Schlittenfahrten und Schüsseltreiben

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Sonntagnachmittags auf dem Hof Noreikat, (Eggleningken vor 1914)

von Maria Boehme[1], 1974

Die Winter waren bei uns im Nordosten von Ostpreußen meist lang und hart, schon ein Übergang zu den russischen Wintern. In unserer weiten, flachen Landschaft fanden die kalten Winde wenig Widerstand, und wenn es stiemte, so sagten wir zu dichtem, feinem Schneetreiben, war die Dorfstraße bald bis über die Gartenzäune zugeweht und wurde in Dorfgemeinschaft freigeschaufelt. Wochenlang hatten wir Frost von minus 20 bis minus 30 Grad, dann mussten an den Ställen Türen und Fenster gut mit Stroh abgedichtet werden. Jetzt war eine gute Zeit, mit Arbeitsschlitten aus dem großen Forst Brennholz für das ganze Jahr zu holen, was immer Tagesreisen waren.

Überhaupt unsere Schlittenfahrten! Es war herrlich, mit dem Einspänner oder Kutschschlitten zwei-spännig durch den Wald ins Nachbardorf zu fahren, mit dem hellen Geläut der Schlittenglocken an den Pferdegeschirren. Unsere Landwege waren nicht gut markiert, so dass es leicht vorkam, dass man mit den Kufen an den Grabenrand geriet und mehr oder weniger sachte mit dem Schlitten in den tiefen Schnee gekippt wurde. Aus der Einsamkeit der kleinen Dörfer und den großen Entfernungen war wohl auf den Gütern die bekannte ostpreußische Gastfreundschaft entstanden.

So waren es immer kleine Feste, wenn im Winter auf den Höfen reihum die Treibjagden stattfanden. Zur Mittagszeit musste die Gutsfrau eine kräftige, gut heiße Erbsensuppe an einer Waldhütte kredenzen, mit Schnäpsen dazu, um Jäger und Treiber warm zu machen.

Abends fand im Haus ein großes Schüsseltreiben statt, bei dem auch die Frauen der Jäger erwünscht waren. Nach dem üppigen Mahl trennten sich die Geschlechter der verschiedenen Interessen halber. Während sich die Männer bei Grog und Skat in dichten Zigarrenrauch und landwirtschaftliche Gespräche hüllten, erzählten sich die Frauen gern das Neueste, über Haushaltssorgen, wie das Geflügel durch den Winter zu bringen wäre oder auch über gute Rezepte zur Schlachtzeit. Wenn bei uns Schweine geschlachtet wurden, war es üblich, dass die Hausfrau mit ihren Mädchen selbst den Wurstteig zubereitete, die Würste stopfte und in der Räucherkammer aufhing, wo noch vom Ganseschlachten die Stangen voller Gänsebrüste, Gänseschinken und -mägen hingen. Alles, was mit der Hausschlachtung zu tun hatte, gehörte zu den Hauptarbeiten der Bäuerin, während draußen in der Scheune tagelang die Dreschmaschine summte, bis endlich alles Getreide ausgedroschen war.

Bei uns kam der Frühling nicht so plötzlich und unaufhaltsam wie hierzulande (Red. in Baden-Württemberg). Erst einmal dauerte es lange, bis die Schneemassen zerflossen und der tiefgefrorene Boden aufgetaut war. Dann vergingen noch Wochen, bis der Märzenwind das Land getrocknet hatte und der im Herbst gepflügte Acker seine richtige Bodengare bekam. So ein Acker musste locker und krümelig sein, man musste darauf wie auf Hefeteig gehen, bis er bereit zum Säen und Eggen war.

Mittlerweile hatte die Gutsfrau längst noch im Februar, die großen Samenkataloge (die aus Erfurt kamen) mit viel Vorfreude und Genuss gewälzt und eine lange Liste von Gemüse- und Blumensämereien bestellt. Das Frühbeet wurde gut mit Pferdemist bepackt - davon gab es ja genug - und darin vielerlei Sommerblumen, auch Tomaten und so manches andere ausgesät. Am Rande unseres Wäldchens blühten bald die Anemonen. Birken grünten schüchtern; es roch wunderbar nach Erde. Dies war kein süßer, eher ein herber Vorfrühling, immer wieder von kalten Winden unterbrochen.

Wenn die Feldbestellung fertig war, aber noch nicht Zeit für den Hackfrucht-Anbau, machten sich die Männer ans Ausbessern der Weidezäune. Anfang Mai, wenn die Weiden saftig grün waren, begann für die Kühe die Sommersaison. Für uns Kinder war der Tag des Austreibens immer ein kleines Fest. Die Kühe wurden im Stall losgebunden und erst mal auf dem Hol versammelt. Wir mussten inzwischen, mit Peitschen versehen, Posten beziehen, die Dorfstraße absichern, denn das Vieh war nach dem langen Stallwinter übermütig und verwegen. Es sah drollig aus, wenn auch alte Tiere galoppierten und sich draußen in der Freiheit des Weidegartens bekämpften; manches Kuhhorn wurde später gefunden. In unserem Wäldchen hielten große Krähenschwärme eine Konferenz nach der anderen ab, dabei vollführten sie ein solches Geschrei, dass man in diesen Wochen dort sein eigenes Wort nicht verstand.

Ja, so lief die erste Hälfte des Jahres in unserem kleinen Dorf dahin. Es gab viel Arbeit, manche Pläne, manche Sorge - aber auch viele kleine und große Freuden wie überall auf der Welt.


Fußnoten

  1. Genehmigung für die Veröffentlichung in GenWiki im „Portal Pillkallen“ unter der Auflage der ausschließlich nicht-kommerziellen Nutzung liegt von der Rechteinhaberin Frau Dr. Kathrin Boehme vom 24.02.2012 vor.



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