilung, in der Folgezeit ein Aushängeschild des Vereins.

Ende der 1950er Jahre erweist sich das Wirtschaftswunder als Hemmschuh für die Entwicklung der Sportgemeinschaft. Kino und Fernsehen, Moped und Auto sind für viele junge Menschen größere Verlockungen als die sportliche Betätigung. Dennoch gestaltet sich das Jubiläumsjahr 1960 zu einem weiteren Höhepunkt in der nunmehr 50-jährigen Vereinsgeschichte. Das Vereinssportfest und die Geburtstagsfeier bei Dodt sind gut besucht. Und auf dem großen Jubiläumsball mit zahlreichen auswärtigen Gästen wird die erste Fahne des Vereins präsentiert. Das Verdienst für diese neue Errungenschaft gebührt vor allem Konrad Belz, der im Dorf die Werbetrommel gerührt und Geld gesammelt aht.

Doch der Mitgliederschwund dauert an. 1961 werden nur noch 104 SGP-Aktive gezählt. Ein Tiefpunkt in der Vereinsgeschichte, der freilich schnell überwunden wird. Die rege Bautätigkeit im Ort und in der Umgebung bringt neue Bürger und neue Vereinsmitglieder. Zudem fallen die Appelle der Ärzte, in der Wohlstandsgesellschaft nicht nur der Bequemlichkeit zu frönen, auf fruchtbaren Boden. Der wichtigste Grund aber für den Aufschwung: Der Verein findet wieder Übungsleiter, die nicht nur fachlich qualifiziert sind, sondern auch bei der Stange bleiben. Allen voran Marlotte Schmidt, die 1962 das Mädchen- und Jungenturnen in Schwung bringt und zwei Jahre später die Frauengymnastik zu neuem Leben erweckt. Tatendrang und Ausdauer legt auch Wilma Naupert an den Tag, die 1963 das Knabenturnen übernimmt. Eine schwierige Aufgabe, an der zuvor mehrere männliche Übungsleiter gescheitert sind. 1966 können beide Übungsleiterinnen die Lorbeeren einstreichen: Der Kreissportbund stuft die Kinderabteilung der SGP als beste im Kreis Osterholz ein. Als weitere Übungskräfte zeichnen sich in diesen Jahren Ursula Lamotte – sie leitet seit 1968 die Männergymnastik – und Rudolf Giese aus, der im selben Jahr eine Judogruppe gründet.

Die Aufwärtsentwicklung ist eingeleitet, die Mitgliederzahl steigt sprunghaft an, im 60. Jahr des Vereinsbestehens werden offiziell 517 Sportler/innen registriert. Damit hat sich deren Zahl innerhalb von zehn Jahren verfünffacht. Kein Wunder, sind doch neue Turngeräte angeschafft, ein Geräteraum angebaut und die Halle mit einer modernen Heizungsanlage und einer besseren Beleuchtung ausgestattet worden. Und neben der Halle ist eine Hundert-Meter-Laufbahn entstanden.

Dennoch erfährt der Sportbetrieb strukturelle Veränderungen. Das Männerturnen verliert an Attraktivität, schon 1960 ist das Handballspielen eingeschlafen, der Sportplatz bei Bellmer ist verwaist und verfällt, weil letztlich die sanitären Einrichtungen fehlen. Am 27. Mai 1968 stirbt mit dem Ehrenvorsitzenden Johannes Brummerhop der letzte Vereinsgründer, ein Jahr später wird Johann Fortkamp zum neuen Ehrenvorsitzenden gewählt.

In den folgenden Jahren zeigt sich, dass die alte und zu kleine Halle sowie der fehlende Sportplatz – auf dem Gelände von Bellmer sollen Wohnhäuser (Bellmers Wiese) errichtet werden – bleiben ein großer Nachteil. Der Vorstand hat sich schon zu Beginn der 60er Jahre um eine Ersatzfläche in der Nachbarschaft von Schule und Turnhalle bemüht. Und bevor die Gemeinde Platjenwerbe im Jahre 1974 ihre Eigenständigkeit verliert und Teil der Großgemeinde Ritterhude wird, kann sie zusammen mit der Schule und der Sportgemeinschaft immerhin eine Kleinsportanlage mit Everply-Belag, eine Flutlicht- und eine Nebenanlage für die Leichtathleten einweihen.

Anschließend bemüht sich der Vereinsvorstand intensiv um einen Hallenneubau. Kein leichtes Unterfangen, verweist der Kämmerer der Großgemeinde doch auf die Tatsache, dass es in Platjenwerbe bereits eine Turnhalle – wenn auch mittlerweile viel zu klein – gebe, andere Ortsteile aber sehnsüchtig darauf warteten. Doch die Hartnäckigkeit der SGP-Führungsriege zahlt sich schließlich aus: Im Mai 1981 kann eine moderne, 15 x 27 Meter große Sporthalle samt Umkleide-, Dusch- und Regieräumen bei der Schule eingeweiht werden.

Kleinsportanlage und Hallenneubau haben eine enorme Schubwirkung: Der Verein wartet mit neuen Übungsangeboten und Sportgruppen auf. Tennis, Prellball und Korbball gehören jetzt ebenso dazu wie das wiederbelebte Tischtennis, das Mutter-und-Kind-Turnen und der Lauftreff. Erweitert wird die Angebotspalette durch Badminton, Altersturnen, Ehepaarturnen, Aerobic- und Jazzgymnastik sowie Kindertanz und schließlich Volleyball. Mitte der 1980er Jahre hat sich die SG Platjenwerbe mit weit über 700 Mitgliedern zu einem der größten Vereine im Landkreis Osterholz gemausert.

Die Rückschau auf 100 Jahre Turnverein beziehungsweise Sportgemeinschaft Platjenwerbe darf indes einen wichtigen Grund für die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unerwähnt lassen: In diesen Jahrzehnten hat sich der Verein auf eine Vorstandsmannschaft stützen können, die sich uneingeschränkt mit ihm identifiziert. Das jahrzehntelange Motto der Vorstandscrew kann auch ehernes Gesetz für die Zukunft sein: harmonische Zusammenarbeit, keine finanziellen Abenteuer und immer das Wohl des Vereins als oberstes Gebot. Es ist erfreulich festzustellen, dass inzwischen jüngere Mitglieder heranwachsen und Aufgaben übernehmen und die Ziele des Vereins ebenso erfolgreich verfolgen.

Quelle: Auszug aus der Festschrift „100 Jahre Sportgemeinschaft Platjenwerbe e. V.“, erschienen 2010, aus den Aufsätzen von Klaus Grunewald und Michael Buchwald