Weihnachtszeit in der Heimat

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<<<Erzählungen aus Schmelz


Weihnachtszeit in der Heimat Von Gerhard Krosien


Eigentlich ging's schon im November los mit Weihnachten in Memel-Schmelz. Schnee war meistens genug da, kalt genug war es auch.Tante Trude tauchte öfter als sonst bei uns auf. Sie hatte außer ihrem gleich bleibend sonnigen Gemüt, schönem gebräunten Teint, ihren fast schwarzen Haaren und blendend weißen Zähnen noch eine besondere Begabung: Als Landkind konnte sie Gänse und Enten schlachten. Und um die ging es bei uns im November! So an die 30 Gänse und eben so viele Enten waren nun - wie in jedem November - der menschlichen Ernährung zuzuführen. Dieses Federvieh hatte Mutter in letzter Zeit besonders gut gefüttert, sozusagen gemästet. Und dann setzte Tante Trude in der geräumigen Waschküche jetzt das Messer zu ihrem blutigen Tun an die Kehlen der Tiere! Das Rupfen der Federn und das Ausnehmen der Geschlachteten besorgten Oma und Tante Elsa. Die beiden hatten den Bogen dafür raus. Nach einiger Zeit gab es keine lebenden Gänse und Enten mehr auf unserem Grundstück.

Der „Nachschub“ rollt Dabei hatte vorher alles so gut angefangen. Vater, mit mir auf dem Gepäckträger, war im Frühjahr mit dem Fahrrad in ein Dorf im Memelland gestrampelt, das einen Teich - ein offenes Gewässer, wie er zu sagen pflegte - haben musste. Er meinte, nur hier seien die Gänse- und Enteneier, die er kaufen wollte, immer schön befruchtet, so dass auch was daraus würde. Immer machten wir auch halt in einem Dorf, das meist nur eine sandige Hauptstraße und noch sandigere Nebenwege, in alle Windrichtungen wahllos hingebaute, kleine Katen mit geflochtenen Staketenzäunen und möglichst naturbelassenen Gärten hatte. Sonderbar für mich: Kartoffeln, Butter, Honig und andere Nahrungsmittel holten wir sonst eigentlich immer aus Dörfern, die eine gepflasterte Straße, schön wie mit dem Lineal ausgerichtete, gepflegte, ziegelgedeckte Bauernhäuser, exakt angelegte Gärten mit farbig angestrichenem Lattenzaun hatten - aber meist keinen Dorfteich. Sogar Wäscheleinen gab es hier, von denen ich in unseren „Gänse- oder Entendörfern“ jemals eine einzige gesehen hatte.

So weit, so gut!

Es geht los Aus den Eiern war auch tatsächlich immer etwas geworden. Das war jetzt im November ja zu sehen! Immer lagen in der Speisekammer einige ausgenommene dieser Vögel im Regal. Außerdem hingen dort von Zeit zu Zeit auch noch ein paar geschlachtete Hühner, die die Eltern der Eier wegen ebenfalls hielten. Hin und wieder ließ sich dann Onkel Gottlieb, ein Metzger „aus der Stadt“, bei uns blicken, um vor allem die geschlachteten Gänse und Enten abzuholen. Er machte aus den Gänse- und Entenbrüsten schön geschnürte Rollen und trennte die Gänse- und Entenschinken gekonnt von den Rümpfen. Alles hängte er in den Rauch, und nach einiger Zeit wurde unsere Speisekammer mit erheblichen Vorräten an geräucherten Gänse- und Entenschinken sowie Gänse- und Entenbrüsten bestückt. So geschah das bis zum Fluchtjahr 1944.

Lobenswert Aber nicht alle Gänse, Enten und Hühner konnte unsere Familie „verwerten“. Sicherlich hätten sich die Familienmitglieder recht bald daran den Appetit verdorben. Immer Gänse- und Entenbraten, Gänse- und Entenklein, Gänse- und Entenschmalz? Zunächst bekamen Verwandte und gute Bekannte einige Geflügelbraten ab. Dann erhielten aber auch einige ältere und kranke Menschen sowie einige „arme Schlucker“ von Memel-Schmelz geschlachtete Gänse, Enten oder Hühner geschenkt. Ich finde, das war ein guter Charakterzug meiner Eltern! Jedenfalls war so zu jener Zeit immer ein reges Kommen und Gehen in unserem Haus.


Blutflinsen Noch eine Besonderheit zu Zeiten der „Metzelei“: Einer - meistens Tante Elsa - wurde mit einer großen weißen, blau umrandeten Emailleschüssel zu der „gänsemordenden“ Tante Trude abkommandiert. Tante Elsa musste dann mit der Schüssel Gänseblut auffangen und dabei mit einem Löffel kräftig und anhaltend rühren, damit es nicht klumpte. In der Küche wurden dann Salz, Kräuter und Gewürze - nur an Majoran kann ich mich noch erinnern - in das Blut gerührt. Mit dem auf die Herdringe gelegten Waffeleisen wurden dann hauchdünne Blutflinsen gebacken, die mit Holzstäbchen zu leichten Rollen gewickelt wurden. Die mussten möglichst warm gegessen werden. Haben die herrlich geschmeckt!

Die Weihnachtsbäckerei Aber das Wichtigste der Weihnachtsvorbereitung für uns Kinder kam erst noch! Im Dezember war an jedem Tag Backtag. Tante Elsa und Mutter buken Unmengen von Pfeffernüssen, andere Gewürzkuchen und Kekse. Deren Duft erfüllte das ganze Haus! Auf dem Küchentisch wurde mit Rosenwasser und gemahlenen Mandeln vermischter Zuckerteig ausgerollt. Wir Kinder durften mit Blechformen Herzen, Halb- und Vollmonde sowie Sterne ausstechen - und manchmal wanderte in günstigem Moment auch wohl mal ein Stückchen in unseren Mund. Aus dem Ausgestochenen wurde Königsberger Marzipan gemacht. Dabei war eine beliebte Aufgabe für uns das Zuschneiden der grünen und roten Geleestückchen, die zur Verschönerung auf das Marzipan gelegt wurden. Auch das Verzieren der Marzipanherzen am Rand mit der Stricknadel machte uns riesigen Spaß. Jedenfalls verloren wir nie die Lust am Mitmachen! Nur der erwartete Lohn für unsere „Leistung“ blieb meistens aus. All die leckeren Sachen wurden in große Blechtrommeln und Blechkisten verstaut - und noch dazu irgendwo „hochgestellt“. „Alles für Weihnachten“, hieß es nur immer wieder!

„Maß“halten Zwischendurch kam Frau Jakubeit, die vom Lande stammte und mit in unserem Haus wohnte, kurz zu uns herein. Sie war gelernte Schneiderin und hatte immer etwas zu tun. Jetzt aber holte sie mich und nahm mit irgendeinem Wollstoff an mir Maß. „Ich mache da eine Jacke für einen Jungen vom Lande, der so ungefähr deine Figur hat. Nun halt aber auch mal still!“, ließ sie mich dabei wissen. Na ja, für andere opferte ich mich schon mal! Noch mehrmals musste ich in der nächsten Zeit die Anprobe-Prozedur über mich ergehen lassen. Mit der Zeit gefiel mir die entstehende Jacke auch. So eine Jacke hätte ich wohl ebenfalls gern gehabt.

Einen „Wunschzettel“ hatten wir Kinder an den Weihnachtsmann sowieso geschrieben! Sonst gab's doch nichts! Damals waren wir - was Spielzeug betraf - ziemlich bescheiden, glaube ich heute. Es gab ja auch kaum etwas zu kaufen! Aber eine schöne Jacke, gerade so eine wie die für den „Landjungen“, stand mit auf dem Zettel. Kurz darauf lag in so manchem Schrank ein verheißungsvolles Päckchen, das keiner von uns finden, geschweige denn öffnen durfte.

Heiligabend Und dann kam der Heiligabend. Im Wohnzimmer stand ein riesiger, bis an die Zimmerdecke reichender Tannenbaum. Er war wunderbar geschmückt: Bunte Kugeln, Lametta, Pfauen aus buntem Glas mit glänzenden, wippenden Schwänzen, Wunderkerzen, Schneewatte, brennende weiße Wachskerzen. Obenauf als Spitze des Tannenbaumes ein glitzernder bunter Glasengel.

Oma, Opa, einige Tanten und Onkel, Mutter und Vater - auch einige verwundete, aber gehfähige deutsche Soldaten aus dem nahen Lazarett - saßen bei einem Glas Punsch im Weihnachtszimmer. Wir Kinder sprangen durch den Raum und waren ganz aufgeregt. Da pochte es hart und laut an der Wohnzimmertür, und der Weihnachtsmann stapfte mit seinen großen schneebedeckten Stiefeln herein. Er trug auf dem Kopf eine hohe rote Zipfelmütze mit weißem Troddel, um seinen Leib hatte er einen wallenden Umhang aus Schaffell geschlungen, der mit einem dicken Tau in Bauchhöhe gegurtet war. An dem Tau hing bedrohlich eine große Reisigrute. Das Gesicht des Weihnachtsmanns wurde von einem langen, weißen Vollbart verdeckt. An den Händen trug er große, warme Fellhandschuhe. Aber die Krönung von allem war für uns Kinder der riesige Jutesack, der über seiner Schulter hing und der so einiges zu enthalten schien.

Bescherung Wir Kinder verkrochen uns hinter irgendeinem „Großen“. Wir wagten kaum zu atmen. Aber der Weihnachtsmann schien bestens über jeden von uns informiert zu sein. Denn er rief einen nach dem anderen mit Namen zu sich und hielt jedem Begebenheiten vor, die ein Fremder eigentlich nicht wissen konnte. Aber jeder Weihnachtsmann kann das ja!

Nachdem „Bösewichter“ Besserung gelobt und sie wie die „Braven“ ein Gedicht aufgesagt hatten, grabbelte der Weihnachtsmann für jeden von uns ein Päckchen aus dem Sack hervor. Die „Großen“ bekamen ohne Gedichtaufsagen aber auch etwas. Jedenfalls bedankten sich alle artig beim Weihnachtsmann. Der trank noch rasch ein Gläschen Punsch - den brauchte er wegen der Kälte draußen bestimmt! - und stapfte dann durch die Haustür in das Dunkel der Weihnachtsnacht.

Nachschlag Kurze Zeit später krachte es nochmals an der Tür, diesmal an der äußeren Haustür. Wir Kinder und die Eltern stürmten dorthin. Der Krach musste doch einen Grund gehabt haben! Wie überrascht waren wir, als draußen im Schneegestöber ein neuer Schlitten mit einem halb vollen Jutesack stand! Das war wohl das, was der Weihnachtsmann vorhin noch auszupacken vergessen hatte! Der „Fund“ wurde rasch hereingeholt. Und wir hatten recht mit unserer Vermutung! Im Sack steckte eine Jacke, wie ich sie mir gewünscht hatte. Sie sah genau so aus wie die, die Frau Jakubeit für den „Landjungen“ gemacht hatte. Ich war froh, dass der Weihnachtsmann mir diesen Wunsch erfüllt hatte! Für die Geschwister waren diverse Spielsachen in dem Sack. Und an dem Schlitten hing ein Zettel, der vorschrieb, dass der Schlitten nur für uns große Buben bestimmt war. Wir hatten uns also mit dem Weihnachtsmann nicht geirrt! Waren wir zunächst doch schon ein bisschen enttäuscht über die insgesamt knapp bemessenen Geschenke gewesen, die er uns zuvor persönlich ausgehändigt hatte. Aber jetzt ...

Ausklang Alle zusammen sangen wir nun viele schöne Weihnachtslieder und ließen uns Bonbons, Kekse, Pfeffernüsse, Marzipan, Nüsse und das Weihnachtsessen gut munden. Heute durften wir Kinder auch länger als sonst aufbleiben. Die Eltern zogen sich warm an und stapften in die Kirche zum Weihnachtsgottesdienst.

Das war Heiligabend in Memel-Schmelz.

Besinnliche Weihnachtstage Die Verwundeten blieben „übernacht“ bei uns. Das fanden wir Kinder toll! Der erste und der zweite Weihnachtsfeiertag wurden mit Essen, Trinken, Spielen und Erzählen verbracht. Von überall her kamen Bekannte und Verwandte zum „Frohe-Weihnacht-Wünschen“. Dabei bekamen wir Kinder mal Geschenke, mal nicht. Die Weihnachtszeit in Memel war eine herrliche Zeit! Die Erinnerung an sie wird immer wach bleiben!