Blüchersdorf/Berichte

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Brief von Edith Bergner, geb. Bastigkeit

Die Erinnerungen verblassen - Emotionen bleiben lebendig

Auszüge aus einem Brief an Elke und Dieter Kuprat von Edith Bergner, geb. Bastigkeit, geboren in Blüchersdorf

…Ich war damals 14 Jahre alt und absolvierte eine Lehre in Kammergut. Meine Mutter rief mich am 18.11.1944 von der Schule aus an und teilte mir mit, dass die Frauen und Kinder das Gebiet links von der Chaussee verlassen müssen - "zwecks Großoffensive". Sie überließ mir die Entscheidung, ob ich nach Hause käme, um zusammen mit der Familie zu flüchten oder ob ich mit meinem Lehrbetrieb im Treck nach Mohrungen fahre. Ich entschied mich letztlich dafür, mit Mutter und meinen Geschwistern zu flüchten.

Transportkiste Flucht Blüchersdorf.jpg

Unsere Flucht begann am 21.11.1944. Es war genau bekannt, wohin wir evakuiert (wie es damals hieß) wurden. Vater nagelte ein paar Bretter zu Kisten zusammen. Eine der Kisten ist noch heute in meinem Besitz. Die Kisten wurden mit unserer zukünftigen Adresse beschriftet. Papas Handschrift ist sogar noch ein bisschen zu erkennen. Mutter hatte alles, was ihr wertvoll erschien, eingepackt.

Unser Bauer, Herr Rudat, in dessen Haus wir wohnten, hatte unser Gepäck mit dem Leiterwagen zur Kleinbahn nach Blüchersdorf gefahren. Es war früh, ca. 8.00 Uhr. Die Kleinbahn fuhr nach Insterburg. Von dort stiegen wir in den Flüchtlingszug nach Sachsen um. Mein Vater und mein Bruder Gerhard übernahmen das Umladen der Kisten, denn das musste jede Familie selbst tun. Dort war aber der Andrang gewaltig. Als der Zug anfuhr, konnte uns Papa nur noch zurufen, dass unsere Kisten nicht verladen waren. Das war natürlich für unsere Mutter ein gewaltiger Schreck. Glücklicherweise hatten wir noch reichlich Handgepäck bei uns, um die ersten Tage zu überbrücken. Meine jüngere Schwester Erika (damals 12 Jahre alt) tröstete uns mit den Worten, dass es gar nicht so tragisch sei, wenn das Gepäck bis Weihnachten nicht ankäme. Die Weihnachtsbaumkugeln habe sie in ihrem Tornister, dafür habe sie die Schulbücher in eine Kiste gepackt. Weihnachten sei also gerettet.

Die Fahrt verlief reibungslos. Es war alles perfekt organisiert. Sobald wir auf Bahnhöfen hielten, kümmerten sich die „Rote Kreuz Schwestern“ um die Flüchtlinge, insbesondere um die vielen kleinen Kinder. Sie wurden mit Milch und dergleichen versorgt. Unterwegs habe ich die Schilder mit der Aufschrift: Alles für den Endsieg gesehen. Alle glaubten es auch. Keiner ahnte, dass er seine Heimat nie wieder sehen würde. Wie die Fahrt genau verlief, weiß ich nicht mehr so detailliert. Ich glaube, wir fuhren einen Tag und eine Nacht.

Unser Flüchtlingszug ging bis Zwickau. Dort stiegen wir um in den Zug nach Irfersgrün. Von Irfersgrün wurden wir nach Stangengrün gebracht. Es begrüßte uns der Ortsgruppenleiter. Wir bekamen ein warmes Mittagessen. Es gab Nudelsuppe. Dann wurden wir auf die einzelnen Bauernhöfe verteilt. Unser Gepäck kam glücklicherweise einige Tage später unbeschädigt an.

Mutter fuhr Weihnachten 1944 nochmals allein nach Hause, da unser Papa und unser Bruder daheim bleiben mussten. Sie haben zu dritt Weihnacht gefeiert. Sie schrieb an uns, dass sie sich ärgere, geflüchtet zu sein. Sie schrieb wörtlich: „Wir leben hier, wie im tiefsten Frieden.“
Das war jedoch die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Kurze Zeit später begann tatsächlich die „Großoffensive“ - nur nicht von unserer Seite…
Am 20.4.1945 haben wir durch amerikanischen Beschuss unsere letzten mitgebrachten Habseligkeiten verloren (alles verbrannt).

Die eine Flüchtlingskiste blieb erhalten, weil wir sie bei einem anderen Bauern im Keller deponiert hatten.

Da der kleine Ort Stangengrün mit Flüchtlingen überfüllt war, kamen wir im September 1945 nach Triebes….

Edith


Egon Heigel erzählt

Erinnerungen an Blüchersdorf

Telefonanlage des Postamts Blüchersdorf
re. Karl Heigel, li. Gustav Seidenberg,
mi. zwei Monteure aus Insterburg
Das Postamt in Blüchersdorf

Mein Vater, Karl Heigel, war für den Postbezirk Blüchersdorf mit den Orten Schönwaldau, Auxkallen, Kammergut, Schackenau, Buchhof, Drojental und Horstenau verantwortlich. Das Postamt stand auf einem Hügel 40,6 m hoch und beherbergte auch eine Gleichrichterstation für Telefonverbindungen. Der Brunnen hatte eine Tiefe von 38 Metern. Schaute ich aus unseren Fenstern, so konnte ich bis nach Horstenau sehen.
Unweit von uns stand die "Blechbüchse" – die Haltestelle der Kleinbahn und weiter die Mühle von Albert Krauskopf und das Sägewerk der Familie Sabaschus zu Horstenau gehörend.
Neben meinen Eltern wohnte noch die Hebamme Frau Gronau im Haus, die mich 1927 zur Welt brachte. Ihr Mann war Schneidermeister. Später zog die Familie Gronau mit Sohn Gerhard nach Aulenbach zu dem Arzt Dr. Epha. Dafür zog die Familie Fritz Kuprat ein. Fritz war beim Straßenamt tätig, später Hauptfeldwebel bei der Wehrmacht. In der Familie wuchsen die Kinder Gerda (*1927), Annemarie (*1929), Waltraud (*1930) und Nachzügler Manfred auf.

Blüchersdorf hatte 1939 263 Einwohner. Hier gab es ein Kolonialwarengeschäft mit einem Lokal. Eigentümer war Hans Becker, aber es wurde von Fritz Schabang als Pächter geführt. Später fungierte Ernst Moser (Bürger mit Schweizer Pass) als Pächter. In Kallweits Insthaus hatten auch Zigeuner ihr Quartier. Ein etwa 10-jähriges Kind klaute aus einem Glas an der Theke eine Bulette. Ernst Moser schnappte ihn, steckte ihn in einen Zuckersack, band zu und drohte, ihn im nahen Teich bei Kallweits zu ertränken. Nach Einspruch eines Gastes: "Lass doch dem Jung sein Frikadell", ließ er das verschüchterte Kind laufen. Moser machte gern Scherze, vor allem über junge Frauen…

Bis zum 10. Lebensjahr ging ich zur Blüchersdorfer Schule. Lehrer war Herr Wilhelm Krüger, Stiefvater von Rudi Ockel. Gern erinnere ich mich an die Vorbereitungen zu den Weihnachtsspielen. Natürlich waren wir Kleinen die Zwerge. Für die Bühnendekoration wurden die 6 großen Landsknechtbilder abgehangen und gestapelt. Mitschüler Fritz trieb Unfug und Lehrer Krüger wollte ihn strafen, da sprang Fritz von der Bühne auf die gestapelten Bilder, die natürlich durchbrachen. Vor Angst sprang Fritz aus dem Fenster und Lehrer Krüger rannte hinterher durch die Tür. Dieses "Rennen" auf der Dorfstraße Richtung Packwitzen war immer wieder Anlass fröhlicher Erinnerung.
Unser Mitschüler Ulli Steinwender wurde täglich mit der Kutsche von Blumenthal durch Schönwaldau nach Blüchersdorf gebracht. Im Sommer überbrückte der Kutscher die Zeit bis Schulschluss mit dem Sammeln von Pilzen im nahen Wald.

Emil Becker und meine Mutter hatten am 20. Februar Geburtstag. Die beiden Familien feierten diesen Tag meist zusammen. Emil Becker hatte zwei gutmütige Fuchsstuten. Wenn wir Besuch aus Insterburg oder Königsberg erhielten, vertraute er mir ein Pferd mit Wagen oder Schlitten an. Die „erweiterte“ Fahrt führte durch den Padrojer Forst, doch ich brachte "Liesel" und Gespann stets zuverlässig zurück.

Kreklaus wohnten hinter der Post. Ihre Tochter Gretel war drei Jahre älter als ich. Sie kam gerade von Schabangs und hatte Heringe im Netz, das sie heftig schwenkte. Als ich mit dem Fahrrad an ihr vorbei fuhr, kam das Netz in die Speichen meines Vorderrades, und ich stürzte. Zusätzlich verpasste sie mir eine derbe Backpfeife. Das quittierte ich mit: "Blöde Ziege" und rappelte mich hoch. Als ich das neulich ihrer Nichte erzählte, merkte sie nur an: "Ja, meine Tante war auch später etwas hochnäsig."

Adolf Kreklau war der Kleinbahnvorsteher von Blüchersdorf. Er trug immer seine Dienstmütze, auch wenn er im Garten arbeitete. Er hatte bereits als Junge eine Glatze. Mit 10 Jahren fuhr ich dann mit der Kleinbahn nach Insterburg zur Mittelschule. Schaffner Breitenmoser hielt für uns Schüler ein Abteil bereit, das er im Winter mit einem Kanonenofen heizte. Die Kleinbahn fuhr um 7.33 Uhr in Blüchersdorf ab und war um 8.25 in Insterburg auf dem Kleinbahnhof. Die Schüler verteilten sich in Insterburg auf das Gymnasium, Lyzeum, die Mittelschule und die Mädchen auf die Handelsschule ("Klopsakademie"). Oft fuhren wir auch bereits um 6.51 Uhr, denn die Erlebnisse unterwegs waren sehr vielfältig.

Englisch hatten wir bei Lehrer Noetzel. Er war stets korrekt und versuchte, uns zu ehrlichen, standhaften und treuen Bürgern zu erziehen. Später las ich in Dokumentationen über die Evakuierung von Insterburg, dass er energisch dafür sorgte, auch den letzten Flüchtlingen aus Insterburg eine Zugfahrt am 22. Januar 1945 gegen 1 Uhr nach Königsberg zu ermöglichen, und selbst erst mit dem Fahrrad durch den Tunnel Insterburg verließ, als die Salven der Roten Armee in den Straßen zu hören waren.

Die Tochter Lisa unseres Bürgermeisters Max Lindenau arbeitete als Krankenschwester in Königsberg. Als sie am 21. Januar 1945 die Telefonnummer ihrer Eltern wählte, meldete sich eine russische Stimme.
Ruth Barsnick hat noch 1947 ihre Mutter auf dem Blüchersdorfer Friedhof beerdigt. Zu dieser Zeit war noch kein Haus zerschossen oder abgebrannt.

Als 1993 Herbert Wachsmuth, Familie Steidl und ich unsere Heimat besuchten, fanden wir nur noch verwilderte Obstbäume und Sträucher…

Diese Geschichte von Egon Heigel (*11.06.1927 +08.07.2009) ist von Dr. Dieter Kuprat, geb. in Horstenau, nacherzählt.


Egon Heigel 1993 auf Spurensuche in Blüchersdorf

„Junge, komm wieder“

Egon Heigel

Im Juni 1993 fuhr ich erstmals mit Landsleuten nach 48 Jahren wieder in meine Heimatgemeinde Blüchersdorf. Wir wohnten in Insterburg in Privatquartieren, und ich wurde von Gennja mit seinem neuen „Lada“ an Orte meiner Wahl gefahren.

An einer Kurve der Straße Richtung Tilsit hinter Horstenau sagte ich zu Gennja: „Fahr bitte langsam, halt mal an, hier könnte es sein…“ Orientierung war für mich eine Vergrößerung der alten Kreiskarte von Insterburg. In diesem Auszug waren die Haltestelle der Kleinbahn, Gasthaus, Friedhof und die Post eingetragen. So konnte ich mich, zwar noch verunsichert, orientieren.

Ich machte in der Wildnis die Lage des Geschäftes und der Tankstelle von Schabangs aus, fand die Reste des Pflasterweges, der links an der Gaststätte (Holzanbau) vorbei ging. Das Pflaster verlor sich Richtung Gehöft Kallweit. Das Unkraut wurde höher, und ich verzweifelte. Ich fand keine Spur unseres Dorflebens. Endlich entdeckte ich einen verrosteten Türriegel, anscheinend von einem Stall. Ein erstes Zeichen! Ermutigt ging ich weiter in Richtung Barsnicks, Prange, fand keinerlei Spuren, also nichts von Beckers oder Schabangs Gebäuden. Dann entdeckten wir das Fundament vom Kleinbahnhof Blüchersdorf. Wir nannten die Haltestelle „Blechbude“. Das Wellblech war in etwa 5 cm Höhe abgeschnitten, aber ich fand noch ein Reststück in der Größe einer Aktentasche. Gennja sagte anerkennend: “Das ist ja noch heute in guter Qualität.“ Die alten Erlen stehen noch, das Fundament wird von hohem Gestrüpp eingehüllt. An der „Schlucht“, wo die Kleinbahntrasse verlief, waren keine Schienen sondern gleichfalls nur hohes Gestrüpp. Herr Kreklau wäre über seinen Stolz, dem Garten, entsetzt. Dann zeigte ich Gennja meine Fotos von der Post, dem Kleinbahnhof und dem Kolonialwarenladen. Durch Gebüsch bahnten wir uns den Weg zur Post nach oben. Tatsächlich fand ich Reste unseres verwilderten Gartens an der Post. Fünfzehn alte, knorrige, teilweise ineinander gewachsene Apfelbäume standen noch und jede Menge Himbeersträucher. Gennja kostete drei Sorten Äpfel und wollte im Herbst zur Ernte zurück kehren. Großzügig erteilte ich ihm die Erlaubnis. Mein Vater hatte die Bäume selbst veredelt. Von der erhöhten Stelle konnten wir Richtung Friedhof sehen. Der Wald rückt dichter an den Ort. Die Fläche Richtung Auxkallen ist frei. Mit dem Fernglas erkannte ich den alten Birnbaum bei Rudats und bei Lindenaus steht noch ein Baum am ehemaligen Weg. Ein Stückchen Ziegel mit Mörtel und ein Stück einer Dachpfanne waren einzige Zeugnisse der Vergangenheit. Ich nahm noch eine Dose Heimaterde mit, denn den Friedhof und einige andere Orte wollte ich am nächsten Tag ohne Begleitung aufsuchen.

Es klingt schon fatal, wenn ich von Blüchersdorf 1993 berichte. In Wahrheit markiert nur ein Zementsockel mit der blauen Zahl 21 (Horstenau hat die Nummer 22) die Lage meines Geburtsortes. Christel Steinbeck hatte mich um den Besuch ihres Elternhauses gebeten, wo auch ich mich gern aufhielt. Doch auch hier war nichts zu finden, auch in Richtung des jüdischen Friedhofes nichts. Vor Steinbecks ehemaligem Grundstück befindet sich ein Strommast mit 15 Kabeldrähten, der mit einem in der Erde verankertem Seil gesichert ist. Belebt wird der Mast durch ein Storchennest. Kurze Zeit später kam ein Storch und lugte verwundert auf mich, was ich unten in dem Gestrüpp wohl treibe. Die Störche sind sehr häufig vertreten. Ob sie das frühere Leben in den Dörfern auch vermissen? Ich erinnerte mich an die Veranda, das Haus, den Stall und den Weidegarten. Ich fand nicht einmal einen Ziegel. Auch vom Grundstück Klädtkes keine Spur. Zurück bei Antons – auch dort kein Zeugnis früheren Lebens. Der benachbarte Friedhof hat keine Begrenzung mehr. Die Gräber waren alle geöffnet und durchsucht, die Grabsteine entfernt. In einem Graben fand ich einen Stein mit der Inschrift: Julius Rudat, geboren 16.10.1848, gestorben 14.7.1914. Ich pflückte ein paar Feldblumen und legte sie auf den Grabstein zum Gedenken an unsere Vorfahren, die von den nachfolgenden Besiedlern leider nicht geachtet werden. Traurig verließ ich diese Stätte und suchte vergebens im Garten von Krügers. An der Stelle, wo ehemals die Schule war, fand ich ein Stück Dachziegel. Ich signierte ihn mit „Rudi“ und werde ihn Rudi Ockel beim nächsten Treffen übergeben.
Mehr konnte ich für meine Heimatfreunde nicht erreichen. Mit einem Foto Richtung Rudats, Buttgereits zum Waldrand schloss ich die Erkundung ab und nahm mir nochmals die Post, mein Geburtshaus, vor. Vor der Flucht hatte mein Vater, wie viele andere Bewohner, Geschirr, Gläser, Besteck, sogar das Uhrwerk der Standuhr sorgfältig vergraben. Doch die neuen Bewohner haben gründlich gesucht und gefunden. Obwohl mich nichts mehr an mein Blüchersdorf erinnerte, nahm ich doch mit Wehmut Abschied, als ich zurückblickte.

In Insterburg ging ich noch zum Bahnhof auf den Bahnsteig, an dem mich meine Mutter nach dem Fronturlaub am 4. Januar 1945 mit den Worten verabschiedete: „Junge, komm wieder.“
Es dauerte 48 Jahre bis zum Heimkommen, und wir alle hatten andere Vorstellungen…, doch wir müssen auch unsere Verantwortung für das Leid der anderen Völker akzeptieren.

Nacherzählt von Dr. Dieter Kuprat nach Aufzeichnungen von Siegfried Kasper