Portal:Pillkallen/Geschichte/Festvortrag Wolfskinder

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Günter F. Toepfer, 10.07.2011

Festvortrag (freie Rede) von Günter Töpfer

anlässlich des Hauptkreistreffens der Kreisgemeinschaft Schloßberg in der Stadthalle Winsen (Luhe) am 10.07.2011.
Aufgezeichnet und geschrieben von Ulrike und Günther Kraemer, überarbeitet durch die Redaktion, Ch.-Jörg Heidenreich

„WOLFSKINDER”

Lewe Landslied,
so geht es aber nicht weiter, weil ich die Sprache nicht so gut beherrsche, dass mein Vortrag so gehalten werden könnte.
Ich ziehe mich heute nicht für Sie aus. Was ich damit meine, wissen die, die gestern hier anwesend waren, sondern heute steht vor Ihnen ein konservativer Politiker, den Sie gebeten haben, zu einem Thema zu sprechen, was im Programmheft ausgewiesen ist als „Wiedersehen mit den Wölfen“. Also das, was wir gemeinhin unter dem Begriff „Wolfskinder“ zusammenfassen. Da während des Vortrages keine Fragen gestellt werden sollten, besteht für Sie die Möglichkeit, mich hinterher zu fragen und sich auch hier unten von den zwei Informationszetteln etwas mitzunehmen. Da ich aber weiß, welche Fragen immer gestellt werden bei den Vorträgen, stelle ich sie mir selber und beantworte sie auch gleich, nämlich: Warum tun sie das eigentlich, Herr Töpfer? Warum tun sie so viel für die Wolfskinder? Sind Sie denn eigentlich ein Ostpreuße? Muss man denn ein Ostpreuße sein, um Patriot zu sein? Nein, ich glaube, das muss man nicht. Ich nenne Ihnen die drei Motive. Einer unter Ihnen hat mich gestern so etwas von ausgefragt, dass er eigentlich den Vortrag teilweise auch selbst halten könnte, denn er weiß viel mehr als das, was ich Ihnen in der kurzen Zeit vermitteln kann.

Also die drei Motive: Lassen Sie es mich so sagen, mit dem ersten Satz aus dem politischen Testament unseres bedeutendsten preußischen Königs Friedrich II. „Die erste Bürgerpflicht ist, seinem Vaterland zu dienen“. Ich bin in diesem Sinne erzogen worden. Ich habe versucht, das zu verinnerlichen. Dass ich damit gegen den Zeitgeist handele, das stört mich in keinster Weise. Auch wurde mir beigebracht, nicht zeitgemäß zu sein, sondern aus Überzeugung das Wort zu reden und dafür auch einzutreten.

Nun ein zweites Motiv: -Möglicherweise hört sich das für den einen oder andern radikal an, möglicherweise rechtsradikal -. „Erst kommt mein Volk, dann all` die anderen vielen - erst meine Heimat, dann die Welt“. Starker Applaus der Zuhörer! Ich kann sie beruhigen. Sie applaudieren jetzt dem bedeutendsten Philosophen Ostpreußens, Immanuel Kant. Er hat das gesagt und auch das ist für mich Richtschnur meines Handelns.

Und das dritte Motiv (das weiß eben, wie gesagt, Herr Steinbacher), will ich Ihnen nicht vorenthalten, aber auch nicht weiter ausdehnen: Das Schicksal der Wolfskinder ist nur knapp an mir vorbei gegangen. In Dankbarkeit für diese Schicksalswende glaube ich, ergibt sich auch eine Verpflichtung. Diese Verpflichtung, über die ich reden soll, so glaube ich, ist es auch wert, das man darüber redet. Denn Sie, als Vertreter der Überlebensgeneration, wissen, was Flucht ist. Welche Entbehrungen, welche Verluste, wie viel Tod sie gesehen haben unterwegs auf der Flucht. Sie haben auch ein Verständnis für das, was Kinder erleben und erleiden mussten, nachdem sie ihre Eltern, meistens nur die Mutter, verloren hatten und nun, alleine auf dieser Welt, sich in diesen Kriegs- und Nachkriegswirren durchgeschlagen haben.
Wie bin ich zu diesem Thema gekommen? Zu dem Thema bin ich gekommen als in Berlin eine Ausstellung zum Thema der Wolfskinder gemacht wurde. In dieser Ausstellung haben Wolfskinder, die bereits 1948 nach Kyritz in Mecklenburg-Vorpommern überführt wurden, berichtet, wie ihr Leben als Wolfskind war. Und sie haben auch berichtet, in welchem schrecklichen materiellen und finanziellen Zustand, in welchen Wohnbedingungen unserer Landsleute, die in Litauen verbliebenen Wolfskinder, leben mussten. In meiner Naivität fragte ich die Macherin dieser Ausstellung: „Ja, was haben sie denn für unsere Leute eingeleitet?“ Und sie sagte mir, dass sie zu diesem Thema promoviert hat. Darauf erbat ich nur noch die Anschrift eines Wolfskindes, das geeignet war, mit mir und anderen Wolfskindern Kontakte herzustellen. Der erste Kontakt erfolgte im Jahre 2003. An dieser Stelle beginnt meine Arbeit für die Wolfskinder.

Ich hatte zu einem ersten Treffen eingeladen. Von 28 sind 27 aus dem Gebiet Tauroggen gekommen. Das ist grenznahe die größte Gruppe. Ich hatte erwartet, dass die Frage auftaucht, was ich wohl wollte, der Reiche aus Deutschland, der behauptet, Politiker zu sein! Vielleicht uns helfen? Es war alles falsch, was ich gedacht habe. Sie wollten kein Geld, sie wollten keine Bekleidung, sie wollten keine Lebensmittel, sie wollten keine Medikamente oder ähnliches haben. Sie hatten zwei Fragen an mich, wovon mich insbesondere die zweite tief betroffen gemacht hat.

Die erste wichtige Frage unserer Wolfskinder war: „Können Sie uns helfen, wer wir wirklich sind? Wir wissen, dass wir nicht die sind, wie in unserem litauischen Pass eingetragen. Wir wissen, das dieser Name frei erfunden ist - oder hat es ihn wirklich mal gegeben? Es ist nicht mein Name, nicht meine Identität, nicht mein Geburtsort und mein Geburtsdatum, auch sind es nicht meine Eltern! Wer sind wir?“

Und die zweite Frage, die mich also noch betroffener gemacht hat, war: „Hat uns jemand nach dem Krieg gesucht?“ Sie hatten also nicht etwa die unglaubliche Frage und die Hoffnung, dass noch jemand lebt. Nur das wollte man wissen, ob man nicht allein war, obwohl verloren. Leichtsinniger Weise sagte ich zu, dass ich mich darum kümmern werde, diese Fragen zu beantworten, dabei aber nicht bedacht, dass für die Klärung seit 2003 meine ganze Freizeit damit verbunden war und kompensiert wurde. Auf der Spurensuche arbeitete ich hunderte von Briefen durch, besuchte Dutzende von Archiven von Genf, über Bad Arolsen, über Hamburg und den kirchlichen Suchdienst in Stuttgart; Archive in Schloßberg, in Ragnit, in Litauen, das Geheime Preußische Staatsarchiv in Berlin, die katholische Militärseelsorge, das evangelische Kirchenbuchamt, um nur einige zu nennen. Wie das im Einzelnen erfolgte, kann ich Ihnen nicht umfangreich darstellen, zeigen möchte ich aber ein Bild mit dem „Ilja Ehrenburg-Pamphlet“! Was ich Ihnen damit zumute, ist wirklich eine Zumutung. Ich lese Ihnen nur zwei Passagen aus dem Text vor. Der Text liegt für Sie auch zur Mitnahme bereit.

„Die Deutschen sind keine Menschen. Von jetzt ab ist das Wort >Deutscher< für uns der allerschlimmste Fluch. Von jetzt ab bringt das Wort >Deutscher< ein Gewehr zur Entladung. Wir werden nicht sprechen. Wir werden uns nicht aufregen. Wir werden töten. Wenn du nicht im Laufe eines Tages wenigstens einen Deutschen getötet hast, so ist es für dich ein verlorener Tag gewesen. Wenn du glaubst, dass statt von dir der Deutsche von einem Nachbarn getötet wird; so hast du die Gefahr nicht erkannt.“

Und so geht das weiter, Sie können das nachlesen:

„Tötet, tötet, tötet, tötet den Deutschen… - dieses bitten Dich Deine Kinder. Töte den Deutschen, so ruft die Heimaterde. Versäume nichts, versieh dich nicht, töte“

Nach diesem Kriegsverbrecher, nach dieser kranken Person, ist doch tatsächlich in der Hansestadt Rostock eine Straße benannt! Es ist unglaublich in der Besonderheit auch, dass die, die dort Verantwortung tragen, um diesen Tatbestand wissend, ihn klein reden. Es ist immerhin dieser Ilja Ehrenburg, ein sowjetischer Jude, Stalin-Friedenspreisträger. Das scheint alles andere wegzuwischen. Nach diesem Mann wird in einer deutschen Stadt noch eine Straße benannt! Sie können das schwarz auf weiß mitnehmen. Die Quelle ist angegeben. Wenn ein ungläubiger Thomas unter Ihnen ist, der möge die Hände hineinlegen in die Wunde und abklären, ob das eine Erfindung ist oder der Wahrheit entspricht.

Mit einer solchen Einstellung kamen die Russen über die Grenze. Der erste Ort, der erobert wurde, ist ein Ort aus Ihrem Heimatkreis, es ist Schirwindt. 1725 mit der aufgehenden Sonne im Stadtwappen gegründet, war Schirwindt der erste Ort, wo es zu den ersten Übergriffen auf die Zivilbevölkerung kam. Das Massaker von Nemmersdorf dürften vielen von Ihnen bekannt sein und ich nenne dazu auch noch Methgeten, ein Vorort von Königsberg.

Die Wolfskinder verloren meistens auf ihrer Flucht, kurz bevor die russischen Truppen die Trecks einholten, ihre Familien oder Mütter aus den Augen. Auch das für eine kindliche Seele unvorstellbar, mit anzusehen, wie viel russische Soldaten über die Mutter herfielen, sie vergewaltigten und anschließend erschossen. Resultierend aus den vielen Gesprächen mit den 28 Wolfskindern meiner Gruppe, die fast alle das gleiche Schicksal erlitten, meine Frage: „Und was habt ihr dann gemacht?“ „Ja, unser Großer hat dann gesagt, ich gebe jetzt das Kommando, mir nach“. „Was habt Ihr denn mit Eurer Mutti gemacht?“ „Ja, die Mutti haben wir begraben“. „Wie habt Ihr sie denn begraben im Frühjahr 1945? (Januar)“? „Wir haben sie mit Schnee zugedeckt und sind still geworden“! Dann sind die Wolfskinder durch Ostpreußen gezogen auf der ständigen Suche nach etwas Essbarem, was anfangs auch gar nicht so schwer war; denn in jedem ordentlichen bäuerlichen Haushalt wurde ja geschlachtet und es gab irgendwo Eingemachtes. Von diesem Eingemachten konnte man eine Weile gut leben. Aber alles das, was zu einem normalen Leben gehört, entbehrten diese Kinder, die Liebe, den Trost und das in den Arm nehmen! Alles das fehlte in ihrer Kindheit in dieser Zeit. 1945 und 1946 haben die Wolfskinder meistens - und deshalb nennen sie sich auch Wolfskinder - in Kinderrudeln zusammengelebt, permanent auf der Suche nach etwas Essbarem bei steter Angst, von den Wölfen eingeholt zu werden. Da sind mir entsetzliche Geschichten erzählt worden. Wer mit dem rennenden Kinderhaufen nicht Schritt halten konnte, wurde eingeholt. Die Wölfe hatten auch Hunger und so haben viele ihre kleinen Geschwister verloren, sofern diese sich nicht anderweitig retten konnten. Und sie nennen sich Wolfskinder, weil viele oftmals bis zu zwei Jahre, 1945 und 1946, in den litauischen Wäldern kampiert haben, also den Wölfen ähnlich leben mussten. Daher der Begriff für sich selbst „Wolfskinder“ mit dem Zusatz „Edelweiß“, die Bezeichnung für das Gefühl der Wolfskinder für Deutschland. Der Winter 1947 - ich rede hier ja vor einer Erlebnisgeneration und will nur erinnern - war ein Jahrhundertwinter, quasi ein Nachschlag zum verlorenen Krieg. In dem harten Winter sind Tausende dieser herumstreunenden Kinder elendig gestorben durch Kälte, durch Entkräftung in Folge von Unterernährung, durch Seuchen, Erkältungs- und anderen Krankheiten oder sie waren im Eis der Memel eingebrochen.

1947 kam dann die Kunde auf, man müsse über die Memel in das Memelland, also nach Litauen, in das gelobte Land. Da fließt Milch und Honig. Wie das meistens mit dem gelobten Land ist, haben viele, so wie Moses, das gelobte Land nie erreicht. Bei der Überquerung der Memel haben sie ihr nasses Grab gefunden. Aber die, die die andere Seite erreicht hatten, fanden auch nicht immer das gelobte Land vor. Doch waren da auch Litauer, litauische Menschen mit dem tief christlichen, katholischen Glauben verwurzelt, die einfach den russischen Befehl: „Faschisten-Kinder werden nicht gefüttert, sie werden ausgelesen“, missachteten und dabei Kopf und Kragen riskierten. Sie nahmen selbstlos ein großes Risiko in Kauf. Diese Menschen haben unsere Kinder gerettet, sich um sie gekümmert und sie umsorgt, diese, unsere Wolfskinder, die heute noch in Litauen leben. Der Aufenthalt der Kinder war nur für kurze Zeit gedacht. Viele von Ihnen waren weiter ins Reich nach Westen geflohen, doch mit der Maßgabe, nicht zu weit in den Westen; denn man war in dem Glauben: „Wir kommen ja wieder zurück, wir müssen zurück!“ Und so dachten auch viele Litauer, dass das nur für kurze Zeit ist. Es kam aber ganz anders, es wurde ein Leben lang daraus.

Welche Konsequenz hatte das? Die Kinder durften nie öffentlich gezeigt werden. Sie waren Faschistenkinder. Nach ihnen suchte der KGB, der russische Geheimdienst, die Repressionseinrichtung in Russland. Sie konnten nicht in die Schule geschickt werden und das hat Konsequenzen bis zum heutigen Tag. Irgendwann konnten sie auch nicht mehr z. B. August Rieck heißen, sondern sie mussten einen neuen Namen annehmen. Was zu der Zeit litauische Bürgermeister geleistet haben, ist unvorstellbar und ich werde das noch öffentlich machen. Es gibt dort Orte, wo scheinbar mehr deutsche als litauische Kinder geboren wurden. Durch passende litauische Geburtsurkunden oder Lebensläufe wurden deutsche Kinder auf einmal zu litauischen Kindern gemacht. Nur so konnten sie dem Zugriff des KGB entzogen werden. Litauische Eltern nahmen diese Kinder als ihre eigenen an. Oftmals haben diese Kinder ihren Identitätswandel nie mitgeteilt bekommen. Nur die größeren Kinder, die bei Kriegsende z. B. bereits acht Jahre und älter waren, wussten, dass hier etwas stattgefunden hat, was man nie jemandem sagen durfte. Dass sie nicht die sind, wie z. B. in der Schule genannt, sondern in Wirklichkeit jemand anders waren. Die Jüngeren unter den Wolfskindern berichteten, dass sie erst am Totenbett der litauischen Eltern, das heißt etwa im eigenen Alter von 50 Jahren, über Ihre wahre Identität erfahren haben. Die litauischen Eltern sagten: „So, jetzt geht es ans Sterben. Kommt mal her, wir wollen Euch mal etwas erzählen. Das ist aber nur für Euch. Erstens: „Ihr seid nicht unsere Kinder“. Zweitens: „Ihr seid nicht die, die ihr bisher immer genannt und gerufen wurdet“. Drittens: „Ihr seid in Wirklichkeit jemand ganz anderer! Das, was wir bei Euch in eurer Bekleidung eingenäht fanden, in der alten, der Fluchtbekleidung, das haben wir für Euch in einer Blechdose, die wir dort und dort versteckt haben, aufbewahrt!“

Mit diesem Wissen, diesen präzisen Angaben zum Namen und Nachnahmen ohne Sicherheit der richtigen Schreibweise, bin ich ausgerüstet worden und unternahm den Versuch, zu forschen, wer die Wolfskinder wirklich sind. Die Namen waren oftmals nur nach Gehör aufgeschrieben, so z. B. konnte Schulz auch Schultz, Schultze oder Scholz oder auch anders richtig sein. So habe ich angefangen, nach der wahren Identität zu suchen. Und ich sage Ihnen, was zum Beispiel ein unlösbarer Fall war, Bronius Mirbokas. Den fragte ich: „Ja, wie hast du denn geheißen?“ „Das weiß ich nicht so genau“. „Wie hat denn Deine Mutti Dich genannt?“ „Bubi“. Mit nur „Bubi“ war eine Suche nicht möglich, so konnte ich keinen finden. Einige behielten daher ihre deutschen Namen in litauischer Schreibweise.

Ich kann Ihnen aber die erfreuliche Mitteilung machen, dass ich für die echten 28 Wolfskinder in meiner Gruppe, für 27 die wahre Identität habe klären können. Es ist eine unvorstellbar hohe Quote! Für 24 dieser 28 Wolfskinder habe ich auch die deutsche Staatsangehörigkeit erkämpft. Was ich auf dieser Strecke erleben musste, ist unvorstellbar, lässt einen wütend werden. Es ist einfach ein Skandal, dass es in den Verwaltungen, die darüber zu entscheiden haben, Sesselfurzer gibt, die von nichts eine Ahnung haben und schon gar nicht von dem, worüber sie entscheiden sollten. So z. B. begreifen sie offensichtlich nicht, was Flucht ist und verlangen von mir eine Geburtsurkunde! Die wurde so klein gefaltet, dass Mutti sie unsichtbar in Bekleidung einnähen konnte. Diese Geburtsurkunde, die ich dann vorgelegt habe, hatte natürlich Knicke, worüber sich der Beamte mokierte!

Ich musste prozessieren, um Deutsche wieder zu deutscher Staatsangehörigkeit zu verhelfen. Das will ich aber nicht weiter ausführen. Es würde mich demotivieren. Es motiviert mich eigentlich nur immer der Erfolg. Und warum sind es nicht 28 geklärte Fälle von 28? Das will ich gerne erklären! 1. weil ich mit „Bubi“ nichts erreichen konnte, seine wahre Identität nicht geklärt werden konnte. 2. weil ich im Falle der Waltraut Mindt wohl einen Bruder in Deutschland gefunden hatte, der aber keine Schwester haben wollte. Er wollte sich zu seiner Schwester nicht bekennen 3. weil ich darunter eine Frau habe, die gewissermaßen einen Vater als Wolfskind hat, im übertragenen Sinne. 1914 haben uns die Russen überfallen und sind tief nach Ostpreußen eingedrungen. Bei der ersten Flucht damals stand er auf der Brücke in Tilsit, und die zurückflutenden deutschen Flüchtlingstrecks aus dem Memelland sagten: „Los spring mal auf, die Russen kommen, komm mit uns mit“. So ist dieser Russe aus Litauen in eine deutsche Identität gekommen, hat später eine Deutsche geheiratet und sie haben deutsche Kinder bekommen. Diese Kinder dürfen aber nicht deutsche Kinder sein. In diesem Falle, prozessiere ich noch.

Und schließlich 4., und das ist die ganze Bandbreite von Enttäuschungen, wenn einer nicht wieder Deutscher werden will. Ich kann es verstehen, Deutschland hat seine Kinder vergessen, hat nie ernsthaft nach den Wolfskindern gesucht. Nach 1955, als Konrad Adenauer unsere letzten Kriegs- und Zivilgefangenen heimgeholt hat, hatte keiner mehr ein Auge auf die Wolfskinder. Sie leben heute unter erbärmlichen Bedingungen in Litauen, aber nicht, weil die Litauer ihnen keinen Wohlstand gönnen. Nein, weil ihr Leben so verlaufen ist, wie er in den geretteten Unterlagen auch dokumentiert ist, nämlich mit drei Jahren Schulbildung im Durchschnitt. Ich kenne nur zwei, die eine höhere Schulbildung haben, kenne aber auch drei Analphabeten. Mit einer Schulbildung von nur drei Jahren konnte man keinen Beruf erlernen, dem zur Folge auch kein Geld verdienen und konnte somit auch keine Punkte für die Rente machen. Die Rente wird nach dem Lebenslauf der Person ermittelt und dabei kommt kaum etwas Gutes heraus. Von umgerechnet 96 € kann ein Mensch auch in Litauen nicht leben, insbesondere dann nicht, wenn er Medikamente braucht. Ein Gehwagen, der in Litauen ungefähr 300 € kostet, ist für diese Rentner unerschwinglich.

Nachdem mein Kampf um die Staatsangehörigkeiten am Ende war, ergaben sich sehr häufig andere, neue Hinweise. Man sagte mir z. B.: „Ich hatte noch so viele Geschwister!“ Sie wissen ja selber, wie groß ostpreußische Familien waren. Das waren oft eine kleine Fußballmann-schaften. Also sechs Kinder in einer Familie waren überhaupt nicht unüblich. Meine Klienten erzählten mir von ihren Geschwistern, worauf ich sie dann befragte, ob sie den Tod der Geschwister selbst gesehen hätten, was sie häufig nicht bestätigen konnten?“

Da ich so viel Erfolg bei der Klärung von Identitäten hatte, dachte ich mir, dass es nun für mich noch eine weitere Aufgabe gäbe, nämlich die Suche nach Geschwistern, ob und wann sie verstorben sind usw.! Es hatte sich gelohnt, mehrfach konnte ich Erfolge verbuchen. Wunder dauern etwas länger. In diesem Fall 59 Jahre; denn ich konnte für Theo Rick, der aus Labiau stammt, den in Deutschland lebenden Bruder finden. Sie führten ein erstes Telefonat, nachdem ich mit dem Bruder abgestimmt hatte, an welchem Tag und Uhrzeit ich ihn anrufen kann. Als alle Wolfskinder versammelt waren und Theo Rieck mit seinem Bruder nach 59 Jahren sprechen konnte, war es der erste Tag, wo wir alle Rotzblasen und Wasser geheult haben. Es war so schön, es war so beeindruckend, dass ich das Glück hatte, diese beiden Menschen wieder zusammenführen zu können.

Dann hatte ich den Bruder in Bayern gefunden, wie eben schon angesprochen, der keine Schwester haben wollte. Also das war mir eine große Enttäuschung. Ich habe dann noch den für ihn zuständigen Pfarrer gebeten, ihn ins Gebet zu nehmen. Der teilte mir aber leider mit, der Bruder sei nicht einsichtig! Wohl Altersstarrsinn!

Der dritte Fall ist vielleicht der tollste! Nach 64 Jahren, nachdem sich die Kinder während der Flucht verloren hatten, fand ich eine Spur, dass Gisela Willuweit aus Königsberg noch lebt. Eine Frau heiratet natürlich und ändert damit auch den Namen. Nun finden sie mal unter den 42 Millionen in Deutschland lebenden Frauen, die Hälfte der Bevölkerung, eine Frau, die durch Heirat eine Namensänderung erfuhr! Dazu die Ungewissheit: Lebt sie noch und wenn ja - wo lebt sie heute. Gisela Willuweit lebte und zwar im Sauerland. Eine irrsinnige Geschichte. Ich telefoniere mit ihr und sie bestätigt mir, dass sie wusste, dass sie zwei Brüder hat, die jedoch beide tot sind. Es konnte ja nicht anders sein, sie müssen tot sein. Ich konnte ihr widersprechen; denn sie lebten beide noch, ihre Brüder Arno und Heinz und sie waren beide in der von mir betreuten Gruppe. Mit gemischten Gefühlen; denn kurz zuvor hatte ich das Erlebnis mit dem Bruder, der die Existenz seiner Schwester leugnete, stellte ich die Frage: „Wollen Sie den Kontakt mit ihren Brüdern?“ Sie wollte, hatte aber zunächst verständliche Anlaufschwierigkeiten.

Gisela Willuweit besuchte mich in meiner Wohnung. Wir telefonierten mit Litauen. Zu Beginn machte mich Bruder Heinz aufmerksam, er müsse nicht mit einer Dolmetscherin sprechen, er könne mit seiner Schwester Deutsch sprechen und er sagte dann zu seiner Schwester den folgenden Satz:

„Meine liebe Schwester Gisela, hier ist Dein Bruder Heinz!“

Nun heulten wir buchstäblich um die Wette. Dann habe ich ihn gefragt, wieso er so gut Deutsch kann? Heinz antwortete: „Ja, diesen Satz habe ich mir tausend Mal gesagt; denn es hätte ja sein können, dass ich die Gisela irgendwo im Wald treffe und dann muss ich ihr doch sagen können, dass ich ihr Bruder Heinz bin. Und da es nun gesagt ist, habe ich mein Lebensziel erreicht!“

Gisela entschloss sich daraufhin, zu ihren Brüdern zu fahren und fragte mich, was sie wohl mitnehmen solle, welche Geschenke? Ich sagte ihr, dass es in Litauen alles gibt, wenn man Geld hat. „Aber ihr Bruder Heinz braucht neue Augen, er kann kaum noch sehen. Für ihn ist es unbezahlbar, in Litauen eine Operation am Star machen zu lassen. Er spart seit Jahren. Ich habe mich entschlossen, ihm die OP zu bezahlen. Aber ich bin gern bereit, Ihnen das zu überlassen, wenn Sie ihrem Bruder helfen wollen und die Augenoperation übernehmen.“ So ist es dann geschehen. Die Geschichte hatte ein gutes Ende genommen! Heinz verstarb aber ein Jahr nach dem Wiedersehen, sicher mit dem Gefühl, seine Schwester nicht mehr suchen zu müssen – er hatte sie ja wieder gefunden!

Ich kümmere mich heute weiterhin um die Wolfskinder, indem ich nicht nur ihre Identitäten kläre, und ähnliches mache, sondern ich kümmere mich heute, indem ich sie sozial betreue, so z. B. mit ihnen eine Fahrt mache; sie zu Kaffee, Kuchen, Mittagessen oder zu anderen schönen Erlebnissen einlade. Alles das ist notwendig. Daran entbehren unser Leute.

Wer im Anschluss Gelegenheit nehmen will, mit mir vertiefend zu sprechen, ich bleibe noch da, aber lassen sie mich zum Abschluss meiner Ausführungen – ich habe die halbe Stunde genau eingehalten, Politiker reden manchmal zu gern zu lange, aber mir ist es heute erspart geblieben - ein Gedicht vortragen, das mir Horst Buchholz zukommen ließ, insbesondere mit dem Wunsch, dass Sie sich mit Ihrem Partnerkreis künftig so eng zusammenschließen, dass es nie wieder zu einem Dissens kommt. Denn Sie werden von Jahr zu Jahr weniger und die Wenigen müssen sich gegenseitig unterstützen und stabilisieren. Meine Unterstützung haben Sie!

Eins geb` euch Gott in Gnaden,
wohin Eure Fahrt auch geht,
dass Ihr werdet Kameraden,
dass Ihr fest zusammen steht!
Fest zusammen in der Stille,
im Sturm und in der Pflicht,
immer sei der gleiche Wille,
Euer Kompass und das Licht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Tischvorlagen zum Festvortrag "Wolfskinder"


Wolfskinder-Denkmal

Wolfskinder – so bezeichnete man die durch die Kriegswirren elternlos gewordenen Kinder Ostpreußens, die durchs Land zogen und Unterkunft und Essen erbettelten. Viele von ihnen sind verhungert. Andere wurden – von meist litauischen Familien – aufgenommen und als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Die meisten haben litauische Namen angenommen, um nicht aufzufallen. Sie haben geheiratet und selbst Kinder bekommen. Und oft weiß nicht einmal ihre Familie von ihrer wahren Herkunft. Manche wissen selbst nichts mehr über ihre deutsche Vergangenheit.

Der „Deutsche Verein Edelweiß“ und andere Personen haben sich dieser Menschen angenommen, versucht ihr Schicksal zu klären und noch vorhandene Verwandte oder Bekannte in der Bundesrepublik zu finden, die ihre deutsche Herkunft bezeugen können.

Im Jahre 1992 hat der Verein mit Genehmigung der litauischen Behörden ein Denkmal an die in den Jahren 1944 bis 1947 umgebrachten und verhungerten Einwohner Ostpreußens errichtet. Es steht in Miekiten/Mikytai unmittelbar an der Kreuzung der Straße von Tauroggen (A 12/E 77) nach Tilsit (A 216/E 77) mit der von Heydekrug (141) kommenden Straße, etwa 5 km nördlich von Tilsit. Diese Stätte heißt im Volksmund „Wolfskinder-Denkmal“.

Geographische Lage
55.121189°N 21.946635°O
„Wolfskinder-Denkmal“, die Straßenkreuzung [1]
„Wolfskinder-Denkmal“, die Anlage [1]
„Wolfskinder-Denkmal“ 1992 errichtet [1]
„Wolfskinder-Denkmal“, Inschrift links [1]
„Wolfskinder-Denkmal“, Inschrift rechts [1]


Das neu Holzkreuz, 31.Mai 2014, Fotoarchiv Gert Brandstäter

Da das 1992 errichtete Holzkreuz wegen Morschheit umzustürzen drohte, wurde dieses am 31. Mai 2014 in eine Feierstunde durch ein helles Eichenkreuz ersetzt.
Die Tafel am Kreuz trägt auf Deutsch und Litauisch die Inschrift: „Wiedererrichtet 31. Mai 2014 / Mit großem Dank an die Litauer, die nach 1945 tausenden deutschen ,Wolfskindern‘ das Leben retteten. / Prof. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten / Honorarkonsul der Republik Litauen“.
Wolfskinderkreuz wiedererrichtet Das erneuerte Denkmal in Mikytai erinnert an die ostpreußischen Waisen in Litauen.

Kinder des Kriegsendes, Die Wolfskinder sind schon lange alt geworden, doch weiß man in Russland wenig von ihnen. Autorin Julia Larina, Moskau. Übersetzung des Artikels aus der MDZ Nr. 20 vom 21.10.2015, S. III

Fußnoten

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Foto aufgenommen am 15.09.2012 von Günther Kraemer

Weblinks

Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa, hier Wolfskinder-Denkmal im memelländischen Miekiten (litauisch: Mikytai) (05.11.2015)