Preußisch Litauen

aus GenWiki, dem genealogischen Lexikon zum Mitmachen.
Version vom 17. Oktober 2011, 13:35 Uhr von Kenan2 (Diskussion • Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version • aktuelle Version ansehen (Unterschied) • Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Preußisch Litauen

Von Ulla Lachauer

Was “Preußisch Litauen” war, ist im Deutschland von heute kaum noch verständlich zu machen. Der Osten des Deutschen Reiches ist vergessen. Das ist erstaunlich, denn immerhin kamen zwölf Millionen Menschen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und der Grenzmark Posen-Westpreußen in den Westen. Jeder fünfte Deutsche war nach dem Krieg ein Vertriebener.

Preußisch Litauen” nannte man seit dem 17. Jahrhundert Preußens nordöstlichste Region. Es war das Land um die Memel herum, das überwiegend von Litauern besiedelt war. Geographisch exakt zu bestimmen war es nur im Nordosten, wo die Linie, die 1422 im Frieden
von Melnosee zwischen dem Deutschen Orden und den polnisch-litauischen Großfürsten festgelegt worden war, eine politisch und kulturelle Grenze markierte. Nach Südwesten hin reichte das Gebiet etwa bis zur Deime. In diesen Abmessungen ungefähr wurde es 1714 zum Verwaltungsbezirk.

Die “Litauische Amtskammer” hatte ihren Sitz in Tilsit an der Memel. Ihre Einrichtung war Teil des sogenannten großen Retablissements. Eine Pest hatte zu Anfang des 18. Jahrhunderts große Teile des Landes entvölkert, und Friedrich Wilhelm I. beschloss, es systematisch wiederzubesiedeln Der König nahm Salzburger Glaubensflüchtlinge auf, rief Mennoniten aus Holland und der Schweiz herbei, warb um Kolonisten im südlichen und westlichen Deutschland. Die zahlenmäßig größte Gruppe waren die Litauer. Sie hatten den kürzesten Weg und kamen, wie schon in früheren Jahrhunderten, meist ohne ausdrückliche Einladung, In den Jahren des “Retablissements” entstand jene Bevölkerungsmischung, die Preußens Osten prägte.

Allen seinen Bewohnern versprach der Staat religiöse Toleranz. Den litauischen Bauern gewährte er dazu das Privileg, ihre Sprache und Kultur zu erhalten. Gemäß Luthers Regel und Preußens Gesetzen mußten die Pfarrer das Wort Gottes in der jeweiligen Muttersprache verkünden. Kirchen und Schulen waren bei Bedarf zweisprachig, deutsch und litauisch. Auf dem Amt und vor Gericht wurden Dolmetscher eingesetzt.

Volkstum-Verschiebung im Osten des Deutschen Reiches

Im Gegensatz zu den anderen Neuankömmlingen, die sich mehr oder weniger rasch assimilierten, blieb unter den litauischen der Zusammenhang lange bestehen - nicht nur weil sie zahlreicher waren, sondern auch weil sie eine homogene Gruppe bildeten, Sie waren und blieben Bauern und hielten zäh am Althergebrachten fest. Besonders nördlich der Memel konnten sie ihre Position lange behaupten. In der Nähe der Grenze war der Einfluß städtisch-deutscher Kultur geringer als etwa in der Insterburger Gegend.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts begann der Staat Druck auszuüben auf seine fremdsprachigen Bürger. Eine “Germanisierungspolitik” setzte ein, über die Schulen vor allem bahnte sie ihren Weg. Letztendlich aber hätte es des erzwungenen Deutschunterrichts gar nicht bedurft. Der Sog der Industrialisierung, die moderne Arbeits- und Warenwelt brachten ohnehin der bäuerlichen Kosmos so dramatisch durcheinander, dass die Litauer ohne das Deutsche nicht mehr auskommen konnten.

Früher war es nur für den Aufstieg in eine höhere Schicht erforderlich gewesen oder vorübergehend, etwa für die Zeit des Militärdienstes. Nun aber, als Bauernkinder scharenweise ins Ruhrgebiet zogen, war es überlebensnotwendig. Was konnte man schon mit einer Sprache anfangen, die zwei Wegestunden weiter kein Mensch mehr verstand?

Die Betroffenen fügten sich ins Unvermeidliche. Einige Male protestierten Eltern gegen die Verbannung des Litauischen aus den Schulen, doch meist wurde der Unmut in höchst ehrerbietige Petitionen gefaßt. Darin wurde der “allerdurchlauchtigste, allergnädigste Kaiser” persönlich gebeten, wenigstens im Religionsunterricht den Kindern die Muttersprache zu lassen. Die Kirche behielt, solange Bedarf war, die Zweisprachigkeit ziemlich konsequent bei und hat so den Ablösungsprozeß gemildert.

Im Gegensatz zur hochexplosiven “polnischen Frage” gab es im äußersten Nordosten des Reiches wenig nationalpolitischen Zündstoff. Preußisch Litauen war ethnisch gesehen ein Land zwischen den Völkern, aber niemals schwankend in seiner Loyalität zur preußischen Monarchie und zum deutschen Staat. 1910 zählten die Statistiker noch knapp 100.000 Bürger litauischer Zunge.[1]

Quelle

  1. Ulla Lachauer, Pardiesstraße, seite 137-139, Rowohlt 1996, ISBN 3 498 038 788