Kinder des Kriegsendes

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Betr.: Wolfskinder Tauroggen – Übersetzung des Artikels aus der "Moskauer Deutsche Zeitung" Nr. 20 vom 21.10.2015, S. III

Kinder des Kriegsendes

Die Wolfskinder sind schon lange alt geworden, doch weiß man in Russland wenig von ihnen.
Fotos: Gert Brandstäter (1), Rudolf Haase (2)

Vor 70 Jahren waren es ihrer Tausende, heute zählt man Dutzende. Wolfskinder – das sind Kinder aus Ostpreußen (das heutige Gebiet Kaliningrad), die am Ende des Krieges bei der Flucht der deutschen Bevölkerung verloren gingen, indem sie von ihren Trecks getrennt wurden oder ihre Eltern bei den Bombenangriffen oder infolge von Krankheiten unterwegs verloren haben.


Julia Larina [1]

Ende September kam in die litauische Stadt Taurage/Tauroggen aus Deutschland ein LKW mit Geschenken für die Wolfskinder. Die Fahrt hatte die Rentnerin Elsbeth König aus dem niedersächsischen Nienburg organisiert.

„Im Krieg war ich selbst noch ein Kind“ erklärte sie. Im Herbst 1944, als die rote Armee in Ostpreußen einmarschierte, war sie zehn Jahre alt. Die Familie hatte ihr Haus im Ort Wabbeln Kreis Ebenrode (Stallupönen) an der Grenze zu Litauen (heute Tschapajewo, Rayon Nesterow, Oblast Kaliningrad) verlassen und ging mit Pferd und Wagen in die Evakuierung. Frau König begreift natürlich, ihr Schicksal hätte sich auch so gestalten können, wie bei den Wolfskindern.

Zum Treffen in Tauroggen kamen zwei Dutzend Teilnehmer aus dem Verein Edelweiß, zu dem sich die Wolfskinder zusammengeschlossen haben. Das Treffen fand im Gemeindehaus der evangelischen Kirche statt. Am Ende fuhr man nach Mikytai zum Wolfskinder-Denkmal.

„Wir standen da eine Weile, schweigend, viele hatten Tränen in den Augen“ erzählt Frau König. „Eine Frau ist mir aufgefallen, wegen ihres jungen Aussehens. Auf meine Frage sagte sie, sie wäre damals zwei Jahre alt gewesen. Meine Gedanken in dem Moment: was mag sie da alles erlebt haben, bei Schnee, Eis und Kälte, bis sie nach Tauroggen kam“

Erste Hilfe

Sie waren Kriegskinder, genauer, Kinder des Kriegsendes. Sie wurden Wolfskinder genannt, weil sie in den Wäldern herumirrten, sich spontan in Rudeln zusammenschlossen, so konnten sie leichter überleben. Aus den Wäldern kamen die Kinder nur, um in den menschenleeren deutschen Dörfern, in den Kellern der verlassenen Häuser, Essbares zu finden, das die Einwohner bei ihrer Flucht in der Eile zurückgelassen hatten. Als es in Ostpreußen mit den Lebensmitteln ganz schlecht wurde, begannen sie Wanderungen über die Memel (im Winter auf dem Eis, im Sommer schwimmend) ins benachbarte Litauen, das seit 1940 sowjetisch war. Bei weitem nicht alle konnten das gegenüberliegende Ufer erreichen.

Im Buch „Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen“ der Journalistin Sonya Winterberg wird die Zahl 20000 genannt – so viel oder auch noch mehr deutsche Kinder aus Ostpreußen wurden 1944 von ihren Familien getrennt.

Manchmal kamen zu einem litauischen Bauern gleichzeitig einige Kinder – Geschwister. Doch weil es keine Möglichkeit gab, sie alle durchzufüttern, durfte nur einer bleiben, die anderen mussten weitergehen. Die älteren Geschwister versprachen den jüngeren, diese abzuholen, doch aus verschiedenen Gründen geschah das nicht immer.

In den litauischen Familien mussten die Kinder schwere Bauernarbeit verrichten. Nur einige von ihnen konnten die Schule besuchen und das Lesen und Schreiben lernen, Litauisch versteht sich. Die Muttersprache musste wohl oder übel vergessen werden. Die Litauer adoptierten deutsche Kinder und gaben ihnen dabei litauische Vor- und Nachnamen: es durfte ja keine Hinweise darauf geben, dass es Deutsche waren, um nicht die Aufmerksamkeit der Geheimdienste auf sich zu lenken. Wer seinen deutschen Vor- und Nachnamen behalten hatte, wurde schon nach dem Gehör in Litauisch geschrieben. Die ganz Kleinen kannten ihre Nachnamen überhaupt nicht. Und sie hatten keine Ahnung, dass sie adoptiert sind, es sei denn, dass ihre Eltern vor dem Tode die Adoption gestanden hatten.

Warum hat sie nach dem Krieg niemand gesucht? Wenn ihre Eltern oder ältere Geschwister Deutschland am Ende doch erreichen konnten, so glaubten sie selbst nicht, dass die Kleinen überlebt haben.

Als sich die politische Wende vollzog und es möglich wurde, die Wahrheit zu erfahren, wurde eine große Arbeit geleistet – Archive durchforstet, Standesamtsunterlagen durchsucht - um die Herkunft dieser Menschen festzustellen.

Einer von denen, der diese Arbeit auf sich nahm, war das damalige Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, Günter Toepfer. In einer seiner Reden aus dem Jahr 2011 erinnerte er daran, wie das so war: „Die erste wichtige Frage, die mir die Wolfskinder stellten, war: können Sie uns helfen zu erfahren, wer wir sind? Wir wissen, dass wir nicht die sind, wie in unserem litauischen Pass eingetragen ist. Weiter sagten sie: Es ist nicht mein Name, nicht mein Geburtsort und mein Geburtsdatum, auch sind es nicht meine Eltern! Wer sind wir? Und die zweite Frage, die mich also noch betroffener gemacht hat, war: Hat uns jemand nach dem Krieg gesucht?“

Günter Toepfer erinnerte sich, wie er in Deutschland eine Frau fand – 64 Jahre, nachdem sich die Geschwister bei der Evakuierung aus den Augen verloren hatten. Er hat sie gefunden, ungeachtet dessen, dass sie schon lange einen anderen Namen trug, den ihres Mannes. Er rief bei ihr an. Sie bestätigte ihm, dass sie zwei Brüder hatte, doch seien sie, wie sie sagte, gestorben. „Ich erwiderte ihr: Beide leben, sowohl Arno wie auch Heinz. Möchten Sie sie sprechen?“ Das Telefongespräch mit Litauen fand in der Wohnung Toepfers statt. Am anderen Ende der Leitung sagte Heinz auf Deutsch: „Meine liebe Schwester Gisela, hier ist Dein Bruder Heinz!“ Und dann heulten sie beide zusammen. Günter Toepfer fragte danach Heinz, wie der so gut sein Deutsch bewahren konnte. Und Heinz antwortete: „Ja, diesen Satz habe ich mir tausend Mal gesagt; denn es hätte ja sein können, dass ich die Gisela irgendwo im Wald treffe und dann muss ich ihr doch sagen können, dass ich ihr Bruder Heinz bin. Und da es nun gesagt ist, habe ich mein Lebensziel erreicht!“

Und noch ein Mensch, der viel für die Wolfskinder getan hat, ist Wolfgang von Stetten, Anwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter von der CDU. Die Wolfskinder, die in den 90er Jahren litauische Staatsbürger wurden, hatten den Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft eingebüßt. Man musste große bürokratische Hindernisse überwinden, um deutscher Staatsbürger zu werden. Der eine siedelte nach Deutschland um, der andere blieb, da er in Litauen seine Familie hatte.

Die nicht letzte Hilfe

Die Gegend um Tauroggen in Litauen, nahe der Grenze, wurde nach dem Krieg für viele deutsche Kinder zum Ort ihrer Rettung. Heute sind es alte und auch kranke Menschen. Da sie weder Bildung bekamen noch Berufe erlernen konnten, sind ihre Renten karg.

Elsbeth König, die zweite Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Ebenrode/Stallupönen, organisierte die Fahrt gemeinsam mit dem Unternehmer Walter Buddenbohm. Der - wie auch Gerd Mittendorf, der ebenfalls nach Litauen reiste - ist durch nichts mit Ostpreußen verbunden, doch wollte er den Wolfskindern helfen. Noch zwei Teilnehmer der Fahrt hatten Bezug zu Ostpreußen – die Eltern von Rudolf Haase flüchteten im Krieg aus dem Kreis Ebenrode. Der Verantwortliche für die Finanzen und Kassierer der Kreisgemeinschaft Ebenrode (Stallupönen), Gert Brandstäter, war selbst Flüchtling.

Die Hilfe kam aus verschiedenen Richtungen. Renate Niedrig aus Berlin überreichte die von ehemaligen Einwohnern der Kreise Schloßberg (Pillkallen) und Ebenrode gesammelten Gelder: die Wolfskinder bekamen jeder Geschenke und auch einen kleineren Geldbetrag. Siegfried H. aus dem ehemaligen Kreis Schloßberg hatte 500 Euro überwiesen. „Wir brachten auch Sachen mit und jeder konnte sich etwas aussuchen“ sagt Elsbeth König. „Schnell waren vergriffen Rollstühle und Rollatoren. Die Kirchengemeinde Langendamm in Nienburg schickte an die etwa zwanzig Damentaschen. Weiter fanden die von Frauen aus Nienburg selbst gestrickten Schals, Mützen, Handschuhe und Kinderstrümpfe regen Zuspruch.

Unter den Sachen war auch eine Puppe. Als alles verteilt war, trat zu mir eine Frau mit dieser Puppe auf dem Arm, die sie schaukelte - und küsste mich. Ich nehme an, sie hatte in ihrer Kindheit niemals eine Puppe.“ - - -

Übersetzung durch Harry Hägelen, Delmenhorst (beeideter Übersetzer), autorisiert durch Julia Larina, Moskau

Ganderkesee, den 3.11.2015, gez. M. Kunst

Quellenangaben

  1. Der Originalartikel „Дети конца войны“ ist in der „Moskauer Deutsche Zeitung“, Nr. 20 vom Oktober 2015 auf der Seite III erschienen.
    Die deutsche Übersetzung „Kinder des Kriegsendes“ wurde von Harry Hägelen, Delmenhorst angefertigt.
    Die Zustimmung zur Veröffentlichung der Übersetzung des Artikels in GenWiki liegt schriftlich von der Autorin und Rechteinhaberin Julia Larina, Moskau vom 04.11.2015 vor.