Über den Verwandtschaftsgrad (Rösch)
Über den Verwandtschaftsgrad
von Siegfried Rösch, Wetzlar
Zugleich als wohlverdienter Nachruf für den kürzlich verstorbenen großen Genealogen Wilhelm Karl Prinzen von Isenburg
Begriff und Definition des Verwandtschaftsgrades werden besser nicht aus dem BGB entnommen, sondern aus den biologischen Regeln, die bei der Bildung eines neuen Individuums aus den Keimzellen zweigeschlechtlicher Lebewesen abgeleitet werden können. Da hierbei in ganz klarer Weise der Zufall waltet, können quantitative Aussagen nur mit statistischen Methoden gewonnen werden. Wir wollen definieren:
Der mittlere biologische Verwandtschaftsanteil b („Blutzahl“) zwischen zwei Personen gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass ein bestimmtes Gen, damit also eine bestimmte Eigenschaftsanlage, der einen Person auch bei der anderen auftritt. Zwischen Vater und Sohn ist b = 0.5, da der Sohn die eine Hälfte vom Vater, die andere Hälfte von der Mutter hat. Und wir sind uns bewusst, dass im Einzelfall be = 1 oder be = 0 ist, und dass es dabei Zwischenwerte nicht gibt (was H. von Schelling sehr schön als „Alles-oder-Nichts-Gesetz“ bezeichnet). Entsprechend gilt zwischen einem Probanden und seinem Urenkel b = 0.125 (und zwar wechselseitig), da bei dreimaligem Zeugungsvorgang sein Blut drei Mal „auf die Hälfte verdünnt“ worden ist: 0.5, 0.25, 0.125. Auch hier sind nur statistische Mittelwerte gemeint, die wahren Werte sind wieder jeweils be = 1 oder be = 0. Es ist daher sinnvoll, auch über sehr ferne Verwandtschaften quantitative Angaben zu machen, denn der Zufall kann auch dabei Serien von be = 1 bescheren.
Es liegt nahe, statt der Zahl b die Anzahl der „Verdünnungen“ zu zählen, die damit in der Beziehung steht gb = -log b : log 2 oder b = 2-gb. Dies ist die Definition des biologischen Verwandtschaftsgrades (bVG). Danach sind Vater und Sohn im 1. Grad verwandt, Proband und Urenkel im 3. Grad, Bruder und Schwester ebenfalls im 1. Grad; denn die Wahrscheinlichkeit, dass beide Geschwister vom Vater das gleiche Gen geerbt haben, ist b = 0.5 × 0.5 = 0.25; da aber über die Mutter Gleiches gilt, summiert sich 0.25 + 0.25 zu b = 0.5, und damit wird gb = 1 (während abweichend von diesem biologischen Befund die Juristen gj = 2 rechnen).
Hiermit sind wir in der Lage, jede beliebige Verwandtschaft auszurechnen, denn andere als die Kind-Eltern- und die Geschwister-Beziehung sind dabei nicht nötig. Beispielsweise ist ein Proband mit seinem „Vetter zweiten Grades“ biologisch im 5. Grad verwandt (es ist b = 1/32 gb = 5); beide haben ein Urgroßelternpaar gemeinsam.
Da nun die b-Werte den Vorzug haben, summierbar zu sein, können mit ihrer Hilfe auch Mehrfachverwandtschaften statistisch erfasst werden. Es ergebe sich z. B., dass zwei Personen über verschiedene Ahnenpaare im 5., im 6. und doppelt im 7. Grad verwandt sind, also gb = 51 61 72; ich nenne dieses gb den „ausführlichen bVG“ (für den ich zunächst keine bessere Schreibweise weiß als diese Aneinanderreihung von Hochzahlen, die natürlich nicht als „5 mal 6 mal 49“ gelesen werden darf. Die Schreibweise gb = 5; 6; 72 ist weniger missverständlich, aber auch schwerfälliger, zumal recht lange Ketten auftreten können). Aus b1 = 1:32, b2 = 1:64, b3 = 2:128, summiert man b = (4+2+2) : 128 = 1 : 16; hieraus ergibt sich rückwärts ein summarischer bVG g'b = 4.
Die biologische Bedeutung der letzteren zahl, die i.A. nicht ganzzahlig ist, liegt darin, dass eine Mehrfachverwandtschaft gerade in solchem Maß die Wahrscheinlichkeit erhöht, als ob der VG. der 4. wäre. Wie erheblich dieses Näherrücken werden kann, mag an einem reellen Beispiel gezeigt werden. Kaiser Friedrich II. (1197-1250) ist auf 47 verschiedenen wegen Nachkomme Karls des Großen, und zwar ist für ihn gb(Karl) = 131 1410 1517 1611 176 182; da seine erste Gemahlin, Konstanze von Aragon (†1222) die Verwandtschaft gb(Karl) = 132 148 1511 163 173 hat, ergibt sich für beider Sohn, König Heinrich VII. (1211-42), der Wert gb(Karl) = 143 1518 1628 1714 189 192, also N = 47 + 27 = 74 als Anzahl der verschiedenen Wege.