Probleme und Gefahren der DNA-Genealogie
Im Zusammenhang mit DNA-Tests im Rahmen der DNA-Genealogie können sich unvorhersehbare Probleme für den Probanden selbst oder andere Personen ergeben.[1] Diese möglichen Probleme werden im Folgenden dargestellt, ohne dass es dafür allgemeinverbindliche Lösungsvorschläge geben kann.
Allgemeine Fragen des Datenschutzes
Die DNA-Analyse im Rahmen der DNA-Genealogie hat zwangsläufig viele Berührungspunkte mit Fragen des Datenschutzes. Zu verschiedenen inhaltlichen Aspekten, die (auch) den Datenschutz betreffen (können), vgl. die nachstehend aufgeführten Fragen.
Was die Datenschutzbestimmungen der einzelnen Testanbieter und deren Maßnahmen zum Datenschutz angeht, so sind jeweils die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und die Datenschutzbestimmungen kritisch zu lesen. Auch muss darauf geachtet werden, ob es für bestimmte zusätzliche Nutzungen der DNA-Daten (etwa: anonymisierte Auswertungen für Forschungszwecke) eine Widerspruchsmöglichkeit gibt (sogenanntes Op-out) oder eine Zustimmungsmöglichkeit (Opt-in). Grundsätzlich ist ein Opt-in nutzerfreundlicher als ein Opt-out.
An den Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von Ancestry ist 2019 im Zusammenhang mit der Verleihung des sogenannten "Big Brother Awards" scharfe Kritik geäußert worden. In verschiedenen Punkten scheint die Kritik an Ancestry teils einseitig oder überzogen zu sein, teils sachlich falsch (siehe hier und hier).
Erkenntnisse über bestehende oder nicht bestehende Verwandtschaften
Durch einen DNA-Test und das Matching können unbekannte nahe Verwandte gefunden werden, etwa eigene Halbgeschwister oder Halbgeschwister der Eltern. Auch könnte festgestellt werden, dass eine nahestehende, vermeintlich verwandte Person der eigenen Familie gar nicht blutsverwandt ist. Der Grund dafür dürfte in der Regel eine falsch zugeschriebene Vaterschaft bzw. ein un- oder außereheliches Kind sein, seltener eine unbekannte Adoption oder eine Samenspende. Die Aufdeckung einer falsch zugeschriebenen Vaterschaft, die Feststellung, eventuell selbst ein "Kuckuckskind" zu sein, oder auch die Entdeckung von unbekannten nahen Verwandten könnte eine erhebliche Belastung für die betreffenden Personen und/oder deren soziale Familien darstellen. Auch würde sich in einem solchen Fall die schwierige Frage stellen, wie man selbst mit einem solchen Wissen umgehen würde: Behält man diese Informationen für sich oder informiert man die betreffenden Personen?
Erkenntnisse über Adoptionen
Adoptionen unterliegen einer besonderen Geheimhaltung. In Deutschland erfolgen Adoptionen von Minderjährigen als sogenannten Inkognito-Adoption, bei der die Herkunftsfamilie die Identität der Adoptivfamilie nicht erfahren kann.[2] Adoptierte haben aber das Recht, im Alter von mindestens 16 Jahren die Identität der leiblichen Eltern zu erfahren, indem sie eine Geburtsurkunde mit den entsprechenden Angaben erhalten [3]) oder Einsicht nehmen in die Vermittlungsakten beim zuständigen Jugendamt [4].
Über einen DNA-Test ist es möglich, dass Adoptierte biologische Verwandte und ggf. auch ihre biologischen Eltern finden, und zwar auch dann, wenn keine Akten dazu vorhanden sind (Adoptionen aus dem Ausland; nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist) oder Angaben zum leiblichen Vater fehlen. Umgekehrt kann es auch passieren, dass ein DNA-Test zu der Feststellung führt, dass ein naher Verwandter (Geschwister, Halbgeschwister, Cousin ...) zur Adoption freigegeben worden ist, wovon die Familie möglicherweise gar nichts weiß. Schließlich könnten auch die biologischen Eltern ihr zur Adoption freigegebenes Kind finden, falls beide einen DNA-Test gemacht haben.
Dadurch werden unter Umständen unvermeidlicherweise die Rechtsvorschriften zum Adoptionsgeheimnis umgangen. Hier stellt sich ggf. das Problem, die Interessen und Rechte der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen: das Recht des Adoptierten auf Kenntnis seiner Abstammung; das Problem, dass ein Adoptierter möglicherweise gar nichts von der Adoption weiß und unerwartet davon erfährt; das Interesse der leiblichen Eltern auf Geheimhaltung der Freigabe eines Kindes zur Adoption; das Interesse der Adoptiveltern an einer Aufrechterhaltung des Adoptionsgeheimnisses.
Erkenntnisse über Samenspenden bzw. Samenspender
Die Problemlage ist hier vergleichbar mit der von Adoptionen. Über einen DNA-Test ist es möglich, dass mithilfe einer Samenspende gezeugte Kinder biologische Verwandte und ggf. auch ihren biologischen Vater identifizieren.[5] Grundsätzlich haben in Deutschland Kinder im Falle der Zeugung durch eine Samenspende ein Recht darauf, die Identität des Samenspenders zu erfahren [6]. Allerdings kann auch umgekehrt der Samenspender ein mit seinem Samen gezeugtes Kind identifizieren, oder ein DNA-Test führt zu der Feststellung, dass ein naher Verwandter (Vater, Bruder, Großvater, Onkel) Nachkommen infolge einer Samenspende hat, wovon die Familie möglicherweise nichts weiß. Auch hier stellt sich möglicherweise das Problem, die Interessen und Rechte der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen: das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung; das Problem, dass ein Kind möglicherweise gar nichts von der Zeugung durch eine Samenspende weiß und unerwartet davon erfährt; das Interesse des Samenspenders, (weitgehend) anonym zu bleiben; das Interesse der sozialen Familie bzw. der Mutter an einer Geheimhaltung der Umstände der Zeugung.
Informationen über nahe Verwandte
Nahe Verwandte haben hohe Anteile gemeinsamer DNA; Kinder erben 50 % der DNA ihrer Eltern und je etwa 25 % der DNA der Großeltern. Auch mit der DNA von Geschwistern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen bestehen hohe Übereinstimmungen. Ein DNA-Test ergibt daher zwangsläufig auch Informationen über die DNA der Kinder, Eltern, Großeltern oder anderer naher Verwandter. Ein Konflikt könnte daraus entstehen, dass ein naher Verwandter nicht möchte, dass jemand einen DNA-Test durchführen lässt, weil er befürchtet, dass dadurch Informationen über ihn bekannt werden könnten (über medizinische Sachverhalte, falsch zugeschriebene Elternschaften etc.).
Allerdings ist aus einem einzelnen DNA-Test allein nicht abzuleiten, welche DNA-Anteile mit einem bestimmten Verwandten geteilt werden; erst die Kombination mehrerer Testergebnisse von Familienmitgliedern oder nahen Verwandten lässt sichere Rückschlüsse auch auf die DNA von Personen zu, die sich selbst nicht haben testen lassen. Grundsätzlich könnte aber in manchen Situationen abzuwägen sein zwischen dem Recht des Einzelnen auf Kenntnis seiner DNA und dem Interesse von Verwandten an Nicht-Kenntnis oder Nicht-Bekanntgabe.
Nutzung von DNA-Informationen durch Strafverfolgungsbehörden
Die Nutzung von DNA-Informationen unterliegt in Deutschland und in anderen Staaten mit einer rechtsstaatlichen Ordnung genauen gesetzlichen Vorgaben. Für den sogenannten "Genetischen Fingerabdruck" werden zwischen 8 und 15 kurze Abschnitte der DNA mit bestimmten Wiederholungsmustern (STR oder VNTR) untersucht und in einen Zahlencode umgewandelt. Unter bestimmten Umständen dürfen diese Zahlencodes als "Genetischer Fingerabdruck" gespeichert und für Zwecke der Strafverfolgung benutzt werden (in Deutschland nur auf richterliche Anordnung).
Bei der DNA-Genealogie werden hingegen aus der atDNA rund 650.000 SNP bestimmt. Damit sind die DNA-Informationen, die im Rahmen der DNA-Genealogie festgestellt werden, und die DNA-Informationen, wie sie in Deutschland und anderen Ländern von den Strafverfolgungsbehörden benutzt werden, nicht vergleichbar.
Allerdings greifen zumindest in den USA Strafverfolgungsbehörden unter bestimmten Umständen auf Datenbanken der DNA-Genealogie zu, um letztlich mit den Mitteln der Genealogie unbekannte Verbrechensopfer zu identifizieren oder um indirekt über (entfernte) Verwandte Hinweise auf die Identität eines mutmaßlichen Straftäters zu erhalten. Dazu werden aus Tatortspuren DNA-Analysen erstellt, deren Daten mit denen in den genealogischen Datenbanken kompatibel sind. Genutzt werden dafür - soweit öffentlich bekannt - die Datenbank von Gedmatch.com und von FTDNA.com. In beiden Fällen können die Kunden selbst entscheiden, ob ihre Daten entsprechend genutzt werden können oder nicht (Gedmatch: Opt-In; FTDNA: Opt-In für Kunden aus der EU, Opt-out für amerikanische Kunden).
Über die beiden ersten Fälle dieser Art wurde im Frühjahr 2018 berichtet:
- Eine im Jahr 1981 im US-Bundesstaat Ohio ermordete unbekannte junge Frau - das "buckskin girl" - konnte Anfang April 2018 mithilfe der Gedmatch-Datenbank identifiziert werden.[7] Aus einer Blutprobe des Mordopfers wurde eine DNA-Analyse angefertigt und das Ergebnis so aufbereitet, dass es nach Gedmatch hochgeladen werden konnte, wo dann sehr nahe Verwandte des Mordopfers entdeckt wurden.
- Ende April 2018 wurde ebenfalls durch eine Nutzung der Gedmatch-Datenbank ein Verdächtiger identifiziert, bei dem es sich um den sogenannten "Golden State Killer", ein mindestens zwölffachen Mörder, handeln soll. In diesem Falle wurden DNA-Spuren, die der Täter zwischen 1976 und 1986 an den Tatorten hinterlassen hatte, erneut analysiert und ebenfalls so aufbereitet, dass sie nach Gedmatch hochgeladen werden konnten. Die Ermittler haben - soweit bekannt - offenbar nach den Methoden der DNA-Genealogie die Matches mit weitläufigen Verwandten ausgewertet, deren Beziehungen untereinander analysiert und schrittweise die Zahl der Verdächtigen immer weiter eingegrenzt.[8] Gerade der Fall des "Golden State Killers" zeigt, dass es zumindest bei Verbrechen von erheblicher Bedeutung nicht ausgeschlossen werden kann, dass Strafverfolgungsbehörden (ob legal oder illegal, sei dahingestellt) Datenbanken für DNA-Genealogie nutzen und damit die DNA-Informationen Dritter benutzen, um einen Straftäter zu identifizieren. Grundsätzlich kann es also nicht ausgeschlossen werden, dass jemand durch das Hochladen seiner eigenen DNA-Probe die Polizei auf die Spur eines näheren Angehörigen bringt, der eine erhebliche Straftat begangen hat [oder dazu beiträgt, einen Samenspender zu identifizieren, der anonym bleiben wollte, etc.].[9] Insbesondere können Missbrauchsmöglichkeiten in Staaten ohne eine rechtsstaatliche Ordnung nicht ausgeschlossen werden.
Inzwischen sind in den USA wohl einige Dutzend Straftäter, die sehr schwerer Verbrechen beschuldigt werden (v.a. Verbrechen gegen das Leben), auf diese Weise identifiziert worden.
Anmerkungen
- ↑ Vgl. hierzu auch Blaine T. Bettinger: The Family Tree Guide to DMA Testing and Genetic Genealoy. 2016, S. 35-41 (Kapitel "Ethics and Genetic Genealogy"). Auch die Anbieter der DNA-Tests weisen auf mögliche Probleme hin, so etwa Living DNA: "Learning unexpected or unwelcome information".
- ↑ Vgl. Abschnitt Inkognito-Adoption im Artikel Adoption (Deutschland). In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
- ↑ Vvgl. § 63 Abs. 1 Personenstandsgesetz: "Ist ein Kind angenommen, so darf abweichend von § 62 ein beglaubigter Registerausdruck aus dem Geburtseintrag nur den Annehmenden, deren Eltern, dem gesetzlichen Vertreter des Kindes und dem über 16 Jahre alten Kind selbst erteilt werden."
- ↑ Vgl. § 9b Adoptionsvermittlungsgesetz; die Vermittlungsakten werden 100 Jahre nach Geburt des adoptierten Kindes vernichtet
- ↑ Über die Identifikation eines anonymen Samenspenders hat am 30.5.2017 die niederländische Zeitung "De Volkskrant" berichtet; vgl. auch hier.
- ↑ Dies wurde letztinstanzlich 2015 durch den Bundesgerichtshof entschieden; vgl. hier
- ↑ Siehe Leah Larkin: Genealogy and the Golden State Killer; Seth Augenstein: 'Buck Skin Girl' Case Break Is Success of New DNA Doe Project.
- ↑ Siehe Leah Larkin: Genealogy and the Golden State Killer; Judy G. Russell: The bull in the DNA china shop.
- ↑ Die ausführlichste Darstellung und Diskussion dazu stammt von Roberta Estes: The Golden State Killer and DNA.