Aulenbach - ALT: Unterschied zwischen den Versionen

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: ''Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin  Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!''
: ''Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin  Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!''
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====„Nich griene, mien Marjellke, wie schaffe et!"====
[[Datei:13 Gehalt.jpg |thumb|350 px|right| <center> Gehaltsabrechnung Gerhard Kiehl, 01.10.1948 (privat) </center>]]
: ''Inzwischen ist es Herbst geworden. Euer Opa und ich haben im nahen Moor Topf gestochen; denn wir brauchten ja Brennmaterial, und der Winter stand bevor. An Kohlen war nicht zu denken! Acht Kilometer war es bis zum Moor, wir hatten nur ein Fahrrad, das Dienstrad! Es war unser einziges Verkehrsmittel „die Fietz", hieß es holländisch! Das Fahren auf dem nur „einem Rad" ging für zwei Personen immer nur abwechselnd; fahren, überholen, abstellen — zu Fuß weiter, bis man wieder zum abgestellten Rad gelangte. Viel später gab es aber dann ein Damenfahrrad und ein Moped. Darauf bin ich, Eure Oma, mit Eurem noch „kleinen Papa" wie die Feuerwehr auf den schlimmen, ausgefahrenen Straßen, wo nur ein schmaler Pfad für „Fietsen" war, entlang gebraust! Es ging aber immer alles gut.''
[[datei:Bezugsschein.jpg |thumb|350 px|right| <center> Bezugsschein für Fritz Stiesger, (1946)<ref name=Bezugsschein> [https://emslandmuseum.de/2021/01/26/tauschwirtschaft-und-schwarzmarkthandel Emslandmuseum Lingen, Bezugsschein] </ref> </center> ]]
: ''Große Achtung hatten wir vor der nahen „Holländischen Grenzbevölkerung". Auch sie waren nur auf ihre Fahrräder angewiesen, ob Jung oder Alt, alle kamen sie am Sonntagmorgen an uns vorbei, die älteren Frauen in langen Röcken — eine Halbschürze davor, Bluse und Jacke und eine Haube gehörte dazu, an den Füßen hatten sie holländische Botten aus Holz an. Wenn's regnete, hatten sie in einer Hand noch einen Regenschirm aufgespannt! Sie fuhren in eine bestimmte Kirche – die altreformierte Kirche in Uelsen. ''
Die Evangelisch-altreformierten Gemeinden entstanden ab 1838 in der [[Grafschaft Bentheim]] und ab 1854 in Ostfriesland aus den dortigen reformierten Gemeinden. Grund waren die liberalen Strömungen in der Theologie der reformierten Gemeinden, denen sich viele Gemeindeglieder widersetzten und sich daher von ihren Gemeinden absonderten. Den Anfang machte die niederländische Gemeinde Ulrum in Groningen, die sich von der reformierten Kirche am 13. Oktober 1834 trennte. Ihr Pastor '''Hendrik de Cock''' wurde zur Leitfigur der in Ostfriesland und der [[Grafschaft Bentheim]] nach ihm benannten „kokschen“ Abscheidungsbewegung (niederländisch Afscheiding).  Betont wird die Mündigkeit und Überschaubarkeit der Ortsgemeinde, die vom Kirchenrat geleitet wird. Jeder Haushalt wird alle ein bis zwei Jahre von zwei Vertretern des Kirchenrates besucht. Die Gemeindekirche lebt vom Engagement ihrer zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter. Missionarisch steht die altreformierte Kirche mit Gemeinden in Asien in enger Verbindung, insbesondere in Indonesien und Bangladesch. 2004 kam es als Abschluss des sogenannten „Samen op weg  (Gemeinsam auf dem Weg)“-Prozesses zur Wiedervereinigung mit der Niederländisch-reformierten Kirche zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden.” <ref name=altreformiert_uelsen> [https://de.wikipedia.org/wiki/Protestantische_Kirche_in_den_Niederlanden Wikipedia - Protestantische Kirche in den Niederlanden (Abgerufen 04-2023)] - [https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_de_Cock Wikipedia - Hendrik de Cock (Abgerufen 04-2023)]</ref>
: ''Wir hatten als junge Zöllnerfamilie in [[Vennebrügge]] an allem großen Spaß, es war ein einfaches, aber schönes Leben für uns — noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Gehalt — anfangs nur 160,85 Reichsmark, es gab noch immer fast nichts zu kaufen; alles nur auf Bezugsscheine, die kaum zu haben waren.''
: '' Dazu die Sorgen um meinen Vater und meinen Bruder. Beide galten als vermisst. Ob sie noch lebten? Meine Mutti war noch im Erzgebirge, bei Tante Friedel. Zwar hatten wir für Vater und Bruder Suchmeldungen an das „Rote Kreuz" nach Hamburg geschickt — aber alles vergebens.''
: '' Inzwischen war der November des Jahres 1947 vorbei. Die Tage waren auch dort dunkel und regnerisch. Ich strickte für die Bauern Strümpfe, Pullover, Schals für wenige Lebensmittel, sie waren geizig. Euer Opa machte den Grenzdienst bei Wind und Wetter!''
: '' Und eines Tages, Anfang Dezember 1947 kam über das „Rote Kreuz" Nachricht von meinem Vater — und auch zugleich über Onkel Erich, beide lebten! Vater war in einem Ort bei [[Walsrode]]. Mein Bruder in [[Lübeck]] in einem Lazarett als Sanitäter. Sofort fuhr ich zu Vater, der bei einem Bauern lebte. Wieder war die Fahrt beschwerlich; aber ich bin dort gut angekommen.''
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Datei:14 DRK1.jpg|Abbildung: Benachrichtigung Deutsches Rotes Kreuz, <br> Quelle: privat, 1947
Datei:15 DRK2.jpg|Abbildung: Benachrichtigung Deutsches Rotes Kreuz, <br> Quelle: privat, 1947
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: '' Angekommen fragte ich mich erstmal nach dem Bauern durch. Auf mein Klopfen an die Küchentüre trat ich ein und sah vor mir eine lange vollbesetzte Tafel, es war Mittagszeit. Ich stellte mich vor und fragte nach meinem Vater — und sah ihn am unteren Ende des Tisches sitzen. Als er seinen Namen hörte schaute er auf — und wir lagen uns in den Armen. Vaters erste Frage war nach Mutter; auch sie lebte und wurde etwas später zu Vater nach [[Vethem]] gebracht, mein Bruder Erich siedelte aus [[Lübeck]]. Unsere Lieben hatten ein wunderbares Leben bei Bauer '''„Heini" Lühmann'''. Ihm herzlichen Dank! : ''
: '' Ich war wieder wohlbehalten in [[Vennebrügge]] gelandet. Mein Gerhard, Euer Opa, konnte aus dienstlichen Gründen nicht zu uns kommen. So gab es viel zu berichten — und nun nahte schon Weihnachten; das Wiederfinden unserer beiden Lieben war schon „ein Geschenk vom lieben Gott!" Wir waren arm, schliefen immer noch auf einem Strohsack, und waren unsagbar froh und glücklich! Und nun stand das schönste Fest aller Feste, nämlich Weihnachten vor der Türe. : ''


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Version vom 3. Juni 2023, 22:50 Uhr

Diese Seite gehört zum Portal Insterburg


Hierarchie

Regional > Historisches Territorium > Deutschland 1871-1918 > Königreich Preußen > Ostpreußen > Landkreis Insterburg > Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) > Aulenbach - ALT

Ort Wilkental (Willschicken) Ksp. Aulenbach 1939


Ortsnamen

Am 16.07.1938 umbenannt in Gemeinde Wilkental / Ostp.

  • deutsche Ortsbezeichnung (Stand 1.9.1939): Gemeinde Wilkental
  • vorletzte deutsche Ortsbezeichnung (vor der Umbenennung 1938) : Willschicken
  • weitere (alte) Ortsnamen : Wilpischen, Wilschicken


Willschicken, litauisch wilszikei = Schimpfname; Wilpischen, litauisch wilpiszys = die wilde Katze.


Der Ort existiert heute nicht mehr.

Ortsinformationen

Willschicken

Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen,

Typ  : Alter Siedlungsort

Provinz  : Ostpreußen
Regierungsbezirk  : Gumbinnen
Landkreis  : Insterburg [12]
Amtsbezirk  : Franzdorf [13]
Gemeinde  : Wilkental (ab 16.7.1938)
Kirchspiel  : Aulenbach (Aulowönen) Ostp.

im/in  : südlich der Ossa
bei  : ca. 22 km nördl. v. Insterburg, ca. 3 km östlich von Aulenbach

GPS-Daten  : N 54° 48′ 23″ (Breite) - O 21° 49′ 21″ (Länge)
GOV-Kennung  : WILTALKO04VT [14]
Messtischblatt  : 1196 (11096) [15]
Messtischblatt Jahr : 1939

Wirtschaft

1932
PT Aulowönen, E Grünheide 5 km;

  • Abbau Wilhelm Grigull, 60ha, davon 42 Acker,, 15 Weiden, 2,5 Hofstelle, 0,5 Wasser - 10 Pferde, 30 Rinder - davon 12 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine, Telefon Aulowönen 64 [1]
  • Abbau Sieloff, 43 ha, davon 30 Acker, 2 Wiesen, 10 Weiden, 1 Hofstelle; 8 Pferde, 24 Rinder - davon 10 Kühe, 10 Schweine, Telefon Aulowönen 67 [1]

Geschichte

Willschicken

Chatouldorf -- Kirchspiel Aulowönen, Schule Pillwogallen, Amt Groß Franzdorf, Standesamt & Gendarmerie: Aulowönen

1678 wird ein Waldwart genannt; [2] 1719 heiratet Christoph Pirage. [2] 1785 Wilschicken oder Wilpischen, Chatouldorf, 15 Feuerstellen, Landrätlicher Kreis Tapiau, Amt Lappönen. Patron der König; [2] 1815 Chatouldorf, 4 Feuerstellen, 85 Bewohner, bis 30.4.1815 zum Königsberger Departement gehörig, dann zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen. [2]

Amtliche Zählung: (Siehe auch die GenWiki Voreinstellungen am Artikel-Ende von Willschicken)

Wohngebäude 20 (1871) [2] 28 (1905) [2] 25 (1925) [2]

Haushalte 30 (1871) [2] 32 (1905) [2] 31 (1925) [2]

Einwohner 134 (1867) [2] 154 (1871) davon 77 männlich[2] 150 (1905) davon 75 männlich [2] 146 (1925) davon 66 männlich[2] 127 (1933) [3]

1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabeten, 5 ortsabwesend. [2] 1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben Deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]

1925 alle evangelisch, [2]

Ortsgrundfläche:

Im Jahr 1905: 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]


Quellen:

[1] Niekammers Güteradressbuch 1932

[2] Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970

[3] Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A."


"Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental", Text von Klaus Kiehl

Eine Vorbemerkung zu den drei folgenden Texten:

"Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental"

"Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang"

"Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken" (mit Quellen-Angaben)

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies hatte die Idee, etwas über Willschicken aufzuschreiben.

Die so entstandenen Texte benutzen als Hauptquelle eine Vielzahl mündlichen und schriftlicher Überlieferungen verschiedenster Personen aus Ostpreußen.

Leider sind 2023 - 78 Jahre nach Kriegsende - schon sehr viele dieser Personen verstorben.

Daneben gibt es auch einiges an "grauer Literatur" wie Artikel, Briefe, Karten und Fotos aus mehreren Nachlässen.

Diese privaten Quellen wurden ergänzt durch Angaben in öffentlich zugänglichen Internetseiten und einer sehr begrenzten Anzahl von Fachliteratur.

Die Ergänzungen sollen im kleinen Rahmen Begriffe klären, Situationen erläutern und zeitliche Abläufe ansprechen. Sie können helfen, von Hintergründen über Willschicken zu wissen.

Diese Texte sollen aber keine Fachtexte sein - sondern sollen Wahrnehmungen und Erinnerungen der Tuttliesen und der Kiehls aus und über Ostpreußen, Willschicken und deren Hintergründe aufbewahren.

Subjektive Wahrnehmungen und nachträgliche Erinnerungen schließen auch Fehler und Lücken mit ein. So z. B. das Erinnern an das Erinnerte.

Diese drei Texte beziehen sich aufeinander, sind aber auch separat verständlich.

Um Wiederholungen zu vermeiden, sind die wichtigsten Links und ausgewählte Literatur am Ende des dritten Textes zusammengefasst angeführt.

Die Texte wurde ausschnittweise in kleinen Teilen schon im „Insterburger Brief“ 2/2020-3/2021 und 4/2022 veröffentlicht.

Es folgt der erste Text:

"Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental"

Inhalt

1. Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental

2. Höfe in Wilkental

3. Familienstammbaum Tuttlies

4. Hausbau in Willschicken

5. Dorfleben in Willschicken / Wilkental (siehe auch den Text "Erinnerungen" von Hildegrad Tuttlies im Anschluss)

6. Nachbargemeinde Pillwogallen

7. Nachbargemeinde Paducken

8. Nachbargemeinde Aulowönen

9. Nachbargemeinde Kreppurlauken

10. Platt im Willschicken: Kupst und Kaddig

11. Kontakte




1.  Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental

Vater Ferdinand Tuttlies und Mutter geb. Berta Burba haben 1902 in Willschicken geheiratet. Wilschicken lag ca. 22 km nördlich von Insterburg und ca. 3 km östlich von Aulenbach.

Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf erwähnt. Es lag in Ostpreußen, in Preußisch-Litauen im Regierungsbezirk Gumbinnen, Landkreis Insterburg, Amtsbezirk Franzdorf, im Kirchspiel Aulowönen.

Quelle: Wilkental – GenWiki (genealogy.net)

Das Ehepaar Tuttlies hatte 5 Kinder
Max * 19.01.1903  in Paducken       + 13.01.1964 in Krostiz
Erich * 19.11.1905 in Willschicken     + 12.04.1965 in Südkampen
Otto * 1909 in Willschicken       +  30.12.1913 in Willschicken
Friedel * 25.10.1910 in Willschicken               + 03.12.1993 in Oberweißbach  
Hildegard * 21.03.1920  in Willschicken   + 19.06.2020 in Hamburg


Die folgende Karte von 1939 zeigt die Gemeinde Wilkental in den Grenzen von 1882 und Teile des alten Dorfkerns von Lindenhöhe

Die durchgezogene Linie in lila ist die Gemeindegrenze von Willschicken in der Kar­te.

Karte: Die Zuordnungen auf Messtischblatt von Wilkental (1939) wurde von Herrn Mattulat 2021 unter Mithilfe von Hildegard Kiehl geb. Tuttlies erstellt. Die Karte von 1939 zeigt die Gemeinde Wilkental in den Grenzen von 1882 und Teile des alten Dorfkerns von Lindenhöhe. Die durchgezogene Linie in lila ist die Gemeindegrenze von Wilkental/Willschicken. Ein Hof konnten innerhalb Willschicken nicht eindeutig zugeordnet werden. "BM" war die Bürgermeister Stube von Bürgermeister Mikuleit. Die Vermessung muss vor 1906 entstanden sein, da sie nicht den endgültigen Ausbau des Hofes von Ferdinand Tuttlies zeigt Quelle: privat

Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf zuerst erwähnt. Es hatte schon eine gemeinsame Pferdetränke und einen Friedhof. (siehe weiter unten: "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Quelle: Wilschiken o. Wilkschicken o. Wilpischen auf der Schroetterkarte (1796-1802), Maßstab 1:50 000 © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz) Um 1807 wird das für Willschicken zuständige Domänenamt verantwortlich u.a. auch für die Güter Alt/Neu Lappönen und Kreppurlauken im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. In Willschicken siedelten Schatull-Bauern. Nur auf Gütern (Alt/Neu Lappönen und Kreppurlauken), die aber nur zum kleinen Teil den späteren Wilkentaler Grund bewirtschafteten, wurden später Scharwerker eingesetzt. Die Preußischen Reformen schufen mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Verwaltungsstruktur. Am 11.03.1874 wird der Amtsbezirks Groß Franzdorf (Nr. 27) gebildet, zu dem auch Willschicken gehört. 1882 erfolgte die endgültige Feststellung der Grenzen der Gemeinde Willschicken.

Von der "Bauernbefreiung" (Ablösung der Erbuntertänigkeit, Erwerb von Eigentum und gesetzlichen Flurbereinigung) 1807-1850 waren die sieben Großbauern von Willschicken nur am Rande betroffen. Es waren alle ehemalige Schatull- und Erbfrei-Bauern, die hatten ihren Boden vom König ge­kauft und urbargemacht hatten. Sie waren schon Eigentümer ihres Landes. Für sie arbeitete ihr Gesinde und Instleute. Bei Bedarf kamen Tageslöhner und Wanderarbeiter hinzu. Die Landarbeiter besaßen keine größeren Grundstücksansprüche und kamen in Gemeinschaftsunterkünften oder in Nebengebäuden und Katen unter. In so einem Nebengebäude wohnten 1938 noch Friedrich Papendick und Frau Flemig, gelegen in der Nähe des Hofes von Besitzer August Herrmann Tuttlies. Teilweise wohnten die Altenteiler zusammen mit den Erben noch in einem Wohngebäude, hatten dort aber deutlich weniger Platz.

Tabelle: Wohngebäude und Haushalte in Willschicken

Willschicken
Jahr Wohngebäude Haushalte
1871 20 30
1901 28 32
1925 25 31

Quelle: Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970

Während der "Bauernbefreiung" kam es in den Nachbargemeinden von Willschicken zu zahlreichen Landabtretungen, da die dortigen Scharwerks-Bauern die Abtretungssummen an ihre Gutsherren nicht zahlen konnten.

Zu Landabtretungen kam es aber auch in Willschicken, und zwar im Erbschaftsfalle. Nach Meinung des Insterburger Landrates Konrad von Massow entstand die Parzellierung von Privatgrundstücken nach der Bauernbefreiung häufig durch Erbschaftsregulierungen, wobei der Grundstücksnehmer als Erbe nicht die Mittel besaß, um die Miterben mit Geld zu entschädigen, und sie deshalb mit Landabtretungen abfinden musste.

Der Verkauf von Bauerland aus wirtschaftlichen Notlagen kam hinzu. Die traditionellen (Ritter) Güter und Teile der Großbauern gerieten zusammen mit den früheren Amtsbauern in Ostpreußen ab 1873 in sich wiederholende schwere wirtschaftliche Krisen, so dass deren notwendigen Grundstückverkäufe nicht nur für die unmittelbaren Dorfnachbaren und den unversorgten Kindern, sondern auch für die umliegende Bauern und Güter von großem wirtschaftlichem Interesse waren. Häufig ging es hier um Arrondierungen der eigenen Grundstücke. Hinzu kamen bürgerliche Spekulanten. Diese "wirtschaftlich" notwendige Flurbereinigung erfolgte in Willschicken hauptsächlich während der wirtschaftlichen Depressionen und längeren Krisen, 1873-1879 und 1918-1924.

Es entstanden zunächst stark zersplitterten Grundstücksflächen auf dem Lande. Von 1850 - 1871 wurde versucht, die zersplitterten Grundflächen durch eine gesetzlich unterstützte Seperation zusammenzulegen, um sie so für die alten Besitzer und die Neusiedler rentabler zu machen. Die Flurbereinigung wurde auch nach der Reichsgründung durch verschiedene Programme fortgesetzt. Durch die Seperation entstehen zusammenhängende Bauern-Grundstücke. Sie waren in Willschicken durch die Bodenwerte 4 und 5 bewertbar. 1935 lag der steuerliche landwirtschaftliche Einheitswert für diese Böden im Kreis Insterburg zwischen 600 und 699 Reichsmark pro Hektar. Die gesamte Spannweite für Ostpreußen lag zwischen 300 und 1599 Reichsmark pro Hektar. Diese Werte wurden für notwendige Verkäufe und Hypotheken-Kredite zu Grunde gelegt. Im Jahr 1905 beträgt der Grundsteuer Reinertrag in Willschicken 8,87 je ha. Quelle: Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1 - 3

Alle drei Entwicklungen hatte auch in Willschicken räumliche Folgen. Die sieben Großbauern behielten zwar ihre Höfe, mussten aber aus wirtschaftlichen Gründen einen beträchtlichen Teil ihres Landes aufteilen und verkaufen. Von den 319 ha Gesamtfläche in Willschicken hielten die Großbauern um 1900 nur insgesamt nur noch 83 ha. Auf den verkauften Flächen entstanden durch "Abbau" und Neubau 2 Güter, 8 Mittelbauer und 8 Kleinbauer. Die Grundstücke lagen aber nicht immer dorfnahe. Willschicken wurde zu einer Streusiedlung, mit einem kleinen alten Dorfkern. Die Hofgrößen bis 7,5 ha. wurden in der Steuerklasse als Kleinbauern bezeichnet. Die Finanzierung der Neusiedler geschah neben Erbschaftsanteilen in der Regel über Hypotheken-Kredite. Eine Alternative war die Pacht. Die Pachtverhältnisse sind aus der unten folgenden Tabelle Betriebsgrößen der Höfe in Willschicken in ha 1945 zu entnehmen.

Die Konjunkturzyklen waren gerade für die Landwirtschaft in Ostpreußen eine Berg- und Talfahrt. Von 1848 bis 1873 gab es einen deutlichen und langen Aufschwung. Nach der Reichsgründung lösten sich danach bis zum 1. Weltkrieg 5 Konjunkturen und 5 Depressionen zeitlich ab. Dann folgten der 1. Weltkrieg, die Unterzeichnung des Versailler Vertrages, die Hyperinflation, die goldene Jahre, die Weltwirtschaftskrise und die Kriegsfinanzierung des 2. Weltkrieges. Alle Veränderungen betrafen besonders auch die Landwirtschaft und deren Bevölkerung auch in Willschicken fundamental, da sie keine ausreichenden Arbeitsplätze anbieten konnte.

Zwischen 1871 und 1933 verlor die Provinz Ostpreußen zwei Drittel ihres Zuwachses an Wohnbevölkerung (einschließlich Polen und Litauer) insgesamt 920.000 Menschen durch Abwanderung. Auch Willschicken und die Familie Tuttlies war von der Abwanderung betroffen.

Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

Von 1853 stieg die Einwohnerschaft in Willschicken durch Geburtenüberschuss von 110 auf 168 im Jahre 1868, um dann bis 1939 auf 127 Einwohner zu sinken. Was sich bemerkbar machte, war die dauerhafte Abwanderung der Landlosen, da die landwirtschaftlich zu nutzenden Flächen nicht beliebig vermehrbar waren, bzw. durch das Erbrecht festgelegt waren. Dazu kam, das Willschicken als kleines Bauerndorf nicht in der Lage war, dem Geburtenüberschuss seiner Bewohner eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten.

Tabelle: Einwohner von Willschicken

Willschicken
Einwohner
Jahr 1700 1815 1823 1853 1858 1865 1867 1868 1871 1885 1890 1900 1905 1910 1915 1920 1925 1933 1939
absolut 85 134 85 110 155 127 134 168 154 166 152 160 150 148 147 145 146 122 127

Quelle: siehe Text unten: Die ländliche Entwicklung in Ostpreußen dargestellt am Beispiel von Willschicken Punkt Bevölkerungsentwicklung

Zur Flurbereinigung in Willschicken konnten zusätzlich durch die Gemeindereform auch kleine Teile des Landes der Rittergüter Alt/Neu Lappönen und Keppurlauken genutzt werden.

1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste.

Die Gutsbesitzer bildeten aber in Ostpreußen trotzdem bis 1933 eine einflussreiche soziale Gruppe in den Kreis- und Gemeindegremien.

1932 werden zwei Gutsbesitzer in Willschicken erwähnt.

  • Abbau Wilhelm Grigull, 60 ha, davon 42 ha Acker,15 ha Weiden, 2,5 ha Hofstelle, 0,5 ha Wasser - 10 Pferde, 30 Rinder - davon 12 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine, Telefon Aulowönen 64
  • Abbau Franz Sieloff, 43 ha, davon 30 ha Acker, 2 ha Wiesen, 10 ha Weiden, 1 ha Hofstelle; 8 Pferde, 24 Rinder - davon 10 Kühe, 10 Schweine, Telefon Aulowönen 67

Nach der endgültigen Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franz­dorf Nr. 27“  am 17. 11. 1882 wurden die Grenzen von Wilkental festgelegt und die Lage der Neusiedlungen in Willschicken durch eine Wegekarte zu den erworbenen Grundstücken vorbereitet.

Die Zufahrtswege zu den neuen Grundstücken, häufig auch über die Nachbargrundstücke, führte oft zu Rechtsstreitigkeiten.

Während oder nach dem 2. Weltkrieg wurden fast alle Gebäude zerstört oder abgebrochen. Die Gemeinde wurde aufgelöst.


2. Höfe in Wilkental

Die Tabellen "Schadensberechnung Landwirtschaft" wurden zum Zweck eines möglichen Lastenausgleiches von der Bundesrepublik 1955 auf Grund der fortgeschriebenen Datenlage von 1945 als Erhebungspunkt erstellt Die Daten beruhen aber durchweg auf den real erhobenen vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung vom 17.Mai 1939. Landverkäufe waren nach dem Preußischen Erbhofgesetz von 15.5.1933 in Ostpreußen nicht mehr möglich.

Die folgende Tabelle zeigt die Betriebsgrößen der Höfe in Willschicken in ha 1945. Die Zuschreibungen Großbauer, Gutsbesitzer, Besitzer, Arbeiter und Meier stammen aus den Quellen: Niekammers Güteradressbuch 1932, Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970.

Sie gehen vermutlich auf amtliche Steuerlisten aus den Jahren 1910 und 1920 zurück.

Namen Anmerkungen: Status 1908 nach Steuerlisten Eigenbesitz in ha
Bartschat, Wilhelm Großbauer verpachtet an Bartoschat -25,00
Kirschning, Franz Großbauer verpachtet -4,50
Milpauer, Albert Großbauer 8,75
Bartoschat, Auguste Großbauer 10,25+ 25,00 Pacht
Mikuteit, Wilhelm Großbauer Bürgermeister verp. an Dingel 15,75
Mikuleit Bürgermeisterstube Gebäude andere Straßenseite mit Scheune
Krause, Leopoldine Großbauer 21,25
Kornberger, August Großbauer 26,75
Grigull, Ernst Gutsbesitzer 60,66
Sieloff, Franz Gutsbesitzer 43,48
Mattulat, Paul Großbauer 25,82
Stuhlemmer, Fritz Besitzer 16,50
Dingel, Artur Besitzer, gepachtet von Mikuteit 15,75 Pacht
Ennulat, Kurt Besitzer 12,00
Kollecker, Gustav Besitzer 11,27
Nolde, Kurt Besitzer 11,00
Tuttlies, Ewald Besitzer verpachtet an Papendick 7,00
Häsler, Hermann u. Frau Bartschies Besitzer, Nähe Friedhof 6,50
Papendick, Friedrich u. Frau Flemig Arbeiter in Tuttliesens Häuschen 6,50 Pacht
Tuttlies, Erich Besitzer, Maurer, Schneider 6,00
Allissat, August Besitzer gepachtet von Reinke 5,00 Pacht
Reinke, Reinhold Besitzer 5,00
Petschull, Gustav vor Wischnat Mühle Besitzer 4,00
Ludzuweit, Otto, früher Weinowsky Besitzer 3,49
Pukris Molkerei Meier (Molkereibesitzer)

Quelle: Schadensberechnung Landwirtschaft siehe Anlage in "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Text von Klaus Kiehl

1939 bildeten nur noch 7 Großbauern von insgesamt 23 Höfe den alten Dorfkern von Wilkental. (in der obigen Tabelle fett unterlegt) Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Wilkental betrug 1939: 8 zwischen 5-10 ha, 5 zwischen 10-20 ha und 10 zwischen 20-100 ha. Die Besitzverhältnisse hatten sich umgedreht. Von den 319,8 ha die Gesamtfläche der Gemeinde Wilkental in den Grenzen 1882 ausmachte, besaßen die Großbauern 1939 zusammen nur noch 83 ha, die Neusiedler dagegen kamen zusammen auf 236,8 ha. Um 1880 besaß noch jeder der 7 Großbauern in Wilkental durchschnittlich ca. 40 ha. Land.


3. Familienstammbaum Tuttlies

Willschicken war die Heimat von Berta und Ferdinand Tuttlies. Die Familiennamen waren, gerade auch in den älteren  Unterlagen, häufig mit unterschiedlicher Schreibweise zu finden. Es gab noch keine amtlich festgelegte Schreibweise der Personennamen. Zudem wurden die Namen im weitgehend analphabetischen ländlichen Bereich mündlich gebraucht und dabei laufend verändert. Der Amtsschreiber hat den Namen dann so geschrieben, wie er ihn akustisch verstanden hatte und wie er das Gehörte in Buchstaben umsetzen konnte. Zum Gedenken an das Ende der Befreiungskriege wurde am 4. Juni 1816 in der Kirche in der Nachbargemeinde Aulowönen eine Totenfeier für die in den Feldzügen 1813 -1815 gefallenen 28 Gemeindemitgliedern abgehalten. Unter der Ziffer 15. war zu lesen: " Johann Tutlys, Kürassier des Ostr. Rgt., Sohn des Wirthen David Tutlys aus Klein Popelken (Kirchspiel Aulowönen), er starb einen ehrenvollen Tod in der Schlacht bei Leipzig mit 23 Jahren."

Die auffindbaren Daten der Kirchenbücher und der Mühlenlisten zeigen für die männliche Linie der Tuttliesen in Willschicken folgende Einträge:

„Stammbaum von Michael Tuttlys“

  1. Michael Tuttlys, Losmann, * 1802, in Treinlauken/Kreuzberg, + 25.3.1842 in Ernstwalde, ꝏ 23.10.1830 in Treinlauken Charlotte Schoentaube, * 03.01.1806 in Spannegeln,  
  2. Kind von 1: Johann Ferdinand Tuttlies, Maurergeselle, * 11.07.1833 in Treinlaucken/Kreuzberg, + 13.10.1923 in Willschicken,  ꝏ 10.11.1865 in Staggen Maria Mauscherning, * 02.06.1836, + 15.03.1901 in Willschicken
  3. Kind von 2: August Herrmann Tuttlies Besitzer, * 1866 in Willschicken, +1921 in Willschicken
  4. Kind von 3: Ewald Tuttlies, Besitzer, * 1886 in Willschicken
  5. Kind von 3: Ferdinand Tuttlies,  Besitzer, Maurer, Schneider, * 01.12.1869 in Plattupönen, + 01.08.1949 in Vethem ꝏ 14.11. 1902 Berta Tuttlies, geb. Burba, * 31.08.1883 in Paduken, + 03.07.1968 in Hamburg
  6. Kind von 5: Max Tuttlies, Kaufmann,  * 19.01.1903 in Paducken,  + 13.01.1964 in Krostiz, ꝏ Gertrud, geb. Heinrichs, * 26.07.1908 in Jennen, + 28.01.1982 in Jesingen
  7. Kind von 5: Erich Tuttlies, Besitzer, Maurer,  * 19.11.1905   in Willschicken,  + 12.04.1995 Südkampen, ꝏ Erna … , * 06.07.1924, + 20.07.2017 Südkampen
  8. Kind von 5: Friedel Tuttlies, Hausmeisterin, * 25.10. 1910 in Willschicken,  + 03.12.1993 in Oberweißbach ꝏ Helmuth Harward, * 05.05.1906, + gef. 194
  9. Kind von 5: Otto Tuttlies, * 1909 in Willschicken, + 31.12.1913 in Willschicken, ist schon mit 4 Jahren verstorben
  10. Kind von 5: Hildegard Kiehl, Angestellte, * 21.02.1920 in Willschicken, + 19.06.2020 in Hamburg ꝏ Gerhard Kiehl, * 04.08.1914 in Pillwogallen, + 09.09.1998 in Hamburg  

Schon vor der Reichsgründung tauchte der Name Tuttlies in Willschi­cken auf . Siehe auch den Familien­-Stammbaum der Familien Podewski, Tuttlies und Kiehl

FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski    — FamilySearch.org  

und  Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)

und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)

und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)

Johann Ferdinand Tuttlies der Großvater von Ferdinand Tuttlies, ein Maurergeselle, wurde 11.07.1833 in Treinlaucken/Kreuzberg geboren. Er heiratet am 10.11.1865 in Staggen im Kirchspiel Aulowöhnen Maria Mauscherning. Er hat im Kirchspiel Aulowönen in Willschicken, während der Getreidekonjunktur 1848-1873, um 1860 als Maurer Arbeit gefunden und eine Bauernstelle als Besitzer mit Wohnhaus einrichten können. Er hat relativ spät geheiratet und ist dann auch in Willschicken gestorben. Seine 5 Söhne und sein 8 Enkel wuchsen dann ebenfalls in Willschicken auf. Von ihnen blieben nur 3 Söhne und 3 Enkel in Willschicken.

Ferdinand Tuttlies ist am 01.12.1869 in Plattupönen, dem Nachbar-Wohnort seiner Ur-Großeltern geboren worden - hier gab es eine verwandte Hebamme - ist dann aber noch als Kleinkind nach Willschicken zurückgekehrt. Das frühere Dorf Plattupönen gehörte zwischen 1874 und 1945 zum Amtsbezirk Schaltischledimmen (1929 bis 1947: Neuwiese, heute russisch: Nowoselskoje). Dieser wurde 1930 in „Amtsbezirk Neuwiese“ umbenannt und war Teil des Kreises Labiau im Regierungsbezirk Königsberg der preußischen Provinz Ostpreußen. Im Jahr 1938 wurde Plattupönen in „Breitflur“ umbenannt.

Zum regionalen Tuttliesen-Clan im Kirchspiel Aulowönen gehörten, neben die Höfe von Ferdinand und Ewald Tuttlies, wie berichtet auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weinowski (mit 3,49 ha Pachtland) in Willschicken und zwei weitere Höfe in Aulowönen/Lappönen – Tuttlies und Jägu. (siehe Karte Lappönen Neusiedler). Hinzu kamen weitere (unbekannte) Verwandte aus dem Kirchspiel Aulowöhnen in den Gemeinden Klein Popelken, Staggen und Aulowönen selbst. Diese wurden in Gesprächen in Willschicken zwar erwähnt, aber nach der Erinnerung von Hildegard Tuttlies nie besucht.

Die erhebliche kürzere Lebenserwartung und Anzahl der überle­benden Kinder spielte im Leben der Familien auf dem Lande eine große Rolle. Im Deutschen Reich betrug 1871/1881 die durchschnittliche Lebenserwartung, wie schon berichtet, bei Geburt für Jungen 35,6 Jahre und für Mädchen 38,4 Jahre. Um 1900 lag die Fruchtbarkeitsziffer für Frauen bei 4,93 Kinder. Sieht man sich den Stammbaum der Tutt­liesen an, trifft das nicht für alle Familienmitglieder zu. 1871/1881 wurden in jedem Haushalt im Deutschen Reich durchschnittlich 5,8 Kinder älter als 5 Jahre. Diese trifft für die Tuttliesen überwiegend zu.

Nach der Bauernbefreiung in Preußen hatte beispielsweise die Hälfte der auf dem Land Lebenden keinen Grundbesitz mehr und musste sich anderen Erwerbsquellen zuwenden, sich in der Landarbeit verdingen oder abwan­dern. Das galt besonders für überwiegende Zahl der aufwachsenden Kinder auf dem Lande. Dieses trifft auch auf die Familien Ferdinand Tuttlies zu. Max, Friedel und Hildegard Tuttlies verließen (zeitweise) ihr Zuhause.


4. Hausbau in Willschicken

Die Landwirtschaft im Willschicken war um 1900 stark von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage abhängig. Nach der Reichsgründung lösten sich bis zum 1. Weltkrieg 5 Konjunkturen und 5 Depressionen zeitlich ab. Seit dem Frühjahr 1902 gab es die 4. Konjunktur, die reichsdeutsche Wirtschaft wuchs wieder sichtbar. Sie trieb eine Konjunktur voran, die bis zum Februar 1907 anhielt. Besonders die Industrie war ein Wachstumsmotor. Von 1902 bis 1907 wuchs die Wirtschaft um 17,1 %. Wenn auch im negativen Maße, betraf das Wachstum im Westen auch die Landwirtschaft im Osten. Während dieser Zeit wanderten etwa 150 000 Ostpreußen aus der Landwirtschaft  in den Westen ab, sie wurden dort als Arbeitskräfte dringend gesucht. Zu Hause fanden sie keine Arbeit. Hinzu kamen sinkende Erzeugerpreise für Getreide in Ostpreußen, aufgrund einer stark gestiegenen Einfuhr von preiswerten Roggen aus Russland ins Kaiserreich. Der private Hausbau auf dem Lande war auch stark von der wirtschaftlichen Situation der Heimatprovinzen Ostpreußen abhängig, da die Preußische Staatsregierung nach den politischen Vorgaben den rechtlichen Rahmen für Neusiedler schuf und die lokalen Institutionen häufig auch wirtschaftlich als Kreditgeber beim Hausbau gebraucht wurden.

In Ostpreußen, besonders im Regierungsbezirk Gumbinnen versuchte die Verwaltung seit langen, durch verschiedene Maßnahmen, die Bevölkerung auf dem Lande zu halten und dort zu ernähren. Dazu zählten auch die Unterstützung bei Ansiedlung von Höfen, z. B. durch die Umwandelung von Ackerland in Siedlungsflächen durch die Separation (Flurbereinigung) und der Hausbau (Dazu siehe: "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", 10. Folgen der Separation und Modernisierung der Landwirtschaft, der Infrastruktur und des Volksschulwesens). Auch im Landkreis Insterburg wurden durch die "Ostpreußische Landgesellschaft" günstige Kredite zum Hausbau zur Verfügung gestellt. Die genaue Höhe und die Verteilung konnten aber nicht ermittelt werden. Auf alle Fälle wurde die Separation real durch die "An­siedlungskommission" und rechtlich durch bestehende Gesetze und Vorschriften unterstützt. Bei den aufzusiedelnen Grundstücken handelte es sich überwiegend um das Land ehemalige Großbetriebe. Vor dem Ersten Weltkrieg richtete in Ostpreußen die "An­siedlungskommission" auf 35.000 ha ehemaligen Großgrundbesitzes 1.600 Siedlerstellen ein. Die Hofstellen wurden durch günstige Hypotheken finanziert.

Manches kleine Bauerndorf hat sich durch die Separation aber zum Teil aufgelöst. Es entstanden Gemeinden in Streulagen mit einem "alten" Dorfkern - so wie Willschicken. Hier blieben nur 7 von insgesamt 22 Höfe Bauern den alten Dorfkern. Bauern deren Besitz weit vom Dorf entfernt lag siedelten aus wirtschaftlichen Gründen aus. Sie gaben ihren alten Hof auf und bauten einen neuen auf einem Außengrundstück. So wurden in Ostpreußen im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der der neuen Höfe „ausgebaut“, wie man in Ostpreußen sagte. Die andere Hälfte bestand aus Neusiedlern.

Um den "Ausbau" und das Neusiedeln technisch möglich zu machen, bedurfte es Straßen. "Zum Bau der Grünheider - Aulowöhner Chaussee, welche die Feldmark Lappönen durchschneidet, verkaufte der Gutsbesitzer von Alt Lappönen lt. Vertrag vom 21.11.1865 an den Insterburger Kreis 6 Morgen Land für 222 Taler." Die ersten Höfe in Willschicken und die Windmühle, die an dieser Chaussee lagen, bzw deren Verkehrswege hier einmünden, konnten demnach ab 1865 nach dem Straßenbau "ausgebaut" oder neu besiedelt worden sein.

Traditionellerweise lagen die Ländereien der Bauern innerhalb einer Gemeinde. Die historische gewachsenen Gemeindegrenzen waren im Regelfall identisch mit den äußeren Grundstücksgrenzen der Eigentümer deren Land am Gemeinderand lagen. Ausnahmen bildeten groß Güter, die mehrere Gemeinden umfassten, historische Entwicklungen wie die Separation und Zusammenlegungen von Gemeinden, Ver- und Zukäufe von Land während wirtschaftlicher Konjunkturen und Depressionen und Erbfälle in großen Familien, wie bei den Burbas und Tuttliesen. Seit 1882 waren die Grenzen der Gemeinde Willschicken festgelegt. Ein Teil der Chaussee zwischen Grünheide und Aulowöhnen, die gradlinig verlief, bildete die Gemeindegrenze zwischen Paducken und Willschicken und durchschnitt aber zwei vorhandene Grundstücke der Gemeinde. Zwei kleine Flächen der Gemeinde Wilkental lagen südlich dieser Chaussee. (siehe die Karte von 1939, die die Gemeinde Wilkental zeigt.)

Mutter Berta Tuttlies bekam zur Hochzeit 1902 als Mitgift 16 ha Land von ihrem Elternhaus - den Burbas aus Paducken – einer Nachbarge­meinde. Siehe: Paducken – GenWiki (genealogy.net). Das Land war nicht vollständig landwirtschaftlich nutzbar. 10 Hektar konnten u.a. an die Kleinbahn verkauft werden, um den Hausneubau mitzufinanzieren. Vater Ferdinand Tuttlies war Besitzer und Handwerker zugleich, er war zusätzlich als gelernter Maurer und als angelernter Schneider tätig. Ein kleiner Landteil wurde für den Hofbau als Grundfläche benötigt. Er lag direkt an der Chaussee in Willschicken. Dieses Landteil erhielt Ferdinand Tuttlies von seinen Willschicker Eltern ebenfalls zur Hochzeit.

Im Jahre 1904 machte sich Ferdinand Tuttlies unterhalb der Lindenhöher - Alt Lappöner Chaussee auf Willschicker Gemeindeland an den Bau eines eigenen Hofes. Die junge Familie suchte ein eigenes Zuhause. Auf der anderen Straßenseite lag in Willschicken sein El­ternhaus. Im Elternhaus wohnte der Besitzer August Herrmann Tuttlies, gebo­ren1866. Nach dessen Tod 1921 übernahm es dessen 2. Sohn Ewald Tuttlies. Zum Tuttliesen-Clan gehörten auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weihnowski (mit 3,49 ha Pachtland), die Nachbaren auf der anderen Straßenseite waren, zwei weitere Höfe in Aulowönen/Lappönen – Tuttlies und Jägu. (siehe Karte Lappönen Neusiedler) sowie das Baugeschäft Tuttlies im Aulowönen.


Beim Hofbau halfen Verwandte und Bekannte mit. Die Talka bezeichnete in Preußisch-Litauen die gegenseitige „Bitthilfe“ unter den Dorfbewohnern, die bei umfangreichen landwirtschaftlichen Arbeiten wie Pflügen, Aussaat, Roggenernte, Dreschen und Hausbau erbeten und gewährt wurde. Verwandte und Dorfbewohner halfen, wie damals üblich, mit. Die „Bau-Talka“ (lit. pastatyti talką) galt allgemein als bedeutende Veranstaltung im Vergleich etwa zu den weniger Personen einbeziehenden Mäh-, Dresch- und Schlacht-Talkas. Einigen Berichten zufolge war sie allerdings noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Pillkallen eine Angelegenheit des ganzen Dorfes. Oft schloss ein großes abendliches Fest – möglichst mit Musik, Gesang und Tanz – eine Talka ab, immer war sie mit reichlicher Verköstigung der Helfer verbunden.

Bei der Bau-Talka wurde in der Regel hauptsächlich am Wochenende gearbeitet. Dies erklärt auch die lange Bauzeit auf dem Tuttliesen Hof.

So entstanden für die junge Familie von Ferdinand Tuttlies und Berta Burba ein stabiles eineinhalbgeschossig Wohnhaus. Es war ganz aus Ziegel aufgemauert hatten hellen Außenputz und war mit roten Dachpfannen bedeckt. Es wurde beheizt durch einen großen Kachelofen, der seine Wärme über ein Warmlust-Kanalsystem auch im Obergeschoss verteilte, den Küchenherd und im Winter auch durch die Außenwand der eingebauten Räucherkammer. Dazu kamen im Winter in den Schlafzimmern kleine "Stöfkes".

Gegenüber dem Wohnhaus lag die zweistöckige Scheune mit aufgemauerten Giebeln. Die Zufahrt war rechtwinkelig von der Straße zu der hinteren Hofseite angelegt. Sie war auch gepflastert und führte außen am Scheunengebäude vorbei. So konnte die Scheune von beiden Seiten "beladen" werden. Im rechten Winkel lag dazu das ebenfalls eineinhalbgeschossiges, mit Holz verschalte Stallgebäude. Auf der Hinterseite der Ställe gab es mit einem Schweinegarten und einem Rossgarten. Ein Anbau mit Geflügel- und Ziegenstall schloss den Vierkant ab.

Der innere Hof war mit behauenen Feldsteinen ausgepflastert. Der Hof maß etwa 15 x 15 Meter, so dass eine bespannte Feuerwehrspritze darin wenden konnte. Zur Straßenseite gab es einen Ziergarten und hinter dem Wohnhaus einen Gemüse- und Obstgarten mit 24 Obst-Bäumen. Der Hof war außen mit einem Staketenzaum umfriedet und wurde außen zum Windschutz mit Bäumen und Hecken umpflanzt. Er wurde durch ein großes Tor verschlossen und vom Hofhund Lux bewacht. Es war ein kleiner Vierkanthof entstanden. Die Baumaterialien waren Ziegel, Feldsteine, Lehm und Holz. Es hat bis 1906 gedauert, bis alles fertig war. (Siehe Messtischblatt Willschicken von 1939 unten rechts. Die Vermessung muss vor 1906 entstanden sein, da sie nicht den endgültigen Ausbau des Tuttliesen-Hofes zeigt)

Vier- oder Dreikant war die vorherrschende Bauform der Höfe in Preußisch-Litauen. Die "neuen" Wohnhäuser der Bauern, zumindest im Willschicken, waren in der Regel eineinhalbgeschossig aufgemauert, außen hell verputzt , häufig mit einem Zierband aus roten Ziegeln oder weißen Aufputz um Außentüren, Fenster und am Giebel versehen und mit roten Dachpfannen gedeckt. Ställe, Scheunen und Nebengebäude wurden in Fachwerk mit einem Feldsteine-Unterbau und zum Teil mit einer äußern Holzverschalung ausgeführt. Die Ziegel kamen aus Aulenbach von den Firmen Teufel oder Guddadt. Feldsteine, Holz und Lehm gaben das eigene Land oder das der Nachbaren in Willschicken her. Keller waren bei kleinen Höfen unüblich. Der Dachboden "de Lucht" war ein sehr beliebter Kinderspielplatz. Die genaue Quelle und Inhalte der behördlichen Bau-Vorgaben (Bauordnung) konnte bisher nicht ermittelt werden.


5. Dorfleben in Willschicken / Wilkental (siehe auch den Text "Erinnerungen" von Hildegrad Tuttlies im Anschluss)

In Wilkental gab es 1939 das ehrenamtliche Bürgermeisteramt (Gemeindevorsteher), eine kleine Molkerei und einen Friedhof, aber es gab keinen Laden, keine Schule, keine Kirche und keine Gaststätte. Scherenschleifen, Zwiebelbauern, Heringshändler und Petroleums-Verkäufen zogen zu bestimmten Zeiten durch das Dorf, dazu kamen Vieh- und Pferdehändler und Heimatlose. Die Post kam zweimal die Woche. Seit 1825 war es gestattet, Land-, Fuß-Boten oder Briefträger einzustellen. Sie stellten zwei- bis dreimal in der Woche Briefe, Adressen, Zeitungen und Amtsblätter gegen ein Bestellgeld in der Umgegend des Postbezirks zu und nahmen, wieder gegen ein Bestellgeld, solche Sendungen an. Die Landbriefträger wurden von der Postanstalt unter Vertrag genommen und besoldet, das Bestellgeld floss in die Postkasse und sollte die Kosten für diese Dienstleistung decken. Diese Reglungen blieben bis zur Weimarer Verfassung bestehen.

Dörfer wie Wilkental haben wie zu jeder Zeit auch belastbare soziale Netze von Hilfe und Zurückhaltung. (siehe: Pierre Bourdieu, Der feine Unterschied) Sie dienten der Sozialkontrollen und zur Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Sozialgruppen im Dorf und der Region. Gutsbesitzer, Bauern und Gesinde grenzen sich sozial gegenseitig ab und heiraten so wie Gutsbesitzer häufig nur untereinander. Allerding war sozialer Aufstieg durch Einheirat in die sozial angesehene Bauerngruppen auch ein gängiges Muster. Gerade auf dem Lande gingen "Eigentumswünsche häufig vor Herzenswünsche". "Wer geht mit wem?" "Hast Du gesehen, dass... " Die Bauern sind ausgestattet mit "feinen" positiven oder negativen Verhaltensregeln den anderen Dörflern gegenüber": "Gode Frind un trie Noawersch send nich mit Gild to betoale", dauerhafte Zuschreibungen: "De ol Grigull" und fixierten Klassenschranken: "Wat du seggst un de Landrat schött, das gölt datselwige" , "Wer nuscht häd, de hoost" , "Tohuus is Tohuus" Quellen: Ostpreussische Sprichwörter, Redewendungen und Weisheiten Teil I (bk-luebeck.eu)

Abbildung: Auf- und Abstieg innerhalb von Gesellschaftsschichten in Ostpreußen um 1900, Quelle: Köllmann, Bevölkerungsgeschichte

Soziale Rangordnungen wurden schon von den Kindern wahrgenommen. Hildegard Kiehl berichtet von der freiwillig eingenommen Sitzordnung ihrer ersten Konfirmandenstunde:

"Vorne saßen kerzengerade die Kinder der Großbauern, dann lümmelten sich die Sprösslinge der mittelprächtigen Bauern und hinten hocken die blassen Kinder der Knechte und Arbeitsleute und ganz hinten verkroch sich der Sohn Micha, sein Vater war im Nebenberuf Abdecker. Man erzählte, dass auf sehr reichen Gütern die feinen Kinder des Gutsherrn vom Pfarrer alleine zu Hause im Haus des Gutshauses über die Religion belehrt wurden - sie sollten wohl von der Dorfjugend nicht verdorben werden. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Das sie aber Privatlehrer hatten, weiß ich von meinem Vater, der schon auf solchen Gütern gemauert hatte".

Das Arbeitsleben auf den Höfen war bestimmt durch Aussaat und Ernte. Ansonsten war das Dorfleben durch christlichen Feiertag, Familienfest und die vier Jahreszeiten geprägt, wobei die langen und strengen Winter eine besondere Rolle spielten.

Die Arbeit auf den Höfen richtete sich gewöhnlich nach Aussaat und Ernte nach dem Lebenszyklus von Geburt, Kindheit, Schule, Ausbildung, Armee, Hochzeit, Beruf, Altenteil und Tod. Dabei spielen die erhebliche kürzere Lebenserwartung und Anzahl der überlebenden Kinder eine große Rolle.

In Willschicken wurden die Zeitungen zwar ab 1871 mit der Post (den Gütern) zugestellt, meistens die "Königsberger Hartungsche Zeitung" oder das "Me­meler Dampfboot". Sie wurden aber von den Bauern mit einem Tag Verspätung häufig aus Kostengründen in der Gaststätte gele­sen.  

"1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabeten."

Die „Ostmarken Rundfunk AG“ später Reichssender Königsberg wurde mit einem 50-Prozent-Anteil der Reichspost am 2. Januar 1924 in  Königsberg gegründet. Nicht alle Höfe in Willschicken hatten schon einen Stromanschluss. Während des 2. Weltkrieges kam es in Ostpreußen ab 1941 relativ häufig zu Stromsperren, die manchmal tagelang andauerten. Manche Höfe waren froh, ihre alten Petroleum-Lampen behalten zu haben.

Beim Radio musste dann  zuerst noch der Akku 4 Stunden lang fremd aufgeladen werden, was aber manchmal „tagelang“ dauerte, da es außerhaus passieren musste. Die Gaststätte Lerdon in Lindenhöhe war eine elektrische "Ladestation" für die Willschicker Bauern.

Tuttliesen hörten ab 1934 am Abend zwischen 20 und 21 Uhr eine Stun­de Radio Königsberg.

Es gab lange Zeit keine Uhr im Haus Tuttlies. Gerichtet wurde sich nach der Sonne und den Werks-Sirenen der Ziegelei Teufel im nahen Aulenbach: 7:00 in der Frühe und 19:00 am Abend. Bei Tuttlies hieße es: „Wenn de Diwel huult“. Jeden zweiten Sonntag putzte sich die Familie Tuttlies fein heraus und besuchte mit dem Kastenwagen die Kirche in Aulowöhnen.

Foto: Ziegelei Teufel Aulowöhnen / Uszupönen, Quelle: Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Im Stall der Tuttliesen waren 2 Pferde ("Rieke" und "Alexa") in der Regel 2 Milchkühe ("Lisa" und "Mona"), 6 kleine und große Schweine "Franz 1-6"), 4 Ziegen (Ziegenbock "Mäck" und Anhang), Hühner und Gänse zu versorgen.

Die Pferde wurden häufig gegen Naturalien verliehen, da sie auf dem kleinen Hof nicht ausgelastet waren. Ferdinand Tuttlies sagte: "Wo Duwe sönd, da fleege noch Duwe to."

Dazu gaben einen freistehenden echten Taubenschlag und den treuen Hofhund "Lux". Am Stall waren unter der Dachkante zahlreiche Schwalbennester gebaut worden. Trotz Drängen wollte Opa Tuttlies keine Bienenvölker, "De sönd to krabblich"

Auf den 6 ha Land wurden Roggen und Kartoffeln angebaut, die zur Eigenversorgung und zur Viehfütterung zum Teil eingelagert wurden. Der eingelagerte Roggen war bei sachgemäßer Lagerung bis zu 6 Jahren haltbar, damit konnten Missernten ausgeglichen werden. Außerdem gab es Grünland, auf dem Heu gemacht wurde. Direkt am Hof gab es noch einen großen Gemüsegarten und 24 Obstbäume. Auf "ihre" Obstbäume war Berta Tuttlies besonders stolz. Die Bäume wurden nur auf Anweisung von ihr zurückgeschnitten - beim Obst Ernten mussten aber alle mithelfen.

Alle Geräte waren einfache Art und zum größten Teil vererbst oder günstig gebraucht erworben. Es vorhanden ein Schwing-Pflug, ein Tiefpflug, eine Drillmaschine, eine Rechenmaschine, ein Kartoffel-Häufler, ein Kartoffel-Roder, vier Eggen, zwei Ackerwagen, ein Kastenwagen und ein großer Schlitten. Bei Bedarf konnten zusätzliche Gerätschaften von Nachbaren oder vom Familien Clan ausgeliehen werden.

Der größere Teil der Ernte wurden von der An- und Verkaufsgenossenschaft in Aulenbach aufgekauft. Ferdinand Tuttlies war als "Genosse" Mitglied und besaß einen kleinen Genossenschaftsanteil.

Die Milch landete hauptsächlich in der Molkerei Pukris in Willschicken und diente zum Eigenverbrauch. Das Buttern der Milch zu Hause war für die Tuttliesen Kinder eine der unerfreulichsten Arbeiten - es war langweilig und dauerte viel zu lange.

Die Ernteerlöse und das Milchgeld reichten etwa für ein Dreivierteljahr, um die Haushalts-Kosten zu decken. Kunstdünger wurde wegen der Kosten nicht gekauft.

Das Jahreseinkommen aus der Landwirtschaft betrug für die Tuttliesen etwa 1.200 Reichs-Mark. Die teuersten Posten bei den Tuttliesen waren Kaffee, elektrischer Strom und Lederschuhe.

1926 betrug Monatslohn in Deutschland durchschnittlich 139 RM, bei einem Kaffee-Preis von 7,20 RM, man musste auf dem Lande in Ostpreußen ungefähr 20 Stunden für ein Kilo Kaffee arbeiten. Quelle: Hof Brandstäter – GenWiki (genealogy.net) und Monatslohn Entwicklung - Was verdiente ein Arbeiter (was-war-wann.de)

Die Bauern auf dem Landen versorgten sich mit Nahrungsmitteln und Brennmaterialien in der Regel selbst. Räuchern und Einwecken diente auf den Höfen der Haltbarmachung.

Foto: Landwirtschaftliche An- und Verkaufsgenossenschaft eGmbH Interburg, Quelle: Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Ferdinand Tuttlies war zusätzlich im Sommer als gelernter Maurer und im Winter als angelernter Schneider erfolgreich tätig. Er wurde zum kleinen Dorfschneider, den jedes Dorf hatte. "E kleenet Etwas öss beter als e grotet Garnuscht". Beide Nebenerwerbe hatte er angemeldet.

Ferdinand Tuttlies „benähte“ im Winter regelmäßig seine Stammkunden, die Nachbaren, Verwandte, Bekannte und Schulfreunde "für ein paar Dittchen". Das Schneidern hatte ihm Gertrud Kianka aus dem Nachbardorf Paducken beigebracht - eine gelernte Schneiderin. Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Frau Kianka war langfristig an Rheuma erkrankt, da sie im Winter ihre Kate nicht ausreichend heizen konnte. Sie "hatte zu lange im Kalten genäht". Ferdinand Tuttlies hatte schon während der Anlernzeit wesentlich am Einbau eines Kachelofens bei Frau Kianka mitgearbeitet. Frau Kianka freute sich über "die flotten Hände von Ferdinand". Die Zufahrt zur Hofstelle Kianka lag westlich neben dem Soldatengrab. Frau Kiankas Mann war verstorben und lebte später unverheiratet mit Herrn Bundel zusammen, um besser versorgt zu sein.

Ferdinand Tuttlies übernahm von Frau Kianka eine gusseiserne "Singer-Nähmaschine" mit Fußantrieb und Holzabdeckung, dazu zwei großen Schneider-Scheren und ein riesiges Dampfbügeleisen. Dazu kam ein wichtiger Schrank, in dem etwa 50 Schnittmuster aus Zeitungspapier von Frau Kianka lagerten. Ein selbstgebauter Schneidertisch und ein Stoffregal mit Kurzwaren vervollständigten seine "Extra-Schneider-Stube" im 1. Stock.

Sie wurde im Winter, wie die Schlafzimmer, durch den Warmluft-Kanal des Kachelofens mit beheizt. Bei besonders strengen Wintern wurden aber noch zusätzliche Öfen, die einen Abzug zum Hauptkamin besaßen, angeworfen. Die extra langen Ofenrohre in den Zimmern wärmten mit. Die Schneider-Stube besaß aber auch noch einen separaten "Schneiderofen" für das Dampfbügeleisen.

Sein ganzer Stolz war ein bodenlanger Spiegel und ein Kundensessel mit Lederbezug. Beide Gegenstände waren Überbleibsel des "russischen Rotes Kreuz Hauses " aus dem 1. Weltkrieg. Sie sollen ursprünglich wohl von einem besetzten Gut der Umgebung herstammt und landeten während der russischen Besatzung bei den Tuttliesen im "Ärzte-Zimmer", es war die "Extra-Schneider-Stube".

Die Stoffe kauft Ferdinand Tuttlies nach einem bestens gehüteten Katalog auf Bestellung per Post in Insterburg ein und holte sie persönlich ab, und zwar bei der Tuchhandlung Rosenberg Gebrüder & Simon, Insterburg. Die ganz Familien musste seine Bestellung (Korrektur)lesen. Für ihn war es jedesmal eine aufregende Tagesreise. Dazu zog er jedesmal sein "englische" Jacke an - ein Sakko aus groben Tweed und eine Manchesterhose aus Cord, eine Kombination, an der auch einige Großbauern in der Umgebung Gefallen gefunden hatten. Eine Schiebermütze und von den Kindern sorgfältig geputzte Schnürstiefel vervollständigten seinen Auftritt. Mutter Berta hatte ihm eine Stulle für die Hinfahrt und eine Stulle für die Rückfahrt geschmiert. Während der deutschen Kolonialzeit wurden die Winteruniform der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika aus Cord hergestellt, daher war Cord auch in Ostpreußen bekannt. Er setzte auch jedesmal seinen selbst genähten Extra-Schneiderrucksack auf, der regendicht war; es gab auch einen entsprechenden Maurerrucksack. - "Man must e weete wat em koft" - Für die Kinder war seine Rückkehr heiß ersehnt, da er in den Taschen seines Rucksackes stets "Bomche" mitbrachte. Es verging mindestens eine Stunde, bis er zu Hause von all seinen Erlebnissen in der Bahn und in der Stadt erzählt hatte - alle waren mucksmäuschenstill und hörten gespannt zu.

Auch auf dem Wochenmarkt in Aulowöhnen konnte man auch Stoffe und Kurzwaren auf Vorrat erstehen. Das Geschacheriche auf dem Markt sagte Ferdinand Tuttlies aber nicht zu, seine Frau Berta begleitete ihn dann jedesmal bei diesen Einkäufen. Manchmal kaufte er auch im Textilgeschäft Wilhelm in Aulowöhnen ein. Hier war aber die Auswahl nicht sehr groß. Die Kinder durften seine "Extra-Schneider-Stube" nur nach "ausdrücklicher" Anmeldung betreten.

Nach dem 1. Weltkrieg gab es an den Häusern viel zu reparieren. Im Sommer baute er "gegen Geld" für die „Baugesellschaft Königsberg“ bis 1930 bei den Neusiedlerhäusern in Alt Lappönen in Teilzeit beim Innenausbau mit. Auch hier wurde, wie während der Inflation mit Naturalien bezahlt. Von Dezember bis Januar gab es für Maurer kaum Arbeit und Lohn, in den Monaten Februar, März, Oktober und November mäßige Aufträge und Einkommen. Die meiste Arbeit und vollen Lohn gab es von April bis Oktober. Ferdinand Tuttlies hatte sich Maurer für Innenausbauten einen Namen gemacht. Er wurde aufgrund seines Rufes auch von Gütern der Umgebung angefragt. Manchmal, aber sehr selten, bedingten sich Schneider und Maurer in der einen Person von Ferdinand Tuttlies auch vor Ort. Ob er dann mit zwei Rucksäcken gefahren ist, ist nicht erinnert worden.

Während der Sommermonate wurden auf dem Tuttliesen Hof bis zu 4 noch nicht schulpflichtige Waisenkinder aus Insterburg untergebracht. Dies besserte den finanziellen Haushalt der Familie noch zusätzlich auf.

Ab Oktober 1940 wurden Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in zur damaligen Zeit weniger gefährdeten Gebieten wie z. B. Ostpreußen untergebracht. Die „Reichsdienststelle KLV“ evakuierte bis Kriegsende insgesamt wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder und versorgte dabei vermutlich 850.000 Schüler im Alter zwischen 10 und 14 Jahren und älter. Auch deren Rückkehr verlief teilweise viel zu spät und unter oft chaotischen Bedingungen.

Auf dem Hof der Tuttliesen wurde Anfang 1941 eine Hausfrau mit 2 schulpflichtigen Kindern aus Köln einquartiert. Ihre Wohnung in Köln war zerbombt und ihr Mann an der Front. Es kam aber zu Spannungen zwischen den Familien. Die Kölner zogen aber bald ins traditionell katholische Ermland weiter, da die Tuttliesen aber auch das Dorf "nicht genug katholisch" waren. Auf einigen Höfen in Willschicken wurden Kinder durch die Kinderlandverschickung (KLV) untergebracht, die in Lindenhöhe auch zur Schule gingen.

Auf den anderen Kleinbauerstellen arbeiteten die Besitzer häufig Teilzeit bei den Großbauern und Gütern über das ganze Jahr verteilt. Straßen- und Eisenbahnbau und der Holzeinschlag, die Moorkultivierung und der Wasserbau waren zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten.

Seit 1935 bot sich auch die Wehrmacht als "Alternative" an.

Zur Erntezeit wurden auf den Gütern zusätzliche Saisonkräfte angeworben. Nach wie vor mussten die bäuerlichen Nichterben sich außerdörfliche Arbeitsplätze suchen.

Bei den Tuttliesen waren zu Kriegsanfang die Kinder Max Kaufmann in Insterburg, Friedel Hausmeisterin in Königsberg, Hildegard Angestellte in Paßdorf. Nur Erich wollte als gelernter Maurer in Wilkental bleiben und der Hof übernehmen.

Erich Tuttlies arbeitete, nach seiner Mauerlehre bei seinem Onkel in Aulowönen, von 1925 bis 1933 als Maurer in einer Baukolonne, die von Baustelle zu Baustelle zog und ihr Werkzeug mitbrachten. Sie bestand aus einem soliden sozialen Netzwerk von bis zu 12 miteinander vertrauen Mauren aus dem Kirchspiel Aulowönen, das sich auch bei Notfällen wie Unfällen unterstützte, die Löhne vor Ort aushandelten, aber keine Firma war. Vor dem eigenen Hausbau gehörte auch Ferdinand Tuttlies dazu, der aber nach der Familiengründung nicht mehr wochen- oder monatelang umherreisen mochte. Die Kontakte zu den Bauherren - es waren ganz überwiegend Gutsbesitzer - kamen in der Regel durch persönliche Beziehungen oder durch Empfehlungen zustande. Später kamen auch seriöse und unseriöse Vermittler dazu. Die Kolonne arbeitete neben dem Landkreis u.a. punktuell auch in Städten wie Insterburg, dann in Königberg und mit Zwischenstationen sogar auch in Berlin, hier an einem großen Geschäftshaus in Berlin Mitte - es soll heute noch stehen. Auch das Berline Objekt gehörte einem vermögenden Gutsbesitzer aus dem Landkreis Insterburg, der es als Geldanlage bauen ließ. Erich Tuttlies hatte "während seiner Zeit in Berlin Sachen gesehen, von denen er nie was in Willschicken gehört hatte."

In Ostpreußen waren äußere Bauarbeiten auf Grund des langen Winters nur von April bis Oktober möglich. Im Winter waren dann alle Maurer wieder zu Hause. Während der Inflation 1918 - 1924 und der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1933 war es fast unmöglich in den Städten Arbeit zu bekommen. Auf dem Lande war die Situation nur zu Teil etwas besser. Während der Wirtschaftskriese gab es eine "Flucht in Immobilien", was den Bauleuten nur zum Teil half - Aus- und Umbau waren jetzt angesagt. Für Neubauten gab es keine Kredite mehr. Die Konkurrenz war auch hier sehr groß, besonders von polnischen Bauarbeitern, die "unter Preis" arbeiteten. Von 1929 bis 1933 verloren in Ostpreußen fast zwei Drittel der in Bau- und Baunebengewerbe abhängig Beschäftigten ihre Arbeit - ca. 35.000 Handwerker wanderten ab. Viele Arbeitslose belasteten als billige Schwarzarbeiter den Markt, andere suchten sich durch Gründung von Kleinstfirmen über Wasser zu halten. Bezahlt wurde während der Wirtschaftskriese und der Inflation, wie auf dem Lande üblich, teilweise oder ganz in Naturalien. Geschlafen wurde in der Regel auf den Baustellen. Zum Teil wurden die Bauleute aber auch systematisch um ihren Lohn betrogen. Bei Protesten wurden dann die Arbeiter von der gerufenen Polizei, teils unter Waffengewalt, von der Baustelle vertrieben. Einige Gutsherrn hatten sich einen besonders schlechten Ruf "erarbeitet". Es wurden aber auch Fälle bekannt, in denen das zuvor Erbaute von den betrogenen Bauleuten nachts heimlich wieder eingerissen wurde.

Erich Tuttlies hatte den Hof seiner Eltern zwar schon 1932 überschrieben bekommen, auch weil Vater Ferdinand krank geworden war, hatte aber von 1933 bis 1935 hatte eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme am Masuren Kanal erhalten, die er auch antrat. Bis zu seiner Einberufung 1938 war er dann nur auf dem Tuttliesen Hof tätig.

„Die Faustregel hieß, dass man ein Besitztum bis zu zehn Hektar mit der eigenen Familie bewirtschaften konnte; ging es um zehn bis zwanzig Hektar, brauchte am öfters, von zwanzig Hektar ab regelmäßig fremde  Arbeitskräfte.“ Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 2. Die Einwerbung von fremden Arbeitskräften stieß aber auf Probleme.

"In Ostpreußen betrug 1939 der durchschnittliche Jahreslohn für Landarbeiter 1.176 RM für 2.950 Arbeitsstunden, während sie als Industriearbeiter nominal 1.560 RM für ein um Fünftel verringerte Arbeitszeit (2.360 h) erhalten konnten. Weder Ehestands- noch Hausbaudarlehen vermochten die "Landflucht" zu verringern." Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 4

Höfe ab 20 ha konnten ihre Besitzerfamilien in Wilkental bei guten Ernten das ganze Jahr über sicher ernähren und kleinere Rücklagen z. B. in Form von zusätzlichen Genossenschaftsanteilen bilden. Langanhaltende Winter wie 1928/29 führten in Ostpreußen teilweise zu Missernten.

Bei den Großbauern und den Gütern waren die Ernteerträge sehr von den vorhandenen Arbeitskräften abhängig. Hinzu kamen das Wetter und die jeweiligen Konjunkturlagen. Aus der beigefügten Tabelle ist zu ersehen, dass das Getreide mit 54,9 % Fläche des Ackerlandes in Ostpreußen die "führende Ackerfrucht" war.

Tabelle: Nutzung der Landflächen in Ostpreußen und dem Dt. Reich 1938, Quelle: Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1

Auf dem Hof der Familie Tuttlies wurden hauptsächlich Roggen und Kartoffeln angebaut. Außerdem wurde Heu gemacht. Vor der Aussaat wurden die Felder gedüngt, gepflügt und geeggt.

Das Getreide wurde per Hand ausgesät - später mit der Drillmaschine - aber per Hand mit Sensen gemäht und zu Hocken aufgestellt. Nach dem Trockner wurde das Getreide gedroschen. Nach der Abfuhr der Hocken wurden die Felder noch abgeharkt. Dieses Reststroh wurde zum Ausstreuen des Schweine-Stalls benutz.

Bei der Getreideernte herrschte die traditionelle Arbeitsteilung vor.

Mitglieder des Familien Clan der Tuttliesen und vertrauten Nachbaren traten zur Ernte an. "Wenn der Lindenbaum zu Johanni seine Blüten offen hat, dann ist auch zu Jakobi der Roggen reif". Zunächst wurden die "langen" ostpreußischen Sensen entrostet, dann mit Hämmern gedängelt. Die Bauernwagen wurden zu Leiterwagen umgebaut und verlängert. Die Pferde bekamen eine Extraportion Hafer. Ferdinand Tuttlies erteilte als "Schnittmeister" vor Beginn einen kleinen Segen und ging voran, dann folgten die Söhne seiner Familie und danach die anderen Männer. Jedem Schnitter folgten zwei Binderinnen. Gearbeitet wurde von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Die Tuttliesen benötigten zur gesamten Mad etwa vier bis fünf Tage, abhängen vom Wetter, von der Personenanzahl und deren Können.

Die Männer schnitten das Korn mit ihren eigenen Sensen. Die Stiellänge der Sensen musste zur Körpergroße passen. Nach etwa 50 Schnitten wurde mit dem mitgeführten Schleifstein nachgeschärft. Vier bis fünf Schnitte reichten für eine Garbe. Die Frauen hoben die Schnitte auf und banden die Roggenähren im Stehen zu einer Garbe. Beim Binden wurde zwischen kurz gebunden und Langbinden unterschieden. Beim Kurzbinden wurden die Köpf der Ehren umgeknickt, beim Langbinden nicht. Maßgeblich war die Weiterverarbeitung. Das Binden selbst wurde mit Roggenähren ausgeführt, Binde-Seile konnten sich nur rentable Güter leisten. Danach wurden die Garben niedergelegt und am Abend in schrägen Hocken aufgestellt, damit eventueller Regen besser ablaufen konnte. Die Garben blieben bei gutem Wetter einige Tage als Zwischenlager auf dem Feld stehen. Drohte Regen, so wurden die Roggengarden schnell in die Haus Scheune gefahren. Das verursachte jedesmal wegen der zusätzlichen Arbeit großen Ärger und war noch jahrelang Gesprächsthema in der Tuttlies Familie. Bei gutem Wetter wurde, wenn alle Hocken aufgestellt waren, rasch eingefahren. Die großen Kinder fuhren mit auf den Erntewagen, die kleinen Kinder jagten nach Mäusen, die sich in den Hocken versteck hatten.

War der Dreschtermin angesagt , wurden die Getreidegarben zum Dreschen jeweils mit zweispännigen Fudern auf den Hof der Familien Burba in Paducken - den Eltern von Berta Tuttlies - gefahren. Es waren mehrere Fahrten notwendig. Es musste schnell gehen.

Hier stand ein Lohndreschkasten, der vom gesamten Burba- und Tuttliesen-Clan tageweise gemietet wurde. Der fahrbare Dreschkasten - er war von der Fa. Rudolf Wernike in Heiligenbeil gebaut worden - wurden von einem Lanz Bulldog mit Rundscheibe über einen Treibriemen angetrieben. Das Be- und Entladen des Dreschkasten nahmen die Tuttliesen vor, sie waren mit dem Dreschkasten vertraut. Das Dreschen der Familie Ferdinand Tuttliesen dauerte etwa 8 Stunden, vorher und nachher waren die anderen Tuttliesen und Burbas an der Reihe, es folgten weitere Familien. Generell wurde mit dem Dreschkasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Je nach dem Getreidewachstum wurde der Dreschkaten etwas 4 - 6 Wochen gemietet. Wie immer, war auch hier Regen ein Spielverderber.

Vor dem Einsatz von Dreschkästen wurde auf den kleinen Höfen mit der Hand gedroschen. Auf den Gütern war das die Aufgabe von Insten und freien Lohnarbeiter. Die Dreschsaison dauerte hier häufig von Oktober bis zum nächsten April des nächsten Jahres. Als Zwischenstufe wurden auch Pferde-Göpeln eingesetzt. Mit dem Aufkommen der Dreschkästen verloren große Teile der Lohnarbeiter schlagartig ihre Arbeitsgelegenheiten - was früher auf großen Gütern 4 - 6 Monate gedauert hatte, wurde jetzt in 4 - 6 Wochen vom Gesinde erledigt.

Der größere Teil der Körner-Ernte wurden zur An- und Verkaufsgenossenschaf in Aulenbach gefahren, das Stroh zur Haus Scheune der Tuttliesen. Die Erträge bei den Tuttliesen lagen, abhängig vom Wetter, etwa bei 17 Doppelzentner Rogen pro Hektar Ackerland. Roggen wurde auf etwa 4 Hektar Land angebaut.

Da auch andre Familien sehr stark am rechtzeitigen Drusch interessiert waren, gab es regelmäßig "Schachereien" um einen günstigen Termin. Häufig wurden diese "Verhandlungen" auch in der Gaststätte Lerdon geführt.

Bei den Kartoffeln wurden schon ein Häufler und ein Kartoffel-Roder eingesetzt, der von zwei Pferden gezogen wurde. Das Aufsammeln erfolgte per Hand. Hier dauerte die Ernte bei den Tuttliesen zwei bis drei Tage. Nach der Einberufung der Männer 1935 wurden auch Schulklassen zur Kartoffelernte eingesetzt. Auf den Gütern der Umgebung verdienten sich auch die schulfrei gestellten Kinder aus den umliegenden Dörfern zum Kartoffelsammeln: Neben den Mahlzeiten bekamen sie 50 Pfennig pro Tag - aber nur, wenn sie mindestens die Hälfte der Erwachsenen schafften, sonst blieb es nur bei den Mahlzeiten. Hildegard Tuttlies hatte als junges Mädchen auch einmal diese Erfahrung gemacht. Sie meine: Einmal reicht es! Die 50 Pfennige bekam sie nachträglich von ihren Eltern.

Die Kartoffeln wurden in Zentnersäcken aus Jute abgefüllt, die im Kolonialwaren Laden Lerdon ausgeliehen werden konnten.

Im Herbst gab es großen Feuer, auf denen das Kartoffelkraut verbrannt wurde. Das ganze Dorf Willschicken "duftete" dann nach Kartoffelkraut. Die außerhäusliche Kartoffelmiete war im Winter auch ein Anziehungspunkt für Wildschweine. Die Ernten wurden privat jeweils mit einem großen Fest mit üppigem Essen und Trinken und viel Gesang abgeschlossen. Vor dem 1. Weltkrieg wurden die Erntewochen nach Festsetzung des Gutsherrn von Alt Lappönen durch den Dorfpfarrer verkündet. Sie galten hauptsächlich für die nebenerwerblichen Dorfbewohner in den umliegenden Gemeinden von Alt/Neu Lappönen und Kreppurlauken, die zur Erntehilfe angeworben werden mussten. Nach diesen Terminen richtete sich aber das gesamte Dorf Willschicken. Im selben Zeitraum waren in der Schule in Lindenhöhe alle entsprechenden Kinder freigestellt. Das Erntefest wurde auch von den Dorfautoritäten - mit einem Umtrunk im Gasthaus Lerdon, der Schule - mit einem Umzug durch das Dorf und der Kirche mit einem Gottesdienst begangen. Die bei wurden jeweils angefertigte Ernte-Kronen überreicht. Bei den größten Gütern der Umgebung wurde eine Erntekrone dem Gutsherrn überreicht.

Foto: Tuttliesen bei der Ernte 1925, von links: Erich, Ferdinand und Ehefrau Berta, im Vordergrund die Enkel Carlhorst und Manfred, im Hintergrund Gertrud mit Ehemann Max, daneben die Nachbaren das Ehepaar Ludzuweit mit zwei Kinder und davor die Kleinste von recht Hildegard Tuttlies

Nach der Reformation wurde das Erntedankfest in den Kirchen an unterschiedlichen Daten gefeiert. Einige evangelische Kirchenordnungen „verbanden den Dank für die Ernte mit Michaelis, andere legten ihn auf den Bartholomäustag (24. August), auf den Sonntag nach Ägidii (1. September) oder nach Martini (11. November).“ Schließlich bürgerte sich die Feier am Michaelistag (29. September) oder – weit überwiegend – am ersten Sonntag nach Michaelis als Termin ein.

Diese Regelung geht u. a. auf einen Erlass des preußischen Königs aus dem Jahre 1773 zurück. Dies konnte dazu führen, dass das Erntedankfest noch in den September fällt.

Im Dritten Reich wurde dann mit viel Pomp ein zentrales Erntedankfest zelebriert. 1933 verfügte Adolf Hitler zunächst, dass das Erntedankfest zentral am ersten Sonntag im Oktober gefeiert werden sollte. Mit dem Gesetz über die Feiertage vom 27. Februar 1934 wurde der Erntedanktag am ersten Sonntag nach dem 29. September (Michaelis) gesetzlicher Feiertag.

An diesem Tag würdigte das NS-Regime auf der Grundlage der Blut-und-Boden-Ideologie besonders die Bedeutung der Bauernschaft für das Reich. Zentrale Veranstaltung war das Reichserntedankfest, mit dessen Organisation das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda beauftragt war.

Das Leben auf dem Lande durch den Nationalsozialismus zu beeinflussen, gelang nur teilweise. Gravierender waren die erlassenen rechtlichen Vorschriften, die auch sanktioniert wurden. Im Arbeitsalltag der Bauern war der ideologische Anspruch der Nationalsozialisten, Frauen auf ihre Mutterrolle zu reduzierte, bloße Propaganda. Während des Krieges wurden Lebensmittelkarten eingeführt, so wurde auch der Anspruch autark zu sein, zur Propaganda. Am gravierendsten waren jedoch der Einzug der Männer zum Krieg und wurde so für die Frauen zu Hause zur Doppelbelastung. Berta Tuttlies schaffte die Arbeit nicht mehr und die Kinder Hildegard und Erich kehrten auf den Hof zurück. Vater Ferdinand Tuttlies war zum "Schanzen" abkommandiert und wurde krank. Hilfskolonnen der HJ, des BDM und des RAD, dazu Tausende von Mädchen, die das neugeschaffe­ne „Pflichtjahr“ in einem Haushalt absolvieren mussten, wurden zum „Ern­teeinsatz“ in Ostpreußen abkommandiert, ohne jedoch die eingezogenen Männer erset­zen zu können. Auch die zwangsrekrutierten Ostarbeiter, Kriegsgefangen und KZ-Häftlinge konnten diese Lücke nicht schließen. Siehe dazu auch "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken" der zweite Text im Anschluss.

Das Leben auf dem Lande - auch während des Nationalsozialismus - war in Willschicken im Wesentlichen durch Alltagsroutinen geprägt. Dazu zählten die wiederkehrenden Aktivitäten an verschiedenen Orten. Was muss wie, wann und wo gemacht werden und wie komme ich dahin? Der so entstandene "Aktivitätsraum" setzte sich zusammen aus den verschiedenen Aktivitätsarten und den unterschiedlichen Aktivitätsorten. Die Aktivitäten kann man unterschieden nach Art, Häufigkeit, Zeitpunkt, Zeitdauer und Ort. (siehe auch Jens Dangschat u.a.: Aktionsräume von Großstadtbewohnern) Es gab es für die Tuttliesen auch höchst unterschiedliche Gelegenheiten aktiv zu werden, sowohl in den Nachbargemeinden als auch zu Hause. (Siehe auch die folgende Tabelle ) Für längere Distanzen wurden die vorhandenen Verkehrsmittel gebraucht. So wurde der Aktionsraum auch durch äußere Einflüsse beeinflusst. Mal regnete es, mal war das Fahrrad kaputt, mal war der Einkaufsladen geschlossen.

Bei längeren Distanzen war auch das "Koppeln" von Aktivitäten interessant. Nach dem Marktbesuch, die Gaststätte aufsuchen um danach bei Onkel Otto vorbeisehen und dann nach Hause fahren. In der Fortbildungsstätte für Landwirte in Königsberg wurden solche "Koppelungs-Tabellen" differenziert unterrichtet, um so auf "modernen" Gütern so auch kleinteilige Arbeitsabläufe mit Hilfe von REFA zu optimieren. Der REFA – Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e. V. ist Deutschlands älteste Organisation für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung. Die Abkürzung REFA geht auf den ursprünglichen Namen im Jahr 1924 zurück: Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung.

Auf dem Gut Neu Lappönen wurde möglicherweise auch die Zeit-Erfassung angewandt. Ferdinand Tuttlies war einmal eher zufällig in seiner Nebentätigkeit als Maurer in einem Gesindehaus des Gutes tätig. Als plötzlich ihm von einem Unbekannten ein Formular unter die Nase gehalten wurde. Er war wohl irrtümlich für einen Gutsarbeiter gehalten worden.

Er sollte seine Arbeitszeit mit einem Bleistift selbst in die Tabelle eintragen. Er waren die genaue Minutenlänge seiner Arbeiten im Gesindehaus aufzuschreiben. Das widersprach allerdings den strengen REFA-Grundsätzen, die dafür einen separaten "Zeit-Erfasser" und sehr genaue Regeln vorsahen.

Der Fremde wollte aber nicht bleiben, "er habe sofort im Gutshaus etwas sehr Wichtiges zu erledigen" und verschwand. Ferdinand Tuttlies sagte dazu, "dass es in beiden Häusern wohl eher sehr sehr unterschiedlich gerochen habe."

Er konnte auch mit dem Formular allein nichts anfangen, da er auch keine Uhr hatte. Da der fremden "Zeit-Erfasser" nicht wieder auftauchte und der Zahlmeister des Gutes ihm auch nicht helfen konnte, brachte er stolz das leere Tabellen-Formular und den Bleistift mit nach Hause, um sie von der Familie bestaunen zu lassen. Das Formular ist im Krieg verloren gegangen. Der Vorschlag zu Hause Zeit zu messen und aufzuschreiben, ging in Gelächter unter.

Karte: Ausschnitt: Kirchspiel Aulowönen, 1939, In Ostpreußen war ein Kirchspiel zugleich Verwaltungsbezirk, Gerichtsbezirk oder Bezirk für das militärische Aufgebot, Quelle: Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)

Bei  Anbahnungen von Heiraten und Bekanntschaften gingen die Aktionsräume der Dorfbewohner von Willschicken gewöhnlich nicht über einen Radius von 20 km kaum hinaus.

Die 40 km Wege-Distanz für den Hin- und Rückweg konnte man früher an einem Tag in etwa 10 h Fußweg zurücklegen.

Der Radius war bezogen auf die "alten" Verkehrsmittel zu Fuß gehen (4 km/h) oder mit dem Pferdewagen (10 km/h) oder dem Rad fahren (15 km/h), den Zustand der Straßen und Wege und die Jahreszeit.

Im Winter engte sich Aktionsraum auf den eigenen Hof ein. Der Autoverkehr spielte im Landkreis Insterburg bis zum Kriegsende kaum eine Rolle. Dies galt auch, wenn vorhanden, für das Aufsuchen von Ausbildungs- und Arbeitsstellen.

Ausnahmen bildeten die Distanzen, die für das Erreichen des Militärdiensts oder die weiterführende Ausbildung zurückgelegt werden mussten. Hier kam schon die Kleinbahn ab Aulenbach in Spiel.

Die Aktivitäten der Tuttlies in der Heimat-Gemeine nahmen einen großen Zeit-Anteil ein. Aber nicht alles konnte zu Hause erledigt werden.

So mussten häufig auch die Nachbargemeinden aufgesucht werden, da es nur hier die entsprechenden Gelegenheiten gab.

Zu den speziellen Aktivitäten musste man sogar in die Kreisstadt Insterburg per Kleinbahn fahren.

Die folgende Tabelle versucht, eine vorläufige Übersicht der routinierten Aktivitätsarten und der bekannten Aktivitätsorte (Gemeinden) der Tuttliesen zu geben.

Es fällt auf, dass sich die Tuttliesen in ihren sozialen Aktivitäten stark zu ihren Nachbargemeinden Lindenhöhe und Paducken hin orientiert haben. Sie lagen auch räumlich näher zum Hof der Tuttliesen. Diese tatsächlichen Aktionsorte in Lindenhöhe und Paducken hatten demnach eine höhere Attraktivität als die möglichen Orte in Wilkental. Zur Nachbargemeinde Kreppurlauken später Birkenhof gab es bis auf sporadische Mauerarbeiten von Ferdinand Tuttlies kaum Kontakte, was sicherlich auch an der relativ in sich geschlossenen Sozialgemeinschaft des dortigen Gesindes der Güter lag, die dort auch eine eigene Schule besaßen, so dass die dortigen Kinder zu anderen Nachbargemeinden kaum Kontakt hatten. Im Allgemeinen war die Schule eine großer "Kontakt-Anbahner" zwischen den Bewohnern in den verschiedenen Gemeinden. Hier lernte man sich zuerst kennen. Diese Gemeinde besaß auch die größte räumliche Distanz zum Tuttliesen-Hof.

Die Tabelle soll zeigen, dass die Tuttliesen auf dem Lande in einer relativ abgeschlossenen und überschaubaren Welt lebten. Wer in dieser kleinen Welt keinen Arbeitsplatz gefunden hatte, musste seine Heimat aber verlassen, um woanders unterzukommen.

Die Gemeinde Willschicken war von folgenden Nachbargemeinden umgeben:

  • Pillwogallen später Lindenhöhe (Schruben, am 1. Juli 1929 zu Pillwogallen im Kirschspiel Grünheide)
  • Paducken später Padau
  • Aulowönen später Aulenbach
  • Kreppurlauken später Birkenhof
Karte: Kirchspiel
Aktivitätsarten Aktivitätsorte (Gelegenheiten) in den Gemeinden
Wilkental Lindenhöhe Paducken Aulenbach Birkenhof Insterburg
Verwaltung aufsuchen von
Bürgermeister x
Kreishaus x
Post x
Polizei x
Arbeit als
Landwirt x x
Nebenerwerbler x x x x x
Genossenschaftler x
Ausbildung in der
Schule x x
Lehre x
Wehrdienst ableisten x
Versorgung aufsuchen von
Einkaufsläden x x x
Gaststätten x
Wochenmärkten x
Ärzten / Apotheken x
Hebammen x
Kirche aufsuchen x
Bahnhof aufsuchen x
Verwandte Beziehung zu
Geschwister x x x
Eltern x x x
Tanten / Onkeln x x x x
Nachbarn besuchen x x x
Freunde besuchen x x x
Partner heiraten x x

Die eingetragenen Nennungen in der Tabelle stammen aus der Erinnerung von Hildegard Tuttlies, verh. Kiehl. Sie sind rein subjektiv und enthalten keine Häufigkeiten und Zeitdauer. Ebenfalls ist nicht angegeben, für welche Familienmitglieder die Erinnerungen gelten. Auch ein genauerer Ortsbezug innerhalb der Gemeinden wäre zwar wünschbar, war aber nicht zu leisten. Es wird aber dabei geschätzt, dass durch die Tabelle der größte Zeit-Anteil der täglichen Routinen der Tuttliesen abgedeckt wurde. Ausnahmen wie Ferien, Krankheiten oder Aufmärsche wurden nicht berücksichtigt


6. Nachbargemeinde Pillwogallen / Lindenhöhe

In Pillwogallen lernte Hildegard Tuttlies ihren Mann Gerhard Kiehl kennen und ging dort zur Schule. In Geschäft von Fritz Lerdon wurde der tägliche Bedarf eingekauft. Es wurden auch die angeschlossene Gaststätte und die Tanzvergnügen besucht. Hier hatte auch der Posthalter Link seine Poststelle. Die Hebamme, die Berta Tuttlies bei den Geburten half, wohnte hinter dem Gasthof. Die Eltern von Ursel Weihnowski, der Schulfreundin von Hildegard Kiehl, hatten in Lindenhöhe ihren Hof.

Pillwogallen später Lindenhöhe grenzte nord-westlich an Willschicken. Die unmittelbare Nachbargemeinde von Wilkental hatte 1939 ge­zählte 187 Einwohner auf 32 Höfen, 8 davon bildeten den alten Dorfkern - an der Grünheider - Aulowöhner Chaussee. Sie verläuft in der oberen Kartenhälfe von Osten nach Westen. Hier lag auch das Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft mit kleinem Saalbetrieb der Familie Lerdon.

Das folgende Messtischblatt zeigt die Gemeine Lindenhöhe. Der Dorfkern liegt an der Kreuzung der Überland-Straßen.

Karte: Die Zuordnungen auf Messtisch Lindenhöhe (1939) wurde von Herrn Mattulat 2021 unter Mithilfe von Hildegard Kiehl geb.Tuttlies erstellt. Quelle: privat

Auf der Lindenhöher Karte sind auch acht Höfe des alten Dorfkerns von Lindenhöhe und das Kreis­haus eingetragen. Darunter befindet sich das Gasthaus von Fritz Lerdon (frü­her Hedwig Kiehl). Fritz Lerdon, er stammt aus der Nachbargemeinde Paducken, hat 1928 die Witwe Hedwig Kiehl geb. Padeffke geheiratet. Ihr erster Mann Max Kiehl war 1921 verstorben. Gerhard Kiehl, eines der vier Kinder aus der ersten Ehe, wird 1943 der spätere Ehemann von Hildegard Tuttlies. Räumlich waren die Tuttliesen eher auf Lindenhöhe als auf Wilkental orientiert.

Fritz Lerdon besaß 1931 das erste Auto in Lindenhöhe, war Jagdpächter und hatte zwei Höfe in Lindenhöhe gepachtet. Hier lag auch sein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb der Familie Kiehl, später Lerdon. Rechts hinter und neben der Gasstätte hatte die Hebamme Mikuteit und der Chaussee-Auf­seher Kuhnke ihre Höfe, die sie als Nebenerwerbslandwirte betrieben. Wendel (Altenteil) und Link (Poststelle) waren weitere Bauernhöfe im alten Dorfkern, links neben dem Gasthof, deren Land von Lerdon gepachtet war.

Dazu gab es noch auf der anderen Straßenseite den Schmied Sanowitz, vier weitere Höfe und das Kreishaus von Franzdorf, der früheren Gemeinde Schruben. 1929 erfolgte die Eingliederung der Landgemeinde Schruben aus dem Amtsbezirk Keppurlauken in die Landgemeinde Pillwogallen. In Lindenhöhe lag - nahe dem Dorfkern - auch die Schule, die Hildegard Tuttlies mit ihrer Freundin Gerda Weinowski besuchten.

Die Gaststätte Lerdon und der Laden waren auch das "soziale Zent­rum" vom östlichen Wilkental. Hier gab es u.a. Mehl, Zucker, Bonbons, Schmalz, Bier, Wein, Schnaps, Salzheringe, Nägel, Schrauben, Holzschlorren, Holzklumpen, Wagenschmiere, Kuhketten, Petroleum und das Neueste aus den umliegenden Dörfern.

Zur Gemeinde Lindenhöhe gibt es leider kaum GenWiki Einträge.


7. Nachbargemeinde Paducken / Padau

Aus Paducken stammten die Eltern von Berta Tuttlies, der Vater von Fritz Lerdon und die Schneiderin, die Fritz Tuttlies angelernt hat. In Paducken hatten die Tuttliesen überwiegend ihren Landbesitz, hier wurde auch ihr Getreide gedroschen und ihre Kartoffeln geerntet.

Paducken später Padau grenzte südlich an Willschicken und hatte 1933 gezählte 77 Einwohner. In GenWiki wird Paducken beschrieben: Paducken war ein Scharwerks-, Bauerndorf und Gemeinde im Kirchspiel Aulowönen. Es gab folgende Einrichtungen in den Nachbargemeinden: die Schule in Pillwogallen / Lindenhöhe, das Kreis-Amt Groß Franzdorf, das Standesamt und die Gendarmerie in Aulowönen / Aulenbach. Am 16.07.1938 als Ortsteil in die Gemeinde Klein Schunkern eingegliedert, gleichzeitig Umbenennung in Padau. Quelle: Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Folgende Einwohner sind im Ortschafts- und Adreßverzeichnis des Landkreises Insterburg (1927) unter Paducken genannt : Post Gr. Warkau, 19 km (Entfernung nach Insterburg)

  • Besitzer : Albert Burba, Friedr.(ich) Burba, Herm.(an) Donner, Gust.(av) Erdmann, Wilh.(elm) Lerdon, Franz Mett, Gust.(av) Neumann, Friedr.(ich) Naties, Franz Onußeit, Karl Pallapies, Ewald Pohl, Amalie Rieser, Franz Rieser, Lina Schellwat
  • Altsitzer : Wilh.(elm) Statschus, Aug.(ust) Brandstäter, Karoline Onußeit, Friedr.(ich) Rimkis, Henriette Ennulat
  • Schneider : George Bundel, (Gertrud Kianka)
  • Meierist: Fritz Naujoks
  • Kätner : Wilhelm Genee
  • Arbeiter : Karl Cohn, Julius Weinowski
Karte: Verzeichnis der Hofbesitzer der Gemeinde Paducken 1944, Quelle: Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Das Verzeichnis der Hofbesitzer / Pächter Gemeinde Padau (Paducken) ca. 1944 zeigt die nebenstehende Karte.

Hildegard Kiehl geb. Tuttlies konnte sich an die folgenden sechs Namenszuordnungen erinnern:

6: Schellwat, Franz, Großbauer, - Erben, 24,00 ha

10: Berend, Besitzer, Lage Nähe zum Friedhof

11: Burba, August, Großbauer, 12,50 ha, Vater von Berta Tuttlies, geb. Burba, siehe Tuttlies in Willschicken/Wilkental.

Die Hofstellen Burba und Tuttliesen lagen in Sichtweite

Zum Familienstammbaum der Tuttliesen siehe den Link: http://wiki-de.genealogy.net/GOV:WILTALKO04VT

12: Kianka, Gertrud, Schneiderin und Bundel, Georg, Schneider, landw. Nebenerwerb.

Frau Kianka hat eng mit Ferdinand Tuttlies im Rahmen der Schneiderei zusammengearbeitet.

Die Hofstellen Kianka und Tuttliesen lagen in Sichtweite

13: Rieser, Franz, Bauer, Altsitzer, Nach Hildegard Tuttlies war er als "Kinderscheucher" sehr bekannt

14: Lerdon, Wilhelm, Bauer, Altsitzer, Vater von Fritz Lerdon, dieser verheiratet mit Hedwig Lerdon, verw. Kiehl, geb. Podewski in Lindenhöhe. Siehe 3. Kindheit in Willschicken im nachfolgenden Text

Zum Familienstammbaum der Kiehls siehe den Link: http://wiki-de.genealogy.net/GOV:WILTALKO04VT

Der Hof von Ferdinand Tuttlies in Willschicken (oben rechts unterhalb der Chaussee, oberhalb von Kianka) ist leider auf der abgebildeten Karte nicht sichtbar.

Ein kleines Landstück (ebenfalls unterhalb der Chaussee in Höhe der Windmühle) ist auf der Karte irrtümlich der Gemeinde Paducken zugeordnet.

Zum Verlauf der Gemeinde-Grenzen zwischen Paducken und Willschicken siehe die Karte Gemeindegrenze von Willschicken am Text- Anfang.

Quelle: Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Die Gemeinde Paducken wurde am 16.07.1938 als Ortsteil in die Gemeinde Klein Schunkern eingegliedert und gleichzeitig in Padau umbenannt.

Ausführliche Informationen zur Gemeinde Klein Schunkern siehe unter: GenWiki Klein Schunkern – GenWiki (genealogy.net)


8. Nachbargemeinde Aulowönen / Aulenbach

In Aulowöhnen kauften die Tuttliesen ihren höheren Bedarf ein und brachten ihr Getreide zur Verkaufsgenossenschaft. Außerdem gab es hier einen Arzt und eine Apotheke. Aulenbach besaß einen Bahnhof zur Eisenbahn-Fahrt nach Insterburg. Die Tuttliesen besuchten alle zwei Wochen fein herausgeputzt die evangelische Kirche. Hildegard Kiehl besuchte hier die Konfirmandenstunde.

Aulowönen später Aulenbach grenzte östlich an Willschicken. Aulowöhnen war wirtschaftlicher Mittelpunkt des gleichnamigen Kirchspiels. Es hatte 1939 gezählte 1049 Einwohner. Das Gut Alt Lappönen wurde 1925 als Wohnplatz der Gemeinde Aulowönen zugeschlagen Die nächsten größeren Einkaufsmöglichkeiten für die Willschicker lagen es in dieser Nachbargemeinde, die etwa 5 km entfernt lag. Wenn etwas nicht sofort vorrätig war, wurde es in der Regel bestellt.

Es gab Einzelhändler, Schlachter, Friseure, Schuster, Konfektionsgeschäfte, den Arzt Dr. Epha, den Tierarzt Jaeckel und den Zahnarzt (Dentist) Quidor

Folgende Firmen boten ihre Produkte an: die Adler Apotheke, die Dampfziegelei Ewald Guddadt; die Gastwirtschaft August Rautenberg, die Dampfmühle Otto Schiemann und die Ziegelei Teufel Emma Teufel, die Landmaschinenreparatur u. Pflugfabrik Karl Hertzigkeit, die Autoreparatur u. Handel Schwarznecker u. Reck und die Buchdruckerei Curt Stamm

Karte: Messtischblatt Aulenbach 1939

Karte: Aulenbach, 1939, Quelle: Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)

Hier lag die Molkereigenossenschaft, die An- und Verkaufsgenossenschaft, die Raiffeisenkasse und die Volksbank Insterburg (Nebenstelle).

Es gab eine öffentliche Schule in Aulenbach, daneben gab es noch eine Privatschule. Sie war 1913 gegründet worden Die evangelische und die reformierte Kirche war stets gut besucht. Als Behörden waren vertreten das Kreis-Amt, das Standesamt, die Gendarmerie, die Poststelle und das Standesamt. Es wurden regelmäßig Wochenmärkte abgehalten, zwei Mal im Jahr Pferde- und Viehmarkt mit Krammarkt. Den Güter- und Personenverkehr, vor allem zur Kreisstadt Insterburg, versah überwiegend die Insterburger Kleinbahn (IKB), die hier einen größeren Haltepunkt mit Verladegleisen hatte.

Quelle:  Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)

In Aulenbach bei der Firma Schwarznecker u. Reck absolvierte Gerhard Kiehl eine Lehre als Maschinen-Schlosser. „Seit ca. 1926 betrieben Franz Schwarznecker und Emil Reck in Aulowönen die örtliche Kfz-Werkstatt incl. Tankstellenbetrieb. Später verkaufte sie Kraftfahrzeuge der Marken DKW und Mercedes, Landmaschinen, Fahrräder und Waschmaschinen der Marke Miele.“ Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Gerhard Kiehl arbeitete nach seiner Lehre noch zwei Jahre als Geselle bei der Firma Schwanznecker u. Reck. Er wurde am 01.10.1935 zur Wehrmacht eingezogen.

Ausführliche Informationen zur Gemeinde Aulowöhnen siehe unter: Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)


9. Nachbargemeinde Kreppurlauken

In Kreppurlauken kaufte Ferdinand Tuttlies sein treues Pferd die "Rieke" und arbeitet kurzfristig beim Innenausbau der Gesindehäuser auf dem Gut.

Die Gemeinde Kreppurlauken später Birkenhof lag nord-östliche von Wilkental sieh Näheres in: Birkenhof (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net) Sie lag in ”Klein Litauen (Lithuania minor)" oder ”Preußisch Litauen”, dem nordöstlichen Teil des alten Ostpreußens, im Kirchspiel Aulenbach. Es gab eine Schule am Ort, das Kreis-Amt lag in Birkenhof selbst, das Standesamt und Gendarmerie in Aulenbach. Die Post bekam Birkenhof über Schillen. Das bis 1946 Neu Lappönen genannte Gutsdorf wurde 1874 in den neu errichteten Amtsbezirk Keppurlauken (heute nicht mehr existent) eingegliedert, der – auch nach seiner im Jahre 1930 erfolgten Umbenennung in „Amtsbezirk Birkenhof (Ostpr.)“ – bis 1945 zum Kreis Insterburg im Regierungsbezirk Gumbinnen der preußischen Provinz Ostpreußen gehörte



Folgende Einwohner sind im Ortschafts- und Adreßverzeichnis des Landkreises Insterburg (1927) unter Keppurlauken genannt , es hatte 1925 gezählte 199 Einwohner

Gut Birkenhof gehörte dem Eigentümer Hans Regge. Es umfasste 86 ha, davon 57 ha Acker, 25 ha Weiden, 4 ha Hofstelle, 10 Pferde, 43 Rinder, davon 16 Kühe, 7 Schafe, 5 Schweine

Gut Kreppurlauken gehörte dem Eigentümer Bernhard Tinschmann. Es umfasste. E117,1 ha, mit folgendem Gesinde: Schweizer: Franz Schmidt, Deputant: Eduard Krietzan, Karl Lempke, Friedrich Goerke, Gustav Maeding Kutscher: Franz Dumluck

Gut Neu Lappönen gehörte dem Eigentümer Erich Lengnik. Es umfasste 392 ha, davon 221 ha Acker, 25 ha Wiesen, 130 ha Weiden, 13 ha Holzungen, 2 ha Hofstelle, 1 ha Wasser, 55 Pferde, 240 Rinder, davon 50 Kühe, 130 Schweine, Herdbuchvieh und eine Meierei. Im Jahre 1910 lebten auf dem Gut Neu Lappönen 80 Einwohner. Es waren Gesinde, Deputanten, Schweizer und Kutscher. Seine Einwohner waren nach der Reformation überwiegend evangelisch. Am 30. September 1928 verlor das Gut Neu Lappönen seine Eigenständigkeit und wurde zusammen mit dem Gut Keppurlauken in die Landgemeinde Berszienen, Kirchspiel Aulowönen eingegliedert, die zum gleichen Zeitpunkt in „Birkenhof (Ostpr.)“ umbenannt wurde. (russischer Name nach 1945: Ogonkowo)

"Der Sohn von Erich Lengnik, der Züchter Oskar Lengnik, führte hier ein Privatgestüt, dass sich vornehmlich aus besonders hoch im Blut stehenden Mutterstuten zusammensetzte. Die Stute Herold wurde im Jahre 1925 in Neu-Lappönen im Kreis Insterburg geboren. Herold wuchs in ihrer Geburtsstätte auf und wurde von seinem Züchter erfolgreich in Flach- Und Hindernisrennen der Provinz vorgestellt. Pferd und Reiter, gleichzeitig auch sein Züchter, brachten zahlreiche Schleifen und Ehrenpreisen von diesen Einsätzen heim. Die Krönung aller Erfolge waren jedoch die Starts bei der Pardubitzer Steeplechase, dem schwersten Hindernisrennen des Kontinents. Von beiden Rennen kehrte Herold als Sieger zurück. Die Velká Pardubická oder Steeplechase von Pardubice ist ein traditionelles Pferderennen über 6.900 m, das auf der Rennbahn im ostböhmischen Pardubice in Tschechien stattfindet. Das Hindernisrennen gilt als eines der weltweit härtesten Rennen und wird seit 1874 veranstaltet, nunmehr jeweils am 2. Sonntag im Oktober. Der Parcours ist berüchtigt für die Größe der Hindernisse, nur ein geringer Teil der startenden Pferde erreicht überhaupt das Ziel.

Beim ersten Sieg im Jahre 1935 schrieb Gustav Rau:

"Es steigert sich das Bild zu einer geradezu phantastischen Leistung der ostpreußischen Pferdezucht, vor der alle anderen Turniererfolge verblassen, zumal die ostpreußischen Pferde auch alle anderen Militarys in diesem Jahre gewonnen haben."

Und im Jahre 1936 berichtete Reitsportzeitschrift St. Georg anlässlich Herolds Folgesieg zur Pferdezucht auch dem Gut Neu Lappönen:

"Jede Rennbahn verlangt ihre besonderen Pferde; Pardubitz braucht neben gewaltigem Springvermögen Pferde, die in jedem Boden zu gehen vermögen, und Pferde mit einer außerordentlichen Ausdauer. Die Strecke beträgt 6.900 m. Der Boden wechselt zwischen Rennbahngeläuf, Heide, abgeerntetem Feld und Sturzacker, verlangt also Pferde, die immer wieder kommen und ihre Aktion behalten….Es ist geradezu phantastisch, was die ostpreußische Zucht für die Große Pardubitzer seit 1923 an Siegern hergegeben hat…Diese gehäuften Siege ostpreußischen Blutes in einem Rennen wie der Großen Pardubitzer sind wohl das Bemerkenswerteste, was die ostpreußische Zucht an großen Leistungen aufzuweisen hat." "So wurde Herold zum strahlenden Botschafter einer weltweit berühmten Leistungszucht der ostpreußischen Warmblutzucht Trakehner Abstammung. Von der wertvollen Neu-Lappöner Zucht hat nur wenig das Kriegsende überstanden: Paloma von Hendrik (von Nana Sahib x), Pandura von Damian und ihre Tochter Palme von Port Arthur sowie Luckchen von Cornelius mit ihrer Tochter Luci von Löbau kamen auf dem Treckwege nach Westdeutschland. Ihre Stämme bewegten sich immer auf sehr schmalem Grat und tun es noch."

Die Stute "Rieke" auf dem Tuttlieser Hof stammte auch von einer "Nebenlinie" der Neu Lappöner Zucht ab. Sie war bei einer Remonte-Prüfung auf dem Gut ausgemustert worden und konnte so dort von Ferdinand Tuttlies als "Dreijährige" preiswert erworben werden. Zu Hause galt sie als treu und leistete hervorragende Dienste. Trotzdem waren durchreisende Pferdehändler an "Riecke" sehr interessiert. "Sie ist doch noch für eine Privatzucht hervorragend".

Ferdinand Tuttlies hatte später kurzfristig beim Innenausbau der Gesindehäuser auf dem Gut gearbeitet.

Ausführliche Informationen zur Gemeinde Birkenhof siehe unter GenWiki: Birkenhof (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)


10. Platt im Willschicken: Kupst und Kaddig

Die zwei Millionen Ostpreußen brachten ihre Traditionen in vielfältiger Form im Fluchtgepäck in die BRD und DDR mit. Das gesprochene ostpreußische Platt ist heute 2023 nahezu ausgestorben. Auf alten Tonträgern und im Internet lassen sich noch winzige Sprachinseln entdecken. In der Literatur sind noch einige Erinnerungen zu finden.

In Willschicken wie in weiten Teilen von Ostpreußen sprachen die ländlichen Bewohner platt. Das Platt war mit litauischen Sprachteilen durchsetzt

Von den übrigen ostniederdeutschen Dialekten unterscheidet sich das Niederpreußische in Ostpreußen vor allem durch viele Gemeinsamkeiten in Phonetik, Grammatik und Wortschatz mit dem Hochpreußischen.

Einige wichtigen Merkmale des Ostniederpreußische sind nach W. Ziesemer:

  • Die plattdeutschen Infinitive haben meist ein (n); dieses gilt für die Aussprache in Westpreußen, während in Ostpreußen das Schluss-n weggelassen wird (Sie will gehen - Sö wil goh)
  • Beibehaltung des ge- im Mitelwort (Hei is lopen; dagegen Ostniederdeutsch: He is jelope)
  • Entrundung (Kenig, Brieder, Fraide, Kraiter für Standarddeutsch Könige, Brüder, Freude, Kräuter)
  • Doppellaut mit Dehnung ai statt ei, eu, äu
  • Vorliebe für Verkleinerungssilben (De lewe Gottke und hochpreußisch kommche, duche, Briefchedräger) – umlautlose Verkleinerungsformen (Hundche, Katzche, Mutterche)
  • „nuscht“ für Standarddeutsch „nichts“ (Färe Dittke nuscht - für einen Groschen nichts)

Quellen: Walther Ziesemer: Die ostpreußischen Mundarten. In: Ostpreußen. Land und Leute in Wort und Bild. Mit 87 Abbildungen. Dritte Auflage, Gräfe und Unzer, Königsberg (Preußen) o. J. [um 1926] und Preußisches Wörterbuch. Deutsche Mundarten Ost- und Westpreußens. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Begr. von Erhard Riemann. Fortgef. von Ulrich Tolksdorf. Hrsg. von Reinhard Goltz. 6 Bände. Wachholtz-Verlag Neumünster 1974–2005.

Es folgt ein Auszug aus: Lituanismen im Ostpreußischen – Sprache und Alltag in Nord-Ostpreußen. In: Annaberger Annalen. Jahrbuch über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen. Nummer 11, 2003, ISSN 0949-3484, Gerhard Bauer, Quelle: AnnabergNr.11_Kap5.pdf (annaberger-annalen.de)

Analysiert wird im Folgenden eine Auswahl von Texten, die nach 1945 in Form deutschsprachiger Buchpublikationen erschienen sind. Es mag erstaunen, dass auch noch nach über 50 Jahren - im Jahr 2 000 nach Vertreibung und Flucht der Bevölkerung das ostpreußische Spracherbe, niederdeutsches Platt, in der Mundartforschung auch als niederpreußisch bezeichnet, in dieser Lebendigkeit in den Texten vorliegt.

Bei nicht seltenen deutsch-litauischen Missverständnissen ist oft zu hören: "Ei, was is dat? Ich versteh nich Litauisch. Mußt Daitsch mit mich kalbeken."

Um es vorwegzunehmen: der in Ostpreußen wohl am häufigsten verwendete Lituanismus, alltagssprachlich, wie auch im Schrifttum, ist die Bezeichnung Margell, Marjellchen, Jungensmargell, Burmargel (pltd.), u. ä. Wenn es darum geht, die äußere Erscheinung und bestimmte Eigenschaften von Mädhen allgemein und von Dienstmädchen zu charakterisieren, kann der ostpreußische Sprachschatz aus dem Vollen schöpfen “Dat es e abjefeimte (oppjeplusterte, fijuchlige, filistrije, freche, jedreiste, krätsche) Marjell“. Ist ein Mädchen grasze (rundlich, schön genährt), dann gilt sie als besonders angriepsch.  Typisch ostpreußisch klingt der Satz „Margell, bring e Kodder, eck häbb Schmand verschmaddert“. Ähnlicher Beliebtheit erfreut sich das Lieblingsschimpfwort der Ostpreußen, die Bezeichnung Lorbas, kurz gesagt, Lümmel. Fast durchgehend findet man in den Texten die litauischen Nationalspeisen Schuppnis und Kissehl und auch die Schaltnoosen genannt, die in Ostpreußen auch unter der deutschsprechenden Bevölkerung verbreitet waren. Die meisten Begriffe werden im Zusammenhang mit Gegenständen des Alltags, bestimmten Tätigkeiten, sozialen Handlungen und allgemeinen Lebensumständen verwendet

Da ist zunächst der Turgus, der Wochenmarkt (in Aulowönen), in der weitgehend von agrarischen Lebensverhältnissen bestimmten Umwelt, ein Zentrum der Kommunikation und des Austausches von Waren, Kontakten und Nachrichten, zu nennen. Auf den Wochenmärkten spielt sich das Leben ab, es sind kleine Volksfeste, alles war auf den Beinen. Und hier trafen sie sich, der fast nur litauisch sprechende Bauer mit dem jüdischen Händler und dem deutschen Handwerker. Vielleicht gesellte sich auch noch ein polnischer Tagelöhner dazu. In dem mehr oder weniger direkten Kommunikationsprozess spiegeln sich verschiedene Ethnien und die ostpreußische Sprachenlandschaft wider: der freche Lorbas, der schwachköpfige Glumskopf und der muntere Bocher, bilden eine Gruppe von Gerkgesellen, deren Geseier und Gejacher über den ganzen Markt erschallt.

Neben dem Wochenmarkt und der Kirche war auch der Krug (Gasthofas) häufig mit Kolonialwaren Geschäft, das soziale Zentrum der Dorfbewohnen, wo sich die Männer nach Erledigung ihrer Arbeit zu treffen pflegten, um dort in geselliger Herrenrund a Tulpche Bier oder a Konus zu trinken und sich untereinander auszutauschen. Nun, bei nur einem Schnaps oder einem Glas Bier ist es selten geblieben, denn sobald einer der Herren eine Tischrunde „schmiss“ (ausgab), war es für die anderen doch Ehrensache, es ihm gleichzutun!

Zum Turgus eilten auch Frauen mit dem Kreppsch (Korb) oder Turguskorw in den Händen. Dabei achteten sie besonders auf den Inhalt ihrer Kischenne (Geldtasche), die sie mit dem Dirschas (Riemen, Gürtel) unter der Marginne, dem zweiteiligen Rock, befestigten. Ihre Kicke (Kopfbedeckung verheirateter Frauen), die schon ganz aus der Mode geraten waren, ließen sie zu Hause. Unterwegs wurden sie von einem Schwauksch (Regenschauer) überrascht. Auch die Tochter wollte zum Markt (... „palauk man bißke“...); sie wollte sich nur noch die Parreskes anziehen. Die Mutter war in Eile (... „nu paspek man bißke“...) Sie gab der Tochter gleich den Rat mit auf dem Weg, sie möge ihren Bambas (Nabel) nicht herausspeilen, sonst würden ständig die Bowkes auf sie glupen.

Über den Marktplatz verteilt standen Buden, kleine Häuschen, in denen gewöhnlich Handel getrieben wurde, oder es wurde direkt von den unzähligen Pferdewagen aus gehandelt. Zum Transport mag der Dwirratsch gute Dienste geleistet haben, ein dem Bauern nützlicher zweirädriger Einspänner, der so leicht war, daß er auch von Menschen gezogen werden konnte. Es handelt sich um einen leichtgängigen Wagen mit verhältnismäßig großen Rädern, die auch bei schlechter Straße und unwegsamen Gelände ihren Dienst nicht versagten. Beim Transport kleiner Güter über kurze Entfernungen war dieses Gefährt unentbehrlich.

Gehandelt wurde mit allem: unter den Tieren sind es die Ante (Ente), Trusch (Kaninchen), Kujjel (Eber), Ramunde (Pferd), und die störrische Zibb (Ziege), die den Vorbeigehenden einen Stums (Stoss) gab. Aus Fässern wurden Zillkes (Heringe) und der Kapustes (Kohl), den man bald nicht mehr riechen konnte angeboten, nicht zu vergessen den litauischen Suris (Käse). Auch Kruschkes (Birnen) waren genug da.

Der Fischhändler hatte sicher auch den Puke (Kaulbarsch) im Angebot. Man musste aufpassen, denn das war ein echter Kupschus (Händler - negativ). Wurde man unter Männern handelseinig - besonders nach abgeschlossenem Vieh- oder Pferdekauf - dann traf man sich zum Margrietschtrinken. Hier wurde so mancher des anderen Draugs (Freund), über den man nichts mehr kommen ließ. Bei diesem Umtrunk, mit dem man das Geschäft besiegelte, blieb es nur selten bei einem Glas. Umzech (Umzechen) hieß das Trinken „der Reihe nach“, sozusagen im Kreise herum. Das übliche Maß war der Puske, die Hälfte der Halbliterflasche. Bummchen (auch Bommchen) hieß ein altes Branntweinmaß an der Theke. Es mangelte nicht an verschiedenen Schnapsarten: Degtinnis, Brantewin, Kornus, Peperinnis, Pfefferschnaps, auch Pipirskis genannt, Skaidrojis, reiner, klarer aus Roggen oder Kartoffeln gebrannter Schnaps mit 56 Volumenprozenten („Dat öss dat reine Wort Gottes“) und - nicht zu vergessen - der Meschkines, auf Deutsch Bärenfang (pltd. Boarefang)

Den Stellenwert des Schnapses im Bewußtsein und wohl auch im Alltag der ostpreußischen Bevölkerung zeichnen zwei verbreitete Sprüche: „Schnapske mott sön, Brotke, wenn sön kann“, „Vor’m Schnaps e Schnaps und nach’m Schnaps e Schnaps“. Die Geräuschkulisse - ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr in den verschiedensten Sprachen und Dialekten, noch verstärkt durch das laute Rufen der Händler, und das Rauloken (Brüllen) des Viehs - bildet jenen Hintergrund, in dem von kalbeken die Rede ist, was nicht nur viel und laut reden, sondern auch dumm und weitschweifig streiten und zanken bedeuten kann, echtes Jebroasch (pltd.) Der Kalbeker und die Kalbekersche gelten allgemein als geschwätzige und zänkische Personen. So mancher hatte die Kalbekerei all satt, da viele sich eh nur halbwortsch (pltd.) verständlich machen konnten.

Die gemeinsamen Angelegenheiten (...“Wenn nu wat em Därp to beräde un to beschlute weer“...) regelten die Bauern auf der Dorf - oder Gemeindeversammlung, Krawuhl oder Pulkus. Der Dorfschulze oder Bürgermeister ließ in manchen Gegenden die Krebulle oder Kriwulstock mit dem Krawuhlzeddel, auf dem Ort und Zeit der Versammlung vermerkt waren, von Hof zu Hof tragen. Hier handelt es sich um eine traditionelle Form der Kommunikation innerhalb der dörflichen Selbstverwaltung. (Diese Möglichkeiten der Landgemeindeordnung wurden 1927 durch das Gemeindereformgesetz abgelöst.)

Auch die geselligen Treffen der Jugend wurden Krawuhl genannt, doch gewöhnlich hießen solche Zusammenkünfte mit Tanzvergnügen Wakarelis (geselliger Abend). Neben der Ziehharmonika und dem Trubas als Begleitinstrumente, erklangen hier nicht selten litauische Dainos. Dieser Art von Lustbarkeit des litauischen Gesindes, bei dem auch der Schnaps nicht fehlte -genannt Schwentadene-, galt der deutsch-litauische Spottvers: „Huste-pruste, Heiserkeit! –Dewe dok verjniechtes Leben“. Hier fand auch der Jurrai, der jeden Abend mit einem anderen Marjell erschien, sein Betätigungsfeld, wofür sie ihn Herzensbrecher, Landbeschäler, Deckhengst schimpften. Den dörflichen Don Juan nannte man Jemeideerpel. Für einen Butsch mußte man erst ein Mädchen finden und beim Streit unter jungen Männern wechselte so manche Dauksche (Ohrfeige) die Seite.

Doch das Leben bestand nicht nur aus Feiern und geselligem Beisammensein, im Vordergrund stand oft harte Arbeit. Verbreitet war die Talka die freiwillige, gelegentlich auch erbetene Hilfe unter den Nachbarn. Eine Talka fand zu verschiedenen Anlässen statt: während der wichtigsten Feld- und Erntearbeiten, wie Heu- und Getreideernte, der meist intensiven nächtlichen Flachsarbeit in der Jauje (Dreschtenne) oder Pirte (Badstube) und zu kleineren Anlässen, wie bei der gemeinsamen Schlachtung, genannt Skerstuwiß. Skerstuwiß bedeutet zweierlei: die Schlachtung selbst und der darauffolgende Schmaus der Beteiligten und auch der Nachbarn.

Die Talka half so manchem Bauern eine Notlage zu überbrücken; wenn z.B. eiligst das Getreide eingefahren mußte, aber gerade im Moment wegen Krankheit „Not am Mann“ war, nahm der Nachbar seinen Dwiszak (hölzerne Forke) in die Hand und eilte dem Nachbarn zu Hilfe. Größere Vorhaben, wie Hausbau, war ohne Hilfe von außen nicht zu leisten.

Bei der Talka war eine Bezahlung in Form von Geld nicht üblich und wurde auch nicht erwartet, daher stand die Abschlussfeier mit großzügiger Beköstigung und reichlich Schnaps im Vordergrund.

Für die Bewirtung war die Frau des Hauses, vom Gesinde auch Herzmutter oder Herzfrauchen genannt, zuständig. Von Jurgin (23.April) bis Micheel (29. September) wurde das Vesper gereicht. Zu Essen - zum Launagies (Vesper) oder Becktuwes, Pabaigtuvis (Abschlussfeier) - gab es reichlich: weder das gute Stück, der Kampen, Schwarzbrot, noch die beliebte Bartschsuppe (pltd.Boartscht), im Sommer auch kalt mit dem Scheppkausch serviert, durfte fehlen. Der Druskus (Salz) zum Abschmecken lag immer bereit. Bei guter Arbeit nahm die Wirtin den Skilandis (Schwartenmagen) vom Lentin, dem sie mit dem Peilas (Messer) zu leibe rückte. Die Wirtin war ständig in Bewegung, mal eilte sie zur Klete (Speicher), um einige Pagels (Holzscheite) zu holen, damit die Pliete (Kochherd) nicht kalt wurde, mal rannte sie mit dem Peed (Wassertrage) zum Brunnen, um frisches Wasser zu besorgen. Nach dem reichlichen Essen und einigen Schnäpsen lehnte sich so mancher zurück zum behaglichen Rangieken (krümmen).

Für die Frau des Hauses war hierfür keine Zeit. Die Sorge um Haushalt und Tiere nahm sie voll in Anspruch: das Schweinefutter mußte mit dem Mentas (Rührholz) gerührt, die Edzs (Futterraufe) mit Futter gefüllt werden. Und dann noch der Ärger mit der Rankin (Griff) am Brunnen, die ständig herabfiel und dem Nachbarn, der vergaß den Karnelis (Handkarre) zurückzubringen. Selbst feiertags hatten sie keine Zeit zum Ausruhen, mußte ständig irgendwas Krapschtieken (wühlen, kramen, herummurksen) und Krausticken (umräumen). Kein Wunder, dass ihr nach all dem Ungemach ein Dokschpakajus (gib Ruhe!) über die Lippen kam. Zum Glück spielte ihr der Kauks kein Schabernack und auch vom Perkun (Donner) blieb das Haus verschont.

Begräbnisse gehörten zu den Ereignissen, an denen die ganze Dorfgemeinschaft beteiligt war. Zum Zarm (Leichenschmaus) wurde ordentlich aufgefahren, denn meistens wurde eine standesgemäße Bewirtung der Trauergemeinde erwartet. Jede Gemeinde hatte ihren eigenen Friedhof. - so auch Willschicken. Die Gräber (Kapas) waren gepflegt, die Bepflanzung natürlich dem Klima entsprechend, d.h. für den Sommer setzte man Blumen, doch für den Winter deckte man die Grabstellen nur mit Tannengrün und einem Grabgesteck ab. Während der warmen Jahreszeit ging man an jedem Samstag auf den Friedhof, (Kapinės) brachte einen frischen Blumenstrauß hin und harkte den Boden um das Grab herum. Die alteingesessenen Einwohner nannten ganze Grabreihen ihr eigen, die für sie auch immer reserviert blieben. Manche waren durch kunstvoll geschmiedete Zäune wie eine kleine Oase vom übrigen Teil abgegrenzt. Ganz alte Gräber dagegen hatten noch keine Grabeinfassung. Da wurden die Grabhügel nur durch immergrüne Bodendecker gehalten.

Die ostpreußische Kultur- und Sprachenlandschaft erinnert an einen bunten Flickenteppich auf dem sich in historischer, geographischer und sozialer Dimension verschiedene Ethnien, Deutsche, Litauer, Polen und Juden, in einem mehr oder weniger direktem Kommunikationsprozess, dem Land jene Farbe gaben, durch das es sich auszeichnet. Selbst unter der deutschsprechenden Bevölkerung gab es, was die Verwendung von Sprache betrifft, einen Riss: platt (ostpreußisches Niederdeutsch) sprach das Volk, hochdeutsch die „feinen Leute (Ärzte, Pfarrer, Lehrer)"

Auch die weiteren Texte von Gerhard Bauer in den Annaberger-Analen über Preußisch Litauen sind sehr lesenswert. ( Jg. 11, 13, 14, 15, 17, 18, 20 und 21)

Die Annaberger-Analen sind nach 30 Jahren 2022 leider eingestellt worden. Annaberger Annalen (annaberger-annalen.de)

Etwa 13 Hofbesitzer im Willschicken trugen Namen mit litauischem Ursprung. Bis auf einen Gutsbesitzer und zwei Großbauern, die jeweils zugezogen waren, sprachen alle Dorfbewohner Platt. Nur wer sich in der Öffentlichkeit besonders hervortun wollte, verfiel zeitweise ins Hochdeutsche. Die ältere Generation hatte zum Teil noch den litauischen Konfirmationsunterricht in Aulowönen besucht. Ab 1900 nahm der litauische Sprachgebrauch in Ostpreußen aber deutlich ab. Bis dahin wurde in einigen Dorfschulen in der Pilkaller und Gumbinner Gegend auch noch Litauisch gelernt. In der Dorfschule sollte nach den Schulkonferenzen in Preußen 1890 und 1900 in ganz Ostpreußen grundsätzlich Hochdeutsch gesprochen werden. Doch in manchen Alltagssituationen fielen gerade die kleinen Schüler wieder in ihr von zu Hause gewöhntes Platt zurück.

In der Lindenhöher Dorfschule wurde ab der 1. Klasse Hochdeutsch als Schriftsprache auf der Tafel mit einem Griffel geübt. Edeltraut Tauchmann geb. Schlack berichtet aus der Nachbargemeinde von Aulowöhnen Gerlauken / Waldfrieden:

Zu den Utensilien eines ABC-Schützen gehörten neben Fibel und Rechenbuch eine Schiefertafel mit Schreiblinien auf der einen und Rechenkaros auf der anderen Seite. Seitlich waren an zwei langen Bändern ein Schwämmchen und ein Lappen befestigt oder aus Kostenersparnis auch nur zwei Lappen. Auf jeden Fall hatte eines der beiden immer feucht zu sein, um damit das Geschriebene fortwischen zu können. Mit dem anderen schnell trocken gewischt, war die Tafel dann gleich wieder einsatzbereit. Der Lehrer überprüfte hin und wieder die Feuchtigkeit des Schwammes/Lappens, aber wenn er nicht hinsah, tat's auch Spucke, und bei einem einzelnen Buchstaben war der schnell im Mund nass gemachte Finger sowieso präziser einzusetzen. Außerdem fingen die feuchten Wischer bald an zu stinken - eine wirklich unhygienische Sache! - und mussten durch neue ersetzt werde. Geschrieben wurde mit einem Griffel aus Schiefer. Er war etwa so lang wie ein Bleistift, aber dünner, und da er keine Holzummantelung besaß, war er leider nicht bruchsicher. Angespitzt wurde er mit einem scharfen Messer, aber verständlicherweise nur von Erwachsenen. Deshalb war es ratsam, morgens gleich mehrere gut angespitzte Griffel in seinem hölzernen Griffelkasten zu haben, die dann beim Laufen vernehmlich im Tornister (Schulranzen) klapperten, während die beiden seitlich heraushängenden Läppchen - oft im Verein mit den Zöpfen - lustig hinterher flogen. In der zweiten Klasse begannen wir, Bleistift und Hefte zu benutzen, in der dritten Federhalter und Tinte. Quelle: Datei:Waldfrieden (Ostp.) - Ksp. Aulenbach - 2013 - Volksschule Waldfrieden.pdf – GenWiki (genealogy.net)

Berta und Ferdinand Tuttlies sprachen in Willschicken mit ihren Eltern noch fließend Litauisch - die Kinder - wie Hildegard Tuttlies - verstanden noch Teile, sprachen es aber nicht mehr selber - Platt dagegen sprach noch die gesamte Familie. Siehe auch den Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies. Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang. Der litauische Name Tuttlies heißt übersetzt Wiedehopf.

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11. Kontakte

Ein besonderer Dank gilt Herrn und Frau Mattulat. Sie haben dankenswerterweise wichtige Eigenarbeiten zur Verfügung gestellt.

Zu den Quellen siehe auch den folgenden Text "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Text von Klaus Kiehl

In der Hoffnung, dass alle Angaben und Quellen richtig eingeordnet sind,

sind Berichtigungen und neue Informationen herzlich willkommen.

Bitte senden Sie diese an die E-Mail-Adresse von Klaus Kiehl: klaus-kiehl@t-online.de

Hamburg 2023



"Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang", Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies

Vorbemerkung

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies, wurde am 21. März 1920 in Willschicken in Ostpreußen geboren und ist am 19.06.2021 in Hamburg verstorben. Das langjährige Mitglied der Insterburger Heimatgruppe Hamburg hatte bei den Treffen immer viel aus der Jugend zu erzählen. Auch ihre Enkel waren gespannte Zuhörer.

Inhalt

  1. Zu Hause
  2. Kornaust, Kruschkemus und Wrukensuppe
  3. Kindheit in Willschicken
  4. Der Zweite Weltkrieg
  5. "Dann in Gottes Namen!"
  6. Abschied von der Heimat
  7. Der 8. Mai 1945
  8. Neubeginn beim Zoll
  9. Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Stall — und Plumpsklo
  10. „Nich griene, mien Marjellke, wie schaffe et!"
  11. Weihnachtsbaum in der Konservendose
  12. Zwei Enkel und die Heimatgruppe Insterburg füllen mein Leben

Kontakte

  1. Zu Hause

Im März 2020 genau vor 100 Jahren wurde ich 100 Jahre alt. Aufgewachsen bin ich auf dem Lande in einem warmen Nest; in keinem Heuhaufen, sondern auf einem Bauernhof, mit zwei Brüdern und einer Schwester. (Max, Friedel und Erich - der jüngste Bruder Otto ist schon mit 3 Jahren verstorben)



Unsere Eltern haben uns mit viel Liebe und Fürsorge erzogen. Meine Spielgefährten waren alle Tiere, die ein Bauernhof besitzt. Meinen kleinen Ziegenbock, meinen Mäck, darf ich nicht vergessen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt und ich tobte mit ihm um die Wette — besonders im Blumengarten, wenn dieser sauber hergerichtet war. Zur Freude meiner Mutter!! Ich war damals noch keine 5 Jahre alt, mein Mäck höchstens ein halbes Jahr alt. Für meine älteren Geschwister war ich stets die Kleine, sie behielten mich immer am Auge, soweit es ging. Nur wenn ich bei Lux, unserem Hofhund in seiner Hütte saß und mich nicht meldete, wenn ich gerufen wurde, waren sie etwas besorgt.

Knappe 10 Minuten Fußweg von uns entfernt war mein Gerhard Kiehl daheim. Seine Eltern besaßen ein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich einmal dazu gehören werde! Aber mein Vater ging gerne dort hin. Überhaupt, wenn ein großes Treffen der bekannten Bauern aus der Umgebung war, am Tage der Schweineablieferung in Grünheide auf dem Bahnhof. Alle Bauern kehrten dann ( ...die Fuppen voller Geld, es war der Erlös für die Schweine) zum Umtrunk bei meinen Schwiegereltern in Pillwogallen ein.


Zum Stammbaum der Padefke siehe auch die folgenden Links:

FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski    — FamilySearch.org  

und  Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)

und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)

und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)

Pillwogallen kommt aus dem Litauischen und heißt deutsch: „Bauchende". Das gefiel den Einwohnern schon lange nicht. Auf Sondergenehmigung des Landrates Insterburg wurde der Name schon 1928 in „Lindenhöhe" unbenannt! Dort wurde der Insterburger Reiter-schnaps ausgeschenkt. Ein Stück Würfelzucker und zwei ganze Kaffeebohnen wurden zerkaut und mit einem Korn nachgespült. Oder es gab einen Pillkaller. Wieder ein Gläschen Korn mit einer Scheibe deftiger Leberwurst mit einem Klacks Mostrich drauf! Vater kam dann reichlich verspätet nach Hause — aber stets lustig!

Opas zuhause war ein Kolonialwaren Geschäft mit Gastwirtschaft, und dort kauften alle Bewohn im weiten Umkreis ein. Es gab fast alles, was das Herz begehrte. Mehl, Zucker, Bonbons, Schmalz, Kuhketten, Holzschlorren, Klumpen, Bier , Wein, Alkohol, Wagenschmieren und Salzheringe. Sie lagen in einem großen Fass in Salzlake. Das Holzfass stand gleich hinter der Ladentür, darüber ein großer Stapel Packpapier als Einwickelpapier.

Nun benötigte meine Mutter, eure Uroma Salzheringe. Sie wurden gewässert und dann eingelegt. Also machte sich mein Vater, Euer Urgroßvater auf die Beine, um 10 Salzheringe zu holen. Bis Lindenhöhe waren es keine 10 Min. Fußweg auf einer glatten Straße. Für  meinen Vater ein schöner Spaziergang am frühen Vormittag. „Öck kom bol wedder“ sagte mein Vater zu meiner Mutter, nahm seinen Krückstock vom Haken, setzte seine „Schlippkemütze“ auf und marschierte dann los! Doch vom baldigen Nachhausekommen wurde nichts. Ich entsinne mich noch, wie meine Mutter immer unruhiger wurde. Die Stunden vergingen un meine Mutter wurde auf Vater sehr böse. Das Mittagessen war fertig und wieder vom Tisch abgeräumt, die Schweine versorgt, die Kühe gemolken und immer noch kein Gebein von Vater. Ich weiß nicht mehr, wann er wirklich kam. Ich habe in Erinnerung, wie er frohen Mutes ins Haus reinkam und vorsichtig das Päckchen mit den Salzheringen auf den Küchentisch legte. Vater hatte zuvor viel zu erzählen, wen er alles im Krug in Lindenhöhe getroffen hatte, alles alte Bekannte und alle geben eine Korn nach dem anderen aus. (ein Korn kostete damals 10 Pf.), und er, der Nante Tuttlies, musste tüchtig mithalten – und deshalb ist es auch etwas später geworden.

Meine schweigsame Mutter hatte inzwischen das Päckchen mit den Heringen aufgemacht – darin lag nur noch ein einziger Salzhering! Auch meinem Vater blieb die Spucke weg. „Ei der Dausend, wo sön de andere geblewe? Bestennt söb se miet ut de natte Papier underweges rutgerutscht!“ Und so war es. Sie hatten ja schon einige Stunde im Packpapier gelegen und es aufgeweicht. Vater nahm darauf stillschweigend seine Schlafdecke und ein Sofakissen unter den Arm, ging über den Hof zum Stall, stieg die Leiter hoch und verschwand durch die Luke auf seinen geliebten Schlafplatz im Heu. Ja und dann? Ich war damals 5 Jahre alt und wurde von meiner Mutter mit einer Schüssel losgescheucht , vielleicht noch einige Heringe am Straßenrand zu finden. Ein Hering kostete 10 Pf. und die 10 Stück 1,-- Reichsmarkt und das war Geld. Und was glaubt Ihr? Ich hatte Glück und brachte alle Neune meiner Mutter heim. Sie lagen meistens verstreut im Gras am Straßenrand. Die „Unglücks-Heringe“ wurden gut gewaschen, gut gewässert und dann sauer eingelegt. Euer Uropa hatte bald seinen Rausch ausgeschlafen, Eure Uroma ihren Ärger vergessen, denn die kleine Marjell, die Hills, hatte ja alles wiedergefunden. Es wurde noch viel darüber gelacht.

Anfang April 1926 wurde ich in ein Matrosenkleid gesteckt, die langen Strümpfe hatte Mutter selbst aus Schafswolle gestrickt (kratzten fürchterlich). Meine schwarzen Spangenschuhe wurden gewienert und einen Tornister bekam ich aufgehubbelt! An Mutters Hand ging es in die zweitklassige Schule nach Pillwogallen. Ich war sehr neugierig auf sie. Als ich dann einige Tage artig auf meinem Platz gesessen und mir alles angesehen hatte, fiel mir ein, dass gerade unsere Küken aus den Eiern zu der Zeit rausgekrabbelten, und ich musste dabei sein! Also ließ ich meinen Ranzen in der Bank liegen und ging nach Hause. Doch ich kam nicht weit. Lehrer Wiederhöft holte mich ein, fasste mich am Schlafittchen und meinte: „Ille (so nannte er mich) Du gehörst in die Schule!" Gefiel mir gar nicht. Viel schöner war es Zuhause, bei meinem Ziegenbock!

Das mittlere Foto zeigen die Straße von uns nach Lindenhöhe. Hinter dem Gehöft auf der rechten Straßenseite kam gleich der Dorfteich und dann anschließend, ebenfalls an der Straße gelegen, Opas zuhause. Auf der linken Straßenseite des Bildes ist im Hintergrund ein größeres helles Haus zu sehen. Es war unsere Volksschule. Opa ging hier vier Jahre und anschließend zur Oberschule in Interburg und Gumbinnen. Ich hielt es acht Jahre aus, ging aber dann noch anschließend zur Handelsschule in Insterburg. Auf dem Foto geht Oma mit ihrer Freundin spazieren. Auf dem Foto geht Oma mit ihrer Freundin spazieren. Das mittlere und das rechte Foto zeigen die Straße von uns nach Lindenhöhe.

Bildarchiv Ostpreußen, Pillwogallen, Schulbild (bildarchiv-ostpreussen.de)

Anbei noch einmal unsere liebe alte Schule. Rechts und links je ein Klassenraum. Vor dem Haus war ein Spielplatz,  hier haben wir in den Pausen Völkerball gespielt, oder aber auch Singspiele waren damals an der Tagesordnung, natürlich ohne die „frechen Jungen“. Durch die Haustür kam man in einen kleinen Flur, Hier stand ein hohes Schuhregal, worin wir im Winter unsere „Holzschlorren“ hineinstellten, denn fast alle Kinder trugen sie der Kälte wergen mit selbstgestrickten dicken Strümpfen aus Schafswolle. Ein jeder hatte aber warme Hausschuhe für die Schulstube im Ranzen.

Foto: Schüler der Schule im Pillwogallen, 1931, rechts oben Lehrer Wiederhöft ohne Kopf, Zweite von rechts stehend Hildegard Tuttlies daneben sitzend Gerda Weinowski, Quelle: Bildarchiv Ostpreußen, Pillwogallen, Schulbild (bildarchiv-ostpreussen.de)

Auf dem Schulweg kamen wir an der „Haus-Schmiede" vorbei. Sie war tipp topp und er ein guter Schmied. Er hatte schon die dritte Frau am Haken und 12 Kinder und ein sehr baufälliges Wohnhaus, in das es reinregnete. War es des Nachts, wenn sie schon im Bett lagen, sagte sie zu ihm: „Papake, spann dem Scherm op! On et wer wi im Himmel!"

Auch Martha gehörte zur Familie Sanowitz. Sie war eine drugglige Merjell und plinste oft, wenn sie in der Schule nicht weiterwusste.

In der Schule saßen hinter mir zwei Lautze von der Sorte. Ich hatte lange Zöpfe und die steckten sie mir ins Tintenfass, das hinter mir stand. Und ich hatte ein weißes besticktes Nesselkleid an. Worüber sich Mutter wieder sehr freute!

Viele Jahre lebten wir in guter Nachbarschaft mit Hermann Weinowski. Er war der Opa von unserem „Heinz Weinowski", der 2001 mit seiner Ursel zu unserer Heimatgruppe kam, und wir wussten beide nicht, wer wir waren! Die Überraschung war groß!

Die Jahre vergingen und ich durfte schon mal auf den Schwoof gehen. Am schönsten waren die Manöverbälle bei meinen Schwiegereltern im Garten, auch dort war eine Tanzfläche aus Holz vorhanden.

Mein Vater hatte meiner Schwester und mir vor dem Gehen zur Aufgabe gemacht, jede noch zwei Kühe zu melken. Meine „Muschekühe" waren artig, ich erzählte mich oft mit ihnen und streichelte sie auch. Aber bei meiner Schwester war es anders. Sie bedeckelte sie oft mit dem Melkschemel — und dann tanzten sie im Ross-garten Polka, zur Soldatenkapelle, die wir schon spielen hörten!

Foto: Fasching von Handelsschüler in Insterburg 1938, bei Max Tuttlies zu Hause, in der Albrechtstraße 15, oberste Reihe, zweite von rechts, Hildegard Tuttlies, unten von rechts Manfred, Max und Gertrud Tuttlies, Quelle: privat

Und wieder verging die Zeit – und ich hatte meinen Gerhard geangelt, oder er mich? Wir wollen meinen 18. Geburtstag gebührend feiern. Nicht daheim, sondern in Insterburg im Kaffee Alt-Wien! Mein Mann war damals in Insterburg als Berufssoldat stationiert. Ich hatte meine Bleibe bei meinem ältesten Bruder und seiner Familie in der Albrechtstraße 15, dem großen Eckhaus, das heute noch steht. Ich ging in Insterburg zur Handelsschule.

Alles war vorbereitet und wir saßen mit unseren geladenen Gästen im Kaffee Alt-Wien. Die Musik spielte die schönsten Weisen von „Waldeslust" und „Es war einmal ein treuer Husar...".

Der Wein mundete hervorragend und wir waren sehr lustig und vergnügt! Bis ich beim Tanzen plötzlich auf meinem Rücken einen leichten „Schurrr..." vernahm. Ob mich der Gerhard zu sehr an sich gedrückt hatte ? Ich wollte es wissen und ging zur Garderobenfrau. „Freileinchen — Sie sind aufgeplatzt...!" rief sie.

Der ganze Rücken meines schwarzen Taftkleides vom Ausschnitt bis zum Gürtel war bloß...! Und nun stand das aufgeplatzte „Freileinchen" da — was war zu machen?

Es war ein Kleid aus Mutters Beständen, das uralt war und für mich umgearbeitet worden war.

Die Musik spielte, und ich feierte meinen 18. Geburtstag. Heute wäre ein bloßer Rücken (und noch etwas Nacktes) in Mode gewesen; aber damals?

Aber Dank Mutters Fürsorge hatte ich meine lange selbstgestrickte Jacke aus Schafswolle unter dem Mantel an.

Sie zog ich über, ging zurück zum Tisch und tanzte und schwitzte mit allen Gästen und meinem Gerhard als „aufgeplatzte Braut"...

Das Taftkleid war lange Jahre unbenutzt, es hing gut aufgehoben auf der Lucht in dem großen Schrank, hinter Vaters „Schößchenrock". Taft verschleißt nach Jahren, und das war der Fall.


2. Kornaust, Kruschkemus und Wrukensuppe

Nun ist es über 75 Jahren her, dass wir aus unserer geliebten Heimat vertrieben wurden. Fast nichts konnten wir mitnehmen.

Aber wir sind voll mit unserem Ostpreußen verbunden und verstehen die alten Ausdrücke, mit denen wir aufgewachsen sind. Wer weiß, was ein „Pomuchelskoopp" ist? (Ein dicker, großer Fisch — oder auch ein Schimpfwort „Du Dammliger....!") Oder was auch ein „Kalabräser" ist?

Ich konnte nicht stillsitzen und war immer neugierig. Wenn unsere lieben Nachbarn Onkel Hermann & Tante Auguste Weinowski zu uns in die „Uhleflucht" zum „kadreiern" (erzählen) kamen, war es für mich ein Ereignis! Vater saß dann mit Onkel Hermann auf der Bank vor der Haustüre. „Mien Mutterke" aber mit Tante Auguste im Garten; und ich sauste von einem zum anderen, um viel mitzubekommen!

Die lieben Nachbarn waren die Großeltern von unserem Heinz Weinowski, der 2001 mit seiner Ursula zu uns in die „Heimatgruppe lnsterburg/Sensburg" kam. Bis dahin wussten wir aber noch nichts voneinander.

Die schönsten Zeiten waren für mich im Sommer die „Kornaust" und im Winter das „Federreißen" am warmen Kachelofen. Herrlich war es, wenn es draußen schneite oder gar „stiemte"! Wir saßen ja im Geborgenen. Da durften wir Kinder keine „Flunsch" ziehen, wenn uns die Arbeit nicht passte! Wurden wir noch „oppstornosch", gab es von Vater einen kleinen „Mutzkopp", ab und zu „plinsten" wir uns noch aus und wir waren dann nicht mehr „gluppsch", vielleicht noch ein wenig „dreibastig"... (frech)!

Mutter hat immer gut für Essen und Trinken gesorgt! Von „Klunkermus" mit Farin gesüßt, „Keilchen", „Pierag", selbstgemachte „Glumse" mit selbst gekochter Kirschkreide im großen Waschkessel in der Waschküche unter ständigem Rühren mit Zucker einige Stunden gekocht. „Brennsuppe", „Wrukensuppe", „Kruschkemus", „Kissehl", „Königsberger Fleck" mit 6 Gewürzen, gebackene Stinte — und meine „Spirgel", die ich heute noch gerne esse! Einige Leute daheim waren „Gniefke" (Geizhälse). Sie saßen auf ihren „Dittchen". Selten, daß sie einen „Kornus", geschweige einen „Pillkaller" ausgaben; und zum „Barbutz" gingen sie auch nicht. Dann kam ein „Bowke", er musste aber schon älter sein aus der Nachbarschaft und schnitt ihnen die Mähne mit der Schere. Zuhause wurden von Männern viel „Klumpen" und von Frauen „Schlorren" getragen. Prima waren sie zum „Schorren" auf dem Eis. Es ging aber auch ohne sie — auf selbstgestrickten dicken Socken aus Schafswolle! Im Hause schlüpfte man in warme „Wutschen", die oft per Hand hergestellt waren. http://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html

Gingen wir aber zum „Schwoofen", wurden die Sonntagsschuhe angezogen. Während des „Schwoofens" bekam man auch ab und zu mal einen „Bärenfang" spendiert und zum "Verzählchen" eingeladen. Die Männer tranken gerne „e Tulpche Bier", aber nicht zu viel, dass man sich nicht de „Tuntel" begoss! Auch wenn derjenige seine Spendierhosen anhatte, und noch gerne einen ausgegeben hätte! Aber auf dem Nachhauseweg hätte man sich leicht „verbiestern" können! Schlimm war es, wenn ich als kleine „Marjell" einer „Ziegahnsche" oder einem „Pracher" begegnete. Dann nahm das Betteln kein Ende. Hatte ich für sie etwas inne „Fupp", einen „Knasterbombom" oder einen Dittchen, war ich sie los!

Mein Vater war wütend, wenn der „Koppschäller" (unseriöser Pferdehändler) immer wieder zu uns kam. Dieser hatte es auf unsere „Rieke" abgesehen. Sie kam aus Neu Lappönen und war eine Trakehner Stute, Vater hat dann immer überlegt, wie er den Kerl auf Nimmerwiedersehen loswürde!

Aus der Gegend Friedrichsdorf und Große Friedrichsdorf kamen häufig auch die Zwiebelfahrer. Sie kamen zu uns mit Pferd und Wagen und riefe: „Zippeln, Zippeln“.  Sie tauschten Zwiebeln gegen Roggen. Gemessen wurde nach Scheffel, ein hölzernes Hohlmaß ca. 40 Inhalt.  

Zu unserer Nachbarschaft gehörte auch die „Familie Baltruweit". Sie saßen auch auf einem Bauernhof, Vater, Mutter, Opa, Oma und vier „Marjellens". Opa und Oma waren auf dem Altenteil. Diese bewohnten die kleinste Stube, nur dass sie zur Nacht eine Bleibe hatten. Am Tage waren sie immer noch mit leichter Arbeit in Haus und Hof beschäftigt.

Nun hatte Opa Baltruweit in der Nacht oft Nacken- und Kopfschmerzen. Also stand er wieder mal im Halbdunkel auf, tastete sich an sein Regal mit dem verschiedenen Einreibemittel in Fläschchen. Das Mittel wirkte Wunder, dachte er, er konnte schlafen und kam am anderen Morgen munter in die Küche. Doch „o Schreck" — Opa war blau im Gesicht, an den Händen, am Nacken! Ja, das war das Ende vom Lied — Opa hatte im Dämmerlicht de Tintenflasche erwischt; die in Reserve im Regal stand! Vater gab aber Opa den guten Rat: Bloß nicht mit Tinte de Kopke önriewe, dat helpt nich...!

Eine der vier Marjellens ist meine liebe Gerda. Mit ihr bin ich zusammen zur Schule gegangen, sie ist genau so alt wie ich. Sie wohnt in Bielefeld. Wir stehen bis zum heutigen Tage noch immer in Verbindung und sind dick befreundet. Wir telefonieren oft miteinander und tauschen unsere Erinnerungen aus — meistens auf platt! Auch unsere liebe Heimatgruppe ist immer im Gespräch... Ja, das war mein Zuhause, mein warmes Nest!


3. Kindheit in Willschicken

Es war für uns Kinder zu Winterzeit eine Freude, auf blanken Eisflächen auf Schlorren zu rutschen – „schorren“ sagten wir. Noch besser aber   ging es auf den dicken Strümpfen, also ohne Schlorren. Und das schönste war, meine Mutter hat nie geschimpft, wenn ich nass nach Hause kam „De Kinderdes motte sich uttobe“ sagte sie.

Ich wollte gerne unserem Hofhund beibringen, mich auf meinem kleinen Rodelschlitten zu ziehen. Leider ist es mir nie gelungen. Gewiss lag es daran, dass er nur mit einer Schnur am Schlitten festgebunden war.

Opa hatte darin mit seinem großen Hund mehr Glück, der Hund gehorchte ihr, er war ja mit einem richtigen Geschirr vor den Schlitten gespannt.

Leider, leider hat Opa damals eure Oma noch gar nicht angeguckt, vielleicht hätte er mich dann einmal mitgenommen bei seine Hundeschlittenfahrten.

Schön waren die Rodelschlittenfahrten über weite Strecken zur Schulzeit. Die Väter der Bauernkinder kamen dann mit Pferden auf einem stabilen Schlitten an der Schule vorgefahren und daran waren unsere Rodelschlitten hintereinander angehängt.

Foto: Schlittenfahrt Kreis Insterburg, Quelle: insterburg schlittenfahrt - Bing images

Meist fuhren auch mehrere Gespanne mit Schellengeläut die Kinderschlitten im Anhang und viel Frohsinn zum nahen Wald und wie oft sind wir dann da runtergepurzelt.

Wenn aber in meinem Zuhause im Winter mit dem großen Schlitten und zwei Pferden spazieren gefahren wurde, kam in die große Pelzdecke, die den Schlitten ausfüllte, ein warmer Ziegelstein. Er war im Bratofen aufgeheizt und blieb sehr lange warm. Ich durfte zwischen meinen Eltern sitzen und war so warm verpackt, dass nur die Augen rausschauten. Meistens ging es auch in den Wald. Vater nahm dort die Schlittenglocken von den Pferden ab. Er meint: „Wir wollen die Stille nicht stören“. Es wurde auch nicht viel gesprochen.

Ja – unsere Winter in Ostpreußen waren einmalig! Viel Schnee mit viel Sonne und klarem blauen Himmel. Dazu strenger Frost um die 20 Grad minus. Der Winter war sehr lange, mitunter fuhren wir zu Ostern noch mit dem Schlitten.

Vor Weihnachten, in der Adventszeit, gab es dicken Raureif. Das war für mich immer eine Märchenwelt. Nicht zu vergessen waren die meterhohen Schneewehen bei „Stümwetter“ – trockener Pulverschnee vom Sturm zusammengeweht. Bei schlimmem Sturm mit eisiger Kälte wurden Straßen und Höfe, Zäune und Gebüsch wurden zu hohen Schneeflächen. Es fuhr kein Schlitten, niemand wagte sich aus dem Haus. Die Schule fiel aus und wir bliebe allem im warmen Zuhause. Wenn der „Spuk“ vorbei war, wurde Schnee geschippt. Ich habe mir in den hohen Schneewehren Höhlen gebaut.

Für warme Winterbekleidung hat mein Vater für uns gesorgt. Er war auch Schneider und hat für Mutter und uns Kinder Mäntel und Jacken mit Pelz abgefüttert genäht. Wir haben nie gefroren, obwohl lange Hosen damals von Mädchen noch nicht getragen wurden. Dafür hat dann aber meine Mutter Strümpfe und Unterwäsche auf Schafwolle gestrickt. Die kratzten fürchterlich.

Der Monat Dezember war mit viel Arbeit ausgefüllt. Zu Anfang wurden zwei dicke Schweine geschlachtet. Daraus wurden auch herrliche Würste gemacht, Dauerwurst, Leberwurst, Blutwurst und meine Grützwurst. Viel Fleisch wurde in gläsern eingeweckt, Schinken und die Speckseiten kamen in Holzfässern zum Pökeln in Salzlauge. Nach vier Wochen kamen sie in die Räucherkammer, die am Schornstein angebaut war. Meine Schwester musste die Kochwürste kochen. Dabei durfte sie nach altem Brauch nicht sprechen – sonst platzen sie. Alle Nachbaren erhielten zur Probe eine Schüssel volle „ganzer“ Kochwürste.

Nach dem Schweineschachtfest mussten die Gänse daran glauben. So 10 oder 12 Stück waren es in jedem Jahr. Es begann in aller Frühe das Gänserupfen. Dazu wurde eine große ovale Zinkwanne in der Küchenmitte gesteilt und wir saßen alle auf Stühlen drum herum. Jeder hatte eine Ganz auf dem Schoß und musste die fein und sauber abrupfen, getrennt nach Federn mit Posten und Daunen. Wir alle hatten zu Schluss – es dauerte mehrere Stunden bis wir fertig waren überall Federn sitzen. Mein Vater hatte sie im Bart, Mutter in den Haaren, Onkel Erich steckte sich meiste die großen Flügelfedern hinter beide Ohren, Tante Friedel hatte sie auch in ihrem krausen Haar und mir krochen die Daunen stets in die Nase und beim Niesen wirbelten sie in der Wanne hoch. Es wurde viel gelacht, denn im Grunde lachte uns schon der leckere Gänsebraten entgegen.

Nach dem Schlachtfest wurden Plätzchen gebacken. Der Teig dafür war schon einige Woche fertig. Er stand in einer großen gut zugedeckten Schüssel in der großen Stube im Kalten, denn diese Stube wurde im Winter – bis auch Weihnachten und Sylvester -  nicht benutzt. Das Backen der Pfefferkuchen ging schnell vor sich. Vier Bleche auf einmal konnten in den großen Backofen, der mit Holz geheizt wurde, geschoben werden. Da musste schnell ausgerollt und schnell ausgestochen werden. Und wieder war die ganze Familie der Tuttliesen dabei, selbst Onkel Erich ließ sich erweichen, er und euer Uropa verkrümelten sich aber bald.

Die Vorfreude auf Weihnachten wurde noch durch unser Weihnachtsfest in der Schule verschönt. Es wurden Theaterstücke, Lieder und Gedichte eingeübt und die Kostüme wurden auch selber genäht. Das war ein Spaß. Sogar eine Bühne wurde gebaut. Es klappte alles prima. Zum Schluss kam ein großer Weihnachtsbaum ins Schulzimmer; dann wurden die großen Schiebetüren, die die beiden Klassenräume verbanden, aufgemacht – und die Lindehöher Schule hatten den schönsten Theater-Raum.

Unseren eigenen Weihnachtsbaum hat mein Vater stets besorgt, woher er ihn hatte, wurde nie verraten. „Vom Weihnachtsmann“ sagte er lachend. Das Weihnachtsfest selbst war eine riesige Freude in meinem Elternhaus. Es gab nicht viele Geschenke. Meine heißgeliebte Puppe begab sich immer in der Adventszeit auf eine Winterreise, sie kam aber dann stets am Heiligen Abend mit neuen Kleidern wieder zurück. Aber da stand der prächtige Tannenbau, der uns allein schon in festliche Stimmung versetzte. Dann begann Eure Uroma „Stille Nacht, heilige Nacht“ leise zu singen und wir alle stimmten fröhlich mit ein. Wir saßen am warmen Kachelofen, draußen war tiefer Winter. Es duftete nach Weihnachten in der großen Stube und in der Küche brutzelte der Gänsebraten.  Euer Uropa saß in seinem Stuhl, hatte die Hände gefaltet und sagte nur „Kinder, sön dat wedder scheene Wiehnachte“

Es war Herbstzeit und wieder einmal hatte Euer Uropa Fritz Hasen geschossen. Eure Uroma Hedwig Kiehl – Lerdon hat auf einem Foto einen dicken erlegten Hasen auf dem Arm. Sie steht vor der Verandatür auf der Hofseite. Uropa Fritz war zuhause Jagdpächter und durfte im Herbst und im Winter Wild schießen. Es wurden zur Jagd Freunde und Verwandte eingeladen. Eine große Gesellschaft machte sich auf die Beine. Auf dem Foto rechts ist Tante Anneliese auf dem Hof zu sehen mit Uropas Jagdhund „Arac“. Dahinter steht der Hofhund „Lord“.

Zu jeder Jagt gehören auch Treiber. Es waren junge Leute aus dem Dorf. Sie haben zusammen mit den Hunden die Hasen aufgestöbert und sie den Jägern zugetrieben, denn die Hasen hatten sich in Hecken und Büschen verkrochen. Das geschah mit großem Lärm. Der Ausklang solcher Jagdtage war ein großes Essen bei Eurem Großvater in der Gastwirtschaft Eure Uroma Hedwig hatte mit den Frauen aus der Nachbarschaft alles bestens vorbereitet. Es ging lustig zu. Es wurde gut gegessen und dazu ordentlich getrunken, viel erzählt, viel gelacht und zuletzt ordentlich gesungen. Uropa Fritz begleitete auf dem Klavier. Die geschossenen Hasen hatte inzwischen der Kutscher mit dem Pferdefuhrwerk nach Hause geholt und auf dem Dachboden zum Abhängen aufgereiht.


In der Gaststätte wurde im Allgemeinen kein Essen angeboten, da die Gäste in der Regel vor oder nach dem Besuch schon zu Hause aßen. Es gab aber Kleinigkeiten wie Soleier, Halben Hering oder eingelegten Zwiebeln oder Sure Gurken und für die "Damen" Schokolade oder Bomche. Wurde bei großen Festen dennoch ein Essen eingeplant, so gab Hilfe aus dem Dorf und in einem Nebengebäude - das auch als Waschküche diente - wurde der lange Schamott-Herd zum Kochen, Braten und Warmhalten angeworfen und der große Geschirrschrank aufgeschlossen. Das Besteck stammte zum Teil noch aus einem russischen Offizierskasino aus dem 1. Weltkrieg. In der Regel fanden aber alle Familienfeste zu Hause statt.

In Opas Zuhause fanden im Sommer an Wochenenden die Tanzvergnügungen im Freien statt – falls es nicht regnete. Es war im Garten eine Tanzfläche mit Holzdielen vorhanden. Die Dielen wurden vorher extra gebohnert. An der Theke bediente Onkel Walter zusammen mit Nachbarinnen aus dem Dorf. Flotte Weisen spielten zwei Dorfmuskanten zusammen mit Uropa Fritz auf. Uroma Hedwig überwachte die Kasse.

Auch unsere Sommerschulfeste wurden hier gefeiert mit Volkstänzen, Liedern un Gedichten. „Sommer o Sommer du fröhliche Zeit“ sangen wir hier bei unserem Umzug von der Schule durch das Dorf zu Opas Garten. Alle Kinder waren festlich herausgeputzt. Selbst der „Rüpel“ Otto Schützler, der mal meine Zöpfe ins Tintenfass gesteckt hatte, sah richtig schick aus, sein Haarschopf hatte einen geraden Scheitel. Wir Mädchen trugen zum Umzug halbrund Holzbügel, die mit Blumen umflochten waren, in den Händen. Unsere beiden Lehrer gingen voran – und so hielten wir den Einzug in den Festgarten, wo schon alle auf uns warteten. Jedesmal waren wir froh, wenn Petrus für uns die Sonne scheinen lies.

In der Gastwirtschaft geschah allerlei. Viele Dörfler trafen sich hier. Alle kamen sie mit Pferd und Wagen, im Winter mit Schlitten. War das Wetter kalt, wurden die Pferde gut eingedeckt.- oder sie kamen in die „Einfahrt“ – ein großer Stall, der für die Pferde der Gäste gebaut worden war. Alle Gäste – zogen, bevor sie die Gaststube betraten, ihre Holzklumpen aus. So ging einmal ein Bauer aus Bessen nach seinen Pferden sehen und war überrascht – seine Holzklumpen waren angenagelt – er hatte seine Schulden nicht gezahlt.

Foto: Gutsbesitzer und sehr erfolgreicher Rinder- und Pferdezüchter, Quelle : Kallwischken (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)

Oft kam auch der Gutsbesitzer und sehr erfolgreiche Rinder- und Pferdezüchter Johann Scharfetter im Sommer zu einem Rotwein oder im Winter zu einem Grog mit seinem Spazierwagen in die Gaststätte. Im Wagen saßen er und sein großer treuer Hund. Scharfetter steuerte dann alleine in „seine“ Ecke in der Gaststube, zu Füßen sein Hund und auf dem Tisch div. Flaschen - im Sommer Rotwein oder Rum im Winter – so saß er sehr lange und schlief ein und er und sein Hund fingen an zu schnarchen. Uropa Fritz hat dann die Petroleumlampe auf Sparflamme gestellt und ist ins Bett gegangen. In der Nacht ist Herr Scharfetter aufgewacht, fand in der Regel mit Hilfe des Hundes zum Spazierwagen und schlief, so wurde beobachtet, im Wagen wieder ein. Sein treues Pferd fand den Weg nach Hause alleine – zu jener Zeit fuhren ganz selten Autos nachts auf den Straßen.

Als Uropa Fritz – auch nachts mit seinem neuen Mercedes die Straßen unsicher machte – war das eine Sensation. Zeugen bekundeten, dass er das "nur" tue, um Gäste nach Hause zu fahren. Besonders zwei unerschrocken nach Ostpreußen versetzte Lehrerinne aus Köln benutzte zusammen diesen Service - so dass es schon zu besorgte Nachfragen des Schulrates kam, die aber grundlos waren. Der Besuch von Gasthäusern von alleinstehenden Lehrerinnen war den Dorfbewohner suspekt. Die beiden verkündeten aber "Der rheinische Frohsinn ist hier noch nicht angekommen" und wurden langsam in der Gaststätte akzeptiert.

Hedwig Lerdon führte nach 1941 den Laden an 2 Tagen in der Woche fort, sofern es die Versorgungslage zu ließ, bis zur Flucht im November 1944 allein weiter. Bei Bedarf half Hildegard Kiehl bei ihrer Schwiegermutter aus. Die Ladenöffnung war auch für die Einlösung der Lebensmittelkarten und Bezugsscheine wie z. B. von Petroleum von großer Wichtigkeit. Fritz Lerdon war einberufen war und nur während des Soldatenurlaubs zu Hause. Die Gaststätte wurden nur für amtlichen Zusammenkünfte und für "Privat-Kunden" geöffnet. Nach und nach blieben aber alle wehrpflichtigen Männer weg, da sie eingezogen wurden. Später wurde Köln, nach einer Zwischenstation in Mirow, für die Familien Lerdon das Ziel der Flucht aus Ostpreußen.

Im Jahre 1934 wurde Lindenhöhe mit elektrischem Strom versorgt. Uropa war einer der ersten im Ort, denn ein Anschluss war damals sehr, sehr teuer und nicht jeder konnte ihn sich leisten. Jedenfalls hat es geklappt und Euer Uropa hat aus diesem Grund ein Lichtfest veranstaltet. Dabei wurden die größten seiner Petroleumlampen mit großem Gefolge und Musik im Dorfteich versenkt. Umwelt war damals ein unbekanntes Fremdwort.

Ich habe das Petroleumlicht gerne gemocht – aber wehe, wenn die Petroleumkanne leer war. Dann hatten wir kein Licht, dann dauerte unsere „Uhlenflucht“ bis zum Schlafengehen. Im Sommer brauchten wir kaum Licht, dafür im Winter umso mehr. Die „Uhlenflucht“ fand bei uns im Sommer auf der Hausbank vor der Tür draußen statt, im Winter war die Bank vor dem warmen Kachelofen der Versammlungsplatz. Dann haben meine Eltern aus ihrer Kinderzeit und ihrem Zuhause erzählt. So hatte meine Mutter schon mit 6 Jahren Strümpfe stricken müssen. Mein Vater hatte vor der Schule schon Vieh und Gänse hüten müssen.  Als Schuljunge erhielt er eine besondere Genehmigung, die ihn als Hütejunge zwei Tage in der Woche von der Schule freistellte.

In meinem Zuhause sollten erst 1939 elektrischer Strom gelegt werden. Zunächst gab es auch nur vier Lampen und eine Steckdose. Im selben Jahr brach auch der 2. Weltkrieg aus und wir haben unsere Petroleumlampen behalten. Euer Opa hatte als Junge eine Vorliebe für den Heuboden. An langweiligen Sonntag-Nachmittagen klemmte er sich ein Karl May Buch unter den Arm – es gab vier verschiedene Bände – und stieg die Leiter hinauf und entschwand durch die Luke im Heu. Vor hier konnte er auch alles prima überblicken, wurde er gerufen, hat er sich nie gemeldet, denn das Versteck war sein Geheimnis – und er hat es auch keinem verraten. Als ältester seiner vier Geschwister wurde er regelmäßig zu deren  Aufsicht eingeteilt. Der Autor Karl May veröffentlichte bis 1914 bereits 1,6 Millionen Bände. Seine Schriftstellerkollegin Hedwig Courths-Mahler kam bis 1914 mit ihren Romanen der "Schicksalsergebenheiten" und dem Vorbild des traditionellen Rollenverhalten von Frauen aber bereits auf 14 Millionen verkaufte Bände.

Unser Leben auf dem Lande war aber nicht langweilig – eben bis auf die Nachmittags-Sonntage. Ich bin dann meistens viel mit dem Rad gefahren. Mit 12 Jahren erhielt ich mein erstes Fahrrad, mit 14 Jahren zur Konfirmation die erste Armbanduhr und mein erstes Buch - es war ein Gesangsbuch.

Ein Radio hatten wir dann später auch schon. Leider wurde es ganz selten angemacht. Weil wir noch keinen Strom hatten, war das Radio an Anoden und Akkumulatoren angeschlossen, und diese Batterien wurden schnell leer und mussten dann zum Aufladen weggebracht werden, was immer einige Tage dauerte, bis man sie wieder abholen konnte. Nun hörte aber meine Mutter und natürlich auch die Kinder sehr gerne Radio, aber mein Vater schimpfte dann – es wäre zu teuer. Er ist dann aber zeitig zu Bett gegangen und wenn er anfing zu schnarchen, war es so weit, dass wir das Radio wieder anstellen konnten. Gehört haben wir den Reichssender Königsberg.

Im Winter waren die Abende oft mit Radiosendungen ausgefüllt. Wenn wir keine Arbeit vorhatten, Stricken, Stopfen, Nähen und ähnliches, saßen wir am warmen Kachelofen, draußen war dichter Schnee und der Mond schaute zum Fenster rein, dazu viele Sterne am wolkenlosen Himmel und wir hörten eine Stunde Radio. Meine alte Katze saß auf meinem Schoß, sie wurde dann aber vor dem Schlafengehen von mir in den Stall gebracht.

Eine Sensation waren zuhause die Zigeuner. Sie fuhren in ihren Planwagen oft über Land. Woher sie kamen und wohin sie wollten wusste niemand. Ein Planwagen war ein einfacher Wagen- überspannt mit starken Weidenruten und darüber ein Tuch als Plane gezogen, zum Schutz gegen Wind, Sonne aber auch Regen.

An der Außenwand des Wagens baumelten verbeulte Kochtöpfe, Bratpfannen oder Eimer, In dem Wagen unter der Plane saßen die Frauen mit den Kindern auf Stroh.

Der  Zigeunervater saß vorne im Wagen und lenkte ein müdes Pferd. Oft aber schwärmten alle aus, um mitzunehmen was nicht niet-oder nagelfest war. Weil das Land zuhause flach war, sahen wir sie schon von weiten auf der Straße ankommen, immer mehrere Fuhrwerke auf einmal.

Dann kam unser Vater in Haus gestürmt und rief: „Kinder, de Ziegäner kome“. Falls Wäsche auf der Leine hing, wurde sie schnell abgenommen, die Hühner, Gänse und Schweine in den Stall gescheucht, das Hoftor und alle Türen und Fenster fest verschlossen und der Hofhund Lux wurde losgemacht.

Nichts war vor ihnen sicher. Mein Vater stand irgendwo versteckt auf dem Hof und passte auf, wenn sie zum Betteln anrückten. Mir war eine solche Sippe immer interessant, gab doch viele, viele Kinder zu bestaunen, die neben den Wagen liefen und so vor den Hof erst zu singen und dann zu betteln anfingen. Die ein freies Leben führten – ohne Schule!


4. Der Zweite Weltkrieg

Am 1. September 1939 war der Krieg ausgebrochen — aber wir fühlten uns in unserem Ostpreußen in Sicherheit. Wir waren ja weit weg vom Schuss, vom großen Deutschen Reich und hatten reichlich zu essen und zu trinken, und wir waren ja die Kornkammer Deutschlands!

„Denn heute gehört uns Deutschland", sang die Jugend vor Begeisterung! Ich war 19 Jahre alt und hatte mir nach der Handelsschule eine Stelle im Büro auf dem Lande, im herrlichen Masuren in Pristanien/Paßdorf bei Angerburg gesucht. Zur Lage siehe: Ziegelei Mauerwald – GenWiki (genealogy.net)

Es war die große Baumschule „Bruno Wenk" mit 12 Angestellten, vom Obergärtner bis zu den Lehrlingen; dazu war mein Chef „Bürgermeister" und die Postagentur gehörte auch da hinein. Im Büro waren wir zwei Angestellte, also gab es reichlich zu tun. Aber trotzdem war ich viel am Mauersee, der ganz in unserer Nähe lag. Die Bunker des Hauptquartiers des Oberkommandos der Wehrmacht lagen beim Dorf Mauerwald am Mauersee, das spätere Führerhauptquartier, die „Wolfsschanze" wurde bei Rastenburg gebaut.

Wir hatten ein weibliches Arbeitsdienstlager mit über 100 Maiden in unserem Bezirk (Kreis Rastenburg). Sie waren im „Reich" beheimatet und bekamen viel Post, die sie sich selbst abholten.

Der folgende Text wurde eingefügt:

“Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes. Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.”

“Neben dem männlichen Arbeitsdienst war mit dem Reichsarbeitsdienstgesetz auch der weibliche Arbeitsdienst (RADwJ) für junge Mädchen (Arbeitsmaiden) im Alter von 18 bis 21 Jahren eingeführt worden. Ab dem Jahr 1938 entstanden überall im damaligen Deutschen Reich 327 Lager des weiblichen Arbeitsdienstes, von denen 108 als Bauernlager, 116 als Siedler- und 108 als NSV-Lager (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) anzusprechen waren. Damit zeigte sich bereits die Einsatzart der weiblichen Arbeitsdienstangehörigen. Sie wurden entsprechend auf Bauerhöfen als Hilfskräfte (Mägde) eingesetzt oder in landwirtschaftlichen Siedlungen als Kindermädchen, Säuglingsschwestern, Lehrerinnen oder als eine Art von Sanitätspersonal.“ Quelle: https://www.bildarchiv-ostpreussen.de/cgi-bin/bildarchiv/suche/show_foto.cgi?lang=deutsch&id=17450

Hildegard Kiehl fährt fort:

Auch ich bekam viel Post von Opa! (d.h. ihrem späteren Ehemann. red.) Zuerst aus Insterburg, später kamen dann Feldpostbriefe von der Front. Auch besucht hat er mich oft in Masuren.

Die Zeit lief dahin. Ich war dort von 1939 bis 1942, drei Jahre — und dann kam der grausame Krieg immer näher an unsere Heimat. Mein Bruder Erich, der auf dem Hof bei meinen Eltern lebte, wurde zur Front eingezogen. Als Sanitäter arbeitete er meistens in Lazaretten. Für ihn erhielten Uropa und -Oma einen Weißrussen, Michael, als Arbeitskraft, ein Ostarbeiter. Er war ein anständiger und fleißiger junger Mann, er war gerne bei uns.

Dann erkrankte mein Vater am Herzen, meine Mutter schaffte es auch nicht mehr, und so ging ich dann nach Hause. Ich wäre auch gerne dortgeblieben. Ich hatte großen Spaß an der vielseitigen interessanten Arbeit. Zwar waren fast alle deutschen Baumschulangestellten zur Wehrmacht eingezogen. Aber an ihrer Stelle kamen 20 polnische Hilfsarbeiter, die kaum deutsch sprachen mit einem deutschen Wachmann, der stets eine Pistole bei sich trug, es war grausam! Doch der Versand der vielen Obstbäume, der Nadelhölzer, der Nutz- und Ziersträucher musste ja weitergehen. Am 15.05.1942 verließ ich das Büro der Bauschule Bruno Wenk in Passdorf um zu Hause, den kranken Vater Ferdinand Tuttlies zu unterstützen.

So war ich dann wieder zuhause. Opa kam ab und zu mal von der Front in Urlaub. Die Rückfahrt zur Front war dann immer am schlimmsten. Im Oktober 1943 haben wir geheiratet. Ich blieb aber in Wilkental wohnen. Die Front rückte immer näher. Nachdem die Wehrmacht in Polen besiegt war, rückte Russland weiter vor.

Die größten Städte in Ostpreußen wurden schon bombardiert. Im Sommer 1944 musste nach Königsberg auch Insterburg daran glauben. Es war sehr schlimm; denn mein ältester Bruder Max wohnte in Insterburg, in der Albrechtstraße Nr. 15 mit seiner Familie dort. Es blieben alle verschont. Max war an der Front und der Rest der Familie wurden nach Kroslitz bei Leipzig evakuiert. Für mich war es immer eine Freude, wenn ich zu meinem Bruder Max mit meiner Schwester fahren durfte. Er hatte ein Geschäft mit vielen, vielen Bonbons.

Eine wichtige Einnahmequelle für den Kolonialwaren Laden waren die wohlhabenden Schüler der nahen liegenden Schulen die regelmäßig versuchten, ganz viel Bomche für ganz wenig Dittchen zu erstehen. Als tüchtiger Kaufmann hatte Max Tuttlies zum Wechseln immer viel Kleingeld in der Ladenkasse. Angeblich versuchten einige Eltern, durch ein Ladenverbot die Kauflust Ihrer Sprösslinge in den Griff zu bekommen.

Meine Schwester Friedel wohnte in Königsberg und vertrat ihren eingezogenen Mann als Hausmeisterin. Ihr Mann war an der Front und sie wurde nach Lugau im Erzgebirge evakuiert.


Einschub: " Zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs war Insterburg aber vor allem eine wichtige Garnisonsstadt der preußischen Armee. Im Osten der Stadt entstand ein großes Kasernenviertel. In Insterburg standen 1914 das Kommando der 2. Division mit zwei Brigadekommandos und mehreren Verbänden der Infanterie, Kavallerie und Feldartillerie (darunter zwei Bataillone des Infanterie-Regiments 45), insgesamt über 2000 Soldaten. 1902 schied die Stadt Insterburg aus dem Landkreis Insterburg aus und bildete einen eigenen Stadtkreis. 1913 wurde ein Bismarckturm errichtet. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs war die Stadt infolge der Schlacht bei Gumbinnen vom 24. August bis 11. September von der russischen Armee besetzt und wurde danach Hauptquartier von Paul von Hindenburg.

In der Zeit der Weimarer Republik war Insterburg Sitz des Landratsamtes, eines Amts-, eines Land- und eines Arbeitsgerichtes, eines Finanz- und eines Zollamtes, einer Reichsbank-Nebenstelle sowie einer Industrie- und Handelskammer. Die Wirtschaft hatte sich mit der Ansiedlung von Ziegeleien sowie von Unternehmen zur Herstellung von Zuckerwaren, Essig und Mostrich, Chemikalien und Lederwaren weiter diversifiziert. 1926 wurde nach Fertigstellung des Pregel Seitenkanals der Hafen Insterburg eingeweiht. Nachdem die Stadt zur Zeit der Reichswehr ihre Garnison behalten konnte, erfolgte von 1935 bis 1937 der Bau eines großen Flugplatzes und von Kasernen für die Wehrmacht. 1939 wurde mit der Restaurierung der Insterburg begonnen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerung auf 49.000 Einwohner angewachsen.

Am 27. Juli 1944 wurde Insterburg durch einen sowjetischen Bombenangriff erheblich zerstört. 120 Tote waren zu beklagen, obwohl der Kern der Altstadt mit besonders leicht brennbaren Häusern schon geräumt worden war. Von da an wurde die Stadt schrittweise weiter evakuiert, besonders ab dem zeitweisen Einbruch der Roten Armee bei Goldap im Oktober 1944 . Anfang Januar 1945 befanden sich noch 8.000 bis 10.000 Insterburger in der Stadt, vorwiegend solche mit Funktionen in noch nicht evakuierten Betrieben und Institutionen. Am 13. Januar 1945 begann die sowjetische Großoffensive in Ostpreußen. Einem schweren Luftangriff am 20. Januar fielen noch einmal 30 Zivilisten zum Opfer. Von da an lag die weitgehend geräumte Stadt unter ständigem Beschuss durch Tiefflieger und Artillerie. Der letzte Zug verließ Insterburg am 22. Januar 1945 um 0:30 Uhr." Quelle: Tschernjachowsk – Wikipedia

Hildegard Kiehl berichtet weiter: Im Herbst 1944 mussten auch große Teile der Landbevölkerung die Heimat verlassen. Sämtliche Kühe wurden zu großen Herden zusammengetrieben, und weiter in den Westen sollte es gehen; was wir aber nicht glaubten! Ich höre heute noch das verzweifelte Brüllen der Tiere und unsere älteste Kuh stand eines Tages vor dem Stall auf dem Hof. Sie war heimgekehrt, und wir haben sie behalten. Pferde durften bleiben; denn der Flüchtlingstreck ging mit Pferd und Wagen in den Kreis Mohrungen in Ostpreußen. Der größte Kastenwagen wurde mit einer Plane überspannt und mit Hab und Gut, so viel hineinging, beladen.

Unser Termin war der 15. November 1944. Doch plötzlich wurde Vater wieder sehr krank. Er hätte wohl den langen Treck mit der großen Aufregung nicht überstanden. So beschlossen wir, noch etwas Daheim zu bleiben. Vom 21. 10. – 1. 11. 1944 wurde die Räumung des Kreisgebietes Insterburg (teilweise) von der Zivilbevölkerung angeordnet. Aufnahmekreis ist der Landkreis Mohrungen.

Unser Michael war noch immer bei uns. Noch einmal, zum letzten Male in unserem Leben, haben wir Weihnachten zuhause erlebt, mit einem kleinen Weihnachtsbaum — es war sehr traurig. Michael versprach Vater, auf alles zu achten; denn er wollte in Wilkental wohnen bleiben.

Feldpost kam auch nicht mehr. Unsere Wehrmacht war auf dem Rückmarsch. Mit der Bahn nach Königsberg, in die leerstehende Wohnung von Tante Friedel und weiter bis über die Weichsel. Denn es war eine Hoffnung, daß der Russe dort zum Stillstand käme!


5. "Dann in Gottes Namen!"

So packten wir nur Handgepäck, soviel wir schleppen konnten. Alles wurde auf einen kleinen Kasten Wagen geladen, Michael spannte beide Pferde davor und fuhr am Wohnhaus vor. Vater und Mutter gingen noch einmal durchs Wohnhaus, Stall und Scheune, schlossen alles ab und stiegen zu Michael und mir in den Wagen. Die Schlüssel übergab Vater an Michael. Vater nahm Michael die Leine ab, sagte: „Dann in Gottes Namen.!" Vater trieb die Pferde an; und wir fuhren von unserem geliebten Hof und Grundstück zur Bahnstation Grünheide. Es war der 10 Januar 1945. Die Flucht begann. Wer nach Westen wollte, brauchte eine Reisegenehmigung, um Fahrkarten für einen der wenigen noch verkehrenden Züge zu erwerben.



Auf dem Bahnhof nahm Vater Michael in den Arm, uns allen liefen die Tränen; wir stiegen in den Zug in Richtung lnsterburg und von hier aus ging es nach Königsberg weiter. In Königsberg kamen wir in der Wohnung meiner Schwester Friedel, trotz Fliegeralarm, etwas zur Ruhe. Das Zweifamilienhaus war Kasernengelände und vor der Stadt gelegen. Mein Schwager war Hausmeister in der Kaserne, zusammen mit einem zweiten, der in demselben Haus wohnte — und dieser war noch da, während mein Schwager an der Front war.

Die Freude war groß — aber nicht zu lange! Einmal war ich noch nach Hause gefahren. Michael war nicht mehr da. Auch Lisa und Mona, unsere treuen Kühe, war weg. In der Veranda lag unser Hofhund, aber erschlagen. Die Haustür aufgebrochen; aber das Haus war nicht ausgeräumt. Viele Einheiten von deutschen Soldaten hatten sich in der Umgebung niedergelassen, die auf dem Rückzug waren. Auch Opas Einheit war dabei, allerdings einige Kilometer entfernt. Sie alle schützten unser Hab und Gut vor Plünderungen, so gut es ging. Der Russe plante weitere Großangriffe, die kamen dann auch, es war ein bitterkalter Winter mit 20 Grad minus und mehr und viel Schnee.


Der folgende Text wurde eingefügt und stammt aus: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder, Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band I/1 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 1, Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1954. Es ist folgender Text entnommen:

„Die Königsberger Bevölkerung war zunächst mit Eisenbahnzügen geflohen, bis der Zugverkehr nach dem Reich am 21. Januar aufhörte. Danach hatten sich große Teile nach Pillau begeben, um von dort aus entweder über die Nehrung nach Westen zu gelangen oder über See ins Reich abtransportiert zu werden. Als Ende Januar 1945 die Einschließung der Stadt vollendet war, wurden noch geringe Teile der Bevölkerung zu Schiff von Königsberg nach Pillau gebracht, und Mitte Februar, nachdem im Norden der Stadt die Verbindung nach dem Samland für einige Wochen wieder freigekämpft war, konnten noch weitere Teile der Zivilbevölkerung aus Königsberg ins Samland übergeführt werden.

Dennoch blieben ca. 100 000 Menschen in Königsberg zurück. Viele von ihnen kamen den Räumungsaufforderungen der Partei absichtlich nicht nach, weil sie sich in der Stadt sicherer glaubten als im Samland oder auf dem gefahrvollen Fluchtweg über Pillau. Fortgesetzte Bombenabwürfe und Artilleriebeschuss auf Königsberg zerstörten während der Wochen der Einschließung einen großen Teil der ohnehin durch Luftangriffe schon früher schwer mitgenommenen Stadt und richteten unter der nur noch in Kellern lebenden Zivilbevölkerung hohe Verluste an. Als schließlich am 6. Bis 9. April der Generalangriff der Roten Armee auf Königsberg erfolgte, wurden nochmals viele Zivilisten in die Kriegsereignisse hineingerissen. Ca. 25 Prozent der in Königsberg verbliebenen Bevölkerung waren im Laufe der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, als am 9. April die Stadt an die Russen übergeben wurde. Siehe auch: Hans von Lehndorf, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945–1947

Als letzte Bastion in Ostpreußen blieb nunmehr nur noch der Streifen entlang der Samlandküste und der Raum um Pillau—Fischhausen in deutscher Hand. Noch immer betrug die Zahl der aus Königsberg, dem Samland und aus weiter östlich gelegenen Kreisen in Pillau, Fischhausen, Palmnicken, Rauschen und Neukuhren untergebrachten Menschen viele Tausende, obwohl die Hauptmasse der Flüchtlinge bereits von Pillau aus über See abtransportiert worden war. Die ersten mit Flüchtlingen beladenen Schiffe hatten am 25. Januar Pillau verlassen, und am 15. Februar konnte in Pillau bereits registriert werden, daß 204 000 Flüchtlinge mit Schiffen abbefördert und weitere 50000 nach Neutief übergesetzt und im Treck oder Fußmarsch auf der Frischen Nehrung weitergeleitet worden waren. Aber noch immer strömten viele Tausende nach Pillau.

Sie kamen nicht nur über Land, sondern auch von Neukuhren aus mit kleinen Schiffen an. Die Stadt beherbergte an manchen Tagen über 75 000 Menschen, unter denen die ständigen sowjetischen Fliegerangriffe hohe Verluste anrichteten. Allein in der Zeit von Anfang März bis Mitte April fanden 13 schwere Luftangriffe auf Pillau statt, während gleichzeitig auch sowjetische Artillerie Stadt und Hafen beschoss.

Vom 8. März an musste für ca. drei Wochen der Abtransport von Flüchtlingen aus Pillau eingestellt werden, weil aller zur Verfügung stehende Schiffsraum in dieser Zeit zum Abtransport der Flüchtlinge aus den Städten Danzig und Gdingen benötigt wurde, denen in Kürze die Einnahme durch sowjetische Truppen drohte. In dieser Zeit, als keine Schiffe von Pillau abfuhren, zogen viele Tausende nach Neutief herüber und die Nehrung entlang, denn von der Danziger Niederung aus verkehrten auch nach der Einnahme Danzigs noch Fährprähme nach Hela, von wo aus dann der Weitertransport ins Reich erfolgen konnte. Ab Ende März wurde der Schiffsverkehr von Pillau aus nach dem Westen wieder aufgenommen. Quelle: Die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung.

Die bekannteste Zahlenangabe in der Literatur zur Vertreibung besagt, dass rund zwei Millionen Deutsche insgesamt infolge der Vertreibung umgekommen seien. Hans-Ulrich Wehler schätzt, dass während der Flucht, Vertreibung oder Zwangsumsiedlung 1,71 Millionen Deutsche ums Leben kamen. Der Kirchliche Suchdienst und das Bundesarchiv kamen 1965 und 1974 unabhängig voneinander mit Einzelfallrecherchen auf 500.000 bis 600.000 bestätigte Toten in unmittelbarer Folge der Verbrechen im Zusammenhang mit der Vertreibung. Unter allen deutschen Ländern hatte Ostpreußen im Zweiten Weltkrieg die meisten Verluste erlitten: Von seinen fast 2,5 Mio. Einwohnern fielen 511.000 Menschen (darunter 311.000 Zivilisten) im Kampf, auf der Flucht, durch Verschleppung und Lagerinternierung sowie dem Hunger und der Kälte zum Opfer. Quelle: Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950 – Wikipedia

Auch der Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch begab sich auf die Flucht. „Erich Koch floh am 24. April 1945 mit einem Flugzeug von Pillau-Neutief auf die Halbinsel Hela, von wo er auf dem eigens für ihn extra bereitgehaltenen Hochsee-Eisbrecher Ostpreußen am 27. April 1945 vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee über die Ostsee entkommen konnte. Am 29 April 1945 erreichte er Saßnitz, das ebenfalls schon von der Roten Armee bedroht wurde, am 30. April 1945 Kopenhagen und am 5. Mai 1945 Flensburg. Dort nahm er eine neue Identität an, indem er sich falsche Papiere ausstellen ließ. Sein „ Hitlerbärtchen” rasierte er ab, zudem trug er nun zur Tarnung eine Brille.” 1949 wurde er verhaftet und an Polen ausgeliefert. 1986 starb er dort im Gefängnis. Quelle: Erich Koch – Wikipedia

Hildegard Tuttlies berichtet weiter:

In Königsberg kam der Bescheid, dass die Stadt sofort von Zivilisten geräumt werden müsste. Dieses Mal sollte es per Schiff weitergehen. Unser Nachbar brachte uns zum Hafen. Hier lag ein Riesenschiff vor Anker (den Namen weiß ich nicht mehr...), im Begriff auszulaufen. Die Zugangsbrücke war schon eingefahren, aber an Strickleitern zogen sich Flüchtlinge noch eilig an Bord, und wir sollten auch hoch — aber Uropa und -Oma wehrten sich dagegen. Und das war unser Glück! Das so überladene Schiff bekam auf hoher See einen Volltreffer und ist mit Mann und Maus gesunken!

Und nun kam der gefürchtete Fliegeralarm. Wir liefen in einen Bunker, es ging alles glimpflich ab. Plötzlich tauchten deutsche Soldaten auf. Sie trennten die Männer von ihren Familien, sie sollten zur Verteidigung der Stadt zurückbleiben, so auch mein Vater — und das mit 76 Jahren! Frauen und Kinder mussten geschwinde aus dem Bunker, wir wurden mit der Menschenmasse nach draußen gedrängt, Vater blieb fassungslos zurück!


6. Abschied von der Heimat

In großen Militärtransportern ging es zum Nordbahnhof, von hier dann mit dem Zug nach Pillau, in den nächsten Seehafen; vom Bahnhof dann bis zum Hafen mit unserem schweren Gepäck zu Fuß. Ich hatte einen großen Koffer — mit Schinken und Speck und noch einen zweiten Koffer mit Bekleidung. Es war ja tiefer Winter... Ich packte beide Koffer übereinander, zurrte sie mit langen Riemen sehr fest und schleppte sie im Schnee und Eis hinter mir her.

Mutter hatte einen Riesenmarmeladeneimer voller Schweineschmalz und eine große Tasche dazu gepackt. Bei Vater war ein Rucksack mit Würsten und eine Tasche mit Zeug zum Anziehen. Er hatte seinen großen Fahrpelz über seine Bekleidung gezogen, dazu Pelzmütze und Pelzhandschuhe, also frieren konnte er nicht! Auch Mutter hatte ihren Pelz an. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben eine lange Hose an, die Trainingshose von meinem Bruder.

In Pillau kamen wir auf kleine Seesicherungsboote, dicht gedrängt. Mutter saß auf dem Schmalzeimer, ich mit einer jungen Frau zusammen auf meinen Koffern. Die Reisestrecke war Pillau—Stettin.

Wir waren sehr lange unterwegs. Gott sei Dank, wir kamen, trotz Fliegeralarm, heil in Stettin an. Ab hier ging es mit der Bahn quer durch Deutschland nach Chemnitz und weiter nach Lugau im Erzgebirge zu Tante Friedel und ihren Kindern. Das Ziel hatten wir uns schon zu Hause vorgenommen.



Die Bahnfahrt im Güterzug hat fast acht Tage gedauert. Wir hatten oft Fliegerbeschuß, mussten dann ganz schnell aus dem Zug heraus, uns in Büschen und Gräben verstecken. Wenn die Gefahr vorbei war, pfiff der Zug — alles rannte wieder zum Zug — und weiter ging es.

Des Nachts standen alle Räder still. Mich wunderte es nur, dass wir immer wieder unseren wertvollen Schmalzeimer und den Speckkoffer vorfanden.

Aber wieder „Gott sei Dank..."! Es ging alles gut — und dann standen wir vor der Tür von Tante Friedel, es war früh an einem Morgen. Müde, dreckig, hungrig, alles verloren, ohne unseren Vater. Es war ein trauriges Wiedersehen.

Allmählich lebten wir uns ein; trotz der großen Flüchtlingszahl — und der sehr knappen Verpflegung auf Lebensmittelkarten, obwohl wir immer noch etwas aus unserem Mitbringsel zuzusetzen hatten.

Es gab keinen Fliegeralarm, dafür sehr viele Russen als Besatzung; man ging ihnen aus dem Wege und so blieb man ungeschoren! So konnten wir wenigstens in der uns zugewiesenen Bodenkammer lange und ruhig schlafen, um vielleicht eine Mahlzeit einzusparen; denn unsere Vorräte wurden immer weniger. Dazu kam das bange Warten auf Nachricht von meinem lieben Gerhard, meinem Vater, meinem Bruder, meinem Schwager, dem Mann meiner lieben Schwester.


7. Der 8. Mai 1945

Und dann kam der große Tag — 8. Mai 1945, „Tag der Kapitulation". Meine Mutter und ich standen draußen am Hofzaun, schauten ins weite Land und weinten, weinten. Wir hatten Heimweh nach unserem Ostpreußen und Sehnsucht nach unseren Lieben. Ob sie noch am Leben waren? Dazu die bange Frage, was sollen wir kochen, wieder eine Wassersuppe von Rübenblättern, die wir von den Feldern stibitzten, oder vielleicht lieber „Spinat von Brennnesseln" mit nichts drin?

So verging die Zeit... Mai und Juni war auch fast vorbei — und dann kam sie, die lang ersehnte Nachricht von meinem lieben Mann, Eurem Opa! Den Brief mit der vertrauten Schrift hielt ich lange in den Händen. Ich wagte ihn kaum zu öffnen, ging nach draußen, setzte mich in eine stille Wiesenecke und habe den Brief geöffnet! „Mollhagen bei Trittau in Holstein", stand neben dem Datum. Er schrieb mir, dass er gesund den furchtbaren Krieg überstanden habe und dass er beim Engländer auf einer Entlassungsstelle arbeite. Er hoffe nur, dass ich mit meinem Lieben alles gut überstanden hätte und dass wir uns recht bald in Mollhagen wiedersehen mögen. Tante Friedels Anschrift aus Lugau hatte er nach unserer Abreise aus Königsberg zufällig in der unbewohnten Wohnung gefunden! „Glück muss der Mensch haben!"

Ich fuhr dann sofort zu Eurem Opa. Ab Chemnitz nach Hamburg im offenen Güterzug. Es war Sommer, die Sonne schien und uns stand das Wiedersehen bevor! In Trittau (Schleswig-Holstein) trafen wir uns. Ein halbes Jahr ohne Nachricht waren wir; und ich war so schüchtern ihm gegenüber — er aber auch!

Es gab kein jauchzendes Wiedersehen; sondern leise weinend lagen wir uns in den Armen. Dann ging es mit einem Dienstwagen nach Mollhagen, unserer Unterkunft. Es war ein großer Bauernhof mit einem schönen geräumigen Wohnhaus. Über die Diele gelangte man zur Treppe nach oben in unser Zimmer.

Es war klein und ärmlich möbliert. Ein breites Bett mit einer Strohschütte, darüber eine alte Decke, ein gebrauchtes Kopfkissen und eine zweite Decke zum Zudecken (ohne Bettwäsche!). Dann ein winziger Tisch und zwei verdreckte Gartenstühle, eine Kochhexe und ein Brett als Ablage für einen Eimer, einen alten Kochtopf, zwei Teller, zwei Löffel, zwei Gabeln und Messer und zwei Becher! „Na, gode Morje — ös dat alles?" sagte wütend Euer Opa! Aber zwischen den zwei Fenstern hing ein riesiger Wandspiegel von der Decke bis zum Erdboden!

Die Wirtsleute verhielten sich sehr reserviert — wir aber auch! Wir waren ja Flüchtlinge aus Ostpreußen, die für den Krieg verantwortlich waren. „Vielleicht kommen DIE sogar aus Polen...", hieß es von unserem Gastgeber, dem Herrn ehem. „Ortsbauernführer"! Über unsere Schwelle kam der Bauer nie. Wenn er uns großzügig mal ein trocknes Brot zukommen ließ, riss er die Türe auf und warf es uns zu!!! Wir bedankten uns überschwänglich und lachten dabei! Das stand bei uns fest, unsere Bleibe war dort nur von kurzer Dauer! Wir waren glücklich, nachdem wir uns wieder aneinander gewöhnt hatten. Der Krieg war vorbei — wir waren jung und gesund und hatten die Zukunft, ganz gleich wie, vor uns! Über die erste Bettwäsche auf Bezugsschein haben wir uns riesig gefreut!

Ich betätigte ich mich jede Woche einmal beim Hausputz. Dann stand der Altbauer, ihr Vater, mit Spazierstock Schmiere, ob ich auch alles gut machte! Ich feudelte dann wie wild um ihn herum, und jedes Mal rief er: „Aufhören!


8. Neubeginn beim Zoll

In unserem gemeinsamen Leben ist aber alles gut gegangen. Mein Mann und ich hatten immer einen Schutzengel, und ich bin unserem Herrgott dankbar, dass wir fast 55 Ehejahre gemeinsam erleben durften. Nun hatte sich Euer Opa bei den örtlichen Behörden, die es noch gab, beworben.



Im Juni 1946 bekam er die Einberufung zum Zollgrenzschutz als Zoll Assistent nach Vennebrügge, Kr. Grafschaft Bentheim an der holländischen Grenze. Mit Dienstwohnung — was waren wir froh! Zwei Tage und eine Nacht waren wir von Trittau bis Neuenhaus, die letzte Bahnstation vor der Grenze, also Vennebrügge, unterwegs. Des Nachts standen alle Räder still.

Die letzten 12 km ging es per Anhalter — nur mit Pferdefuhrwerk — weiter! Die Welt war dort zu Ende und die Zeit wohl stehen geblieben! Es war ein winziges Grenzdorf mit drei holländischen Bauern (Kampherbeek, Stegink, Schulding – auf der deutschen Seite) einem Arbeitshaus, ein bewirtschaftetes Zollhaus, d.h. Zollamt für den kleinen Grenzverkehr, vor dem Krieg neu erbaut und von zwei Zollbeamten mit Familien bewohnt, ein altes ausgeräubertes Zollamt, das wieder später als Dienstwohnung in Stand gesetzt wurde. Ein Beamter wohnte dort schon und empfing uns und hat uns in unsere Wohnung eingewiesen. Da die drei Bauern aus Holland stammten, brauchten sie keine Flüchtlinge aufnehmen.


9. Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Stall — und Plumpsklo

Wir fingen an mit einem selbst gestopften Strohsack, einem Tisch aus alten Dielenbrettern, mit zwei Stühlen ohne Sitze, einer kleinen Hängelampe mit Petroleum. Keinen Herd, nur mit einem Kanonenofen und einem Kochgeschirr wurde gekocht! Das war unser neues Leben in unserer neuen Wohnung.

Sie hatte drei Zimmer, eine geräumige Küche und Stallungen für Schwein und Hühner und ein Plumpsklo! Ein Garten für Gemüse gehörte auch dazu. Aber keine Türen, kaum Fensterscheiben, kein Strom, kein Wasser, weder Herd noch Ofen, natürlich hatten wir auch keine Möbel! Aber zwei frischgestopfte Strohsäcke lagen für uns bereit. Euer Opa hatte zwei Decken und seinen dicken Wehrmachtsmantel aus dem Krieg mitgebracht. Dazu noch zwei Paar Knobelbecher, meine waren in der kleinen Größe, aber zu groß — also wir haben sie in der kalten Jahreszeit getragen. Das war der Anfang unseres gemeinsamen Lebens.

Der Pole war dort Besatzungsmacht und hat bei seinem Abzug alles „kurz und klein geschlagen", hieß es.

Der folgende Text wurde eingefügt:

Die polnische Besatzungszone war von 1945 bis 1948 ein Sondergebiet innerhalb der britischen Besatzungszone im Nachkriegsdeutschland und befand sich im mittleren nördlichen Gebiet des heutigen Landkreises Emsland sowie in der Gegend von Oldenburg und Leer. Sie grenzte an die Niederlande und umfasste ein Gebiet von 6470 km². Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannt. Weitere Orte, die von der deutschen Bevölkerung geräumt werden mussten, waren Teile von Papenburg und Friesoythe (der Ortsteil Neuvrees wurde in Kacperkowo umbenannt und weist aus dieser Zeit noch heute eine so genannte „Polenkirche“ auf). Das Straßendorf Völlen wurde nicht evakuiert. Hier erfolgte die Trennung der Bevölkerungsgruppen entlang der Straßenmitte: die deutschstämmige Einwohnerschaft wurde auf der östlichen Straßenseite konzentriert, während in die leer geräumten Häuser auf der westlichen Straßenseite Polen einzogen.

Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannte Besatzungszone.

Die neue polnischstämmige Bevölkerung setzte sich zusammen aus etwa 30.000 Displaced Persons, vor allem ehemaligen Häftlingen der Emslandlager – zu diesen gehörten auch Angehörige des Warschauer Aufstandes vom August 1944 – und 18.000 polnischen Soldaten.

Da die überwiegende Zahl aus den damaligen polnischen Woiwodschaften Lwów und Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, kamen, wurde die Stadt Haren zuerst in Lwów umbenannt. Die wichtigsten Straßen der Stadt erhielten polnische Namen dieser Orte. Bereits nach einem Monat wurde auf sowjetischen Druck der Name am 24. Juni 1945 erneut geändert.

Die Stadt wurde nunmehr nach dem polnischen General Maczek benannt, der mit seiner 1. Panzerdivision die umliegenden Gefangenenlager befreit hatte. Da sich ein großer Teil der in deutschen Lagern internierten polnischen Intelligenz hierauf in Maczków niederließ, entwickelte sich der Ort sehr dynamisch zum Zentrum des polnischen Verwaltungsgebietes, hinter dem die antikommunistische polnische Exilregierung stand.

Die polnische Exilregierung soll sogar darüber nachgedacht haben, die Enklave auf bis zu 200.000 Polen aufzubauen, um so indirekt Druck für freie Wahlen in Polen ausüben zu können. Die durch die polnische Exilregierung verwaltete polnische Besatzungszone im Emsland war für die Sowjetunion nicht tolerierbar. Deshalb verlangte die Sowjetunion von den britischen Behörden, die polnische Zone aufzulösen.“

Quelle: Polnische Besatzungszone – Wikipedia



In den 15 Emslandlagern der Nazis mußten die Häftlinge unter KZ-Bedingungen schwerste Moorarbeiten leisten. Displaced Persons „heimatlosen Ausländern“ wurden u.a. im Dorf Neuvrees, ein heutiger Stadtteil der Gemeinde Friesoythe - umbenannt in Kacperkowo, kurzfristig nach 1945 angesiedelt. Dort wurde 1945 sogar eine neue Kirche von Displaced Persons gebaut. Der polnischen Historiker Rydel hat als Erster die militärgeschichtlichen Quellen aufgearbeitet und den verwickelten politischen Entscheidungsprozess nachgezeichnet, der zu der Einrichtung einer polnischen Enklave im Emsland innerhalb der britischen Besatzungszone führte (Jan Rydel, Die polnische Besatzung im Emsland, fibre Verlag, Osnabrück 2003).

Hildegard Kiehl berichtet weiter:

In Vennebrügge kam aber alles wieder zurecht, Türen und Fenster zuallererst. Zwei eiserne Bettgestelle ohne Rahmen (da kamen einfach Dielenbretter aus dem alten Zollhaus hinein!), dann zwei neue Stühle, auch ohne Sitze, ein Herd und ein Kanonenofen ohne Rohre! Im nahen Wald lagen genug leere Konservenbüchsen, das wurden die Ofenrohre; die wahnsinnig räucherten! Machte nichts, wir waren glücklich in unserer Wohnung!

Euer Opa hat dann aus Dielenbrettern einen Tisch und ein kleines Regal gezimmert. Strom hatten wir immer noch nicht. Aber wir bekamen eine kleine Petroleum-Wandlampe von einer lieben Einheimischen geschenkt. Sie (die Lampe) war unser kostbarstes Stück, ohne Zylinder! Zwei große leere Benzinkanister aus dem Wald hat Euer Opa zu Wasserbehältern umgebaut, das Wasser mussten wir von den Bauern schleppen! Auch Waschbehälter entstanden daraus. Die Tage vergingen sehr schnell; denn wir hatten immer eine Beschäftigung. Ich half den Bauern viel auf den Feldern, gegen Naturalien. Wenn Euer Opa Zeit hatte, gingen wir gemeinsam hin, pro Tag gab es für beide 1 Zentner Kartoffeln, auch in der Getreideernte waren wir dabei.

Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!


10. „Nich griene, mien Marjellke, wie schaffe et!"

Inzwischen ist es Herbst geworden. Euer Opa und ich haben im nahen Moor Topf gestochen; denn wir brauchten ja Brennmaterial, und der Winter stand bevor. An Kohlen war nicht zu denken! Acht Kilometer war es bis zum Moor, wir hatten nur ein Fahrrad, das Dienstrad! Es war unser einziges Verkehrsmittel „die Fietz", hieß es holländisch! Das Fahren auf dem nur „einem Rad" ging für zwei Personen immer nur abwechselnd; fahren, überholen, abstellen — zu Fuß weiter, bis man wieder zum abgestellten Rad gelangte. Viel später gab es aber dann ein Damenfahrrad und ein Moped. Darauf bin ich, Eure Oma, mit Eurem noch „kleinen Papa" wie die Feuerwehr auf den schlimmen, ausgefahrenen Straßen, wo nur ein schmaler Pfad für „Fietsen" war, entlang gebraust! Es ging aber immer alles gut.

Große Achtung hatten wir vor der nahen „Holländischen Grenzbevölkerung". Auch sie waren nur auf ihre Fahrräder angewiesen, ob Jung oder Alt, alle kamen sie am Sonntagmorgen an uns vorbei, die älteren Frauen in langen Röcken — eine Halbschürze davor, Bluse und Jacke und eine Haube gehörte dazu, an den Füßen hatten sie holländische Botten aus Holz an. Wenn's regnete, hatten sie in einer Hand noch einen Regenschirm aufgespannt! Sie fuhren in eine bestimmte Kirche – die altreformierte Kirche in Uelsen.

Der folgende Text wurde eingefügt: “

Die Evangelisch-altreformierten Gemeinden entstanden ab 1838 in der Grafschaft Bentheim und ab 1854 in Ostfriesland aus den dortigen reformierten Gemeinden. Grund waren die liberalen Strömungen in der Theologie der reformierten Gemeinden, denen sich viele Gemeindeglieder widersetzten und sich daher von ihren Gemeinden absonderten. Den Anfang machte die niederländische Gemeinde Ulrum in Groningen, die sich von der reformierten Kirche am 13. Oktober 1834 trennte. Ihr Pastor Hendrik de Cock wurde zur Leitfigur, der in Ostfriesland und der Grafschaft Bentheim nach ihm benannten, „kokschen“ Abscheidungsbewegung (niederländisch Afscheiding). Betont werden die Mündigkeit und Überschaubarkeit der Ortsgemeinde, die vom Kirchenrat geleitet wird. Jeder Haushalt wird alle ein bis zwei Jahre von zwei Vertretern des Kirchenrates besucht. Die Gemeindekirche lebt vom Engagement ihrer zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter. Missionarisch steht die altreformierte Kirche mit Gemeinden in Asien in enger Verbindung, insbesondere in Indonesien und Bangladesch. 2004 kam es als Abschluss des sogenannten „Samen op weg (Gemeinsam auf dem Weg)“-Prozesses zur Wiedervereinigung mit der Niederländisch-reformierten Kirche zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden.”

Quellen: https://www.altreformiert-uelsen.de/ https://de.wikipedia.org/wiki/Protestantische_Kirche_in_den_Niederlanden https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrik_de_Cock


Wir hatten als junge Zöllnerfamilie in Vennebrügge an allem großen Spaß, es war ein einfaches, aber schönes Leben für uns — noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Gehalt — anfangs nur 160,85 Reichsmark, es gab noch immer fast nichts zu kaufen; alles nur auf Bezugsscheine, die kaum zu haben waren.



Dazu die Sorgen um meinen Vater und meinen Bruder. Beide galten als vermisst. Ob sie noch lebten? Meine Mutti war noch im Erzgebirge, bei Tante Friedel. Zwar hatten wir für Vater und Bruder Suchmeldungen an das „Rote Kreuz" nach Hamburg geschickt — aber alles vergebens.

Inzwischen war der November des Jahres 1947 vorbei. Die Tage waren auch dort dunkel und regnerisch. Ich strickte für die Bauern Strümpfe, Pullover, Schals für wenige Lebensmittel, sie waren geizig. Euer Opa machte den Grenzdienst bei Wind und Wetter!

Und eines Tages, Anfang Dezember 1947 kam über das „Rote Kreuz" Nachricht von meinem Vater — und auch zugleich über Onkel Erich, beide lebten! Vater war in einem Ort bei Walsrode. Mein Bruder in Lübeck in einem Lazarett als Sanitäter. Sofort fuhr ich zu Vater, der bei einem Bauern lebte. Wieder war die Fahrt beschwerlich; aber ich bin dort gut angekommen.



Angekommen fragte ich mich erstmal nach dem Bauern durch. Auf mein Klopfen an die Küchentüre trat ich ein und sah vor mir eine lange vollbesetzte Tafel, es war Mittagszeit. Ich stellte mich vor und fragte nach meinem Vater — und sah ihn am unteren Ende des Tisches sitzen. Als er seinen Namen hörte schaute er auf — und wir lagen uns in den Armen. Vaters erste Frage war nach Mutter; auch sie lebte und wurde etwas später zu Vater nach Vethem gebracht, mein Bruder Erich siedelte aus Lübeck auch nach Vethem um. Unsere Lieben hatten ein wunderbares Leben bei Bauer „Heini" Lühmann. Ihm herzlichen Dank!

Ich war wieder wohlbehalten in Vennebrügge gelandet. Mein Gerhard, Euer Opa, konnte aus dienstlichen Gründen nicht zu uns kommen. So gab es viel zu berichten — und nun nahte schon Weihnachten; das Wiederfinden unserer beiden Lieben war schon „ein Geschenk vom lieben Gott!" Wir waren arm, schliefen immer noch auf einem Strohsack, und waren unsagbar froh und glücklich! Und nun stand das schönste Fest aller Feste, nämlich Weihnachten vor der Türe.


11. Weihnachtsbaum in der Konservendose

„Ohne Baum keine Weihnachten", meinte euer Opa. Also holte er einen kleinen Baum aus dem Wald. Er wurde in eine mit Erde gefüllte Konservendose gestellt. Ich schmückte ihn mit kleinen Äpfeln, die ich in flüssige Schlemmkreide getaucht hatte. Er sah prächtig aus in seinem einfachen Schmuck — ohne Kerzen und Lametta. Es war unser erster Weihnachtsbaum in unserem gemeinsamen Leben!

Am Heiligen Abend saßen wir dann auf unseren zwei Stühlen, schon mit richtigen Sitzen! Die brennende Petroleumlampe hing an der Wand. Im Herd knisterten die Dannäpfel, die Herdtür stand offen und beleuchtete unseren Naturweihnachtsbaum. Ein Lied kam aber nicht über unsere Lippen, es fiel uns schwer – das Singen.

Wir gingen unseren Gedanken nach — jeder für sich. Der schreckliche Krieg war vorbei, wir waren gesund geblieben und hatten uns wieder! Ich bekam aber doch nasse Augen. Euer Opa nahm mich in den Arm und sagte in seiner ruhigen Art zu mir: „Nich griene —mien Marjellke — wie schaffe et!"...Und wir haben es geschafft!

Die Zeit lief so langsam dahin. Noch immer hatten wir keine Möbel, wenig Geld, ein knappes Gehalt von 160,85 Reichsmark. Es gab fast nichts zu kaufen, doch zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf hatten wir ja — das war das Wichtigste!

Bis dann am 20. Juni 1948 die große Wende eintrat. Die neue Währung war da! Die „Deutsche Mark" löste die alte Reichsmark ab. Pro Person gab es 40.- DM Kopfgeld. Die Spareinlagen betrugen für 10.- Reichsmark 1.- DM. Wir hatten keine Spareinlagen — also hatten wir auch keine DM-Gutschrift. Aber der Lebensstandard raste in die Höhe. Es gab mit einem Male alles zu kaufen, was das Herz begehrte. Lebensmittelkarten und Bezugsscheine verschwanden. Ein Lebensmittelhändler kam einmal wöchentlich mit seinem vollen Auto vor unsere Haustür. Endlich gab es mal wieder Schokolade!

Ja — und langsam konnten wir uns auch Möbel kaufen — auf Kredit, gefiel Eurem Opa gar nicht, aber wir haben es geschafft! Es war ein Freudentag, als zuerst die Küche dran war: Dann das Schlafzimmer, dann das Wohnzimmer, zuletzt das Kinderzimmer! Wir schwebten auf „rosa Wolken".

Leider verstarb mein lieber Vater, Euer Uropa Ferdinand Tuttlies 01.08.1949 in Vethem. Eure Uroma, meine Mutter haben wir dann von Vetem zu uns geholt. Berta Tuttlies starb am 03.07.1968 in Hamburg. Wir hatten ein schönes, ruhiges Leben an der holländischen Grenze. Gemeinsam mit den wenigen holländischen Einwohnern, ihnen halfen wir immer noch bei der schweren Feldarbeit gegen Naturalien; denn Arbeiter waren knapp und wir hatten ja noch „Franz" (unser liebes Schwein) und unsere Hühner zu versorgen.

Wir Zöllner gehörten zur Dorfgemeinschaft. Wenn eine Familienfeier bei den Holländern war, gehörten auch wir alle dazu, wurde ein „Söpken" (klarer Schnaps) ausgeschenkt, es ging der Bauer oder sein Sohn mit der vollen „Schnapsflasche" und nur einem „Schnapsglas" von einem zum anderen.

12. Zwei Enkel und die Heimatgruppe Insterburg füllen mein Leben aus

Foto: Klaus mit Fahrrad, Quelle: privat

Euer Papa Klaus kam im April 1949 angerauscht. Zur Entbindung ging es vier Stunden per Pferdewagen über holprige Landstraßen ins Krankenhaus nach Hilten. Klaus wurde dann später in Wielen, 4 km entfernt, eingeschult. Zuerst musste er aber lernen Fahrrad zu fahren, denn für den Schulweg er war auf seinen Drahtesel angewiesen!

Der folgende Text wurde eingefügt:

Es war eine einklassige Dorfschule mit 24 Schülern, darunter knapp die Hälfte Zoll- und Flüchtlingskinder. Bei schlechtem Wetter, wie Schneefall im Winter, konnten die Kinder warten, bis sich das Wetter beruhigt hatte. Die kleineren Kinder bekamen dann zum Mittag in der Lehrerwohnung eine Suppe, die größeren im Klassenraum eine Stulle Brot. Vorher mussten aber immer noch längere Bibeltexte angehört werden. Der Landkreis Grafschaft Bentheim war und ist ein Zentrum der (Alt)reformierten Christen in Deutschland.

Während der Zeit des Nationalsozialismus stand die übergroße Mehrheit der Altreformierten im Bentheimer Land, ihrer Hochburg, als ehemalige Wähler des streng protestantischen Christlich-Sozialen Volksdienstes (CSVD) aber in Opposition zum Regime. Quelle: Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen – Wikipedia

Bei der Reichstagswahl von 1930 gewann die betont evangelische Partei die CSVD besonders viele Stimmen in Regionen, welche durch eine starke pietistische oder freikirchliche Tradition geprägt waren, so in ländlichen Teilen Ostpreußens, in Ostwestfalen, Württemberg, Baden, Hessen-Nassau, im Siegerland und Wittgenstein, wo die antisemitische Ausrichtung nach wie vor zum Wesen der hier als „Evangelischer Volksdienst“ (EVD) auftretenden Partei gehörte, in der Grafschaft Bentheim und dem westlichen Ostfriesland sowie um Düsseldorf. Sie war mit 14 Abgeordneten im Reichstag vertreten, die in der Regel den Zentrums-Reichskanzler Heinrich Brüning unterstützten. Quelle: Christlich-Sozialer Volksdienst – Wikipedia

Die Schulen in der Grafschaft Bentheim waren nach dem 2. Weltkrieg nach dem Mehrheitswillen der Eltern wieder wie vorher zu Bekenntnisschulen geworden, auch um den "Flüchtlings-Religionen vorzubeugen". Die Region um Uelsen mit dem Kirchspiel Uelsen als zentraler Punkt war und ist vornehmlich evangelisch-(alt) reformiert geprägt. Im 19. Jahrhundert entstand die (alt)reformierte Kirche, mit Beendigung des zweiten Weltkrieges ließen sich auch Lutheraner und Katholiken hier als Flüchtlinge nieder. 1960 gab es in Uelsen und Umgebung 6.500 Evangelisch Reformierte, 700 Evangelisch Alt Reformierte, 900 Lutheraner und 630 Katholiken als eingetragene Gemeindemitglieder.

Lehrer Lindner erhielt in der Nachkriegszeit die Nahrungsmittel für die Schulkinder vom Heide Gut Springorum in Wielen, dass direkt nebenan lag und eine große Gutsküche hatte. Das Gut, mit ursprünglich 421 ha Heide, war 1921 von der rheinischen Industriellen Familie Springorum dank großzügiger Subventionen als Versuchsgut zur Pflanzenaufzucht auf trockenen Heideböden angelegt worden. Auf dem Gut waren nach dem 2. Weltkrieg viele Flüchtlinge untergebracht. Die Kinder der drei Dorfbauern von Vennebrügge gingen in Holland zur Schule. Da diese Dorfbauern deutsche und holländische Pässe besaßen, brauchten sie keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Hälfte der rund 600 Einwohner Wielens besitzt 2020 die niederländische Staatsangehörigkeit. Es bestehen enge Wechselbeziehungen, vor allem familiärer Art, über die Grenze hinweg. Mehrere Gemeindewege führen über die „grüne Grenze“. Im Jahre 2023 stehen Gutshaus Springorum mit 1.223 qm Wohnfläche und der Park mit 30.000 qm zum Verkauf.


Hildegard Kiehl fährt fort:

Euer Opa wurde 1956 für kurze Zeit nach Nordhorn versetzt. Und dann ging er 1958 nach Hamburg ins „Hauptzollamt-Oberelbe", zuletzt war er dort Zoll-Amtsrat.

Wir bekamen eine Wohnung in der Eduardstraße in Hamburg Eimsbüttel, in der ich bis heute lebe. Bisher krame ich aber immer noch gerne in meinem alten Kopf nach Erinnerungen von zu Hause. Der Pflegedienst kommt auch regelmäßig, und sieht nach, ob ich noch alles richtig mache.

Foto: Hildegard und Gerhard Kiehl, Goldene Hochzeit 1993 in Hamburg, Quelle: privat

Das war mein Leben in kurzen Zügen. Inzwischen bin ich 100 Jahre jung geworden! Mein Gerhard, unser lieber Opa, ruht nun schon fast 22 Jahre. Ich fühle mich aber nicht einsam, denn ich habe ja Euch, Ihr Lieben, zwei an der Zahl. Ihr füllt mein Leben aus. Sehr viel gibt mir auch meine „Insterburger Heimatgruppe".

Hildegard Kiehl hatte nach der Flucht viel von zu Hause aufgeschrieben, in Hamburger Bibliotheken gestöbert, Verwandte und Bekannte ausgefragt und ist in ihre alte Heimat gefahren. Sie hat sich für die Heimatliteratur und Zeitschriften interessiert und begrenzt Fachbücher und graue Literatur erworben. Sie hat in Heimatzeitschriften kleine Artikel veröffentlicht und hat in ihrer Heimatgruppe viel berichtet. Sie hat "genealogisch geforscht" und hat die Ergebnisse in den "Tuttliesen Nachrichten 1 - 6" verteilt, die leider vergriffen sind. So hat sie alle damaligen deutschen Telefonbücher nach dem Namen Padefke (Mutter von Gerhard Kiehl) durchsucht und hat wochenlang zur Ahnenforschung im Preußischen Staatsarchive in Berlin und bei den Mormonen in Hamburg gearbeitet. Alle interessanten Funde wurden - soweit möglich - telefonisch oder schriftlich befragt. Etwa ein Drittel hat auch geantwortet. Ihr Mann Gerhard Kiehl hat sie dabei tatkräftig unterstützt. Es entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Klaus-Peter Podewski, einem Mathematiker der Uni Hannover. Das Internet haben aber beide noch nicht benutzt. Ein Arbeitsergebnis der Familienforschung zu den Familien Padefke/Podewski, Stand 1986, kann per E-Mail von klaus-kiehl@t-online.de erbeten werden. Weitere genealogische Ergebnisse zu den Familien Tuttlies und Burba, Stand 2020, sind auch in GenWiki zu finden.

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies, * 21.03.1920 in Willschicken, +19.06.2021 in Hamburg, zuletzt Eduardstr 41 c, in 20257 Hamburg

Die Fotos, die Abbildungen und die markierten Textstellen wurden nachträglich von Klaus Kiehl eingefügt,

In der Hoffnung, dass alle Angaben und Quellen richtig eingeordnet sind,

sind Berichtigungen und neue Informationen herzlich willkommen.

Bitte senden Sie diese an die E-Mail-Adresse von Klaus Kiehl: klaus-kiehl@t-online.de

Zu den Quellen siehe auch den folgenden Text "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Text von Klaus Kiehl

Hamburg, 2023


"Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Text von Klaus Kiehl

Von der Größe und der Bodenqualität ihres Besitzes

1. Einleitung

2. Lage der Gemeinde Wilkental in Ostpreußen

3. Boden und Klima

Von der Natur ihrer Besitzrechte

4. Grundherrschaft und Gutsherrschaft

5. Gruppen der Landbevölkerung vor der Bauernbefreiung

Von ihrer persönlichen Rechtsstellung

6. Bauernbefreiung

7. Landarbeiter nach der Bauernbefreiung

Von den Konjunktur- und Krisenbewegungen der Agrarwirtschaft

8. Bevölkerungsentwicklung

9. Verschuldung

10. Folgen der Separation und Modernisierung der Landwirtschaft, der Infrastruktur und des Volksschulwesens

11. Aufgaben der Gemeindeverwaltung bis zum Nationalsozialismus: Gebietsgliederung, Landgemeindeordnung und Kommunalabgabengesetz

12. Aufgaben im Regierungsbezirk Gumbinnen: Polizei und Volksschulwesen

Von der politischen Entwicklung

13. Armee und Kaiserreich

14. Soldatengrab aus dem 1. Weltkrieg

15. Zwischenkriegszeit

16. Nationalsozialismus

17. Ausblick

Anlagen


1. Einleitung

Zum Versuch die Lage der ländlichen Bewohner von Willschicken in Ostpreußen zu beschreiben, gibt es folgende Vorbemerkungen:

Nach Hans-Ulrich Wehler hing die wirtschaftliche Lage der Bauern (in Ostpreußen) von fünf wichtigen Faktoren ab,

siehe die fette Zwischen-Überschriften (Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 1)

Diese fünf Faktoren sind im vorliegenden Text anhand der ausgewählten Gliederungspunkte 1 - 26

für Willschicken beschrieben worden. Dabei werden Lücken gerne in Kauf genommen.

Die Auswahl und Inhalte der Gliederungspunkte wurden von den erreichbaren Quellen und den vorhandenen Einsichten begleitet.

Sie sollen ein kleines Licht auf die vergangene ländliche Entwicklung in Ostpreußen und Willschicken werfen

und wovon zu Hause oft gesprochen wurden.

Die öffentlich zugänglichen Quellen sind z. T. im Text oder in der Anlage zu finden.


2. Lage der Gemeinde Wilkental in Ostpreußen

„Erste staatliche Strukturen für Ostpreußen schuf im Laufe des 13. Jahrhunderts die Erobe­rung des Landes durch den Deutschen Orden. Se­parate Territorien erhielten die Hochstifte und Domstifte (Samland, Ermland, Kulm, Pomesa­nien).

Das ermländische Territorium ging nach 1466/79 mit dem späteren Westpreußen einer engeren Anbindung an das Königreich Polen ein. Der größere Teil des späteren Ostpreußens mit Königsberg verblieb ab 1466 beim Deutschen Orden und wurde 1525 als Herzogtum Preußen der kirchlichen Verwaltung entzogen. Es blieb bis 1656/60 ein polnisches Lehen.

Durch die Selbstkrönung des Kurfürsten Friedrich III. zum König in Preußen im Jahr 1701 wurde aus dem Herzogtum das „Königreich Preußen". Nach der ersten Teilung Polens 1772 wurde eine neue Binnengrenze zwi­schen West- und Ost­preußen gezogen. Es kam zur Ausgliederung der Gebiete um Marienwerder und Elbing und Eingliederung des Ermlandes.

Ostpreußen wurde 1823/29−1878 gemeinsam mit Westpreußen als Provinz Preußen verwaltet. Die Provinz Ostpreußen wurde 1871 Teil des Deutschen Reiches.

Unter allen deutschen Ländern hatte Ostpreußen im Zweiten Weltkrieg die meisten Verluste erlitten: Von seinen fast 2,5 Mio. Einwohnern fielen 511.000 Menschen (darunter 311.000 Zivilisten) im Kampf, auf der Flucht, durch Verschleppung und Lagerinternierung sowie dem Hunger und der Kälte zum Opfer.

1945 wurde Ostpreu­ßen geteilt, der Süden kam unter polnische, der Norden unter sowjetische Verwaltung. Der Oblast Kaliningrad  (Kaliningradskaja oblast’) wurde Teil der RSFSR (nach 1991 Russische Föderation) mit der Hauptstadt Kaliningrad.

Das Memelland gelangte 1919−1923 un­ter der Völkerbund­verwaltung und 1923/24−1939 zu Litauen. 1990 wurde die Litauischen SSR zur Republik Litauen mit der Hauptstadt Vilnius.

Das südliche Ostpreußen deckt sich heute weitgehend mit der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren (poln. Województwo warmińsko-mazurskie) mit der Haupt­stadt Allenstein/Olsztyn.“

Quelle: (Ostpreußen (uni-oldenburg.de)

Die Gebietseinheiten, die die Lage von Willschicken ordneten, lassen sich kurz folgendermaßen beschreiben:

  • „Das Agrarland Ostpreußen lebte bis 1945 vom Export seiner landwirtschaftli­chen Produkte, hauptsächlich Getreide. Mit 36 998,75 Quadratkilometern war Ostpreußen die drittgrößte Provinz und wies mit 55,8 Einwohner pro Quadrat­kilometer die geringste Bevölkerungsdichte des Deutschen Reichs auf. Die deutsche Bevölkerung wuchs in Ostpreußen zwischen 1871 und 1933 von 1.822.000 auf 2.330.000 Millionen, d.h. um 28 %. Zwischen 1871 und 1933 verlor die Provinz zwei Drittel ihres Zuwachses an Wohnbevölkerung (einschließlich Polen und Litauer) insgesamt 920.000 Menschen durch Abwanderung. Quelle: Wirtschaft_und_Statistik-1939-13.pdf (statistischebibliothek.de)
  • „Preußisch-Litauen (im 20. Jahrhundert vereinzelt Deutsch Litau­en, litauisch: Mažoji Lietuva oder Prūsų Lietuva) bezeichnet den seit dem letz­ten Viertel des 15. Jahrhunderts neben Deutschen,  Prußen  und Ku­ren mehrheitlich von Litauern besiedelten Raum im Nordosten Preu­ßens (heute in etwa die östliche Hälfte des Oblast Kaliningrad, früher weitge­hend das Gebiet der Regierungsbezirk Gumbinnen)". Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette
  • "Der preußische Regierungsbezirk Gumbinnen lag im Nordosten Preußens. Er bestand von 1808 bis 1945 zunächst unter der Bezeichnung "Regierungsbezirk Litthauen zu Gumbinnen". Von 1824 bis 1878 bildete er den östlichsten Teil der Provinz Preußen, dann der Provinz Ostpreußen." Gumbinnen im Nordosten Ostpreußens war Verwaltungssitz für den Regierungsbezirk Gumbinnen, also den Ostteil der Provinz. Durch Kreis und Stadt verliefen die Preußische Ostbahn und die Reichsstraße 1 von Königsberg zur Reichsgrenze in Eydtkuhnen Quelle: Regierungsbezirk Gumbinnen – Wikipedia
  • "Der preußische Landkreis Insterburg war ein Landkreis in Ostpreußen und be­stand zwischen 1818 und 1945. Nach der 1902 erfolgten Erhebung der Stadt Insterburg zum Stadtkreis umfasste der Landkreis nur noch die Landgemein­den im Umkreis der Stadt." Quelle: Stadtkreis und Landkreis Insterburg – AG­OFF
  • "Am 01.01.1945 umfasste der Amtsbezirk Franzdorf die Gemeinden Bessen, Dröschdorf, Groß Franzdorf, Groß Warkau, Klein Schunkern, Lindenhöhe und Wilkental (7 Gemeinden). Er wird zuletzt verwaltet vom Amtsvorsteher in Klein Schunkern." Quelle: Amtsbezirk Franzdorf – GenWiki (genealogy.net)
  • „Das Dorf Aulowöhnen (Aulowönen) lag in ”Klein Litauen (Lithuania minor)" oder ”Preußisch Litauen”, dem nordöstlichen Teil des alten Ostpreußens. Seine Einwohner waren nach der Reformation überwie­gend evangelisch, eine eige­ne Kirche ist seit dem 17. Jahrhundert bekannt. Das nördlichste Kirchdorf des Kreises Insterburg , Aulowönen, erreichte man über GeorgenburgPagelienen, Reckeitschen und Mittel Warkau auf der Reichsstraße 137. Es lag unge­fähr 20 Kilometer von Insterburg entfernt. Ende der 1920iger Jahre wurden zwei selbständige, dicht an­einander grenzende Gemeinden Groß Aulowönen und Ußupönen, zu der Gemeinde Groß Aulowö­nen vereinigt, schließlich kamen auch noch 24 Bauernhöfe dazu, als das Rit­tergut Alt Lappönen, dessen letzter Besitzer Herr Ornhorst war, aufgesiedelt wurde. Vor der Vertreibung zählte Aulowönen über 1000 Einwohner.“ Quelle: Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)
  • Willschicken/Wilkental wird in GenWiki folgendermaßen beschrieben:
    • 1678 wird ein Waldwart in Wilpischen/Willschicken erwähnt. 1719 heiratet Christoph Pirage in Wilpischen/Willschicken. 1785 hat Wilschicken oder Wilpischen, ein Chatouldorf, 15 Feuerstellen und liegt im Landrätlichen Kreis Tapiau, Amt Lappönen. Patron von Wilpischen/Willschicken ist der in König. 1815 hat das Chatouldorf 4 Feuerstellen, 85 Bewohner. Es gehört bis 30.4.1815 zum Königsberger Departement dann wird es zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen.
    • Bis 1819 gehörte Willschicken als Schatulldorf zum Rittergut Alt Lappönen
    • 1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, sind 44 Analphabeten und sind 5 ortsabwesend.
    • 1905 sind von den Einwohnern 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben Deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch zusammen mit einer anderen Sprache an.
    • 1939 leben in Willschicken 127 Einwohner in 35 Haushalten auf 22 Höfen, davon sind 12 Einwohner unter 6 Jahren, 102 zwischen 14-65 Jahren und 23 Personen über 65 Jahren alt. Es werden folgende Erwerbstätige gezählt: 104 Personen in der Land- und Forstwirtschaft, 6 Personen in Handwerk und Industrie, ohne eigenen Beruf sind 36 Personen. Es gibt 35 mithelfende Familienmitglieder und 37 Arbeiter. Diese wohnen nicht alle in Willschicken. Quellen: Niekammers Güteradressbuch 1932, Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970, Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A



3. Boden und Klima

Die Landwirtschaft in Willschicken wird  physikalisch durch Boden und Klima geprägt. Boden und Klima setzen die Rahmenbedingungen für die Bevölkerungsentwicklung, Regulierung und Ablösung, Separation und Modernisierung und Gebietsgliederungen.

„Das Landschaftsbild des nördlichen Ostpreußens wird von leicht gewelltem Flachland mit Moränenhügeln, größtenteils versteppten Wiesen und Feldern sowie viel Wald bestimmt, der von breiten Flussniederungen und Moorgebieten unterbrochen wird. Größte Flüsse sind der Pregel und die Memel, weitere Flüsse sind die Łyna bzw. Lawa (Alle), die  Angrapa (Angerapp), die Krasnaja (Rominte) und die Dejma (Deime). Im Norden befindet sich – angrenzend an das Kurische Haff – die Elchniederung (Lossinaja Dolina) und das Große Moosbruch, eine Moorlandschaft, die zum Teil trockengelegt worden ist.

Der Boden bildete die Grundlage der Wirtschaft. 86,2 % waren landwirtschaftliche Nutzfläche (L.N.), davon 16,1 % schwere Ton- und Lehmböden, 52 % mittlere Böden, 23 % Sandböden und 5,1 % Moorböden

Große Teile des Bodens gehören zu den Bodenklassen 4 und 5. Als Rohstoffe sind Sand und Kies für das Bauwesen und Lehm interessant. Etwa 30 Prozent des Gebietes sind von Wäldern bedeckt.“

Quelle : Ostpreußen – Wikipedia


Als fruchtbar galten die Niederungsgebiete zwischen der Nogat und der Memel sowie ein Teil des Baltischen Landrückens, oft mit guten Lehmböden. Andere Gebiete besaßen mitunter nur dürftigen Sandboden. Das Bodenartendreieck ordnet die Bodenart im Landkreis Insterburg als Ton und tonhaltiger Lehm ein. Die Grund- und Endmoränenlandschaft im Landkreis Insterburg, sowie die Deck-Tone geben einen fruchtbaren, wenn auch oft schwer zu bearbeitenden Ackerboden. Aufgrund der Bodenbeschaffenheit musste, je nach Bodenart, im Landkreis Insterburg häufig zwei- oder vierspännig gepflügt werden. Die schweren Mähmaschinen bedurften immer mehrfacher Bespannung.

Nachteilig war das kühle Klima. Die Obstblüte begann meist erst Ende Mai, auch das Getreide war spät erntereif. Darum lohnte es sich nicht, zwischen der Ernte des Sommergetreides und der Aussaat des Wintergetreides noch eine Zwischenfrucht zu pflanzen. Haupterzeugnisse waren Roggen und Kartoffeln.

Nachdem Friedrich II. bereits 1745 ein Gesetz zum Anbau der Kartoffel erlas­sen hatte, demzufolge die Bauern zehn Prozent ihrer Ackerfläche mit Kartof­feln zu bepflanzen hatten, befahl er nochmals 1756 mit einer „Circular-Ordre“ und mit Nachdruck den Anbau der Kartoffel und verpflichtet die Behörden zu entsprechenden Kontrol­len.

Roggen war das Hauptprodukt der ostpreußischen Landwirtschaft. Vor dem 1. Weltkrieg galt Ostpreußen als die „Kornkammer des Deutschen Reiches“.

Der Winter in Ostpreußen war lang und schneereich. Er zwang die Menschen in der Landwirtschaft zu einer Ruhepause, die sie für viele andere Arbeiten, für gesellschaftliche, traditionelle und besinnliche Zusammenkünfte nutzten. Der Winter war die Zeit des Holzeinschlags, des Eissegelns und zahlreicher Bräuche, die sich bis ins 20. Jahrhundert erhalten haben. Das raue Klima mit seinen durchschnittlichen 173 Frosttagen im Jahr beschränkte die Vegetationszeit auf sechs bis sieben Monate und stellte die Landwirtschaft in Ostpreußen vor große Probleme. Die Heizungsperiode betrug im Durchschnitt sieben Monate. Die Häuser erforderten dickere Mauern, stabile Dächer und Doppelfenster. Im Winter war in Ostpreußen der Pelz eine normale Arbeitskleidung. Großen Schaden nahmen die Obstpflanzungen während des sehr strengen Winters 1928/29. Bis zu 75 % der Obstbäume fielen dem sehr strengen Frost von über 30 Grad Celsius zum Opfer. Bei den Tuttliesen mussten alle Obstbäume neu gepflanzt werden.


4.  Grundherrschaft und Gutsherrschaft

Um 1700 und 1800 überwog die Grundherrschaft westlich der Elbe, die Gutsherrschaft war überwiegend östlich der Elbe anzutreffen. Bei der Grundherrschaft fielen Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft häufig auseinander. „Der Gutsherrschaft dagegen gelang es Grund-, Leib und Gerichtsherrschaft dauerhaft zu kombinieren. Sie verband schließlich ein durchgreifende, durch Boden- und Personalrechte, Polizeigewalt und Patrimonialrechte abgestützte Herrschaft im Territorium des Gutsbezirks mit einer landwirtschaftlichen Betriebs- und Arbeitsorganisation, die auf den Zwangsdienst abhängiger Arbeitskräfte beruhte.

Im Westen sah der Grundherr den Bauern als Steuerzahler und Renten Quelle im Osten sah der Gutsherr den Bauern als Arbeitskraft. Im Westen richteten sich die Grundherren auf die lokalen Märkte aus im Osten waren die Gutsherren überwiegend auf den Fernhandel mit Getreide fixiert. …  In Ostpreußen umfasste die landwirtschaftliche Produktion um 1800 etwa 53% Getreide, 23% andere pflanzliche Erzeugnisse und 24% Nutztiere. “  Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 1

Auf regionaler Ebene herrschte in Ostpreußen, unter dem Königshaus Preußens (1701 - 1918) , der Landadel. Der größte Teil der nicht adligen Bevölkerung lebte auf dem Lande und von der Arbeit in der Landwirtschaft. „Der grundbesitzende Adel hatte seine ökonomische und gesellschaftliche Basis in der ländlichen Herrenstellung. Trotz großer Flächen landesherrlichen Domänenbesitzes herrschte der Adel auf dem Lande. Das resultiert vor allem aus dem Obereigentum an Besitzerrechten, welches sich Ostpreußen bis zu 80 Prozent der Landbevölkerung erstreckte. Hier konnten die Adligen ihre Ansprüche auf Zinsgelder, Naturalabgaben und Dienstleistungen weiterhin geltend machen. Sie waren geleichzeitig Gerichtsherren, Träger der Polizeigewalt und auch Patronatsherren über Kirche und Schulen, Siegelführung, Jagdrecht, Brau- und Brandweinmonopol und weitere Bann und Zwangsrechte. Steuer- und Zollfreiheit sicherten dem Landadel kommerzielle Vorteile, auch gegenüber der städtischen Kaufmannschaft."

Das Rechtsinstitut der Gutsherrschaft überließ dem Landadel die gesamte untere Zivilverwaltung (Vogteiverfassung: 2.2 Verfassung und Verwaltung – Die Hohenzollern und ihr Werk (die-hohenzollern-und-ihr-werk.de),  Militärverwaltung (Kantonreglement) und Rechtsprechung (Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten – Wikipedia)


5.  Gruppen der Landbevölkerung vor der "Bauernbefreiung"

Die bäuerliche Bevölkerung in Preußisch-Litauen lässt sich im Rahmen der „Bauernbefreiung“ in Preußen (1799-1850) nach Erwin Spehr grob in folgende Gruppen einteilen: Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (ge-nealogy.net)

Das folgende Ornigramm zeigt die Verteilung und Qualität des Grundbesitzes im 18. Jahrhundert im Königreich Preußen: (Zeitemphyteuten waren Mennnoniten-Höfe Westpreußen, Regierungsbezirk Marienwerder, Landzählung der Zeitemphyteuten, 1824 – Mennonitica (mennonitegenealogy.com))

Abbildung: Bauerngruppen, Quelle: Dietrich Flade, Verwaltungsmaßnahmen und deren Auswirkungen im 18. Jahrhundert auf das Leben der „Unterthanen in Preußisch Litthauen“ in: Annaberger Annalen 22/2014

Auf vier dieser (Voll) Bauern-Gruppen soll näher eingegangen werden:

„Die Kölmer standen in der sozialen Rangordnung der Landbewohner an der Spitze. Sie besaßen großen Grundstücke als freies Eigentum zu besonderen (kulmischen) Rechten, die sie meist schon während der Ordens- und Herzogenzeit erhalten hatten. Diese privaten Gutsbesitzer (bis 1811 etwa10 % aller Güter) hatten außer der geringen Grundsteuer, dem königlichen Domänenamt gegenüber keinen weiteren Verpflichtungen. Sie waren auch private Gutsherren über ihr Gesinde (Eigenkätner, Losleute, Instleute). Um 1800 kamen auf 1000 ha Ackerland ca. 70 - 80 landwirtschaftliche Arbeitskräfte, abhängig von den Produkten.

Bei den Bauernhöfen der Amtsbauern, die nach der Großen Pest entstanden (1708 -1710) und dem Sieben-jährigen Krieg (1756-1763), mit meist einer Hufe (ca. 16 ha) Ackerland, konnte man nach dem "Wiederaufbau" drei Klassen unterscheiden. Sie waren in Teilen aber nur bis zum Ende der Bauernbefreiung 1850 von Bedeutung, in Einzelfällen wie der der Ablösungskassen sogar bis 1918.

Quelle: Kölmer – Wikipedia

Die erste Klasse: Die Minderheit (ca. 5 % im Kirchspiel Aulowöhnen), waren die Schatull- und Erbfrei-Bauern, sie hatten ihren Boden gekauft. Nach dem Frieden von Oliva (1660) begannen umfassenden Besiedelungsaktionen. Schatullgrundstücke entstanden durch Rodungen und Kultivierung von Wald und Ödland. Die Höfe wurde von der Domänenverwaltung in Form von Haufendörfern organisiert. Schatullkölmer oder Schatullbauern blieben scharwerksfrei und waren außer ihrem Grundzins nur gelegentlich zum Forstdienst verpflichtet waren. Neben Grundzins und Personensteuer hatten sie meist keine weiteren Abgaben zu entrichten. Die Zinserträge wurden nicht an die lokalen Ämtersondern direkt in die Schatulle des Königs abführte.

Diese Bauernstellen waren aber vermögenden Siedlern vorbehalten, da der Boden gekauft werden musste. Bewährte sich der Siedler, so erhielt er nach einigen Jahren seine „Berahmung“ – eine gerahmte Besitzerurkunde. Viele der Haufendörfer im Kirchspiel Aulowöhnen sind, wie Willschicken, auf diese Weise etwa von 1700 bis 1816 entstanden.

Quelle:  Schatulle (Grundbesitz) – Wikipedia

Die zweite Klasse waren Koloniebauern (ca.15% im Kirchspiel Aulowöhnen). Größere Siedlergruppen wie Salzburger (1732 etwa 16.000 Zuwandere), Hugenotten, Mennoniten, Schweizer Schotten, Pfälzer und Hessen hatten den Koloniestatus erhandelt. Auch sie erhielten wie Scharwerksbauern Land und Hof vom König kostenlos und hatten deshalb vielerlei Pflichten, jedoch vom Scharwerksdienst selbst waren sie befreit. Der spätere Regierungsbezirk Gumbinnen war ein bevorzugtes Siedlungsgebiet der Koloniebauern.

Quelle:  Protestantenvertreibung – Salzburgwiki (sn.at)

Die dritte Klasse: Die große Masse der Scharwerksbauern auch Domänenbauern oder Amtsbauern (ca. 80 % im Kirchspiel Aulowöhnen) aber war arm. Trotz hoher Kindersterblichkeit wuchsen durchschnittlich 6 Kinder zu billigen Arbeitskräften auf. Durch den „Wiederaufbau“ entstanden viele Sielungen neu oder es wurden verfallene Höfe besiedelt. Bis 1782 entstanden in den 28 Gemeinden des Kirchspiels Aulowönen etwa 50 (neue) Dörfer. Die Bauern waren erbuntertänig (Lasswirtschaft), d.h. sie unterlagen der Schollenpflicht (das Gut und der Hol konnte nicht eigenständig verlassen werden), sowie den Frondiensten und dem Gesindezwang.

Ein Scharwerker konnte nach Genehmigung durch den Gutsherrn seinen Hof mit den Pflichten und Rechten regulär vererben oder mit Genehmigung des Amtes gegen eine Abstandszahlung an einen anderen übergeben. Die Scharwerker waren nicht Eigentümer ihres Landes, sondern nur Besitzer - ein Besitzer mit "besseren" Rechten. Neben der Besitzer-Modus konnte der Scharwerksbauer das Land auch pachten - ein Pächter mit "schlechteren" Rechten.

Die Scharwerksbauern hatten bei der Neuansiedlung Ackerland, Wohnhaus, Wirtschaftsgebäude, Arbeitstiere, Nutzvieh, Hofgeräte und Saatgut vom Grundherrn kostenlos erhalten, d.h. durch das Domänenamt vom König – das ihnen gegenüber jedoch auch noch weiteren Verpflichtungen wie z. B. bei Alter, Krankheit und in der Bestattungsfürsorge mit Einträgen in den Kirchenbüchern bei Geburt, Heirat und Tod. Ein Scharwerksbauer mit besseren oder schlechteren Rechten konnte jederzeit bedingungslos gekündigt werden.

Die Scharwerker hatten neben der Zahlung des Grundzinses dem Amt gegenüber einer Vielzahl von eigenen Verpflichtungen. Die wichtigste war der Frondienst, d.h. die Mitbewirtschaftung der staatlichen Domänen mit den eigenen Arbeitstieren und Geräten, denn die staatlichen Güter hatten keine eigenen Landarbeiter. Die Beanspruchung lag im Mittel bei 80 - 85 Tage pro Jahr. Jeder Scharwerker musste durch den Gesindezwang für die Hausarbeit auf den Gütern eine Teilnahme durch Angehörige oder Nachbaren stellen (Frauen und Kinder, ab 14 Jahre), die auch untereinander gegen Geld ver- und geliehen werden konnten. Obwohl ab dem 9. März 1839 in Preußen die Kinderarbeit unter 14 Jahre ver­boten war, war sie bei den Landlosen aus purer Existenzsorge immer noch verbreitet und von den Gütern teilweise auch geduldet.

Insgesamt flossen so bis zu 40 % der bäuerlichen Bruttoproduktion dem Domänenamt zu.

Zu diesen drückenden Diensten oder Abgaben müssen noch die versteckten Leistungen hinzugerechnet werden. Herrschaftliche Monopolansprüche erstreckten sich z. B. auf die Kalkbrennerei oder die Ziegelerstellung. Der Mühlenbann gebot, alles Getreide beim Herrn mahlen zu lassen. Das Bier- und Brandweinmonopol verschaffte ihm ein lukratives Geschäft, das bereits ein Drittel der Gutserträge ausmachen konnte. Nicht selten ab es eine Backzwang und Vorverkaufsrechte, wenn bäuerliche Produkte zum Verkauf kamen.

Zu der von allen abhängigen Bauern geforderter Grundzins bis zu 40 % der Bruttoerträge kam noch in Kriegszeiten die Kontribution in Ostpreußen in Höhe von 3 -7 Taler je Hufe hinzu. Im Haushalt 1805/06 nahmen in Preußen die Kontributionen mit 5,6 Millionen Taler hinter dem Domäneneinnahmen mit 8,7 Millionen Taler, den zweiten Platz ein.

„ Kein Wunder, dass sich rund 80 % aller Bauern nur auf einem kärglichen Lebensniveau, ein wenig ober- oder auch unterhalb des Existenzminimums, das ohnehin niedrig nach zeitgenössischen Maßstäben angesetzt wird, behaupten konnten“   (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1)


6.  Bauernbefreiung

Als Preußische Reformen oder Stein-Hardenbergsche Reformen werden die in den Jahren 1807–1815 eingeleiteten Reformen bezeichnet, die die Grundlage für den Wandel Preußens vom absolutistischen Stände- und Agrarstaat zum aufgeklärten National- und Industriestaat schufen. Der Zusammenbruch Preußens 1806/1807 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt sowie dem Frieden von Tilsit zwang König Friedrich Wilhelm III. zu Reformen, die seine Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg als „Revolution von oben“ einleiteten. Die erste Säule der Erneuerungen bildeten die Befreiung der Bauern, die Gleichstellung der Bürger, die Selbstverwaltung der Städte durch gewählte Volksvertreter, die Neuordnung der Staatsverwaltung durch verantwortliche Fachminister, die Einführung der Gewerbefreiheit und die Gleichberechtigung der Juden. Quelle: Preußische Reformen – Wikipedia

Karl Freiherr von Stein, 1807, Quelle: Preußische Reformen – Wikipedia
Karl August von Hardenberg, 1806, Quelle: Preußische Reformen – Wikipedia

Das Lebensniveau der ländlichen Arbeitskräfte war in Ostpreuße über lange Zeiträume wirtschaftlich bedrückend. Die "Bauernbefreiung" bezeichnet die in Deutschland mehr als hundert Jahre dauernde Ablösung der persönlichen Verpflichtungen der Bauern gegenüber ihren Grund- und Gutsherren vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert. Der Begriff wurde 1887 vom Straßburger Volkswirt Georg Friedrich Knapp eingeführt. (Quelle: Georg Friedrich Knapp: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens). Andere Autoren sprechen von der Bauernverfolgung.

Die Bauernbefreiung lässt sich allgemein durch 5 Schritte beschreiben:

1. Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Domänenbauern, d.h. der Schollenpflicht, sowie den Frondiensten und dem Gesindezwang. (6.1)

2. Die Aufhebung - die Regulierung - der Dienste und Naturalleistungen der Domänenbauern für die Güter. Sie sind zukünftig mit Geld- oder Sachleistungen zu bezahlen. (6.2)

3. Die Verleihung - die Regulierung - des Eigentums an Boden, Gebäuden und Inventar an die Domänenbauern gegen Land- oder Geldleistungen. (6.3)

4. Die Auflösung der Allmenden und die Beseitigung der Gemengelage ("Separation") für Güter und Bauern. Die Zuteilung ist abhängig von der vorhandene Grundstücksgröße. (6.4)

5. Die Aufhebung der ständischen Patrimonialgerichtsbarkeit und der Polizeigewalt. Rückkehr in "alte Zeiten" (6.5)

Die Bauernbefreiung lässt sich zeitlich drei Stufen einteilen: 1799 - 1821, 1821-1850, 1850-1913

Abbildung: Postkarte und Porträt nach Piet Breugel: Die Kornernte 1565, Quelle: Bauernbefreiung 1848 - Wenn Roboter für andere schuften - Wiener Zeitung Online

6.1 Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Domänenbauern, d.h. der Schollenpflicht, sowie den Frondiensten und dem Gesindezwang.

  • Die erste Stufe reichte von 1799 bis 1821
  • In Preußen wurde 1799 die Leibeigenschaft der Domänenbauern im Rahmen der preußischen Agrarverfassung aufgehoben
  • das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 hob die Erbuntertänigkeit der Domänenbauern "Über den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Gebrauchs- und Grundeigentums sowie über die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner " auf. Das es nur allgemein gehalten war erarbeitet Albert Thaer bis 1811 die Ausführungsbestimmungen, in Form des Regulierungsediktes, da der Besitzer einer erbuntertänigen Bauernstelle zwar persönlich frei wurde, die auf seiner Stelle lastende Verpflichtung dem Gutsherren gegenüber aber weiterhin erfüllen musst

6.2 Die Aufhebung - die Regulierung - der Dienste und Naturalleistungen der Domänenbauern für die Güter.

Regulierungsedikt, Quelle: Oktoberedikt – Wikipedia
  • das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 sollte den Domänenbauern das Eigentum an den von ihnen bewirtschafteten Höfen übertragen werden. Zuvor war Ackerland, Wohnhaus, Wirtschaftsgebäude, Arbeitstiere, Nutzvieh, Hofgeräte und Saatgut das Grundherrn kostenlos zur Verfügung gestellt hatte, in Geldbeträgen zu bewerte
  • Die Regulierung von 1811 sah vor, dass der untertänige Bauer (Schatuller) für die Ablösung seiner Verpflichtungen ein Drittel seines Landes an den Gutsherrn abgab und dafür freier Eigentümer auf den restlichen zwei Dritteln wurde. Der Gutsherr musste z. B. sich künftig seine Gespanne und Lohnarbeiter selber halten und brauchte auch nicht mehr dem Bauern beim Bauen, bei einer Krankheit oder im Alter zu helfen. Wenn der Bauer (Schatuller) nicht Eigentümer, sondern Pächter gewesen war, so musste er die Hälfte seines Landes abgeben, um auf der anderen Hälfte Eigentümer zu werden. Die Landabgabe war auch (theoretisch) durch eine verzinsliche und lange laufend zu tilgende Grundrente zu ersetzen. Die Bauern konnten sich nur auf Antrag von bisheriger Abgabe und Frondiensten durch eine Zahlung an die "neuen" Gutsherrn (die früheren königlichen Domänen-Ämter) freikaufen. Dazu konnte der Gutsherr eine höhere als die regional gültige Normalentschädigung fordern, d.h. er durfte die Landabtretung oder den Marktpreis für die in eine jährlich zu zahlende Rentenschuld verwandelten Dienste oder Abgaben aus der Stellung des Stärkeren heraus aushandeln. Dies geschah im Rahmen der neuen General-Kommissionen zur Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, die in Zusammenarbeit mit den regionalen Regulierungskommission die Eigentumsverleihung (Regulation und Ablösung) vornahm (abgeschlossen um 1855). Da alle Bauern vom Kreditsystem der ritterlichen Landschaften bis 1850  ausgeschlossen waren, blieb den Spannfähigen in der Regel nur die Landabtretung - ihm blieb häufig nur unterwertiges Land übrig.
  • die Deklaration zum Regulierungsedikt (1816) grenzte die Zahl der möglichen Antragssteller deutlich ein. Sie regelte die Entschädigungen für die Gutsbesitzer - mit einem Drittel des Bodens, einem Drittel des Grundwertes in Barzahlung oder einem Drittel des jährlichen Gesamtertrages zu Lasten der Besitzer oder die Hälfte-Regel zu Lasten der Pächter. Besonders die Landüberlassung führte zu deutlichen Verschlechterungen der untertänigen Bauern, da Barzahlungen für die Bauern kaum möglich waren. Diese Regeln galt aber nur für die Minderheit nämlich die spannfähigen Bauern - geschätzte 20 % und nicht für die Mehrzahl der nicht spannfähigen Kleinbauern, deren Rechtsverhältnis bis 1850 unverändert blieben. Die Zahl der spannfähigen Bauern wurde aber nochmals eingeschränkt, nämlich auf die Bauern, die vor 1752 katastrierten Besitz aufwiesen, d.h. schon auf einer eigenen Stelle registriert waren. "Überdies unterlag die Regulierung nur solchen spannfähigen Stellen, für welche die Gutsherrschaft unter Besetzungszwang stand". Knapp schätzt die Zahl der Bauerstellen, die nicht besetzt waren auf 10%. Dieses Land konnte der Gutsbesitzer selbst einbeziehen. „Kein Zweifel, dass das „Reaktionsedikt“ von1816 die Position des Landadels nachhaltig verbesserte“ (Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 1)
  • 1821 war die erste Phase der Regulierung, für etwa 20 % der ehemaligen Scharwerksbauern abgeschlossen. Sie betraf die berechtigten grundherrlichen, erblichen und spannfähigen Domänenbauern mit katastriertem Besitz. Erst ab 1821 konnte diese Gruppe der ehemaligen Scharwerksbauern eine Geld-Ablösung beantragen. Die Reformen von 1799 bis 1821 betrafen nur diejenigen Bauern, die in einem gutsherrlichen Verhältnis standen. Nicht betroffen waren zunächst die mit einem besseren Besitzrecht ausgestatteten grundherrlichen Bauern. Diese Reformen galten zudem nur für das Preußen im Gebietsstand von 1807 nach dem Frieden von Tilsit.
  • Die zweite Stufe begann 1821 und reichte bis 1850. In ihre bestanden für die größte Bauerngruppe der Scharwerker die "alten Regeln" weiter. Wenn als unregulierbar eingestufte Bauernstellen nicht eingezogen wurden, erfolgte oft eine Zusammenlegung mit anderen Bauernstellen und nachfolgender Deklaration als Vorwerk. Vorwerke galten ebenfalls als nicht regulierbar. Die ehemaligen Bauernstelleninhaber wurden auf diesen Vorwerken dann in der Regel als angestellte Tagelöhner zur Arbeit eingesetzt. Generell erfolgte die Regulierung der Bauernstellen nicht automatisch, sondern musste von den Gutsherren oder den Bauern selbst beantragt werden. Wurden keine Regulierungsanträge gestellt blieben die bisherigen Verhältnisse bestehen. Daß kleine, nicht spannfähige Bauernstellen nicht der Regulierung unterlagen, war für die Gutsherren von großem Vorteil, denn auf diesen Stellen mussten statt der Spanndienste Handdienste geleistet werden und auf diese Handdienste wollten die Grundherren nicht auch noch verzichten.
  • Die dritte Stufe reichte real von 1850 bis 1913. Die endgültige Ablösung aller Dienste, Leistungen und Abgaben der Dienststelleninhaber, erfolgte erst 1850, also fast 30 Jahre später. Es sollte das formale Ende der "Bauerbefreiung" sein. Das „Gesetz betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse“, vom 2. März 1850, hob das Edikt von 1811 und die Deklaration von 1816 auf. Quelle: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV008342802/ft/bsb10553130?page=3
  • Im ersten Abschnitt des Gesetzes geht es um die Aufhebung der Berechtigung des Obereigentums der Lehensherren, Guts-, Grund- und Erbzinsherren. 14 weitere Aufhebungen der Berechtigungen der Lehensherren, Guts-, Grund- und Erbzinsherren folgen, wie z.B. die Aufhebung von Heimfallrechte für stellenlose Landstücke, Bepflanzung mit Maulbeerbäumen, Jagdrechten, Bewachung, Abgaben bei Taufen, Wegerechte, Leichen-, Hochzeiten-, Kindestaufen-, Doktor- ober Hebammenfuhren.
  • Der zweite Abschnitt des Gesetzes behandelt die Ablösung der Verpflichtungen, die sich aus den Reallasten zu Lasten der Domänenbauern ergeben. Die Reallast war das Recht des Gutsherrn auf seinem Grund "wiederkehrende Dienste" von den dort wirtschaftenden Domänenbauern zu verlangen. Alle bisherigen Verpflichtungen in Form von Diensten, Leistungen und Abgaben der Domänenbauern auf den Domänen wurden als ablösbar deklariert. Zuerst sollte dazu der Geldwert der abzulösen Reallasten festgestellt werden, bevor sie den Bauern in Rechnung gestellt werden konnten. Diese Reallasten beziehen sich im Gesetz vom 2.März 1850 auf die Titel II (Dienste), Titel III (Feste Abgaben in Körnern), Titel IV (Feste, nicht in Körnern bestehende Naturalabgaben), Titel V (Natural-Fruchtzehnt), Titel VI (Besitzveränderungs-Abgaben), Titel VII (Feste Geldabgaben), Titel VIII (Andere Abgaben und Leistungen) und Titel IX (Gegenleistungen). Titel X regelte die Abfindung der Berechtigten. Die Titel II bis V sind in der folgenden Tabelle aufgeführt.
  • Der Wert der entfallenen gutsherrlichen Berechtigungen sollte ermittelt und gegen den Wert der entfallenen bäuerlichen Verpflichtungen, d.h. der bäuerlichen Dienste, Leistungen und Abgaben gerechnet werden.


6.3 Die Verleihung - die Regulierung - des Eigentums an Boden, Gebäuden und Inventar an die Domänenbauern gegen Land- oder Geldleistungen.

Durch das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 sollte den Amtsbauern das Eigentum an den von ihnen bewirtschafteten Höfen übertragen werden. Die Amtsbauern, hatten als "Entschädigung" mit einem guten, erblichen Besitzrecht bis ein Drittel ihres Bodens, die mit einem nicht erblichen Besitzrecht bis zur Hälfte ihres Landes an den Gutsherrn abzutreten. Aber die nicht mehr geleisteten Dienste, das Inventar, das Vieh und die Gebäude stellte der Grundherr ihnen in Rechnung oder fordern (ab 1816) zusätzliche Landabtretungen. Die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion übernahm die finanzielle Organisation. Die Regulierungskommission übernahm die räumliche Organisation.

Die gesamte finanzielle Belastung der Scharwerksbauern war jetzt jährlich etwa zwei bis dreimal so hoch war wie vorher. Sie waren häufig nicht mehr in der Lage diese Zahlungen zu leisten, trotz der gesetzlichen Möglichkeit von 24-51-jähriger Rückzahlungsraten, je nach Zinssatz, so dass die Grundstücke vielfach an den Gutsherrn zurückfielen oder gepfändet wurden und von Ortsfremden wie vermögenden Landadligen und wohlhabende Stadtbürgern erworben wurden - häufig auch zur Spekulation.

  • Der dritte Abschnitt des Gesetzes regelte abschließend die Bedingungen für die Eigentumsübertragung der Bauernstellen, die bisher nicht als regulierungsfähig galten. Hierbei handelte es sich um die Bauernstellen, die nur zu Handdiensten verpflichtet oder nicht als Bauernstellen katastriert worden waren. Von der Regulierung ausgenommen wurden die Grundstücke, auf denen die Gebäude der Wirtschaftsbeamten, Dienstboten oder Tagelöhner standen. Das Recht der Eigentumsübertragung konnte nur von Grundeigentümern, nicht aber von Pächtern wahrgenommen werden. Hatte eine den Ablösungsgesetzen unterliegende Bauernstelle zum Zeitpunkt des Erlasses keinen Besitzer, verblieb das Eigentum an diesem Grundstück bei der Gutsherrschaft.
  • Neben dem Eigentumsübergang war jetzt auch die Ablösung der Reallasten möglich. Das größte Problem bei der Ablösung der Reallasten war aber die Ermittlung der geleisteten Dienste, Leistungen und Abgaben durch Geldbeträge. Dazu worden von den Behörden genaue Vorgaben erstellt. Veröffentlicht wurden diese von der Kommission ermittelten Normalmarktpreise für Dienste, Abgaben und Leistungen aller Kreise des Regierungsbezirkes Königsberg: Darin heißt es: „Nachdem in Gemäßheit der §§. 67-72. des Ablösungsgesetzes vom 2ten März c. die Feststellung der bei der Ablösung von Reallasten und bei gutsherrlich bäuerlichen Regulirungen zu beachtenden Normal-Preise und Normal-Markt-Orte, durch die von den Verpflichteten und Berechtigten erwählten Distrikts-Commissionen in sämmtlichen Kreisen des Regierungs-Bezirks erfolgt ist, werden die Resultate der von den Distrikts-Commissionen gefaßten, von dem Königl. Spruch-Kollegium für die landwirthschaftlichen Angelegenheiten des Regierungs-Bezirks Königsberg bestätigten Beschlüsse hiedurch zur Kenntniß gebracht“ (Amts-Blatt der Königl. Preuß. Regierung zu Königsberg 1850: 11) Das folgende Beispiel zeigt die ermittelten Geldbeträge. Veröffentlicht wurden die von der Kommission ermittelten Normalmarktpreise für Dienste, Abgaben und Leistungen aller 19 Kreise des Regierungsbezirkes Königsberg. Lediglich der Name "II. Kreis Fischhausen" wurde je nach Kreis in den Tabellen angepasst. Für die Regierungsbezirke Gumbinnen und Allenstein gab es ein entsprechendes Vorgehen.

Die folgenden Tabellen zeigt die ermittelten Geldbeträge. Veröffentlicht wurden die von der Kommission ermittelten Normalmarktpreise für Dienste, Leistungen und Abgaben aller 19 Kreise des Regierungsbezirkes Königsberg. Lediglich der Name "II. Kreis Fischhausen" wurde je nach Kreis in den Tabellen angepasst. Für die Regierungsbezirke Gumbinnen und Allenstein gab es ein entsprechendes Vorgehen.

Quelle: Der Wandel der sozialen Beziehungen zwischen Gutsherren, Instleuten, Bauern und unterbäuerlichen Schichten im Samland nach der „Bauernbefreiung“ Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. phil.) des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück vorgelegt von Martina Elisabeth Mettner aus Bremen

  • Die Abtretungen der Domänenbauern über Ein-Drittel oder die Hälfte ihres Landes konnten jetzt auch in Barleistungen umgewandelt werden. Dass die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft diese Summen ad hoc nicht aufzubringen imstande war, war vorherzusehen. Deshalb trat zeitgleich mit dem „Gesetz betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse“, dass „Gesetz über die Errichtung von Rentenbanken“ am 02. März 1850 in Kraft. In dem Paragraph 2 wird bestimmt, dass die „Ablösung durch die Rentenbanken erfolgt, sobald die Reallasten in feste Geldrenten verwandelt worden sind, dadurch, dass die Bank den Berechtigten gegen Überlassung der Geldrente für das zu deren Ablösung erforderliche Kapital durch zinstragende, allmählich zu amortisierende Schuldverschreibungen (Rentenbriefe) abfindet, die Rente aber alsdann von dem Verpflichteten so lange fortbezieht, als dies zur Zahlung der Zinsen und zur allmählichen Amortisation der Rentenbriefe erforderlich ist. Sobald diese Amortisation vollendet ist, hört die Verbindlichkeit des Belasteten zur Entrichtung der Rente ganz auf“. Mit diesem Erlass war die Gesetzgebung zur Ablösung der Dienste, Leistungen und Abgaben abgeschlossen. Quelle: http://opacplus.bsb-muenchen.de/title/BV008342802/ft/bsb10553130?page=3
  • Die jeweiligen Zahlungsverpflichteten und Zahlungsberechtigten mussten sich bei der Auseinandersetzung über die Art der Zahlung einigen, welche Einmalauszahlung oder als monatliche Rentenzahlung möglich war. Diese Barleitungen betrug das 25-fache des Jahresertrag in Form einer von 5 oder 7 % zu verzinsender Grundrente. Die Amortisationszahlungen dauerten im Extremfall bis zum 1.Weltkrieg und wurden durch die Rentenbank die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion ab dem 2. März 1850 vorfinanziert. Es fanden hier 25 152 rechtliche Auseinandersetzungen betreff der Ablösungen in Rentenform statt. Die meisten Anträge gingen zwischen 1852 und 1854 ein. Die letzten Renten an die Grundeigentümer liefen 1913 aus.
  • Die Ablösung und Regulierung des Grundbesitzes und der Reallast betraf etwa 80 % der ehemaligen Scharwerksbauern, das waren insgesamt auch 80 % der Bevölkerung der ostpreußischen Landwirtschaft. Die Mehrzahl Höfe blieben noch über den offiziellen Ablösungstermin 1850 hinaus, ihren Grundherren "informell" verpflichtet. Rechtsstreitigkeiten waren eher in der Minderzahl.
  • Neben der Abschaffung der Erbuntertänigkeit und der Reallast gab es für alle Domänenbauern auch die Ablösung des Zehnt (bezeichnet eine etwa zehnprozentige traditionelle Grundsteuer in Form von Geld oder Naturalien an den Grundherrn
  • Die Verbesserung der Rechte der Schatull- und Koloniebauern erfolgt stückweise bis 1850/1855, die der Nichtbauern die Eigenkäter, Losleute, Instleute und Saisonarbeiter sogar erst nach 1918.
  • Die Patrimonialgerichte umfassten die niedere Gerichtsbarkeit, also vor allem Eigentums-, Familien-, Erb- und Gutsrechte, Gesindeordnung und teilweise auch niederes Strafrecht (z. B. Beleidigungen, Raufereien) Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 hob Patrimonialgerichte für Deutschland endgültig auf.

Quelle: Bauernbefreiung – Wikipedia

Die Verbesserung der Rechte der Schatull- und Koloniebauern erfolgt stück­weise bis 1850/1855, die der Eigenkäter, Losleute, Instleute und Saisonar­bei­ter sogar erst bis 1918.

Knapp kritisierte an der Bauernbefreiung die zum Teil zwangsweise Landabtretungen der Bauern an die Güter und das sich verschlechternde wirtschaftliche Schicksal der Bauern und der landlosen Schichten (der Nichtbauern) in Preußen.

Obwohl die Reformer mit diesem Edikt hauptsächlich für mehr Freiheit für die Bauern sorgen wollten, vergrößerte sich in der Folgezeit die besitzlose ländliche Unterschicht. Letztlich profitierten der bäuerliche Mittelstand und bis zur Reichsgründung die Großgrundbesitzer und adligen Junker von der Reform, die auf diese Weise ihren Landbesitz mehren und modernisieren konnten. „Den Bauern die Freiheit uns das Land“

Aber auch nach der „Bauernbefreiung“ blieb die Lage angespannt. Der Regierungsbezirk Gumbinnen hatte die größten Bevölkerungsverluste. Selbst eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen halfen nicht, diese langanhaltenden massive Abwanderungen aus der Landwirtschaft zu stoppen. Erst im Dritten Reich stabilisierte sich die Bevölkerung zwangsweise – begründet durch den massiven Ausbau der Armee und die Kriegswirtschaft mit entsprechenden Gesetzen und Verordnungen wie den Reichsnährstand auf etwa 2,5 Mio. Während des Dritten Reiches meldeten sich nach Schätzungen zirka 85.000 junge Ostpreußen freiwillig bei der Wehrmacht.

„Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen Wirtschaft hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in andere Teile Deutschlands abgewandert.“

Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink


6.4  Die Auflösung der Allmenden und die Gemeinheitsteilung ("Separation") für Güter und Bauern

Die Allmende (auch die Gemeindeflur oder das Gemeindegut) war ein Teil des Gemeindevermögens (Landfläche, Gewässer, Wald), das als gemeinschaftliches Eigentum von allen Berechtigten benutzt werden durfte.

In den ostpreußischen Dörfern gab es auch bis zum Abschluss der "Bauernbefreiung" gemeinschaftliche Eigentum - die Almende. Die unterschiedlichen Nutzungsberechtigungen erschwerten eine intensivere Bewirtschaftung. Durch eine Ablösung des gemeinschaftlichen Eigentums wurden mit der Privatisierung des Landes erhebliche Produktivitätssteigerungen besonders bei den Großgrundbesitzern im 18. Jahrhundert erzielt.

Die Gemeinheitsteilungsordnung vom 7.6.1821 kam in Ostpreußen erst 1845 zur Anwendung. Beauftragt wurde dazu die Generalkommission. "Diese hatte nunmehr die Aufgabe neben der Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse u. a. auch die Gemeinheitsteilung (Separation) durzuführen, die auch heute (1930) noch nicht ganz abgeschlossen ist und deren Folgen bei uns noch deutlich in der Auflockerung der früher geschlossenen Dorflage zu erkennen ist." Quelle: Wilhelm Obgartel, Insterburg Stadt und Land besonders nach ihrer Landschaftsgliederung und Ihrer Geschichte

Bis dahin gehörte lt. Wilhelm Obgartel jedem Allmende-Bauer eine Hofstelle, im Landkreis Insterburg mit 2 - 4 Morgen Land ( 1 Morgen = 0,25 ha), welches früher der Lands- oder Gutsherrschaft rechtlich zugeordnet war. Darauf stand das Wohnhaus an der Straße, dahinter die Wirtschaftsgebäude. Ein Erdwall mit einem Graben schloss die Bauernstelle nach allen Seiten ab. Der Wall war mit Bäumen bepflanzt. Die Feldflur der Gemeinde, ehemals nur zum Nießbauch den Wirten überlassen, lag rings um das Dorf. Der Nießbrauch war in Deutschland das unveräußerliche und unvererbliche absolute Recht, ein fremdes Grundstück, eine fremde Sache, ein fremdes Recht oder ein Vermögen zu nutzen.

Die Feldflur waren nach den Grundsätzen der alten Dreifelderwirtschaft in drei ziemlich gleichgroßen Flächenabschnitten zerlegt, die im jährlichen Wechsel als Winterfeld, Sommerfeld und als Brache bewirtschaftet wurden. Jedes Feld war wiederum in so viel Teile zerlegt, als Wirte im Dorf vorhanden waren. Sie sahen von der Zufuhr- und Feldwegen gänzlich ab. Der Besitzer der hintersten, am weitesten gelegenen Parzelle fuhr ohne weiteres über die vor ihm leidenden Ackerstreifen der Nachbaren. Sollte dadurch für diesen kein Schaden entstehen, so musste deren Parzellen im Frühjahr noch nicht bestellt und im Herbst schon abgeerntet sein. Das führte mit Naturnotwendigkeit zur Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit der Arbeit und Ordnung der Abfolge der Feldarbeiten der einzelnen Wirte auf den verschieden gelegenen Parzellen. Quelle: Wilhelm Obgartel, Insterburg Stadt und Land besonders nach ihrer Landschaftsgliederung und Ihrer Geschichte

Abbildung: Dörfliche Allmende

Almende.png

In Preußen wurde 1821 die Gemeinheitsteilungsordnung erlassen.

Bei der Gemeinheitsteilung handelte es sich um:

  • Acker- und Ernteberechtigung
  • Weideberechtigung auf Ackern, Wiesen, Angern und Forsten,
  •  Forstberechtigungen zur Mast, zum Holz- und Streuholen,
  •  Berechtigung zum Plagge-, Heide- und Blütenhieb,
  •  zur Gräserei und zur Nutzung von Schilf, Binsen oder Rohr auf Gewässern
  •  zum Nachrechen auf abgeernteten Feldern,
  •  zur Nutzung von Deputatbeeten
  • zum Harzscharen
  • zur Fischerei instehenden oder Privatgewässern
  • zur Torfnutzung

Quelle: allmende in preußen - Bing images

1850 folgte das Gesetz zur Ablösung der Reallasten. Bei der Ablösung der Reallasten  (Nutzungsberechtigungen am gemeinschaftlich genutzten Grund­stück) musste der Grundstückseigentümer - in Ostpreußen häufig Gemeinden ursprünglich im Besitz von Guts- oder Domänenherren - den Berechtigten auf Antrag für die Ablö­sung entschädigen – in Form von Geld oder überwiegend durch Grundstücksanteile.

Da durch die Gemeinheitsteilungen viele kleine Splittergrundstücke entstanden und auch der sonstige Grundbesitz eines Eigentümers zerstreut liegen konnte, wurde es nötig, Wege anzulegen und Grundbesitz zusammenzulegen.

Bei diesen Verfahren wurden die von den Bauern individuell genutzten, aber stark parzellierten Flächen durch die Regulierungskommission neu verteilt, so dass größere Parzellen und ein neues Wegesystem geschaffen wurden. Hierdurch wurde die Produktivität der Betriebe gefördert, da sich Wege verkürzten, weniger Zugvieh nötig wurde und die eigenen Flächen besser in Aufsicht standen. Durch die Regulierungskommission wird auch das Gemeinschaftseigentum der Dörfer die „Allmende“ auf Antrag der Amtsbauern verteilt. Der ausgearbeitet Plan wurde den Betroffenen vorgelegt. Die Beteiligten trugen die Kosten, der Staat stellte die Beamten und gewährte Stempel und Gebührenfreiheit bei allen Umschreibungen. Zwar wurde eine "allgemeine Zustimmung" erwartet, bei Unstimmigkeiten hatte aber die Regulierungskommission das letzte Wort - aber manchmal dauerte die Regulierung bis zu 10 Jahre. Je größer das Land, desto größer der Gebietsanspruch“. Nur 14 % des Grundes der aufgelösten Allmenden wurden den Amtsbauern zugeteilt. Der Rest ging an die Gutsbesitzer.

In Preußen wurde die Gemeinheitsteilungsordnung von 1821 im Jahr 1872 geändert und auf die Zusammenlegung von Grundstücken, die nicht im ge­meinschaftlichen Eigentum stehen, erweitert. Damit wurde die Zusammenle­gung eine selbständige Maßnahme der Neuordnung. Am 17. 11. 1882 erfolgte die endgültige Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franz­dorf Nr. 27“ mit den Landgemeinden Bessern, Drohndorf, Groß Franzdorf, Gaden, Groß Wartau, Klein Schunkern, Mohlen, Paducken, Pillwogallen und Willschicken und den Gutsbezirk Wartau. Damit war eine "regionale" Raumplanung möglich geworden.

Die nach der Ablösung entstehen zusammenhängende Bauern-Grundstücke waren vor allen nach Bodenwerten bewertbar. Die Grundstücke lagen aber nicht immer dorfnahe. 1935 lag der steuerliche landwirtschaftliche Einheitswert für die Böden im Kreis Insterburg zwischen 600 und 699 Reichsmark pro Hektar. Die gesamte Spannweite für Ostpreußen lag zwischen 300 und 1599 Reichsmark pro Hektar. Quelle: Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1

Nach der Separation blieb es aber bei der Abwanderung. Trotz weiterhin hoher Geburtenrate hatte Ostpreußen langfristig nur eine der ge­ringsten Bevölkerungszunahmen im Deutschen Reich. Ursache waren die massiven Abwanderungen der Landlosen. Zu weiteren Folgen siehe 10. Folgen der Separation und Modernisierung der Landwirtschaft und Verbesserung der Infrastruktur.


6.5 Die Aufhebung der ständischen Patrimonialgerichtsbarkeit und der Polizeigewalt.

Patrimonialgerichte waren die in Deutschland bis Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden gutsherrschaftlichen Gerichte der adeligen Grundherren, die eine eigene vom Staat unabhängige Rechtspflege, die Grundgerichtsbarkeit, ausübten. Preußen besaß bis 1848/49 eine regional stark differenzierte Gerichtslandschaft. Die als Patrimonialgerichte bezeichneten, nicht landesherrlichen Gerichte der adligen Güter und Grundherren wurden in den einzelnen preußischen Landesteilen im Zuge von Reformen nach und nach in den Jahren 1772–1798 eingeführt, auch vorher bestand allerdings schon eine grund- und standesherrliche Gerichtsbarkeit. Die preußischen Patrimonialgerichte wandelten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von gutsherrlichen Verwaltungsinstanzen zu modernen Gerichten, bei denen vor allem die Rechtsangelegenheiten der ländlichen Bevölkerung verhandelt wurden. Die späteren Patrimonialgerichte umfassten die niedere Gerichtsbarkeit auf dem Lande, also vor allem Eigentums-, Familien-, Erb- und Gutsrechte, Gesindeordnung und teilweise auch niederes Strafrecht (z. B. Beleidigungen, Raufereien)

Mit Königlicher Kabinettsorder vom 8. August 1837 wurde festgelegt, dass die Strafbestimmungen der Gesindeordnung von 1810 betreffend die Zwangsrückführung von entlaufenem Gesinde auch auf Instleute, Gärtner und Deputanten in der Provinz Preußen anzuwenden ist . 1846 wurde dem angestellten Gesinde vorgeschrieben, mit Erreichen des 16. Lebensjahres ein "Gesindedienstbuch" (Arbeitsbuch) zu führen: "Bei Entlassung des Gesindes ist von der Dienstherrschaft ein vollständiges Zeugnis über die Führung und das Benehmen in das Gesindebuch einzutragen." Dadurch wurden Teile der Landbevölkerung - nämlich das Gesinde - rechtlich eingeschränkt und in Teilen wieder in "alte Zeiten" zurückgesetzt. Die Zeugnisse waren zum Teil negativ oder wurden verweigert, um das Gesinde am Verlassen der Güter zu hindern. Bei Unstimmigkeiten zwischen Herrschaft und Gesinde wurde die Gesinde-Polizei eingeschaltet, vertreten durch den Bürgermeister bzw. Amtsvorsteher (Verordnung vom 29. September 1846). In den entsprechenden Gremien hatten die Gutsherren eindeutig das Sagen.

Foto: Ein Diener reicht seinem Herrn die Zeitung, Quelle: Der korrekte Diener Fig 5 - Gesindeordnung – Wikipedia
Abbildung: Dienstmädchen, Heinrich Zille 1905, Quelle: Heinrich Zille Wasserträgerin - Dienstboten – Wikisource

1848 wurden die Patrimonialgerichte (Gutsgerichte des Adels) abgeschafft. Teile der ständischen Patrimonialgerichtsbarkeit gingen in die Kompetenzen der regionalen Gerichte. Dies ist von besonderer Bedeutung für das Gesinderecht, wo bis dahin Beschwerden des Gesindes über die Dienstherrschaft (den Gutsherrn) von letzterem als Beklagtem und Gutsrichter in einer Person behandelt und abgeurteilt werden konnten. 1854 verschärfte das Gesetz betreffend die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter die Strafvorschriften bei Vertragsbruch, um die Landflucht und den „Leutenot“ zu bekämpfen sowie „hartnäckigen Ungehorsam oder Widerspenstigkeit gegen die Befehle der Herrschaft oder der zu seiner Aufsicht bestellten Personen“.

Geldstrafe bis zu 5 Talern oder Gefängnis bis zu drei Tagen waren vorgesehen. Das bisherige Züchtigungsrecht in den Gutbezirken des Adels blieb bestehen. Besondere Strafvorschriften bei Verletzung der Dienstpflicht durch die Herrschaft gab es nicht. 1872 verloren die Rittergutsbesitzer die gutsherrliche Polizeigewalt in den Gutsbezirken an den königlichen Landrat durch die neue Kreis-Ordnung. Dies war bedeutsam u. a. für die Zuordnung der Gesindepolizei an den Landrat und nicht mehr an den Bürgermeister. Ein Großteil der Vorschriften, die u.a. das Gesinde betrafen, blieben aber inhaltlich bestehen.

Die Gründe der Züchtigung waren z. B. Arbeitsverweigerung, Schlechtausführung, Trunkenheit oder Unkeuschheit. Subjektive Gründe spielten aber auch eine beträchtliche Rolle. Zwei "Gutsdamen" im Landkreis Insterburg sollen sich hier "besonders hervorgetan haben." Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

Der Herrschaft stand ein Züchtigungsrecht zu, das individuell angewandt wurde: meist in der Form einer Auspeitschung mit einer Peitsche oder Birkenrute oder in Form von Stockhieben erteilt. Die Schläge erfolgten üblicherweise auf den Rücken oder auf das Gesäß. Gegen körperliche Übergriffe durfte sich das Gesinde nur im Falle der Gefährdung des eigenen Lebens wehren. Abgesehen davon musste sich das Gesinde ausdrücklich Verbalinjurien gefallen lassen, die unter Gleichen ohne weiteres als Beleidigung aufgefasst worden wären.

Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 wurde das seit der Einführung der gutsherrschaftlichen Gerichte das geltende Züchtigungsrecht des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde (nicht jedoch gegenüber minderjährigem Gesinde) abgeschafft. Grundlegende Veränderungen gab es erst 1918. Die Gesindeordnung wurde endgültig abgeschafft.

Quelle: Gesindeordnung – Wikipedia

In Preußen wurde Ende der 1860er Jahre amtlich festgelegt, dass Kontorbediente und Markthelfer, Stiefelputzer und Aushilfskellner, Hilfsarbeiter, Gewerbsgehilfen und Wirtschaftslehrlinge wie auch landwirtschaftliche Gärtner, Deputate und Instleute rechtlich nicht dem Gesinde zuzuordnen seien. Schließlich wurden 1900, mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), einige Bestimmungen der Gesindeordnung gemildert.

Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (ge-nealogy.n


7. Landarbeiter nach der Bauernbefreiung

Die Nichtbauern stellen bezogen auf die gesamte ländliche Bevölkerung schon vor der Bauernbefreiung die größte Gruppe in Ostpreußen dar. Hans-Ulrich Wehler (Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 1) berichtet: „Auch im ostpreußisch-litauischen Kammerbezirk mit seinen relativ vielen sichergestellten Domänen- und Adelsbauern (25 787) hat man für 1802/04 gezählte 47 229 Unterbäuerliche (Kossäten, Insten, Hirten und Handwerker) also ein Verhältnis von fast 1 zu 2 ermittelt.“

1867 war die Bevölkerung in Ostpreußen von 0,9 Mio. in Jahre 1846 auf 1,88 Mio. gewachsen. Davon arbeiteten etwa 1,42 Mio. in der Landwirtschaft. Die "Bauernbefreiung" betraf ca. 1,15 Mio., in der Hauptsache Domänenbauern. Etwa 0.5 Mio. verloren ihr Land und wurden zu Nichtbauern. Da sie nur zeitlich begrenzt bis etwa 1870 auf den Gütern als Landarbeiter unterkamen, mussten sie danach abwandern. Die Wohnbevölkerung wuchs in Ostpreußen zwischen 1871 und 1910 von 1.822.034 auf 2.664.175 Millionen, d.h. um 44.4%. In den 40 Jahren zwischen 1871 und 1910 wanderten jährlich durchschnittlich zwischen 20.000 und 30.000 überwiegend junge Männer in das Reich, insgesamt etwa 1 Mio. Ostpreußen.

In den Gebieten östlich der Elbe hatten die Agrarreformen erhebliche soziale Folgen. Viele Bauern, die sich eine Landabtretung nicht leisten konnten, konnten die Entschädigungssumme aber auch nicht aufbringen und rutschen in die sich stark vergrößernde Unterschicht der Landarbeiter ab. Die Zahl der je nach Region und Rechten unterschiedlich bezeichneten Landarbeiter (Eigenkätner, Losmann, Instleute, Tagelöhner) stieg um das Zweieinhalbfache. Die Zahl der Kleinbesitzer, regional Eigenkätner genannt, nahm um das Drei- bis Vierfache zu. Viele waren auf einen landwirtschaftlichen, handwerklichen oder sonstigen Nebenerwerb angewiesen. Da der Arbeitsmarkt für den Nebenerwerb nur begrenzt aufnahmefähig war, blieb nur die Abwanderung.

Es gab unter den Nichtbauern Pächter, Landarme und Landlose mit Zwischenformen und zeitlich begrenzen Wechsel von der einen zur anderen Gruppe. Es gab in Ostpreußen unter den Nichtbauern Eigenkätner (Pächter), Losleute und Isten (Landarme) und Gesinde und Tagelöhnern und Lohnarbeiter (Landlose). Die Begrifflichkeiten werden nicht immer einheitlich gebraucht, sind regional unterschiedlich und verschieben sich im Zeitverlauf.

Foto: Großes Moosbruch, Bauernkate mit Ziehbrunnen, Quelle: Bildersuche (Standard), Bildarchiv Ostpreußen (bildarchiv-ostpreussen.de)

Bei den Nicht-Bauern waren die Eigenkätner die wichtigste Gruppe. Die Kätner hat­ten auf gepachtetem Grund ein eigenes kleines Haus (Kate) mit Garten. Sie wa­ren also fest ansässig und arbeiteten auf privaten Gütern als Tageslöhner oder betrieben ein ländliches Handwerk.

Nach der "Bauernbefreiung" wurden sie nach Umwandelung der Pacht in Eigentum teilweise zu Kleinbauern mit Nebenerwerbsstellen.

Losmann (Kossäth) ist die Bezeichnung für einen kleinen Feldpächter im ehemaligen Ostpreußen. Einem Losmann wurde neu urbar gemachtes Ackerland aus der Allmende per Los zugeteilt. Er wurde Pächter. Es wurde irgendwo in der Mark, oft kilometerweit vom Dorf oder der nächsten Ansiedlung entfernt, kulturfähiger Boden, sei er noch so geringwertig, gerodet und in dessen Mitte eine Kate (ein Kotten) errichtet, der dem Losamann (Markkötter) zugeteilt wurde und wo er siedeln musste. Da die Größe dieses Ackerlandes für den Unterhalt einer Fa­milie nicht ausreichte, verdingte sich der Losmann zusätzlich als Landarbeiter, Knecht, Holzfäller oder Tagelöhner.

Michael Tuttlys war ein Losmann, geboren 1802, in Treinlauken, gestorben am 25.3.1842 in Ernstwalde, verheiratet sich am 23.10.1830 in Treinlauken mit Charlotte Schoentaube, die am 03.01.1806 in Spannegeln geboren wurde. Er war der Vater von Johann Ferdinand Tuttlies, der schon um 1860 in Willschicken als Besitzer siedelte.

Max Weber beschäftigt sich 1892 in einer großen Studie mit dem Lebensniveau der Landarbeitern u.a. in Ostpreußen, die nach der Bauernbefreiung die Arbeit auf den Gütern zu verrichten hatten. Er unterscheidet die Landarbeiter in folgende 6 sozialen Gruppen:

Quellen: Max Weber: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Preußische Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Großherzogtümer Mecklenburg, Kreis Herzogtum Lauenburg). Dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, LV. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland; Bd. 3)

Max Weber, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter


7.1 Gesinde

Das zumeist junge und ledige landwirtschaftliche Gesinde (Gespannarbeit, Viehpflege, persönliche Dienste), dass bei festem Geldlohn, freier Kost und Wohnung im Dienstbotengelass des Gutes in der Regel unmittelbar nach dem Schulabschluss in den Dienst eintrat.

Foto: Groß Gottswalde, Gutsarbeiter und Gutsherr Adolf Edler v. Graeve, Quelle: Bildersuche (Standard), Bildarchiv Ostpreußen (bildarchiv-ostpreussen.de)

Die jungen Leute auf den Gütern waren häufig die unversorgten Kinder der umliegenden Landbevölkerung, die direkt nach der Schule ihre ersten Erfahrungen in der Landwirtschaft machten. Die jungen Mägde und Knechte waren aber bestreb, die Güter rasch zu verlassen, da sie als Tagelöhner wesentliche mehr verdienten und sich während der "Saison" ein besseres Leben leisten konnten. Man unterschied das unverheiratete Hausgesinde mit Lohn und Verpflegung vom verheirateten Deputatgesinde mit Naturalentschädigung, einem zugewiesenen Landteil und teilweise einer eigenen Wohnung oder einem Gesindehaus. Auch unterschied man zwischen Haus- und Hofgesinde, je nachdem ob häusliche oder landwirtschaftliche Dienste geleistet wurden

Das unverheiratete Gesinde der Güter, das nicht der Reichsgewerbeordnung, sondern den örtlichen Gesindeordnungen unterstand und den städtischen Dienstboten vergleichbar ohne geregelte Arbeitszeit täglich durchgehend zur Dienstleistung verpflichtet war. Das Gesinde unterlag bis 1900 der Gesindeordnung. Sie wurde entlohnt mit Wohnung, Kost, Kleidung, wenig Bargeld. In Ostpreußen waren etwa 5 % des Gesamtlohns Bargeld. Die Arbeitsverhältnisse waren unbefristet. Zwar galten sie lebenslang, konnten aber vom Gutherren nach Gutdünken gekündigt werden. Aufgrund der niedrigen Lebenserwartung kam es nur in sehr wenigen Fällen zu einer Altersversorgung, die in der Regel nur aus Naturalien bestand.


7.2 Deputanten

Die Gruppe der unverheirateten "Gärtner" und verheirateten 'Deputanten' bzw. 'Deputatisten', die ebenfalls festen Jahreslohn, statt täglicher Kost aber feste Naturalbezüge (Deputate) in Getreide und Kartoffeln, Brennmaterial (Kohlen, Torf, Holz) sowie etwas Land zur eigenen Bewirtschaftung erhielten, das Recht hatten, einen eigenen kleinen Viehbestand auf der gutswirtschaftlichen Weide zu halten, im Winter im Gutsstall auf Kosten des Gutes durchzufüttern und ebenfalls auf dem Hof, aber in eigener Hauswirtschaft ('Katen') oder in – als Familienwohnungen abgesonderten – Räumlichkeiten lebten.

Foto: Auch die Kinder mussten altersgemäße Aufgaben übernehmen. Hier Georg und sein Bruder Otto bei der Feldarbeit Quelle: Susannes Ahnen - Ostpreußen/Ermland (susanne-nitsch.de)

Der Deputant war Anfang des 19. Jahrhunderts ein verheirateter Landarbeiter, welcher zur Arbeit das ganze Jahr verpflichtet wurde und in Guts-Wohnungen umsonst oder gegen niedrige Miete wohnte. Bei den Deputanten-Familien war es selbstverständlich, dass die Kinder schon früh mitarbeiten mussten, was auch bei den "Vollbauern" noch bis in die 20iger Jahre ebenfalls der Fall war.

Neben einem niedrigen Barlohn, der entweder als Tagelohn nach der Zahl der Arbeitstage oder wie die Gesindelöhnung als fester Jahreslohn gezahlt wurde, erhielt er ein sogenanntes Deputat, das heißt statt der dem ledigen Gesinde zubereitet gereichten Beköstigung, bekam er die entsprechenden Naturalien geliefert. Diese Naturalien waren dem Betrag nach auf die Deckung des Bedarfs an Nahrungsmitteln für den Arbeiter selbst und seine Familie berechnet, deren Mitarbeit in Gestalt der Stellung einer zweiten Arbeitskraft regelmäßig in Anspruch genommen wurde.

Die Gärtner (unverheiratet) und Deputanten (verheiratet) unterlagen bis 1860 der Gesindeordnung. Sie hatten auf den Gütern jeweils Einzelverträge. Sie waren durch Jahreskontrakte gebundene Arbeiter und hatten Einstellungen am Martini, dem 1. November oder zum 1. April. Es gab 3, 6 oder 12 Monatskündigung. Sie wurden durch Deputat (Wohnung, Naturalien, Brennholz, Weidenutzung für Kuh-Schweine-Schafe) und Bargeld bezahlt. In Ostpreußen waren etwa 15 % des Gesamtlohns Bargeld


7.3 Insten

Die Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts führten zu einer Zunahme der Instleute. Die Insten schlossen sich mit ihrer Familie und ein oder zwei Knechten (Hofgän­ger oder Scharknechte genannt) einem Gut an. Sie traten zunächst an die Stelle der bisherigen gutsuntertänigen Scharwerk-Bauern. Hier arbeitete die Gruppe für den Gutsherren. Tatsächlich war die Lage der Insten eine Folge der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Landreformen ab 1800. Ihr Einkommen bestand aus verschiedenen Bestandteilen. Dazu gehörte die Entlohnung in Geld und Naturalien. Hinzu kam das Nut­zungsrecht für die eigene oder die gepachtete kleine Landwirtschaft oder das Halten von Vieh. Hinzu kam ein gewisser Anteil am Ertrag des Gutes. Die Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts führten zunächst zu einer Zunahme der Instleute.

Die Zusammensetzung der Entlohnung war unterschiedlich. Im Osten war der Anteil des Naturallohns meist höher als in den westlicheren Gebieten. Der Naturallohn konnte sich aus der Wohnung, aus Land oder Saatgut zusammensetzen. Hinzu kamen Nahrungsmittel und als Drescherlohn als Teil des Ertrags des Gutes Getreide. Die Höhe des Naturallohns war an die Arbeitsleistung und die Anzahl der gestellten Arbeitskräfte gebunden. Ein Drittel des Einkommens etwa entfiel auf Geldeinkommen für das in den Wintermonaten betriebene Dreschen des Getreides. Daneben erwirtschaftete die Familie noch etwas auf dem von den Gutsherren zur Verfügung gestellten Grundbesitz. Das vom Gutsherrn zur Verfügung gestellte Haus und der Grundbesitz, die Instenstelle, machten die Instenfamilien stark vom Gutsherrn abhängig.

Foto: Insten bestellen ihr Pachtland, Autor: August Lukait Quelle: Landarbeit in Ostpreußen - Bing images

Insgesamt war die soziale und wirtschaftliche Lage der Inste nach Max Webers empirischen Untersuchungen besser als die qualifizierten Industriearbeiter. Allerdings wurde ihre Existenz vom Wandel und der Modernisierung der Landwirtschaft bedroht. Die Bedeutung des Getreideanbaus ging zurück. Auch die Getreidepreise sanken aufgrund der preiswerteren englischen Exporte. Hinzu kam, dass durch die Einführung von Dreschmaschinen die Insten eine bislang wichtige Aufgabe tendenziell einbüßten.

Die Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts führten mittelfristig zu einer Verschlechterung. Die Möglichkeit der eigenen Viehhaltung wurde eingeschränkt. Außerdem gelang es den Insten durch die Konkurrenz der Industrie auf längere Sicht kaum noch, Hofgänger oder Scharknechte anzuwerben. Auch viele Kinder der Insten zogen andere Tätigkeiten vor. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Insten zu Gunsten von reinen Tagelöhnern und Lohnarbeitern ab, da diese saisonweise besser verdienten.

Die Insten unterlagen bis 1860 der Gesindeordnung. Seit 1837 waren die Instleute wie auch das Gesinde der Polizeiaufsicht der Gutsherren unterworfen. Ein Koalitions- und Streikrecht hatten sie bis zur 1918 nicht. Dabei waren die Familien samt Knechten durch einen zu erneuerten Vertrag an den Guts­herren gebunden. Die festgelegten Vertragstermine waren Martini der 11. November oder der 1. April bei 3, 6 oder 12 Monatskündigung. Sie hatten auf den Gütern einen Familienvertrag und mussten bei Bedarf noch weiteren Arbeiter stellen, wie Scharwerker oder ledige Kinder. Die Ehefrau arbeitete auf Verlangen in der Ernte, beim Waschen, Melken und am Schlachttag mit - zum Teil gegen Barlohn.


7.4 Tagelöhner

Die freien Landarbeiter / Tagelöhner bildeten eine vierte Gruppe. Sie stellten nicht sich (Gesinde) und ihre Familie (Insten) der Gutswirtschaft zur freien Disposition über ihre Arbeitskraft, sondern standen in einem regulären Lohnarbeitsverhältnis, das sich – bei vielerlei Grenz-, Zwischen- und Übergangsstufen zu den kontraktlich gebundenen gutswirtschaftlichen Arbeitskräften – vom Tagelöhner Verhältnis gewerblicher Arbeiter im Kern nur unwesentlich unterschied. Diese Gruppe rekrutierte sich

Foto: Verschnaufpause von Tagelöhner, Ort unbekannt Quelle: Landarbeiter in Ostpreußen - Bing images


a) aus jenen 'Einlieger' genannten besitzlosen Landarbeitern, die in den Dörfern als 'Einmieter' oder 'Geldstubenleute' unterzukommen suchten, erheblich mobiler waren als die ortsgebundenen Kleinstellenbesitzer bzw. -pächter und als 'lose Leute' oder 'Losleute'

b) häufig eine regionale Zwischen - Übergangsgruppe zu den reinen Wanderarbeite.

Die Standortgebundenheit des nebenerwerbstätigen Kleinstellenbesitzers bzw.-pächters konnte auf dem lokalen Arbeitsmarkt seine Position in der Lohnkonkurrenz mit dem besitzlosen landwirtschaftlichen Lohnarbeiter schwächen. Das führte zu Spannungen zwischen besitzlosen Lohnarbeitern, die ihre Arbeitskraft meistbietend verkauften, und nebenerwerbstätigen Kleinstellenbesitzern bzw. -pächtern, die sich dem Diktat von Arbeitslohn und Arbeitsbedingungen durch die Gutswirtschaft zu fügen hatten.

Die Alternative war Arbeitswanderung über größere Distanzen. Dies war aus betriebstechnischen Gründen häufig nur bedingt möglich. In der Dorfhierarchie stand aber der Status des lokalen halbselbständigen Kleinproduzenten über dem des flexiblen Nebenerwerbstagelöhnes, obwohl eine genaue Abgrenzung schwerfällt.

Die Tagelöhner hatten einen per Handschlag einen regulär geschlossen Arbeitsvertrag und unterlagen bis 1900 der Gesindeordnung. Sie wurden nur mit Bargeld entlohnt. Bei "niederen Straftaten" wurden sie aber sofort ohne Barzahlung "vom Hof gejagt". Bei größeren Straftraten wurden sie den Gerichten übereignet. Sie arbeiten sowohl auf den Gütern als auch auf den Bauernstellen. Es waren Lohnarbeiter wie landlose Einlieger, Kleinstellenbesitzer, Kätner oder Kossäthen. Der Unterschied zu dem Wander- oder Saisonarbeiter lang in der geografischen Herkunft. Die Tageslöhner kamen aus Ostpreußen und wurde wesentlich besser bezahlt als die polnischen Fremdarbeiter.


7.5 Wanderarbeiter

Zu den Wanderarbeiter zählen Saisonarbeiter zum Ernteeinsatz – oft aus Polen. Diese Arbeitswanderer wurden in der Regel auf vierfache Weise an- bzw. abgeworben

Foto: Wanderarbeiter, Quelle: polen wanderarbeiter geschichte - Bing images

a) durch Aufseher-Agenten, eine Mischung von selbständig arbeitenden Arbeitsvermittlern und Vorarbeitern, die von Dorf zu Dorf zogen, größere Arbeitergruppen zusammenstellten, ins Zielgebiet begleiteten, dort als Vorarbeiter bzw. Aufseher überwachten und ihr "Werbegeld" in der Regel erst dann einstreichen konnten, wenn die herangeschafften Saisonarbeiter im Zielgebiet nicht bzw. nicht aufs Neue kontraktbrüchig geworden waren, denn der Vertrag lautete jeweils auf "Lieferung einer Arbeitskraft für die ganze Saison"; daneben bestand das berüchtigte informelle System des Kontrakthandels zwischen "großen" Arbeiterwerbern und "kleinen" Aufseher-Agenten, die ihre Kontrakte bei den "großen" Werbern kauften, wobei dieser Handel mit der Saisonware Arbeitskraft den Kontraktbruch gegenüber dem Arbeitgeber noch um eine weitere Spielart zu ergänzen tendierte: den Kontraktbruch gegenüber Arbeiterwerbern bzw. Aufseher-Agenten selbst;

Abbildung: Wanderarbeiter, Quelle: Wanderarbeiter Ostpreußen - Bing images

b) wurden Arbeitswanderer rekrutiert durch der jeweiligen Gutswirtschaft vertraute Saisonarbeiter bzw. -arbeiterinnen, die das Reisegeld für die im Herkunftsgebiet an- bzw. abzuwerbende Arbeitergruppe vorgeschossen, für jede vermittelte Arbeitskraft ein "Kopfgeld" erhielten und selbst auf dem jeweiligen Gut im Saisontagelohn arbeiteten, während die Arbeiteraufsicht dort von einem Gutsbeamten übernommen wurde;

c) durch die Gutsbeamten selbst und

d) durch professionelle städtische "Stellenvermittler". Die Wanderarbeiter standen zwar auf der untersten Stufe der Landarbeiter - sie waren aber frei

Die die besondere Anziehungskraft der Beschäftigungsangebote "im Westen" sorgte hier noch die Tatsache, daß Lohnniveau und Lebensstandard ostpreußischer Landarbeiter hinter denjenigen aller anderen ostelbischen Gebiete zurücklagen. In der ostpreußischen Landwirtschaft wurden "nicht nur die niedrigsten von allen preußischen Regierungsbezirken, sondern die niedrigsten deutschen Tagelöhne überhaupt" gezahlt.

Die Wander- oder Saisonarbeiter waren Fremdarbeiter. Sie waren rechtliche nicht abgesichert, teilweise wurden sie rechtlich, wie die Tageslöhner behandelt. Bei Verstößen wie den Kontraktbruch wurden sie des Gutbezirks verwiesen mit einem Einreiseverbot nach Deutschland belegt. Sie wurden durch Vermittler in Gruppen oder Arbeiterkolonnen angeworben. Sie arbeiten sowohl auf den Gütern als auch auf den Bauernstellen. Sie mussten die Karenzzeit beachten, d. h. im Winter (Dezember – Februar) nach Hause in Polen zurückkehren. Sie arbeiteten im Akkord und wurden mit Bargeld deutlich schlechter als die ostpreußischen Tagelöhner bezahlt. Noch schlechter wurden die Frauen der Fremdarbeiter bezahlt. Für Güter und Großbauern waren sie die am meisten nachgefragten Arbeitskräfte zwischen 1870 und 1910.


7.6 Heimatlose

Im späten 19. Jahrhundert war die Obdachlosigkeit der Heimatlosen ein Massenphänomen. Davon besonders betroffen waren "exmittierte", das heißt in Städten aus ihren Wohnungen geworfene Familien, mittel- und arbeitslose Männer aus ländlichen wie städtischen Regionen, und auch aus ihren Stellungen entlassene Dienstmädchen. Obgleich die von Obdachlosigkeit betroffenen Gruppen im Kaiserreich äußerst unterschiedlich waren, existierten allgemeine Zuschreibungen. Alleinstehende männliche Obdachlose wurden häufig als "arbeitsscheue" "Vagabunden", "Wanderer", "Stromer" oder "Landstreicher" bezeichnet, während man alleinstehende obdachlose Frauen und Mädchen als "gefallen" beschrieb, womit die Unterstellung einherging, sie würden als Prostituierte arbeiten.

Obdachlosigkeit und Landstreicherei galten als Straftatbestände und konnten mit Gefängnis und/oder Arbeitshauseinweisung geahndet werden. Mit der Gründung des Deutschen Reiches wurden Armutszustände wie Landstreicherei, Bettelei und Obdachlosigkeit sowie Verhaltensweisen wie „Spiel, Trunk, Prostitution und Müßiggang“ oder „Arbeitsscheu“ kriminalisiert. Rechtliche Grundlage bildeten die § 361 und 362 des Strafgesetzbuches von 1871, die diese auch als „Asozialität“ bezeichneten Verhaltensweisen als Übertretungen neben Haftstrafen mit der Sanktion einer "korrektionellen Nachhaft" im Arbeitshaus (bis zu maximal zwei Jahren) belegte.

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war die in den Arbeitshäusern vollstreckte 'korrektionelle Nachhaft' ausschließlich zulässig nach einer strafrichterlichen Verurteilung wegen Landstreicherei, wegen Bettelei (falls die Angeklagten innerhalb der letzten drei Jahre schon einmal wegen dieses Delikts verurteilt worden waren oder unter Drohung bzw. mit Waffen gebettelt hatten), bei Armut (falls die Gerichte sie durch Spiel, Alkoholmissbrauch oder Müßiggang verursacht sahen), bei gewerbsmäßiger, polizeiwidriger Prostitution, bei unterstellter Arbeitsscheu und bei Obdachlosigkeit. Die genannten Delikte wurden nach § 361 RStGB als Übertretungen mit Haft bis zu sechs Wochen geahndet. Von diesem ohnehin begrenzten Katalog möglicher Einweisungsgründe spielten jedoch bei Männern nur Bettelei bzw. Landstreicherei und bei Frauen Prostitution eine nennenswerte Rolle. Im Jahre 1896, dem ersten Jahr, für das eine nach Einweisungsgründen differenzierende Statistik vorliegt, waren in Preußen 90 Prozent der auf strafrechtlicher Grundlage in Arbeitshäuser eingewiesenen Männer wegen Bettelei bzw. Landstreicherei und 76 Prozent der Frauen wegen unerlaubter Prostitution verurteilt worden.

Arbeitshäuser auch Besserungsanstalten oder Korrektionsanstalten genannt waren Einrichtungen, die Vagabunden, „Trunkenbolde“, „Arbeitsscheue“, „liederliche“ Dirnen, aber auch entlassene Sträflinge aufnahmen, die darin zur Arbeit angehalten wurden und an eine geordnete Lebensführung gewöhnt werden sollten. Der Zwang zur Arbeit in den Arbeitshäusern wurde ergänzt durch den Arbeitszwang am Unterstützungswohnsitz. Das heißt, dass die Unterstützung der Armen an die Verpflichtung geknüpft war, ihre Arbeitskraft dort entsprechend ihren Fähigkeiten einzusetzen. Die Nichterfüllung der Arbeitspflicht führte wieder zur Einweisung ins Arbeitshaus. Grundlage für diese Verfahrensweise war das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz (UWG) von 1870. Ein solcher „Unterstützungswohnsitz“ diente nicht nur der Aufteilung von Zuständigkeiten, sondern vor allem der Kontrolle der Fürsorgeempfänger. Er wurde durch zweijährigen Gemeindeaufenthalt, Heirat oder Abstammung erworben und berechtigte zu einer geringen Unterstützung durch den Ortsarmenverband.

1885 belief sich im Regierungsbezirk Gumbinnen die jährliche Armutslast auf 53,9 % aller Ortskommunalabgaben. Einige kleinere Städte wie Aulowönen und umliegende Dörfer hatten auch Stallgebäude oder Scheunen als Unterstützungswohnsitze zur Verfügung gestellt, oder Plätze für das fahrende Volk ausgewiesen. In Tapiau lag die „Tapiau „Ostpreussische Provinzial-Besserungsanstalt“. Die Gründung der Anstalt geht zurück auf das bereits 1792 in der Burg Tapiau eingerichtete „Landarmen- und Versorgungshauses Tapiau“. 1801 verfügte die nunmehr „Corrections- und Besserungsanstalt Tapiau“ genannte Einrichtung über 400 Plätze, außerhalb des Anstaltsgeländes wurden drei Gebäude zur Unterbringung ortsfremder Insassen errichtet, hieraus entwickelte sich die spätere Heil- und Pflegeanstalt, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfolgte eine ständige Vergrößerung bis zu einer Bettenzahl von 1200.

Die Justiz des Kaiserreichs machte in Ostpreußen reichlichen Gebrauch von der Möglichkeit zur Sanktionierung von Armut durch Einweisung in Arbeitshäuser. Im Zeitraum von 1877 - 184 ist in Preußen etwa jede fünfte bis siebte wegen Bettelei oder Landstreicherei verurteilte Person schließlich in ein Arbeitshaus gebracht worden. Die Quote der „Überweisungen“ lag bei Landstreicherei sehr viel höher als bei Bettelei. Im Jahre 1885 wurden in Preußen von 15 883 wegen Landstreicherei verurteilten Personen 7 729 an die Arbeitshäuser überwiesen, dagegen nur 8310 von 58 523 wegen Bettelei verurteilten Personen. Die Dauer der Arbeitshausunterbringung war innerhalb der in § 362 RStGB festgelegten Schranke von maximal zwei Jahren ganz in das Ermessen der Landespolizeibehörde gestellt und wurde von dieser völlig willkürlich gehandhabt. Quelle: Wolfgang Ayass: Die „korrektionelle Nachhaft“. Zur Geschichte der strafrechtlichen Arbeitshausunterbringung in Deutschland

Im Sommer waren die Ernährungsmöglichkeiten auf dem Lande besser als in den Städte. Im Sommer wurde von dem Heimatlosen häufig im Freien geschlafen. Wer im Winter oder bei schlechten Wetter über keinen festen Schlafplatz und sehr geringe finanziellen Mittel verfügte, war in den Städten zur Übernachtung in sogenannten Heimen mit bis zu 4 Betten übereinander und unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen angewiesen. Berüchtigt waren "Unterkünfte", die ihren "Kunden" ein langes Seil zum Einhaken mit beiden Armen zum "Schlafen im Stehen" anboten. Am Morgen wurden dann die Seilknoten plötzlich gelöst.

Weitere "Schlaf-Möglichkeiten" waren das Polizeigewahrsam oder das Arbeitshaus. An beide Institutionen konnten sich Obdachlose entweder freiwillig wenden, oder aber sie wurden dorthin nach einem Gefängnisaufenthalt zwangsüberwiesen. Im Winter war das Polizeigewahrsam stets überfüllt. Kranke und stark verschmutze Menschen wurden in der Regel abgewiesen. Während der Polizeigewahrsam nur für eine Nacht Unterkunft auf einer Holzbank ohne Lehne in einem Raum mit vielen anderen Menschen gewährte, bot das Arbeitshaus für eine längere Zeit maximal bis 2 Jahre Zwangs-Unterkunft, allerdings gepaart mit schwerer und streng überwachter Arbeit, schmaler Kost. Die Einrichtung zu verlassen, war verboten.

Die geschlossene Unterbringung in den Arbeitshäusern litt unter dem Dilemma, daß sie für leichtere Fälle unnötig, für schwerere Fälle aber aussichtslos erschien. Erfahrene Heimatlose führten gezielt Armutszustände wie Landstreicherei, Bettelei und Obdachlosigkeit sowie Verhaltensweisen wie „Spiel, Trunk und Müßiggang“ oder „Arbeitsscheu“ herbei, um nach einer Verurteilung den Winter im Arbeitshaus zu verbringen.

Die Heimatlosen (z. B. Landfahrer, Landstreicher, Vaganten, Vagabunden, Wanderer, Stromer, Obdachlose, Bettler, Zigeuner oder Nichtsesshafte) 1850 geschätzte 5 % der Bevölkerung hatten in der Landwirtschaft in Ostpreußen keinen Platz. Die Heimatlosen wurden von den Gemeindevorstehern und Gutsherren strikt abgewiesen und aus der Gemeinde verscheucht, teilweise durch Gewalt. Manchmal wurde auch die Polizei aktiv, an der örtlichen Gemeindegrenze kehrte sie aber gewöhnlich bereits um. Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Er­win Spehr) – GenWiki (genealogy.net)


7.7 Lebensniveau der Nichtbauern

Das Lebensniveau der Nicht-Bauern lag in der Regel noch unter dem der Kleinbauern. Ein Vergleich der Jahresverdienste des landwirtschaftlichen Dienstpersonals mit den damals üblichen Preisen zeigt 1861, wie bescheiden die Lebensführung der Landarbeiter gewesen ist. Ein Tagelöhner verdiente zum Beispiel bei über zehnstündiger Arbeit etwa 13 Silbergroschen täglich. 24 Hühnereier kosteten im Vergleich dazu ungefähr 12 Silbergroschen.

Tabelle: Einkommensbeispiele von Landarbeitern in Mecklenburg und Masuren

Tages-Einkommen männlicher Tagelöhner und Jahrslohn männliches Gesinde in Mecklenburg und Masuren
Einkommen freier Roggenwerte freier Gesindelöhne
männlicher Tageslöhner männlicher Tageslöner männliches Gesinde
Tageslohn entspricht Tageslohn Jahreslohn
in Mark in kg in Mark
Jahr Mecklenburg Masuren Mecklenburg Masuren Mecklenburg Masuren
1873 1,42 0,89 11,77 5,59 142 69
1892 1,69 1,11 13,01 7,81 160 105
1914 2,00 1,51 14,63 10,20 227 135

Quelle: Klaus J. Bade, Land oder Arbeit? Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg

Die Lohnkosten in Ostpreußen passten sich erst zu Ende der 1880er Jahre im Zeichen wachsender 'Leutenot' langsam dem Niveau an, das sie in westlicheren Agrargebieten, etwa in Mecklenburg, anderthalb Jahrzehnte zuvor schon erreicht bzw. sogar schon überschritten hatten. Dieses lag auch an der Umstellung von Deputat-Lohn auf Geldlohn. Frauen erhielten trotz deren extreme Belastung nur die Hälfte des Lohnes der Männer.

„Gleichwohl kann man für die letzten beiden Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg von einer Erhöhung mindestens der nominellen Landarbeiterlöhne ausgegangen werden, die allerdings teilweise durch die Erhöhung der Lebenshaltungskosten im selben Zeitraum um etwa 30 Prozent wieder wettgemacht wurde.“

„An den gemeinhin sehr schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen der ländlichen Arbeiter kann jedoch vor allem im Bereich der Gutwirtschaft kein Zweifel sein. Landarbeit ist oft monotone  Schwertarbeit, die von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang unter allen Witterungsverhältnissen anhält und besonders während der Saat- und der Erntearbeit unter sehr starken Leistungsdruck steht. Der Einsatz von Maschinen hat diesen Einsatz im 19. Jahrhundert in Ostpreußen noch keineswegs wirksam erleichtert.“

„Das Gesinde wohnte auf den Bauerhöfen oft in winzigen Verschlägen dicht beim oder zusammen mit dem Vieh, selten in eigenen Knechts- oder Mägdekammern, auf den großen Gütern aber in den wohl meist überbelegten Leutestuben, Wanderarbeiter kampierten nich selten direkt auf dem Felde, eben der Arbeit, auch auf eigenen Wunsch, weil sie nach Leistung gezahlt wurden und dann jede Minute nutzten – oder sie wohnten in oft unbeschreiblich verfallenen Katen und schlecht gepflegten kasernenartigen Leutehäusern der Gutswirtschaft. Inste bewohnenten im Allgemeinen eine meisten, aber nicht immer frei gewählte Kate mit einer Stube nebst Kochgelegenheiten sowie ein bis zwei Kammern, in denen auch die Scharwerker unterzubringen waren, daneben noch Bodenraum, Keller und Stall.

Diese Haushalte hatten nur sehr geringe Bareinnahmen. Eine ostpreußische Instenfamilie erhielt im Jahre 1901 für 230 Arbeitstage des Mannes und der Scharwerker und 200 Arbeitstag der Frau, alle auf einem Gut, ganze 198 Mark an Geldlohneinnahmen, von denen noch der Barlohn und die Ausgaben für die Kleidung des Scharwerkers abzuführen waren, aus der eigenen Wirtschaft kamen 157,90 Mark an Bareinnahmen hinzu. Statt der Getreideprodukte, der Milch und des Fleisches konnten häufig nur Kartoffeln zu allen Mahlzeiten verzehrt werde.“

"Die ländliche Oberschicht behauptete ihre autoritäre Führungsposition, gestützt durch überkommene und höchst bewusst beibehaltene Rechtsverhältnisse gerade in den selbstständigen Gutsbezirken, gestützt durch die politischen Eliten und durch die Kirchen. Die ländlichen Arbeits- und Sozialbeziehungen verharrten auch deshalb bis etwa 1900 in den genannten hierarchischen Gesellschaftsgruppen." Quellen: Gerhard A. Ritter, Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich

Trotz dieses sehr unbefriedigenden Zustandes wuchs aber die Zahl der freien Landarbeiter beträchtlich an.

"Die Nachkommen der Insten verdingten sich als freie Landarbeiter und nötigten Instfamilien, die nicht in Deputantenstellen ohne Scharwerkforderung einrücken konnten, selbst diesem Weg zu folgen. Die Zahl der freien Landarbeiter stieg, durch den starken Zuwachs unterbäuerlicher Schichten bedingt, weit über die Kapazitätsgrenze des landwirtschaftlichen Arbeitsmarkts hinaus ständig weiter an, zumal auch nachgeborene Bauernsöhne, deren ausgezahlter Erbanteil nicht zu Pacht oder Anzahlung einer Kleinwirtschaft hinlangte, zunehmend den Wechsel ins freie Landarbeiterverhältnis dem herkömmlichen Weg des beschränkten sozialen Aufstiegs der Landlosen über den Gesindedienst zu Inststellen vorzogen." Oskar Mulert, Vierundzwanzig ostpreußische Arbeiterfamilien. Ein Vergleich ihrer ländlichen und städtischen Lebensverhältnisse

Die Attraktivität der 'freien' Landarbeit gegenüber der Kontraktarbeit lag bei allen Risiken dieser marktabhängigen Existenz in vergleichsweise hohen Geldlöhnen während der kurzen Hochsaison, freier Budgetgestaltung aufgrund der reinen Geldlöhnung, persönlicher Unabhängigkeit, räumlicher Ungebundenheit und, wie alle Berichte erkennen lassen, darin, daß es für die Tagelöhner Frauen nicht die zunehmend als erniedrigend empfundene Arbeitspflicht der Instfrauen gab.

Quelle: Klaus J. Bade, Land oder Arbeit? Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg


8.  Bevölkerungsentwicklung

Zur Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung in Ostpreußen gehört u.a. drei Faktoren

  •       Ausgangsbasis der Einwohnerzahlen, siehe 8.1
  •       Entwicklung von Geburten- und Sterberaten, siehe 8.2
  •       Ein- und Auswanderungen, siehe 8.3

"Nicht nur für Deutsche, sondern auch für Polen, Litauer und Russen spielt Ostpreußen eine besondere Rolle im kollektiven Gedächtnis. Auf allen Seiten überwog bis 1989 eine einseitige, nationale Geschichtsschreibung. Die historische Auseinandersetzung mit der einstigen Wiege Preußens und später östlichsten Provinz war das Paradebeispiel für eine idiologisch motivierte Geschichtspolitik, die der politischen Legitimation dienen sollte. Dabei hilft ein nüchterner Blick auf die Geschichte der reale Bevölkerungsentwicklung.“ Quelle: Andreas Kossert, Ostpreußen Geschichte und Mythos


8.1 Einwohnerzahl in Ostpreußen

Die Bevölkerungsentwicklung in Ostpreußen wurden von 1700 bis 1815 u.a. durch vier Ereignisse beeinflusst, die zugleich die Geburten- und Sterberaten und die Bevölkerungs-Wanderungen mitbestimmen:

  • Ein Drittel der Bevölkerung in Ostpreußen etwa 240.000 Menschen stirbt an der Pestepidemie 1709 – 1710.
  • Die „Re-Peuplierung“ führte unter dem Soldatenkönig zur Wiederansiedlung  in Ostpreußen  zwischen 1710 und 1740 von etwa 68.800 Neusiedler.
  • Während des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763) eroberten 1757 russische Truppen Ostpreußen, ziehen sich aber bald zurück. Insgesamt sterben während der 7 Jahre schätzungsweise  90.000 Ostpreußen .
  • Die Zahl der zivilen und militärischen Toten, während der Napoleonischen Kriege 1792 -1815 wird in Ostpreußen auf über 200.000 geschätzt.

Tabelle: Einwohner Deutsches Reich, Ostpreußen, Landkreis Insterburg, Willschicken 1700 – 1945 *

Jahr Ostpreußen LK Insterburg Willschicken
Dt. Reich  
W.   Rep.
Dr. Reich
in Mio. in Mio. absolut absolut
1700 0,65 85
1709 0,72
1815 0,86 134
1818 0,89 31 104
1823 85
1846 0,92 58 699
1853 110
1858 155
1865 127
1867 1,80 134
1868 168
1871 41,05 1,85 66 788 154
1885 166
1890 49,42 1,95 71 782 152
1900 54,32 1,99 74 547 160
1905 58,51 2,03 ** 150
1910 62,69 2,07 46 110 148
1915 65,95 2,12 147
1920 61,79 2,22 45 819 145
1925 62,41 2,26 44 775 146
1933 65,36 2,33 43 514 122
1939 79,37 2,48 43 028 127
1940 69,83 2,47
1945 66,00 2,39

* Einwohner nach den jeweiligen Gebiesständen von

** Am 1. April 1902 schied die Stadt Insterburg aus dem Kreis Insterburg aus und wurde in einen Stadtkreis umgewandelt. Der Kreis Insterburg erhielt danach die Bezeichnung Landkreis (LK). Die Einwohnerzahl reduzierte sich im neuen Landkreis 1910 um etwa 28.000.

Quellen:

Landkreis Insterburg – Wikipedia

Preußen [3] - Zeno.orgia

Deutsches Kaiserreich: Einwohnerzahl 1871-1912 | Statista

Demografie Deutschlands – Wikipedia

Bevölkerungsentwicklung in Ostpreußen - Pruzzen Prußen Preußen (jurkat.com)

Deutsche Verwaltungsgeschichte Ostpreußen, Kreis Insterburg (treemagic.org)

Suche nach 'willschicken' in Metadaten und Volltexten | MDZ (digitale-sammlungen.de)

Im Jahr 1701 ließ sich der spätere Kurfürst Friedrich III. in Königsberg zum König in Preußen krönen und wählte für sein gesamtes Reich den Namen Königreich Preußen. 1871 wurde das Deutsche Reich und 1918 die Weimarer Republik gegründet. 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht. In den jeweiligen Zeiträumen veränderten sich die Gebietsgrößen und die Erhebungsmethoden der Bevölkerungsstatistik. Diese Veränderungen relativieren die Vergleichbarkeit.

  •       Im Deutschen Reich lebten 1871 etwa 41,05 Mio. Einwohner und 1910 sind es etwa 62,69 Mio. Einwohner, ein Zuwachs um 52,75 %
  •       In Ostpreußen leben 1871 etwa 1,85 Mio. Einwohner und 1910 sind es 2,07 Mio. Einwohner, ein Zuwachs von 11,89 %.
  •       In Willschicken gab es im gleichen Zeitraum eine Abnahme um 3,89 %.
  •       Im Landkreis (Lk) Insterburg ist von 1910 an ebenfalls eine Abnahme festzustellen.

Die nicht ausreichenden Lebensbedingungen mit unzureichender Ernährung, mangelnder Gesundheit, langfristiger Arbeitslosigkeit und Erblosigkeit hatten in Ostpreußen auf dem Lande dramatische Effekte.

Das landwirtschaftlich geprägte Ostpreußen konnte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts der wachenden Bevölkerung nicht mehr lebenssichernde Arbeitsplätze sowohl in der überwiegenden Landwirtschaft als auch in der zurückgebliebenen Industrie bieten.

Von 1871 bis 1910 wanderten etwa 1 Million Ostpreußen ins Reich ab. Selbst nach dem Ersten Weltkries hielt die hohe Abwanderung unvermindert an. Das zeigen u. a. die sinkenden Einwohnerzahlen im Landkreis Insterburg und in Willschicken. In der Provinz Ostpreußen nahm der Anteil des Industriesektors von 1871 bis 1907 nur von 16,1 % auf 20,4 % in der Rheinprovinz dagegen von 41.3 % auf 54,4 % zu.

Foto: Herstellung von Tilsiter Käse, Quelle: Ostpreußen (uni-oldenburg.de)

So gab es in Ostpreußen hauptsächliche nur gewerbliche Betriebe. Sie beschränken sich aber auf die gewerbliche Verar­beitung den land- und forstwirtschaftlichen Roherzeugnissen in Groß-Schlachtrein, Käsereien und Molkereien, Mühlen, Brennereien, Stärkefabriken und Säge­werken.

"Aus Ostpreußen gingen der Tilsiter Käse und Königsberger Klopse, ein Fleischgericht aus Gehacktem, in die allgemeine deutsche Küche ein. Beliebt sind Königsberger Marzipan, unter den Alkoholika Bärenfang (Honiglikör) und Pillkaller (Machandelschnaps)".

Technische Betriebe z. B. für  Textil- Landmaschinen erreichten nur mittlere Größen. Drei Ausnahmen waren die Werften in Danzig, der Lokomotiven Bau in Elbing und der Waggon-, Lokomotiven- und Schiffsbau in Königsberg.

Die geringen Wachstumsraten der Industrie in Ostpreußen sind auch auf eine "zaghafte Industrialisierung" zurückzuführen. Gegner einer raschen Industrialisierung waren die Großgrundbesitzer, die den Verlust ihres Einflusses befürchteten. Dazu kamen – bis auf Bernstein - die fast gänzlich fehlenden Bodenschätze und fehlende Facharbeiter. Hinderlich war das unzureichende Verkehrswegenetz.  Die bis zu vier Monate vereisten Flüsse konnten nur von Fahrzeugen bis zu 400 Tonnen genutzt werden, der Oberländische Kanal verkraftete gar nur Kähne bis maximal 100 Tonnen. Den Meereszugang behinderte zudem die starke Dünenbildung an der Küste. Das geringe Gefälle der Tieflandflüsse machte auch die Nutzung der Wasserkraft nahezu unmöglich. Nach den Versailler Verträgen wurden die überregionalen Verkehrsanbindungen noch unzureichender.



Die Motorisierung der Feldwirtschaft fand zwar schon ab 1870 statt. Die begann in Ostpreußen im größeren Um­fang erst ab dem Jahre 1930. Sie fand hauptsächlich auf "modernen" Gü­tern statt, die genügend Kapital besaßen. Bis zum 1. Weltkrieg wurden saisonal flexible Schnitter Kolonnen hauptsächlich aus Polen für Ostpreußen angeworben, da die frei verfügbare Masse der Besitzlosen Ostpreußen die Migration vorzog. Während der Weimarer Zeit war die Anwerbung aus Polen politisch stark umstritten. Für die "überschüssige" Landbevölkerung aus Ostpreußen waren die Lebensbedingungen in der Fremde auch nicht berauschend, aber anscheinend immer noch besser, wie zu Hause.

Die Bevölkerungszuwächse  in Ostpreußen beruhen auf Geburtenüberschüsse. Trotz des Wachstums der Bevölke­rung von 1920 von 2,22 Mio. auf 2,48 im Jahre 1939 war Ost­preußen wirtschaftlich nicht in der Lage, den Bevölkerungs-Zuwachs voll­ständig in der Provinz zu halten.

Die  mäßige Zunahme der Bevölkerung in Ostpreußen ab 1920 beruht auf "Nachholeffekte" aufgrund des 1. Weltkrieges. Die Steigerungen ab 1939 sind auch auf die Eingliederung der Memelgebietes zurückzuführen.


8.2 Geburten- und Sterberaten

"Als demografischer Übergang wird der Übergang von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenziffern bezeichnet. Er beginnt idealtypisch mit dem Rückgang einer hohen Sterblichkeit. Die Ursachen des Rückgangs umfassen sowohl einen höheren Lebensstandard und bessere Hygiene der Bevölkerung als auch den medizinischen Fortschritt, wobei zuerst die Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückgeht. Da die Geburtenzahl zunächst hoch bleibt, wächst die Bevölkerung vorübergehend schnell an und ihre Altersstruktur beginnt sich zugunsten jüngerer Altersjahrgänge zu verschieben.

Mit einer zeitlichen Verzögerung setzt dann ein Rückgang der Geburtenzahlen ein. Dieser kann als Anpassung an die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern und einer sich unter dem Einfluss gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und verändernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wandelnden idealen Kinderzahl interpretiert werden. Das Bevölkerungswachstum schwächt sich ab und die Bevölkerung beginnt, auch aufgrund der während des demografischen Übergangs stark gestiegenen Lebenserwartung, zu altern." Historisch verlief die Phase mit den höchsten Bevölkerungswachstumsraten in Preußen zeitgleich mit Industrialisierung und ging bis zum Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam zurück Quelle: Erster und Zweiter demografischer Übergang | bpb.de



Das "Modell des Demografischen Übergangs" ist nur eine Möglichkeit zur Beschreibung und Interpretation von Geburten- und Sterberaten. Es ist streng genommen kein "erklärendes theoretische Modell", sondern eine Beschreibung von ähnlichen Verkäufen in ähnlichen Regionen aber mit Lücken. Die einzelnen Phasen haben verschiedene Wendepunkte und können unterschiedlich lang sein. Durch häufige Gebietsveränderungen, veränderte Erhebungsmethoden, unterschiedliche Zeiträume und das Fehlen von Daten treten zusätzlich Interpretation-Schwierigkeiten auf.


Tabelle: Geburts-, Sterbe- und Heiratsraten in Preußen 1875 - 1910

Geburts-, Sterbe- und Heiratsrate in Preußen 1875 -1910
Preußen Städte in Preußen Landgemeinden in Preußen
Jahr Geburtes- Sterbe- Heirats- Geburtes- Sterbe- Heirats- Geburtes- Sterbe- Heirats-
Rate in % Rate in % Rate in % Rate in % Rate in% Rate in % Rate in % Rate in % Rate in %
1875 - 1880 41,1 27,4 16,3 41,0 29,0 18,2 41,4 26,5 15,3
1881 - 1885 39,1 27,0 15,9 37,6 27,8 17,6 39,8 26,5 15,0
1886 - 1890 39,0 25,6 16,3 36,8 25,7 18,4 40,3 25,4 15,00
1891 - 1895 38,5 24,2 16,2 36,8 24,1 18,0 40,2 24,3 15,5
1886 -1900 38,0 22,3 17,0 35,3 22,2 19,1 40,0 22,4 15,5
1901 - 1905 36,0 20,7 16,2 32,9 20,4 17,7 39,9 21,3 15,1
1906 - 1910 33,5 18,3 16,0 30,3 18,1 17,6 36,4 18,7 14,9


Quelle: Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815 -1914

Nach 1815 sollen mit Hilfe des Modells des Demografischen Übergangs Phasen der Bevölkerungsentwicklung in Ostpreußen beschreiben werden.

Folgende Phaseneinteilungen werden vorgeschlagen:

  • Phase 1 von 1815-1867  - Unruhiges Gleichgewicht.  Fruchtbarkeit und Sterblichkeit hielten in Deutschland von 1815 bis 1867 einen gezackten Parallelverlauf etwa zwischen durchschnittlich 42 und 28 %. Bis dahin spielt sich auf niedrigem Niveau ein ungefährer Gleichstand der Gesamtbevölkerung in Ostpreußen zwischen 1700 und 1846 von etwa 0,9 Mio. ein. Die Bauernbefreiung lässt große Teile der ländlichen Bevölkerung verarmen. Die Geburtenraten steigen in Ostpreußen ab 1846 deutlich an. Die Bevölkerung verdoppelt sich bis 1867 bis 1847 von 0,86 Mio. auf 1,80 Mio., um sich dann auf einem Plateau einzupendeln. Von 1848 bis 1873 gibt es in Ostpreußen die „Getreidekonjunktur", sie lässt die Menschen hoffen. Die Sterberaten fielen erst ab 1906 unter 20 %.
  • Phase 2 von 1867-1895  - Mehr Menschen leben länger. Trotz der durchgehend  die hohen Geburten-Überschüsse, stellt sich in Ostpreußen von 1867 bis 1895  nur ein Bevölke­rungswachstum von 1,80 auf 1,99 Mio. Einwohner ein. Im gleichen Zeitraum ist das Ab­fallen der Sterberate in Preußen von 27,4 % auf 24,2 % zu erken­nen, wäh­rend die Geburtenziffern von 41,1 % auf 38,5 % abnimmt. Die Bevölkerung wächst zwar, aber die Altersstruktur beginnt sich zugunsten jüngerer Altersjahrgänge zu verschieben. Es beginnen im großen Stil Wanderungen der jungen Landarbeiter in die Ballungsgebiete.
  • Phase 3 von 1895 bis 1914 -  Bevölkerung wächst auf hohem Niveau langsamer. Ab 1885 sinken die Geburtsraten in Preußen schneller. Von 1895 bis 1910 von 35,8 % auf 33,5 %. Die Sterberaten sinken allerdings auch von 24,2 auf 18,3 %. Die Bevölkerung wächst in Ostpreußen aber nur von 2,02 Mio. auf 2,12 Mio. Einwohner. Die Abwanderungen gehen weiter. Konjunkturen und Depressionen wechseln im 5 Jahres Rhythmus. Die Wanderungen bleiben auf hohem Niveau. Sie differenzieren sich aber durch die Unterstützung durch soziale Netzwerke, Rückwanderungen und erneuter Start, Nachzug und Auswanderung in die USA.
  • Phase 4 von 1914 -1939 -  Dominanter 1. Weltkrieg Von 1914 an liegt die Sterberate in Deutschland zunächst noch zwischen 21 und bis 1918  bei 24 %, um nach dem 1. Weltkrieg auf  durchschnittlich auf 11 % abzusinken. Die Geburtenraten liegen zwischen 1915 und 1925 über 20 %. Von 1915 bis 1939 wächst die Bevölkerung in Ostpreußen von 2,12 auf  2,48 Mio. Einwohner. Die Wanderungen gehen in Ostpreußen aufgrund nicht ausreichender Arbeitsplätze in der Industrie bis zum 2. Weltkrieg weiter.
  • Ab 1972 liegt in der Bundesrepublik Deutschland erstmals die Geburtenrate unter der Sterberate. Beide Raten verlaufen dann mit einem Abstand von z.Z. mit etwa 200.000 parallel weiter.

Geburten- und Sterberaten werden zusätzlich durch Heiratsraten und Säuglings- bzw. Kindersterblichkeit und die Länge der Lebenserwartung beeinflusst.

Abbildung:

Säuglingssterblichkeit Deutsches Reich, BRD, DAA 1827 - 2020

Säuglingssteblichkeit.png

Das relative niedrigen Bevölkerungswachstum in der 2. und 3. Phase ist in Ostpreu­ßen darauf zurückzuführen, dass, neben der Abwanderung, die Sterberate der Kinder auf einem relativ hohen Niveau lag. Das galt besonders für Säuglinge. Häufigste Todesursache war dabei Durchfall, wobei vor allem Kinder gefährdet waren, die nicht gestillt wurden. Ärmere Gesellschaftsschichten hatten dabei eine höhere Sterblichkeit als reiche. Die Kindersterblichkeit in Deutschland sank bis 1910 auf etwa 160, 1930 auf unter 100 und 1970 auf etwa 25 ja 1.000 Lebendgeborene. Ursache für den Rückgang waren konsequentes Stillen sowie beratende, soziale und hygienische Maßnahmen und auch die Kinderheilkunde.

Erstaunlicherweise sind in Preußen die Sterberaten auf dem Lande gegenüber den Städten niedriger. Ist das Leben auf dem Lande tatsächlich "gesünder" als in den damaligen Städten? Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Tatsächlich bieten aber hohe Werte der Bevölkerungsdichte in den Städten auch hohe Ansteckungsgefahren von Krankheiten. Folgende Epidemien fanden in Königsberg statt:

  • 1807 Flecktyphus und Ruhr in Königsberg, 10.000 Tote, Viehsterben, große Teuerung, 1.949 Geburten, 6.392 Todesfälle
  • 1831 Cholera in Königsberg, 2.200 Erkrankungen, 1.327 Tote, siehe auch Cholera-Aufstand in Königsberg. Der Cholera-Aufstand in Königsberg war ein Aufstand mehrerer hundert Menschen Ende Juli 1831 in Königsberg, der acht Tote und zahlreiche Verletzte forderte. Anlass war die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den städtischen Maßnahmen bei der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie. Quelle: Cholera-Aufstand in Königsberg – Wikipedia
  • 1866 Cholera in Königsberg, 3.967 Erkrankungen, davon 517 Soldaten; 2.671 Tote
  • 1871 Pocken, 771 Erkrankungen
  • 1871 Cholera, 3.741 Erkrankungen, 1.790 Tote

Karte: Geburtenrate je 1.000 Einwohner Deutscher Reich 1894/96

Karte: Geburtenrate je 1.000 Einwohner: 1894/96, Quelle: Geburten 1894/96 – Deutschland in Daten (deutschland-in-daten.de)

In den östlichen Regionen Preußens liegen die Geburtsraten auf dem Lande zwischen 1875 und 1910 über denen der Städte. Die hohen Ge­burtenraten auf dem Lande, die bis zu 16% über den Sterberaten lagen, sind Ausdruck eines "traditionellen" Menschenbildes, das  von den Kirchen und den Gutsherren vermittelt wurde. Die Menschen starben für heutige Verhältnisse früh bekamen aber dennoch viele Kinder. Bei den Gutsherrlichen Bauern bedurfte es der Genehmigung der Gutsherren, wenn der Scharwerker eine Ehe einzugehen wollte.

Ergänzend enthielten die meisten Lokalrechte Verbote für die Vermehrung der Bauernstellen durch Erbteilung, so dass nur ein Kind in die Funktion des Hausvaters und Gemeindegenossen nachrücken konnte. Dennoch hatte der stellengebundene Ehekonsens die Konsequenz, dass rund 20 bis 30 Prozent der mitteleuropäischen Bevölkerung niemals heiraten durften. Theoretisch waren diese Dauerledige auch kirchenrechtlich zu lebenslanger sexueller Abstinenz verpflichtet. Mütter und deren "unehelichen" Kinder wurden von der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt und von den "Autoritäten" sozial verachtet und verfolgt.

Die Quoten der unehelichen Geburten wuchsen in Preußen auf dem Lande von 1849 mit 6,7 % auf 7,2 % in 1874, in den Städten von 1849 mit 9,4 % auf 9,8 % in 1874.

Die Heiratsraten in Preußen haben einen verhältnismäßig gleichförmigen Verlauf, liegen in den Städten zwischen 17 und 18 % etwas über denen auf dem Lande, hier zwischen 14 und 15 %. Ehen wurden in der Regel erst dann eingegangen, wenn ihre wirtschaftliche Situation langfristig gesichert erschien. Auf dem Lande kam es häufig zu Spät-Ehen, da erst dann, ihre Zukunft gesichert war. Der gleichförmige Verlauf der Quoten lässt auch darauf schließen, dass die wirtschaftliche Lage in Ostpreußen gleichbleibend schlecht blieb.

Die Familienstände in Preußen: (1900)

  • 59,62 % ledig
  • 34,68 % verheiratet
  • 5,53 % verwitwet
  • 0,17 % geschieden

Die Heiratsraten in Preußen liegen zwischen 1875 und 1910 in den Städten über denen in den Landgemeinden. Die Gründe sind wohl neben der strengen Normierung wie die Heiratsgenehmigung auf dem Lande auch in besseren Lebensperspektiven in den Städten bieten, zu finden. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von einem wesentlichen Wanderungsmotiv "einem übergroßen Freiheitsdurst der jungen Landbewohner"

Die Ehe-Genehmigung der Scharwerks-Bauern war an eine Stelle gebunden. Der stellengebundene Ehekonsens führte zu Spät-Ehen mit einem hohen durchschnittlichen Heiratsalter von rund 28 Jahren bei den Männern und 26 Jahren bei den Frauen. Die Verkürzung der fruchtbaren Lebensspanne der Frau auf etwa zehn Jahre hatte einen geburtenregulierenden Effekt. Ein Paar konnte kaum mehr als vier oder fünf Kinder bekommen, von denen oft nicht mehr als die Erhaltungsquote von zweien überlebte. Die "persönliche Rechnung" besagte, mindestes 4 Kinder zu haben, davon könnten 2 streben, die überlebenden 2 Kinder könnten dann Vater und Mutter im Alter versorgen. Um 1900 lag die Fruchtbarkeitsziffer für Frauen bei 4,93 Kinder. Dieses Menschenbild hielt bis nach dem 1. Weltkrieg und wurde während des Nationalsozialismus wieder belebt. Generell ist nach Kriegen ein Ansteigen der Geburtenraten festzustellen.

Quelle: BiB – Fakten – Säuglingssterblichkeit in Deutschland (1872-2020) (bund.de)

Im Deutschen Reich betrug 1871/1881 die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Jungen 35,6 Jahre und für Mädchen 38,4 Jahre. Durch die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit starb ein Drittel der Kinder vor Vollendung des 5. Lebensjahres. Um 1900 lag die Fruchtbarkeitsziffer für Frauen bei 4,93 Kinder. In den letzten 140 Jahren hat sich die Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland mehr als verdoppelt (2016/2018: Jungen: 78,5 Jahre / Mädchen: 83,3 Jahre). Dafür sind viele Faktoren verantwortlich: Fortschritte in der Medizin, im Gesundheitswesen und im Bereich der Hygiene, bessere Ernährung, komfortableres Wohnen, bessere Arbeitsbedingungen sowie höhere Sicherheitsstandards.

Die folgende Tabelle zeigt die durchschnittliche Le­benserwartung  Im Deutschen Reich

Quelle: Demografie Deutschlands – Wikipedia

Rechtliche Strategien gegen die Vermehrung der lokalen Bevölkerung waren nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gerichtet. Um 1800 sollen etwa zehn Prozent der ländlichen Bevölkerung in Ostpreußen "heimatlos" gewesen sein. Sie wurden unterschiedlich bezeichnet, z. B. als Heimatlose, Landfahrer, Vaganten, Vagabunden, Wanderer, Obdachlose, Bettler oder Nichtsesshafte. Unter ihnen war die Säuglingssterblichkeit extrem hoch.

Besonders strikt war das Sich-Abschließen gegenüber der die Landstraßen bevölkernden heimatlosen Bevölkerung. Es gab eine strikte Abweisung der Gemeindevorsteher und Gutsherrn diesen Außenstehenden gegenüber. Ein freier Zuzug - der oft in Gruppen auftretenden  Heimatlosen – hätte die dörfliche Sozialwelt binnen kurzem überfordert. Durch gleiches Verhalten der Dorfgesellschaften waren die Landfahrer, immerhin nach Schätzungen von 1850 noch rund fünf Prozent der Bevölkerung in Preußen, in eine unentrinnbare unfreiwillige nahezu völlige Recht- und Schutzlosigkeit ohne realistische Wiederansiedlung abgedrängt. Ein regulärer Lebenserwerb stand ihnen nicht mehr offen, womit Lebensmittel-Diebstahl zum Überlebenszwang wurde. Wolfgang John, schätzt die Zahl der Obdachlosen für 1880 in Preußen in den Städten aufgrund einer Umfrage auf 682 000 – noch etwa 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, auf dem Lande sollten geschätzte 3,5% "heimatlos" sein, da sie dort "besser überleben konnten". (Quelle: Wolfgang John, … ohne festen Wohnsitz… Ursache und Geschichte der Nichtseßhaftigkeit und die Möglichkeiten der Hilfe) Während der Industrialisierung ging ihre Zahl auf Grund der sozialen Ausgrenzung kaum zurück. In Ostpreußen fürchteten sich konservativer Kreis um 1900 vor "polnischen Bettlern". In Willschicken konnten man nach dem 1. Weltkrieg noch „Ziegahnsche" oder „Pracher" auf der Straße begegnen. Im Dritten Reich wurde die "asoziale" Teile der Bevölkerung in Lagern systematisch weitgehend umgebracht.


8.3 Ein- und Auswanderungen von Ostpreußen

"Als Migration werden räumliche Bewegungen von Menschen bezeichnet, die mit einer längerfristigen Verlagerung des Lebensmittelpunktes (von Individuen, Familien oder Kollektiven) über eine administrative Grenze hinweg einhergehen. Migrationen, die innerhalb eines Staates erfolgen, werden als Binnenwanderungen bzw. Binnenmigration bezeichnet." Quelle: Migration | bpb.de

Maßgeblich für das Deutsche Reich waren die  Binnenwanderungen.

Die Intensität der Binnenwanderung im Deutschen Reich hing eng mit den damaligen Konjunktur-Rhythmen zusammen. Ab 1872 wechselten Auf- und Abschwung bis 1914 etwa alle 5 Jahre ab, so dass es keine langfristig Lebensperspektive für Menschen ohne festes Einkommen gab. Siehe weiter unten auch die Tabelle: Konjunkturzyklen im Deutschen Reich nach Hans-Ulrich Wehler. Die Hyperinflation 1918-1924 und die Weltwirtschaftskriese 1929 - 1933 lieferten weitere handfeste Wanderungsargumente.

Besonders ausgeprägt war die Ost-West-Binnen-Wanderung, also der Zug aus den östlichen preußischen Provinzen nach Berlin oder in die rheinisch-westfälischen Industriegebiete. Bis 1907 hatten 1,94 Millionen Menschen die ostelbischen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und Posen verlassen und rund 24 % der in diesen Provinzen Geborenen lebte zum Zeitpunkt der Volkszählung in anderen Teilen des Reiches. Von diesen waren etwa 400.000 im Ruhrgebiet und 360.000 in Berlin und Umgebung wohnhaft. Bis 1914 wanderten allein etwa 450.000 meist polnisch oder masurisch sprechende preußische Staatsbürger ins Ruhrgebiet.

Die Mehrheit der Fernwanderer waren Einzelwanderer, zumeist ledige jüngere Männer. In Bereich der Nahwanderung, also innerhalb einer Provinz, waren Frauen, die meist Arbeit als Dienstmädchen suchten, überdurchschnittlich stark vertreten. Später holten die ostdeutschen Zuwanderer nur zum Teil Frauen und andere Familienangehörige nach, da die Zurückgebliebenen zu Hause die Kleinbauernstellen bewirtschaften mussten.  Ausgeprägt war auch die Rückwanderung, etwa im Alter oder in Zeiten schlechter Konjunktur.

In einigen Gebieten entwickelten sich Formen von regelmäßiger Saisonarbeit. So wanderten aus Masuren jedes Jahr zahlreiche Bauhandwerker zum Arbeiten für einige Monate ins Ruhrgebiet und kehrten ebenso regelmäßig in den Wintermonaten wieder zurück. Mit der Einführung günstiger Arbeitertarife durch die Eisenbahn nahm auch die Pendelwanderung erheblich zu. Diese verschiedenen Formen machten eine dauerhafte Abwanderung unnötig und ermöglichten insbesondere den Besitzern kleiner unrentabler Höfe, ihren Besitz zu halten

Die Abwanderungen in Ostpreußen setzen um 1870 nach dem Ausbau der Eisenbahn im großen Stil ein. Sie waren um die Jahrhundertwende besonders hoch und gingen auch nach dem Ersten Weltkrieg zunächst nicht zurück. In den 40 Jahren zwischen 1871 und 1910 wanderten jährlich durchschnittlich zwischen 20.000 und 30.000 überwiegend junge ostpreußische Männer in das Reich ab, d.h. etwa eine Million Menschen verließen in diesem Zeitraum ihre Heimat. Die, durch die Versailler Verträge, abgeriegelte Provinz drohte nach dem 1. Weltkrieg auszubluten. Von 1920 bis 1933 wanderten nachmals schätzungsweise 320.000 Menschen nicht nur in das Reich, sondern auch nach Übersee ab. Die Bevölkerungszahlen im Landkreis Insterburg im Kreis Franzdorf und in Willschicken nahmen deshalb sogar ab.


Die Ab- bzw. Zuwanderung in Ostpreußen lief in mehreren Phasen ab:

  •  Erstwanderung in ländliche Umgebung und größere Städte der Umgebung. (siehe auch Demografischer Übergang Phase 1) Bis zum Ausbau der Eisenbahn ab 1860 wahren die Transportmittel sehr begrenzt. In einem ersten Schritt wurde in die ländliche Umgebung nach Arbeitsplätzen gesucht. Stellen als Instleute, Gesinde oder Tage­löhner waren begehrt. Jedoch nur während der wirtschaftlichen Aufschwünge boten sich in kleinem Maße die Gelegenheiten an. Die größeren Städte in Ostpreußen waren nicht in der Lage die großen Massen langfristig aufzunehmen, da es hier nicht genügende Arbeitsstellen gab. Besonders unversorgte Frauen suchten nach „Häuslichen Diensten“ in der Region und in der Provinz Ostpreußen. Hinzu kamen landsmännische Bindungen. Der Land-Kreis Gumbinnen wies 1919 mit über 70 Einwohnern je km² mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Ostpreußen auf. Hier gab es eine Konzentration von ehemals Litauern von diesseits und jenseits der Grenze. Sie machten um 1900 etwa 10 % der Ortsansässigen aus. Diese zogen weitere Lands-Männer und Frauen nach sich, um hier als Erstwanderer bei Freunden und Verwandten unterzukommen, um dann nach Arbeit zu suchen.
  •  Abwanderung in Industriegebiete und Großstädte (siehe auch Demografischer Übergang Phase 2) Insbesondere junge Männer aus den Landgemeinden zogen jetzt dahin, wo es an Arbeitskräften mangelte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine wachsende Zahl nachgeborener ostpreußischer Bauernsöhne und Landarbeiter in die Indust­riegebiete in Schlesien und Sachsen abzuwandern (so genannte „Sachsengängerei“), ebenso ins Ruhrgebiet und nach Berlin. So fehlten vielerorts in der Erntezeit die Arbeiter. Mit Wirkung ab 1. November 1905 wurden in der Provinz Ostpreußen die vier südlichen Kreise (Johannisburg, Lötzen, Lyck und Sensburg) vom Regierungsbezirk Gumbinnen abgetrennt und zusammen mit dem Südteil des Bezirks Königsberg zum neuen Regierungsbezirk Allenstein zusammengefasst. Die Abwanderungsraten waren im neuen Regierungsbezirk Allenstein am höchsten. Dies hing auch mit der minderen Bodenqualität zusammen. Dieser Regierungsbezirk wies auch den höchsten Anteil zugewanderter polnischer Bevölkerung auf, die häufig in der zweiten Generation weiterwanderte. Es waren zunächst Saisonwandere, die im Winter zurückkehrten.
  •  Zuzug von Saisonarbeitern (siehe auch Demografischer Übergang Phase 3) Für die wachenden Ernteerträge auf den Gütern wurden deshalb (bil­lige) Sai­sonarbeiter  aus Kongresspolen  angeworben. Diese Schnitter Kolonnen ver­pflegten sich selbst. Kornus aus der Korbflasche verdünnt mit Wasser, Kohlsuppe und eine Seite fetter Speck war eine übliche Verpflegung. Akkordarbeit war die Regel. Geschlafen wurde in den Ställen oder im Freien. Auf dem Gut Alt Lappönen gab es sogar eine “Schnitterkaser­ne“, in der im Dritten Reich Ostarbeiter untergebracht wurden. Quel­le: https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2021/Ausgabe29.shtml
  • „Osteuropäische Migration nach Deutschland bedeutete seit dem späten 19. Jahrhundert vornehmlich Migration von Polinnen und Polen. Weil es seit dem späten 18. Jahrhundert keinen polnischen Staat mehr gab, handelte es sich um Staatsangehörige Russlands oder Österreich-Ungarns. Im Deutschen Kaiser­reich und in der  Weimarer Republikgalt eine Beschäftigung polnischer Arbeits­kräfte zwar als wirtschaftlich notwendig. Wegen der Furcht vor einer "Polonisie­rung" der östlichen Gebiete des Reiches sollte aber verhindert werden, dass sie sich dauerhaft niederließen. Ihr Aufenthalt wurde deshalb streng kontrolliert und saisonalisiert. Polnische Arbeitskräfte durften im Wesentlichen nur in der Land­wirtschaft beschäftigt werden und mussten im Winter in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren. Kurz vor dem  Erster Weltkrieg wurde die Zahl der ausländi­schen Arbeitskräfte in Deutschland auf insgesamt 1,2 Millionen geschätzt, ein Drittel davon waren Polinnen und Polen, von denen ca. 270.000 in der Land­wirtschaft arbeiteten.“ Frauen wurden bevorzugt, da sie deutlich weniger als die Männer verdienten. Im Ersten Weltkrieg wuchs besonders in Ostpreußen die Zahl der polnischen Arbeitskräfte nochmals an, da sie auf dem Lande die einberufenen Männer ersetzen sollten, was aber nur teilweise gelang. Quelle: Osteuropäische Arbeitskräfte in Deutschland vom späten 19. Jahrhun­dert bis in die Gegenwart | bpb.de

Die folgenden Fotos zeigen polnischer Landarbeiter um 1900

  •  Weiterwanderung und Suche nach annehmbaren Arbeitsplätzen (siehe auch Demografischer Übergang Phase 3) Die jungen Männer aus der ostpreußischen Landwirtschaft bleiben häufig nur ein Jahr an ihrem ersten Zielort. Ursachen waren ungewohnte Umgebung, schlechte Wohn- und Arbeitsbedingungen und gesundheitliche Probleme. Sie zogen weiter „um es besser zu treffen“. „Das informelle Informationsnetz und die gezielte Anwerbung in bestimmten Regionen führten dazu, dass häufig Verwandte und Freunde, nachbaren und Berufskollegen aus demselben Herkunftsgebiet den neuen Ankömmling auffingen.“

Tabelle: Wanderungsvolumen und Wanderungssaldo in Berlin


Zeitraum

Zuzug Abzug Wanderungs-
Saldo
1880 - 1890 1 585 000 1 162 600 422 400
1890 -1900 2 090 700 1 656 800 433 900
1900 - 1910 2 603 000 2 245 000 358 000

Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 3

  •  Teilweise Rückwanderung nach Hause zur Familie und Erneute Abwanderung in Industriegebiete und Großstädte (siehe auch Demografischer Übergang Phase 3) „Die Rückwanderungen auf Land erfolgten, wenn die hochgespannten Erwartungen enttäuscht oder die Hoffnungen durch eine Konjunkturschwankung durchkreuzt wurden. Überwiegend blieb es nicht bei einer dauerhaften Rückkehr, sondern bei der nächsten Gelegenheit ging es wieder auf die Suche nach einem Erwerbsangebot in einer anderen Stadt. So bildete sich ein Kreislauf heraus, der Hunderttausend immer wieder zurück in die ländliche Gemeinschaft führte.“ Erich Tuttlies arbeitet von 1925 bis 1935 als Maurer zuerst in Insterburg. Hier wohnte er bei seinem Bruder Max. Dann zog der weiter nach Berlin und kehrte 1933 wieder zu Hause zurück.
  •  Nachzug der Familien  (siehe auch Demografischer Übergang Phase 3) "Man kann auch einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt". Dieser Ausspruch stammt von Heinrich Zille, der das Mietkasernenelend in Berlin zeichnete. Die Wohnungssituation war in den Ballungsgebieten für nachziehende Familien katastrophal. Bis zu 8 Personen "hausten" in 1-Zimmerwohnungen. Es gab aber auch des "Trockenwohnen" von Mietskasernen in Großstädten oder Schlafgänger, die sich ein Bett im Schichtbetrieb teilten. Als Schwabesches Gesetz bezeichnet man die 1868 von dem Berliner Statistiker Hermann Schwabe formulierte Beobachtung, wonach bei steigendem Einkommen eines Privathaushalts dessen Konsumausgaben für Wohnungsmiete relativ abnehmen.  „Je ärmer jemand ist, desto größer ist die Summe, die er im Verhältnis zu seinem Einkommen für Wohnungsmiete verausgaben muss“. In Berlin verdoppelten sich die Mieten von 1850 bis 1870. Pionierwanderer erkundeten häufig zunächst die Gelegenheiten vor Ort, um dann gegebenenfalls die Familie nachzuholen. Die Zahlen bleiben zumindest in der „ersten „Wander-Generation“ gering. Die Literatur nennt nur ca. 10 % Familien-Nachzug. In den meisten Fällen blieb aber „das Haus der Eigenkätner in der Heimat“ der wichtigste Ankerpunkt für die zurückgebliebenen Familien und die rückkehrenden Wanderer.
  •  Auswanderung: (siehe auch Demografischer Übergang Phase 3 und 4) Die Perspektivlosigkeit und Abenteuerlust führte zur Auswanderung von über fünf Millionen Menschen aus Deutschland nach Übersee – insbesondere nach Nordamerika und dort in erster Linie in die USA. Es waren überwiegend Familienwanderungen. Diese waren auch das Ziel von (1880–1914) etwa fünf Millionen Transitwanderern aus Osteuropa, die sich über deutsche und westeuropäische Häfen einschiffen wollten, dabei aber teilweise auch unterwegs 'strandeten' da ihnen die finanziellen Mittel ausgingen, sie krank wurden, aber auch weil sie hier Arbeit oder Ehepartner fanden. Ostpreußen war und blieb aber kein Auswanderungsgebiet, sondern ein Ausgangsraum der internen Ost-West-Fernwanderung, zu der es die stärksten Kontingente stellte: Während die deutsche Auswanderungsstatistik etwa in dem Jahrzehnt 1890–1900 insgesamt nur 12.859 überseeische Auswanderer aus Ostpreußen erfasste, betrug der gesamte Wanderungsverlust Ostpreußens in diesem Jahrzehnt 451.916 Personen. Auswanderung aus Willschicken fand aber auch statt. So migrierte z. B. Anni Bartuschat aus Willschicken mit Familie lt. Bremer Passagierlisten am 18. Mai 1934 auf dem Schiff „Bremen“ von Bremen nach New York. Quelle: bremer passagierlisten auswanderung - Suchen (bing.com)
  • Zuwanderung: Von der Reichsgründung bis 1910 stieg die Zahl der registrierten Ausländer im Deutschen Reich (ohne Saisonarbeiter) von 206.000 auf knapp 1,2 Mio. Etwa 110.00 Polen arbeiteten saisonweise in der ostpreußischen Landwirtschaft.

Der damalige Regierungspräsident des Regierungsbezirkes Gumbinnen Graf Westfal stellte 1887 folgendes fest: "Als eine der Hauptursachen für die Abwanderung ist die Tatsache hervorgehoben, dass die Industrie des Westens das ganze Jahr über gleichmäßige Beschäftigung und entsprechende Löhne biete, während die Landwirtschaft im Regierungsbezirk Gumbinnen, die den vorwiegenden Erwerbszweig darstelle und gleichzeitig aber zur Bewältigung der Bestell- und Erntearbeiten auf einen äußert kurzen Zeitraum eingeschränkt sei, außerhalb der Saison den größeren Teils der Arbeitskräfte entlassen müsse. Hinzu komme, dass gleichzeitig außerhalb der intensiven Beschäftigungszeit die Löhne auf die Hälfte und tiefer herabsänken. Diese unsicheren Arbeitsverhältnisse und Lohnschwankungen machten die Landbevölkerung leicht empfänglich für die Anwerbungen der Arbeitgeber aus den westlichen Provinzen."

Mit einem Schreiben vom 2. April 1901 fordert der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen den Regierungspräsidenten von Gumbinnen Eduard Wilhelm von Hegel (1895-1905 Regierungspräsident in Gumbinnen) auf, aufgrund der Volkszählung des Jahres 1900, die wirtschaftliche Lage im Regierungsbezirk darstelle.

In der daraufhin erstellten Denkschrift kommt der Gumbinner  Regierungspräsident von Hegel in Jahr 1901 zu dem Schluss, dass für die Verbesserung der Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter „hauptsächlich die Erhöhung der Löhne, Schaffung besserer Wohnungen und die Segnungen der sozialen  Gesetzgebung, einschließlich einer besseren Behandlung durch ihre Arbeitgeber“ in Betracht kämen.

Auf die teilweise bedrückende Wohnungslage der landwirtschaftlichen Arbeiter auf den Gütern ist oben schon hingewiesen worden. Zwar gab es "genügend Wohngelegenheiten" für die Landarbeiter auf den Gütern, sie entsprachen aber in keiner Weisen den damaligen Anforderungen von Sozialreformern und Teilen der Verwaltung an Größe, Hygiene, Kochmöglichkeiten und Wärmedämmung. Die Bemühungen von staatlichen Stellen durch die Aufsiedlung von bankrotten Gütern oder von Brachland, Neusiedlern durch Häuserbau eine attraktive Alternative zur Abwanderung zu bieten, hatten kaum Erfolg. Zu den Schat­tenseiten der privaten Besiedlung hat sich auch Max Weben weiter unten geäußert. Er kritisiert die fiktive Marktposition von Kleinbauern und die nicht mehr vorhandene Allmende.

Daran konnte anscheinend auch der Umstand nichts ändern, dass die Löhne der Landarbeiter in dem Jahrzehnt von 1884 – 1894 etwa um ein Drittel, in dem Jahrzehnt  von 1890 – 1900 sogar um etwa zwei Drittel stiegen.

Quelle: Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 -1920

Max Weber berichtet in seiner großen Studie u.a. aus Ostreußen über den Ton und das Verhalten der Besitzer gegenüber den Landarbeitern :

„Sehr häufig wird in beide Hinsichten schwer gefehlt. Wiederum auch hier viel mehr auf den Gütern als in den mittleren und kleinen Wirtschaften. Die Anforderungen an Tätigkeit und Leistungsbereitschaft der Arbeiter aller Kategorien übersteigt oft, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Ernährungsweise usw. alles Maß, wozu häufig noch Lohnabzüge, polizeiliche Bestrafungen und dergleichen treten. Das erbittert die Leute und ist der Hauptgrund auch des Fortziehens … Gleichwohl ziehen sie ab, weil sie sich Hoffnung machen auf eine bessere, menschenwürdigere Behandlung. Namentlich sind es viele der jüngeren „schneidigen“ Besitzer und deren gleichartige Beamten, welche diesbezüglich manche Verantwortung trifft.“

Quelle: Max Weber: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Preußische Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Großherzogtümer Mecklenburg, Kreis Herzogtum Lauenburg). Dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, LV. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland; Bd. 3)


9. Verschuldung

Die Verschuldung war bis 1945 ein Dauerthema in der Landwirtschaft in Ostpreußen. Frühe Quellen berichten: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brach für den Landadel eine schwierige Zeit an. Die Kriege und die wirtschaftliche Zerrüttung in den 1740er und 1750/1760 Jahren, verschärften noch durch die staatliche Manipulation des Kornmarktes durch das Magazinsystem und die demografische Überlas­tung durch den natürlichen Zuwachs der landbesitzenden Familien, setzten den Landadel zusehends unter Druck.  Die Verschuldung der Junkergüter nahm drastisch zu, was in vielen Fällen zu Bankrotten oder dem Zwangsver­kauf des Grundsitzes, häufig an wohlhabende Bürgerliche führte. Adlige beklagten das "Güterschlachten". Das betraf besonders für den letzten Schritt zu, einer sehr gefürchteten Entscheidung, den Zwangs-Verkauf von Gutsland. Allgemein betrachtet war die Verschuldung der gesamten Landwirtschaft nach der "Bauernbefreiung" hoch.

Tabelle: Verschuldung in Preußen in der Landwirtschaft 1883

Verschuldung in Preußen in der Landwirtschaft 1883
überhaupt davon davon
absolut verschuldet verschuldet
in % mittelmäßig hoch
Große Güter 70,4 27,5 32,9
Großbauern 43,1 28,5 14,6
Mittelbetriebe 39,8 27,5 12,3

Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 3


Die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion - diese Or­ganisa­tion, die den ostpreußischen Landwirten unkündbare Kredite zu mäßigen Zinsen beschaffen konnte, wurde 1788 von König Friedrich Wilhelm II. von Preu­ßen mit einem Kapital von 200.000 Talern gegründet. Die Anstalt wurde 1869 als öffentlich-rechtliches Institut von der Ostpreußischen Generallandschaftsdirektion gegründet. Sie bestand bis 1932. Quelle: Ostpreußische Generallandschaftsdirektion – Wikipedia

Sie war eine staat­lich finanzierter landwirtschaftlicher Kreditanstalten (der so genannten Land­schaften), zunächst zur ausschließlichen Nutzung durch die Junkerfamilien. Es war ab dem 2. März 1850 eine gemeinnützige öffentlich-rechtliche Kreditanstalt. Diese Einrichtungen vergaben Hypotheken in Form von Pfandbriefen zu niedrigen Zinssätzen an notlei­dende oder verschuldeten adligen Grundbesitzer. Die adligen Landschaftsräte als gewählte Vertreter der (Guts) Landwirtschaft ihrer Kirchspiele schätzten die Kreditgrenzen für die Erststellige Beleihung mit Pfandbriefen ab.

Gesamtverschuldung der Grundbesitzer aus Land- und Fortwirtschaft im Regierungsbezirk Gumbinnen 1902
Einkommens- Zahl der Durschschnitts- Schulden Prozentzahl
gruppen Grundeigen- Gesamt- Betrag in % des der unver-
von Reichs-Mark tümer vermögen der Brutto- schuldeten
in netto pro Jahr (Brutto) Schulden gesamt- Eigentümer
in Reichs-Mark Vermögens
bis   900 7 070 12 000 5 000 46,7 5,1
900 bis 1 500 8 611 24 000 11 000 46,3 5,0
1 500 bis 3 000 3 260 58 000 29 000 49,7 8,9
3 000 bis 6 000 611 161 000 81 000 50,6 9,5
6 000 bis 9 500 92 301 000 145 000 48,1 10,9
über  9 500 78 774 000 236 000 30,5 10,3
Zusammen 19 722 34 000 16 000 46,6 5,9


Quelle: Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 -1920

Der Zinssatz der Ostpreußische Generallandschaftsdirektion betrug 3,5 % oder 4 %, hinzu kamen 0,5 % Tilgung und 0,25 % Verwaltungskosten. Der Kreditnehmer musste, um an Bargeld zu kommen, die Pfandbriefe an der Börse verkaufen. Das Kursrisiko war bei den relativ stabilen Verhältnissen bis zum Ersten Weltkrieg gering. Die Landschafts -Pfandbrief-Darlehen waren etwa in 35 Jahren – etwa eine Besitzergeneration - getilgt, so dass bei der nächsten Hofübernahmen die übernehmenden Erben durch erneute Darlehnsaufnahme Eltern und Geschwister abfinden konnten.

Die Kreditanstalten waren zunächst überaus erfolgreich, zumindest wenn man als Maßstab für Erfolg das rapide Wachstum des Wertes der von ihnen ausgestellten Akkreditive heranzieht, die schnell zu Objekten finanzieller Spekulation wurden. Darlehen der Kreditanstalten halfen einigen notleidenden Grundbesitzern, ihre Produktivität zu verbessern.

Die adligen Landschaftsräte fungierten vor Ort auch als eine Art von Maklern, die in der Regel ihre adligen Interessenten bevorzugten. Ein Landschaftsrat aus Königsberg hatte auch bei adligen Verwandten in Berlin eine Art Vermittlungsbüros für Landkäufer in Ostpreußen eingerichtet. Quelle: Bank der Ostpreußischen Landschaft zu Königsberg i.Pr. | ZBW Pressearchive Neben den offiziellen Institutionen hatten sich aber auch schnell private Agenten installiert, die zum Teil ein Unwesen betrieben - siehe dazu 10.1 Folgen der Separation.

Doch die gesetzlichen Bedingungen, die Darlehen zur nutzbringenden Verbesserung des Landes zu verwenden, wurden häufig sehr großzügig ausgelegt, sprich die vom Staat subventionierten Kredite wurden für Zwecke missbraucht, die wenig zur Konsolidierung des adligen Landbesitzes beitrugen. Davon abgesehen reichten die Kreditanstalten nicht aus, die sich stetig verschärfende Schuldenkriese im gesamten ländlichen Sektor zu beheben, da sich Grundbesitzer, die von den Landschaften keine günstigen Darlehen mehr erhielten, einfach an andere Geldgeber wandten. Über  die 54 Millionen Taler Hypothekendarlehen hinaus, welche die Kreditanstalten 1807 insgesamt hielten, hatten die adligen Landbesitzer weitere 307 Millionen Taler Grundschulden bei bürgerlichen Gläubigeren aufgenommen.“ 

Wolfgang Kapp war von 1906–1920 Generallandschaftsdirektor der Ostpreußische Generallandschaftsdirektion. Er führte am 13. März 1920 zusammen mit General Walther von Lüttwitz unter Einsatz der Marine-Brigade Ehrhardt mit Unterstützung von Erich Ludendorff den erfolglosen Kapp-Putsch gegen die demokratisch gewählte Reichsregierung in der Hauptstadt Berlin an. Kapp setzt sich selbst als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident ein und beruft Lüttwitz zum Reichswehrminister und Oberbefehlshaber der Reichswehr. Diese illegitime Gegenregierung scheitert am Widerstand der Zivilbehörden, der bürgerlichen Parteien und eines Generalstreiks. Nach dem Scheitern floh Kapp am 17. März verkleidet nach Schweden. Nach zweijährigem Exil in Schweden stellt sich Kapp dem Reichsgericht, um seine Motive offenzulegen. Wolfgang Kapp stirbt am 12. Juni 1922 in der Untersuchungshaft in Leipzig an einer Krebserkrankung (Quelle: Christopher Clark, Preußen)

Nach Hans-Ulrich Wehler ist die „Landwirtschaft bis 1933 im Verhältnis von fast 1 zu 1 abhängig von den Konjunktur- und Depressionsverläufen der Wirtschaf. Zumal die Landwirtschaft bis 1873 der führende wirtschaftliche Sektor war. Erst 1885 gewann die deutsche Industrie in Hinblick auf so wichtige Leistungsindikatoren wie die Wertschöpfung, den Kapitalstock, die Nettoinvestition und den Anteil am Nettoinlandsprodukt den Primat vor der Landwirtschaft .“

Insgesamt blieb aber die Verschuldung in der Landwirtschaft ein Dauerthema in Ostpreußen. Insbe­sondere ist das Schuldenproblem nach dem Ersten Weltkrieg abermals deut­lich hervorgetreten und zu einem Symptom der wirtschaftlichen Schwäche der Provinz geworden. Die öffentlich-rechtlichen oder genossenschaftlichen Banken, landwirtschaftliche Ge­nossenschaften oder gemeinnützige Siedlungsgesell­schaften waren jetzt die Kreditgeben. Sie waren typi­scherweise auch Hauptgläubi­ger. Aufgrund der konjunkturellen Lage lohnte sich die private Kreditvergabe an verschuldete Höfe nicht mehr oder war, wie im Dritten Reich untersagt.

Die folgende Tabelle zeigt nach Hans-Ulrich Wehler die Konjunkturzyklen in Deutschland.

1816 bis 1817 Agrarkrise Hungerkrise
1818 bis 1820 Nachkriegsaufschwung
1821 bis 1825 Preiskrise
1826 bis 1845 Konjunktur
1846 bis 1847 Agrarkrise Hungerkrise
1848 bis 1873 Aufschwung goldene Jahre
1873 bis 1879 Depression Weltwirtschaftskrise
1879 bis 1882 Konjunktur
1882 bis 1886 Depression
1886 bis 1890 Konjunktur
1890 bis 1895 Depression
1895 bis 1900 Konjunktur
1900 bis 1902 Depression
1902 bis 1907 Konjunktur
1907 bis 1908 Depression
1908 bis 1913 Konjunktur
1914 bis 1918 große Inflation Weltwirtschaftskrise
1918 bis 1924 Hyperinflation
1924 bis 1928 goldene Jahre
1929 bis 1933 Dritte Weltwirtschaftskrise
1933 bis 1945 Kriegsfinanzierung

Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 1,2,3 und 4

Selbst in guten Zeiten gelang es den wenigsten ihre Schulden abzubauen, da es häufig langwierige Prozesse waren. Die guten Zeiten dauerten häufig nicht lange genug. Was lag dann näher als ein Verkauf oder die Verpachtung.

Altsitzer bezeichnet den Eigentümer, der seinen Hof nicht mehr selbst bewirt­schaftet, sondern ihn an seine Nachkommen abgegeben hat. Es führte häufig zu räumlichen Trennungen. Dazu wurden sehr umfangreiche schriftliche Ver­einbarungen getroffen und in die Grundakte eingetragen. Damit war seine Versorgung gesichert, eine Rente gab es damals noch nicht. Das führte häufig, aber auch zu langfristiger Verschuldung der Erben.

Um die strukturelle Verschuldung zu mildern, war die Separation (Flurbereini­gung) ein wichtiges Instrument. Sie ermöglichte eine Modernisierung der ländlichen Infrastruktur, die aber aufgrund der Machtverhältnisse auf dem Lande nur teilweise umgesetzt wurde.


10. Separation und Modernisierung der Landwirtschaft, der Infrastruktur und des Volksschulwesens

Folgende Punkte werden angesprochen:

10.1 Folgen der Separation

10.2 Gut Alt Lappönen

10.3 Modernisierung der Landwirtschaft

10.4 Modernisierung der Infrastruktur

10.5 Modernisierung des Volkschulwesen im Regierungsbezirk Gumbinnen

Die rationelle Landwirtschaft erforderte ausgebildete und leistungsbereite Arbeitskräfte, größere und modernere Wohnbauen, Ställe, Scheunen, verstärkter Maschineneinsatz, Mineraldünger, kürzere Wege auf eigenem Land, eine verbesserte Dreifelderwirtschaft, Melioration und neue Zuchtmethoden. Hinzu kamen ein modernes Schulwesen, eine leistungsfähige Infrastruktur, sichere Vertriebskanäle und stabile Abnahmemärkte. All dies setzte den persönlichen und politischen Willen voraus und kostet Geld.

Insgesamt bleib aber die Modernisierung der Landwirtschaft in Ostpreußen gegenüber dem Reich zurück. Bis 1945 war die Wirtschaft Ostpreußens überwiegend agrarisch geprägt. Bodenschätze fehlten nahezu. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte von gebietsweise zwischen 40 bis 45 Menschen je km² im Landkreis Insterburg (Stand: 1919) war der land- und forstwirtschaftliche Sektor auf den Export seiner Überschüsse angewiesen.

Es fehlten die lokalen Absatzmärke und mit ihnen mögliche Konsumenten für die in Ostpreußen erzeugten Produkte. Die Löhne, die in der Landwirtschaft gezahlt wurden, waren mit die niedrigsten im Deutschen Reich. Es begann eine Spirale nach unten. Die "überschüssige" Arbeitsbevölkerung war auf Grund niedriger Löhne und fehlender Arbeitsplätze gezwungen abzuwandern. Separation und Modernisierung von der Landwirtschaft und der Infrastruktur konnten diese Prozesse in Ostpreußen nicht stoppen. Erst durch die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten "beruhigte" sich die Dynamik der Bevölkerungswanderungen etwas.


10.1 Folgen der Separation

„Separation“, „Ausbau“ oder „Abbauten“, masurisch "Wynara", (Flurbereinigung) d.h. die (amtli­che) Zusammenlegung oder (freiwillig/wirtschaftlich) der Tausch, die Pacht, die Erb- und Altenteilung oder der Kauf und Verkauf von fideikommmissfreien Guts-, Scharwerks- und All­mendegrundstücken führte zu einer Differenzierung in der gesamten Bauernschaft. Die Gründe waren gesellschaftlicher Natur. So gesehen wird die Separation als Modernisierung verstanden. Sie hatte aber für große Teile der ländlichen Bevölkerung auch negative Auswirkungen.

In Preußen wurde 1821 die Gemeinheitsteilungsordnung erlassen, es folgte 1850 das Gesetz zur Ablösung der Reallasten.

Die Auflösung der Allmenden und die Beseitigung der Gemengelage ("Separation") hatte nach Erwin Spehr wirtschaftliche und räumliche Ursachen, die zu folgenden direkt und indirekte wirtschaftliche und räumliche Wirkungen führten.


10.1.1 Wirtschaftliche Wirkungen der Separation

Von 1807 bis 1850 fand eine verstärkte Differenzierung und Verschiebung unter den Gruppen der verschiedenen Landbesitzenden statt. Vor der Eigentumsverleihung hatte jeder Scharwerksbauer (= Domänenbauer = Amtsbauer = späterer Kleinbauer) eines Dorfs meist gleich viel Land durch die Zuweisungen der Domänenkammern bei der Erstansiedlung erhalten. Im Regierungsbezirk Gumbinnen betrug die durchschnittliche Landgröße der Scharwerk-Besitzer etwa 7,5 ha. Infolge der genossenschaftsähnlichen Bewirtschaftung des Scharwerkerlandes gab es kaum Wettbewerb. Es gab daher kaum große Unterschiede zwischen Arm und Reich. Das Regulierungsedikt vom 14. September 1811 sollte den Bauern das Eigentum an den von ihnen bewirtschafteten Höfen übertragen.

Nach der Teil-Eigentumsübergabe an sie waren viele Scharwerker (statistisch mit einer Hof Größe bis 7,5 ha) auch aufgrund von mangelndem Wissen über die neuartigen Wirtschaftsweise, als "neue" Kleinbauern dem lokalen Wettbewerb nicht gewachsen. Es gab eine hohe Analphabeten-Quote von 62 % unter ihnen. Bei fehlenden Pferden spannten sich die Hofbesitzer selber vor den Pflug. Bei ihnen herrschte noch die einfache Dreifelderwirtschaft vor. Jede Gemarkung gliederte sich in die Flurstücke Wintersaat, Sommersaat und Brache, die turnusmäßig wechselten. Es wurde angebaut was immer schon angebaut wurde, und zwar auf die gleiche Art und Weise wie früher. Die Daten für Aussaat und Ernte wurden immer noch von den Gutherren verkündet und dem ebenfalls die spärlichen Ernten und nicht den Händlern angeboten wurden. Der größere Teil "befreiten" Bauern verharrte wirtschaftlich im passiven Abwarten oder mussten Äcker verkaufen, um die hohen Abgaben bezahlen zu können. Reichten die Erträge zum Lebensunterhalt nicht mehr aus, so musste nach Nebenerwerben gesucht werden, was im ökonomisch unterentwickelten Ostpreußen schwierig war. Die ackerlos gewordene Kleinbauerschaft ergatterte entweder eine Nebenerwerbsstellen, versuchte sich als Knecht oder musste abwandern. Die Ziele der Wanderungen lagen zunächst innerhalb der nahen Kreise und Regierungsbezirke, dann im ganzen Reich. Der Regierungsbezirk Gumbinnen verzeichnete 1850 die höchsten Abwanderungsraten mit 28 % der ländlichen Bevölkerung.

Betriebe von rund 3 ha Anbaufläche, die in anderen Agrargebieten noch im wesentlichen eigenständige Subsistenzproduktion ermöglichen konnten, zwangen im Osten in aller Regel zum abhängigen Nebenerwerb im Tagelohn. Betriebe von 3–5 ha Anbaufläche bei mittlerem Boden und von 5–7 ha Anbaufläche bei schlechtem Boden wiederum gestatteten zwar relativ selbständige Subsistenzproduktion, waren aber einerseits zu groß, um jenen kleinen Nebenerwerb im Tagelohn auf umliegenden Großbetrieben zu gestatten, der nötig war, um bei Eigenbedarfsproduktion ohne Marktgewinne die Mittel zu beschaffen, die zum Ankauf von Gütern über den Markt (Saatgut, Düngemittel, Geräte, Kleidung) nötig waren; andererseits waren sie zu klein, um Marktproduktion zu gestatten, mit deren Hilfe Roherträge in Reinerträge umgewandelt und zusätzliche lohnabhängige Arbeitskräfte hätten bezahlt werden können. Deswegen lavierten Kleinstellenbesitzer im Osten, deren Anbaufläche zum wirtschaftlichen 'Sterben' zu groß, aber zum 'Leben' zu klein war, an der wirtschaftlichen Existenzgrenze. Erst ab 7–8 ha Anbaufläche auf mittlerem Boden begannen im Osten selbständige und spannfähige kleine Bauernwirtschaften.

Ein kleinerer aktive Teil der neuen Kleinbauern - häufig ehemalige erblichen und spannfähigen Domänenbauern mit katastrierten Besitz - erarbeitete sich Gewinn, kauften oder pachteten sich günstig angebotenen Äcker hinzu und vergrö­ßerten dadurch ihren Hof.

Foto: Kleine Bauern, Quelle: privat

Hierzu diente auch die Eigentumsverteilung, die z. B. durch "Beziehungen" zwischen den Gruppen der Bauern wie durch Heiraten herbeigeführte worden waren. "In den Dörfern gingen auch bei den normalen Bauern Eigentumsbeziehungen oft vor Liebesbeziehung" (Quelle Hans-Ulrich Wehler) Kleinbauer, Mittelbauern und Großbauern grenzten sich traditionell auch untereinander sozial ab. Das entsprechende Gruppenverhalten der Adligen wurden von den Dorfbewohnern in kleinem Rahmen lange Zeit kopiert. Das Überschreiten von sozialen Grenzen wurde argwöhnisch beäugt. Dazu gehörten auch die sozialen Aufsteiger, nämlich erfolgreiche Kreditnehmer und Geldbeschaffer, die zum einen der Ab­wendung von Bankrott oder Zwangs­verkauf zum anderen der rationellen modernen Wirt­schaft oder beidem in der Lage waren. "Bis zum 1. Weltkrieg waren sozialen Grenzen der (Adels) Güter zementiert, der Großbauern fest, der Mittelbauern flexible und der Kleinbauern fallweise ausgerichtet."

So entwickelte sich auch ein kleinerer Teil der ehemaligen Scharwerksbauern in Laufe der Zeit zu Mittelbauern (statistisch mit einer Hof Größe  zwischen 7,5 - 20,0 ha). Die bereits bestehenden Mittelbauern waren gegenüber ihren neuen Konkurrenten skeptisch. Die Höfe der Mittelbauern wurden mit durch die Familie und bewirtschaftet. Die Perspektive aller Mittelbauern war aber insgesamt wirtschaftlich ungewiss. Sie hing stark von der allgemeinen ökonomischen Entwicklung und von eigenen Aktivtäten und denen der Erben ab.

Die Großbauern und Güter behielten bis etwa 1850 ihr "festes" Personal, um sich danach bei Aussaat und Ernten vom örtlichen Tagelöhner auf polnische Saisonarbeiter umzustellen. Die Mittelbauern wirt­schaften weiter familiär. Die Kleinbauern kämpfen von Anfang an zum größeren Teil um das Überleben. Die Nichtbauern – der größte Teil der ländlichen Bevölkerung - kamen in der öffentlichen Diskussion in Ostpreußen nicht vor.

Foto: Großbauer Friederich Hundrieser, Jägershagen, mit Hund vor Tages-Löhnerinnen Quelle: Bildersuche (Standard), Bildarchiv Ostpreußen (bildarchiv-ostpreussen.de)

Die Großbauern (statistisch mit einer Hof Größe  zwischen 20 - 100 ha) erwarben - wenn die Finanzkraft oder Kredit vorhanden war - im großem Maße Ackerland von bankrotten Scharwerker - häufig, um ihren eigenen Besitz zu arrondieren. Sie gingen auch teilweise von der einfachen Dreifelderwirtschaft zur produktiveren Fruchtwechselwirtschaft über. Der Anbau von Kartoffeln und Klee erforderte keine Brache mehr, die in der einfachen Dreifelderwirtschaft üblich war. Die Einführung des Kunstdüngers und die Mechanisierung der Landwirtschaft förderte diese Entwicklung. Durch die Vergrößerung der Flächen und Erhöhung der Modernisierungsleistungen erhöhte sich der Gewinn. Aber nicht alle machten mit. Bis 1870 nahm im Laufe der Zeit zwar die Anzahl der traditionellen Großbauern aufgrund mangelnder finanzieller Erträge absolut ab, die Flächen der rentablen Großbauern wuchsen aber an.

Die landwirtschaftlich genutzte Fläche wurde in Ostpreußen nach der Separation von 1848 bis 1873 von 7,3 Millionen auf 12,46 Millionen Hektar vergrößert. Es wurde in großem Maße sogenanntes Todland und Brachen kultiviert. Wirtschaftlich lohnte es sich. Die die Produktion erhöhte sich um vierzig Prozent. Von 1848 - 1873 herrschte in der Landwirtschaft eine stabile Konjunktur. Die Gewinne auf den rentablen Höfen verdreifachten sich. Danach herrschten ein wirtschaftliches Auf und App mit beträchtlichen Folgen für die Landwirtschaft. (siehe Tabelle Konjunkturzyklen) Geschätzte 35 % landwirtschaftliche Höfe und Güter verloren nach der Reichsgründung den Anschluss und gingen Bankrott.

Bis 1870 hatten die Güter deutliche Flächengewinne erzielt. Einmal durch die verordnete Teil-Land-Abtretungen von Scharwerk-Land. So hatten die Amtsbauern im Zuge der Bauerbefreiung mit einem guten, erblichen Besitzrecht bis ein Drittel ihres Bodens, die mit einem nicht erblichen Besitzrecht bis zur Hälfte ihres Landes an die Amts-Güter abzutreten. Die Geldsummen, die den Gütern durch die Regelungen im Zuge der Eigentumsverleihung zustanden, konnten auf Antrag bei der Ostpreußische Generallandschaftsdirektion in einem Betrag ausgezahlt werden. Zur Modernisierung wurden diese Summen aber nur zum geringeren Teil eingesetzt. Dieser plötzliche Kapitalzufluss weckte aber die Kauflust bei landwirtschaftlichen Flächen. Die Fläche der Güter nahm um ca. 20 % bis 1871 zu. Zum anderen fiel den Amts-Gütern ehemaliges Scharwerksland zu, welches von den ehemaligen Scharwerksbauern stammt, die die Raten für die Ablösung nicht mehr zahlen konnten. Hinzu kam, dass nur 14 % des Grundes der aufgelösten Allmenden den Amtsbauern= Kleinbauern = Scharwerkern zugeteilt wurde, 86 % ging aber an die Amtsgüter.

Es entwickelten sich auch frühe Familien-Dynastien unter den Gutsbesitzern, teilweise mit einem Besitz von jeweils über 10 000 ha Land. Das Mandat vom 6. Juli 1525, auch Mandat der Reformation genannt, war ein durch Albrecht von Brandenburg-Ansbach erlassener Akt, der den offiziellen Übergang des Herzogtums Preußen zur evangelisch-lutherischen Konfession des Protestantismus beglaubigt. Adlige Großgrund-Besitzer entwickelten im Laufe der Zeit sehr große Besitztümer, wie das Haus Dohna. Durch eine Anordnung des Herzogs vom 30. Dezember 1525 wurde Peter von Donaw vom Herzog in den Besitz von Hof und Haus Schlobitten versetzt. In den darauffolgenden Jahren ist Peter von Donaw ein wohlhabender Großgrundbesitzer, der aus seinem Vermögen sogar dem Herzogshaus Kredite in beachtlicher Höhe gewähren kann. Auf seinem Schloss Mohrungen schrieb er eigenhändig ein an seine Nachkommen (acht Söhne, eine Tochter namens Sophia) gerichtetes Memorandum nieder, in dem er folgende Güter als sein Eigentum bezeichnet: 1. Deutschendorf (84 1/2 Huben), 2. Lauca (60 Huben), 3. Eberssbach, 4. Newen-Markt, 5. Hermessdorff, 6. Schlobitten (20 Huben, der Hof 10 Huben), 7. Klein-Scharnitten, 8. Herrendorff, 9. Furstenau, 10. Karnitten, 11. Gross-Scharnitten, 12. Hensels. Seiner Aufstellung zufolge standen ihm außerdem Leistungen aus zehn anderen Dörfern des Amtes Mohrungen zu.

Um 1785 gehörte das riesige Konglomerat der 32 Dohnaschen Gütern, mit zu den 310 adligen Gütern der Kreise Mohrungen und Preußisch Holland, davon ein Teil im Recht des Majorats oder Fideikommisses. Herrschaftlicher Sitz des Schlobittenschen Majorats war das Rittergut Schlobitten mit dem gleichnamigen Kirchdorf, dem gleichnamigen Vorwerk und dem ansehnlichen Schloss, das eine wertvolle Familienbibliothek beherbergte. Dazu gehörten das Kirchdorf Herrndorf, wo sich eine Wasser- und Windmühle besonderer Bauart befand, sechs andere Bauerndörfer und fünf Vorwerke, die sämtlich im Kreis Preußisch Holland lagen. Die Bauernbefreiung betraf ab 1799 auch den Dohna-Clan. Das Majorat der Dohnaschen Gütern blieb bis 1945 bestehen. Majorat oder Ältestenrecht bezeichnet ein Erbrecht, bei dem ein Landbesitz oder Vermögen oder ein Teil davon in der Form einer Stiftung zu einem Majoratsgut gewandelt wurde, das vom ältesten Sohn (Primogenitur) als Ganzes zu erben und zu erhalten war; gab es keinen Sohn, fiel das auch als Ältestengut bezeichnete Majorat dem nächsten männlichen Verwandten zu, bei gleichem Grad der Verwandtschaft dem ältesten Verwandten. Das Fideikommiss war ein durch Stiftungsakt geschaffenes unveräußerliches und unteilbares, einer be­stimmten Erbfolge unterliegendes Vermögen, das auch nicht belas­tet werden durfte.

Quelle: Słobity – Wikipedia

Schlobitten.png

Die Güter waren flächenmäßig auch die Gewinner der "Getreidekonjunktur" von 1848 - 1873. Aber nach der Reichsgründung gingen insgesamt die Anzahl der Güter und die Flächenanteile für die Gutsbesitzer und Rittergüter zurück. Gründe für die Abnahme nach der Reichsgründung waren die wirtschaftlichen Depressionen, denen häufig eine Verschuldung folgte. Hinzu kam eine mangende Modernisierung. Die Verschuldung konnten auch nicht während der folgenden Konjunktur abgebaut werden. Bis zum 1. Weltkrieg lösten sich nach 1871 fünf Konjunkturen und fünf Depressionen zeitlich ab.

Der größere Teil der Schuldner war aber bei „Ostpreußische Generallandschaftsdirektion“ verschuldet. Hier gab es eine "geordnete Abwicklung". (siehe 9. Verschuldung oben) Ab 1850 wurden auch nichtadelige Schuldner beraten. Das Interesse der Generaldirektion - in Person der adligen Landschaftsräte - war "das Land zusammen zu halten" d.h. wirtschaftlich profitable Flächen zu erhalten und keine Kreisfremde anzusiedeln, sondern "die richtigen Neusiedler" zu finden, d.h. innovative Besitzer und keine Hofverwalter. Der Hofverwalter wurden häufig von Eigentümer eingesetzt, die die Ländereien als Kapitalanlage betrachteten und deren Wohnsitze oft nicht in Ostpreußen zu finden waren. Auf die Mittel- und Großbauern konzentrierte sich auch die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion mit ihren Krediten ab 1872, da diese Gruppe, nach allgemeiner Auffassung, am innovativsten waren. Bei den Gütern war bis auf dem Fideikommiss häufig die die Erbfolge unklar. Die Gutsbesitzer und Großbauern mussten, bei wirtschaftlichen Notlagen, wenn sie keine Kredite mehr bekamen, Teile ihres Landes an die Ostpreußische Generallandschaftsdirektion zum Vermakeln überlassen oder an besserzahlende Spekulanten verkaufen. Zum Teil wurden die Ländereien auch mehrfach zwischen Spekulanten verschoben. Ein Drittel der Spekulanten soll ihren Wohnsitz gar nicht in Ostpreußen, sondern z. B. in Berlin gehabt haben. Die Spekulanten konnten beträchtliche Gewinne erzielen. Voraussetzung waren steigende Agrarpreise, zahlungswillige Neusiedler oder Landbedarfe für die Infrastruktur-Maßnahmen. Die (Teil) Verpachtung war eine zusätzliche Möglichkeit. Auch bei Verpachtungen z. B. von großen Gütern waren durch Unterpachtverträge Spekulationsgewinne möglich.

Auf den bankrotten Gütern gab es im großen Stil Aussiedlungen oder Flächenverkäufe an Großbauern. Im Erbschaftsfall wurde etwa die Hälfte aller Güter in Ostpreußen an Nichtadlige verkauft, die andere Hälfte verblieb in der adligen Familie, nicht zuletzt aufgrund des Fideikommisses und des Majorates. 1856 be­fanden sich nur noch 58 % des adligen Landes in den Händen adliger Land­-Besitzer.

Auf den Neuerwerbungen entstand das neues "Berufsbild" des Gutsverwalters oder Gutsinspektors, der nach Eigentümervorgaben wirtschaftete und seinen "Herren" in der Regel einmal im Jahr sah. Hofverwalter wurden häufig von Eigentümer eingesetzt, die die Ländereien als Kapitalanlage betrachte­ten und deren Wohnsitze oft nicht in Ostpreußen zu finden waren. Leider versuchte einige Guts-Verwalter - auch aufgrund der Eigentümer-Vorgaben - "das Letzte aus Personal und Vieh herauszupressen." Dort, wo dennoch eine Mechanisierung stattfand, wurden bisherige Arbeitskräfte, wenn auch zuerst nur langsam, durch die modernen Land-Maschinen ersetzt.

Die alten und neuen Eigentümer der Gutsflächen mussten die Scharwerk-Arbeitsanteile der Kleinbauern ersetzen. Diese waren jetzt in Naturalien oder bar zu bezahlen. Aber nur eine kleine Gruppe von Nichtbauern (Landarbeitern) behielt auf den Gütern - da wo es unbedingt notwendig war, nämlich bei den Alltagsroutinen wie bei der Viehfütterung und dem Melken - ihre "Festanstellung". Die neuen Eigentümer setzten bei zusätzlichen Bedarfen wie Aussaat und Ernte polnische Saisonarbeiter ein. Sie waren "billiger" zu bekommen als die einheimischen Kräfte, die zunehmend abwanderten.

Foto: "Melkfrauen" auf dem Weg von der Gutsmeierei zum Kuhstall, Reichau, Kreis Mohrungen, Quelle: Ostpreußen, Preußen, Königsberg ostpreußen (pinterest.de)

Hans-Ulrich Wehler schätzt das um 1850 etwa 52 % der Gesamtbevölkerung in Ostpreußen zu den Nichtbauern gezählt werden können. Diese Eigenkätner, Instleute und Losleute verloren ihre Perspektive auf den Gütern.

Durch diese "Aussortierung" erhöhte sich deren Anteil an der ländlichen verarmten Bevölkerung erheblich.

Ab 1860 konnte die Ostpreußische Wirtschaft insgesamt die Überschüsse der arbeitswilligen Land-Bevölkerung nicht mehr aufnahmen.

Viele bettelte regelmäßig vor Ort, einige stießen zur „Vagantenbevölkerung“. Die Kindersterblichkeit übersteig die sowieso schon hohen Zahlen.

Dieser "überschüssige" Bevölkerungsteil - häufig Analphabeten - war neben den besitzlos gewordenen Kleinbauern am ersten bereit oder gezwungen, abzuwandern.

Eine weitere Handhabung war die vollständige oder teilweise Verpachtung, allerdings mit überschaubaren Gewinnerwartungen, da bis zum 1. Weltkrieg Pacht häufig mit Naturalien bezahlt wurde.

Der Verpächter hatte ein Ablöserechtrecht über das Pachtland. In Ostpreußen waren 1938 153.415 ha = 6,1 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche verpachtet. Davon 116 972 ha als alleinige Wirtschaftsfläche und der Rest 91 176 ha als Zupachtungen zum eigenen Land.

In Ostpreußen wurden 1938 mit 2.333.301 Einwohnern von seiner gesamten Landmasse von 3.689.973 ha 2.515.898 ha = 68 % landwirtschaftlich genutzt. Im Regierungsbezirk Gumbinnen mit 559.205 Einwohnern und einer Größe von 933.458 ha, wurden im Jahr 1907 davon 772.368 ha gleich 82 % landwirtschaftlich bearbeitet. Der Landkreis Insterburg hatte 1938 mit 43.224 Einwohnern eine Größe von 116.083 ha, davon wurden 86 % landwirtschaftlich genutzt. Die Gemeinde Willschicken hatte 1938 127 Einwohner auf einer Fläche von 319,8 ha, davon waren 278,31 = 87,4 % der Landwirtschaft zu zurechnen. Die Benennung und die Klassierung der Grundeigentümer-Gruppen gehen vermutlich auf amtliche Steuerlisten aus den Jahren 1910 und 1920 zurück. Sie wurde leider nicht einheitlich erhoben. Das Grundeigentum - so Forsten, Moore und Gewässer - wurde, auch abhängig von den Konjunkturverläufen, nur teilweise landwirtschaftlich genutzt. Sie wurden statistisch unterschiedlich erfasst.

Tabelle: Grundeigentümer-Gruppen in der Landwirtschaft in Ostpreußen 1938, im Regierungsbezirk Gumbinnen 1907 und in der Gemeinde Willschicken 1938:

Landwirtschaftliche Flächen- Anteile der Grundeigentümergruppen in Ostpreußen 1938 und im Regierungsbezirk Gumbinnen 1907 und in der Gemeinde Willschicken 1938
Die Provinz Ostpreußen ist 1938

3.689.973 ha groß

Der Regierungsbezirk Gumbinnen ist 1907 933.458 ha groß Die Gemeinde Willschicken ist 1938 319,8 ha groß
davon sind 2.515.898 ha = 68% Landwirtschaftsfläche davon sind 772.368 ha = 82% Landwirtschaftsfläche davon sind 278,31 ha = 87% Landwirtschaftsfläche
Diese verteilen sich 1938 in Diese verteilen sich 1907 in Diese verteilen sich 1938 in
die gesa. Flächen in ha die Anzahl der Betriebe die gesa. Flächen in ha die Anzahl der Betriebe die gesa. Flächen in ha
Grundeigentümer-Gruppen Gruppen-Fläche in ha absolut in % Gruppen-Fäche in ha absolut in % absolut in % Gruppen-Fäche in ha absolut absolut
Nebenerwerb k.A. k.A. k.A. bis 2,00 37 920 49,00 22 965 2,97 - - -
Kleinbauern 2,00 -  7,50 487 953 14,30 2,00 - 7,00 14 218 18,40 58 426 7,56 2,00 - 10,00 8 43,49
Mittelbauern 7,50 - 20,0 511 839 15,00 7,00 - 20,00 16 146 20,90 18 797 2,43 10,00 - 20,00 5 66,52
Großbauern 20,00 - 100,00 1 399 027 41,00 20,00 - 100,00 8 147 10,50 364 011 47,13 20,00 - 100,00 10 168,30
Gutsbesitzer 100 - 1 000 870 126 25,50 über 100 939 1,20 307 951 39,87 - - -
(Ritter)Güter-Besitzer über 1 000 1 433 4,20 k.A. k.A. k.A. k.A. - - -

Quellen: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1 - 3

und Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 -1920


10.1.2 Folgende räumliche Wirkungen der Separation

Durch die Separation wurde der Gemeindebesitz wurde anteilmäßig den Beteiligten an Eigenturm gegeben. Dadurch entstanden beispielhaft folgende räumliche Probleme

  • Es gab für die Bauern das Recht zu Holzholen z. B. von einer zugewiesenen Parzelle im Wald. Es fehlten die Zufahrtswege.
  • Der Bauer sollte z. B. auf seinem neuen Ackerplan, den er aus der Aufteilung der Gemengelage erhielt, ein neues Gehöft einrichten, ein sogenannter Ausbau. Es fehlten die finanziellen Mittel.
  • Der Gutsbesitzer musste z. B. Ställe für die Pferdehaltung und Arbeitshäuser für das Gesinde bauen. Es fehlte die "standesherrliche" Einsicht.
  • Die räumlichen Veränderungen mussten mit Geld bewertet werden. Der Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft war für viele der Beteiligten ein Problem. Ein Teil der Analphabeten konnten nicht rechnen.

Die Durchführung der Separation, die zu starken Veränderungen in der Landwirtschaft führte, wurde von weiteren Problemen gebremst. Dazu zählte die Angst der Landeigner vor finanziellen Verlusten ebenso wie Streitigkeiten der Interessenten bei der Aufteilung der Parzellen nach Größe und Bodengüte und der anschließenden Verlosung. Mitunter dauerte die Separation ganzer Orte in mehreren Etappen über zehn Jahre. Waren sich aber alle Bewohner einig, dann wurde die gesamte Dorfgemarkung bezüglich der Bodenqualität geldlich bewertet und so aufgeteilt, dass jeder Bauer seinen Grundbesitz möglichst in einem Stück erhielt. Dabei wurden Nachteile eines schlechteren Bodens oder einer größeren Entfernung vom Dorf durch größere Schläge ausgeglichen.

Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

Karte: Höfe in Streulage im Kirchspiel Kussen, Quelle: Gut Birkenfelde – GenWiki (genealogy.net)

Für siedlungswillige Neu- oder Aussiedler waren die zersplitterten Flächen der alten Landwirtschaft ein Problem. Die Flächen, die durch die Separation verteilt wurden, waren zum Teil nicht für die Felderwirtschaft geeignet und die geplanten Parzellen bildeten ein vielflächiges wild gezacktes Mosaik, oft ohne Zufahrtswege. Eine vorherige Flurbereinigung, dessen Ziel zusammenhängende Grundstücke zu bilden war, war eine Voraussetzung. Erst nach der Flurbereinigung, hatten Neu- oder Aussiedler und Siedlungsgesellschaften Interesse an dem zusammengelegten Ackerland. Der alte Hofplatz wurde entweder für Instleute verwendet oder an Handwerker oder Kätner verkauft. Nicht selten blieben nur wenige Bauern mit den Hand­werkern, dem Kaufmann, dem Krug und der Schule im alten Dorf zurück. den alten Dorfkern.

Manches kleine Bauerndorf hat sich aufgelöst und wurde zur Streusiedlung. Es entstanden Gemeinden in Streulagen mit einem "alten" Dorfkern - so wie Willschicken. Hier blieben nur 7 von insgesamt 22 Höfe Bauern den alten Dorfkern. Bauern deren Besitz weit vom Dorf entfernt lag siedelten aus. Sie gaben ihren alten Hof auf und bauten einen neuen auf einem Außengrundstück. So haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Bauern „ausgebaut“, wie man in Ostpreußen sagte. Es entstand das typische Landschaftsbild mit den zahlreichen von Baumgruppen und Gärten umgebenen Einzelhöfe. Die Separation veränderte das Landschaftsbild grundlegend, da sie die vielfach zerklüftete Dreifelderwirtschaftsflächen abschaffte und die geometrisch gerade Ackerform schuf.

Die damals währen der Separation zugeteilten Betriebsflächen blieben meist langfristig bestehen. Damit der Ausbau von statten gehen konnten bedurfte es langfristig umfangreicher finanziellen Hilfen.

Dazu wurden sehr unterschiedliche Programme wie Preußische Generallandschaftsdirektion (1850), Ost­preußenhilfe (1915), Allgemeine Grenzhilfe (1926), Osthilfe (1926), Ostpreußenprogramm (1927) oder Reichsnährstand (1933) aufgelegt. Dazu zählte auch die Ostpreußische Landgesellschaft (1906)

Quellen:

Ostpreussische Landgesellschaft mbH | ZBW Pressearchive

Ostpreußische Landgesellschaft – Wikipedia

Neben der Separation durch die Ablösung der Allmende, aus Erbfolgegründen und aus dem "Ausbau" gab es auch eine weitere "Landentwicklung". In einigen Landkreisen wurden Höfe, die von ihrem Besitzer finanziell mit mehr zu halten waren, wurden von gewinnorientierten Agenten systematisch erkundet. Dazu diente häufig der Dorfklatsch, einige Runden Konus im Gasthaus oder "gute Beziehungen" zur örtlichen Verwaltung oder den Kreditgeber. Die Nachbaren der Schuldner wurden daraufhin von den Agenten aufgesucht, die ihnen ein verlockendes Angebot machten. Es bestand darin, den Besitz des Schuldners vor einer Pfändung und Versteigerung günstig zu erwerben, da diese Ländereien "sowie in der Nachbarschaft lägen und bekannt seien" und aufgrund der Schulden preiswert zu haben sein. Bei Kauf vergrößerten sich dann die Erträge des Käufers "automatisch" durch mehr Landfläche, bei Rückgängen wären das neue Land dann schnell zu parzellieren und mit Gewinn weiterzuverkaufen, z.B. an Neusiedler. Als Anzahlung genügte ein kleiner Geldbetrag - häufig weniger als 5% des Grundwertes zur Anzahlung und einen Eintrag einer Hypothek ins Grundbuch. Zum Teil trat der Agent auch als Zwischenhändler auf.

Viele der geschäftsunerfahrenen und gutmütigen Bauern, aber auch Gutsbesitzer, gingen auf diese Angebote ein. Sie übersahen dabei, dass die Erzeugerpreise der Landwirtschaft in Ostpreußen erheblich schwankten, das die Entwicklung der Bodenpreise nicht stabil war und sie langfristig erhebliche Schulden durch Grundbucheinträge aufhäuften, z.B. durch die steigenden Raten für die Hypothekenzinsen. Hinzu kamen lokale Effekte wie steigende Kosten, mangelnde Mechanisierung, Abwanderung von Landarbeitern oder unzureichender Marktzugang und Missernten. Traf alles zusammen verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Schuldner schnell erheblich. Als Ausweg blieb den Landkäufern dann nur der Gesamt- oder Teilverkauf des "neuen" oder "alten" Landes zu schlechten Preisen - zum Teil an dieselben Agenten. Der ursprüngliche Landbesitzer ging leer aus, da die Anzahlung bis zur endgültigen Bezahlung einbehalten wurde, der Landkäufer verschuldete sich langfristig, der Agent füllte sich die Taschen mit "satten" Provisionen und das Land wurde weiter aufgeteilt. Teilweise wurde dieser "Kreislauf" mehrfach durchgeführt. Im Kreis Insterburg wurden einige Großbauern und Güter bis zu sechsmal privat verkauf - parallel dazu wurde deren Landflächen immer kleiner. Aber auch bei Mittel- und Kleinbauern funktionierte dieses Geschäftsmodell. Kurz vor der Jahrhundertwende griff der Staat mit Gesetzten zur Einrichtung von Rentengütern mit überschaubarem Erfolg ein, so sollten Einrichtung von Nebenerwerbsstellen u.a. gefördert werden. Erst vor dem 1. Weltkrieg kam dieser private Zwischenhandel zum Erliegen, da das damalige niedrige Zinsniveau für die Banken nicht mehr attraktiv war.

In Königsberg war im Jahr 1906, um einer fortschreitenden Landflucht aus Ostpreußen entgegenzuwirken, die Ostpreußische Landgesellschaft gegründet worden, deren Hauptaufgabe das Vorantreiben der inneren Kolonisation war. Sie ist 1930 in die Osthilfe aufgegangen

Max Weber schreibt 1892 in seiner großen Studie u.a. über die Ostpreußische Landgesellschaft:

„Von Preußen gefördert, sollte die Ostpreußische Landgesellschaft auch den nachgeborenen Söhnen der Bauern einen eigenen Hof zu ermöglichen. In der ganzen Provinz wurde die innere Siedlung durch die Landgesellschaft aufs stärkste gefördert. Vor dem Ersten Weltkrieg richtete sie auf 35.000 ha ehemaligen Großgrundbesitzes 1.600 Siedlerstellen ein.

Es waren überwiegend bäuerliche Wirtschaften von 15–20 ha, aber auch Handwerker- und Arbeitersiedlungen von 1–2 ha. Die Entschuldung des Alt­besitzes wurde durch das Besitzfestigungsgesetz, vornehmlich im Regie­rungsbezirk Allenstein gefördert. Auch genossenschaftliche Zusammen­schlüsse wirkten mit, die ost- und westpreußische Landwirtschaft zu kräfti­gen.

Die Siedlung, gefördert durch die Landgesellschaft und die staatlichen Kul­turämter, schuf von 1919 bis 1930, also in zwölf Jahren, 7.820 neue Stellen auf 94.000 ha. In mehr als der doppelten Zeit war seit 1891 nur etwas über die Hälfte davon geleistet worden.“

Das wichtigste Problem bleibt deshalb die innere Kolonisation, auch unter dem Gesichtspunkt der ländlichen Arbeiterfrage Sie liegt heute in den Hän­den der Ansiedlungskommission einerseits und wird hier vom Staat durchge­führt, und der Generalkommissionen andererseits, welche auf Antrag priva­ter Großgrundbesitzer die Abzweigung von Rittergütern vermitteln. Die An­siedlungskommission hat bereits ca. 1500, die Generalkommission ca. 6000 Bauern eingesetzt.

Die quantitative Überlegenheit der privaten Besiedlung hat aber zwei Schat­tenseiten: sie schafft 1. zu einem sehr großen Teil kleine Zwergbauern. Denn gerade diese können heute am ehesten den Preisdruck auf die Pro­dukte ertragen, da sie dieselben überwiegend selbst verzehren, und leiden nicht unter dem Arbeitermangel, weil sie keine Lohnarbeit verwenden. Es besteht aber eben deshalb die Gefahr, daß gerade diejenige Schicht der Be­völkerung auf diese Weise ansässig wird, welche mit den geringsten Kulturansprüchen sich begnügen kann, also ein Grundbesit­zerproletariat – der schrecklichste der Schrecken – entsteht. Das umso mehr als 2. die Generalkommissionen es nicht in der Hand haben, für Aus­stattung der neu entstehenden Gemeinden mit Allmenden genügend zu sor­gen. Gerade für die kleinen Leute sind diese aber eine Lebensfrage. Deshalb ist es unentbehrlich, dass eine groß angelegte staatliche, also eine Domänenkolonisation – in Anknüpfung an den bald wieder aufgegebenen Versuch in den 70er Jahren – daneben tritt."

Quellen:

Max Weber: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Preußische Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Großherzogtümer Mecklenburg, Kreis Herzogtum Lauenburg). Dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, LV. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland; Bd. 3)

Der Wandel der sozialen Beziehungen zwischen Gutsherren, Instleuten, Bauern und unterbäuerlichen Schichten im Samland nach der „Bauernbefreiung“ Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. phil.) des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück vorgelegt von Martina Elisabeth Mettner aus Bremen

Dies alles funktioniert alles aber nur bei wachsender Wirtschaft. Schrumpfende Wirtschaft traf alle Bauern Gruppen in Ostpreußen.


10.2. Gut Alt Lappönen

Um 1785 existierte das Domainen-Justiz-Amt Lappöhnen.

Das Amt Lappöhnen enthält 2 Vorwerke, wovon eines in Erbpacht gegeben worden ist, und 42 Dörfer mit 382 Feuerstellen.

  • Alt Lappöhnen, ein Königliches Vorwerk von 5 Feuerstellen, wo der Sitz des Königlichen Domänen Amtes ist. Neu Lappöhnen oder Schäferen auch Angine genannt, ein Königliches Erbpachts-Vorwerk von 2 Feuerstellen.
  • Gross Aulowöhnen oder Rinkohnen , ein Königliches Schaarwerksdorf mit einer lutherischen Kirche und 25 Feuerstellen.
  • Klein Aulowöhnen oder Paulaitschen , ein Salzburgisches Coloniedorf mit 11 Feuerstellen

Sowohl dieses Amt als auch das vorhergehende (Amt Salau) liegen in den Bezirken des ehemaligen Hauptamtes Insterburg.

Das Gut Alt Lappönen bestand aus den Ländereien Lappönen, Gründann und Warglauken

Zum Alt Lappönen Gutsbezirk, Landkreis Insterburg  ist 1907 zu lesen:

Quelle: Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)[16]

Zum Gut Alt Lappönen "zu welchen gehörten um 1800 ca. 2192 Morgen, 104 Ruten und das Moorbruch von 33 Morgen. 30 Ruten, hat Caroline Friedrieke Melhorn geb. E(G)irod, mit ihrem Ehemann dem Amtmann August Melhorn auf getrennten Gütern lebte, vom landesherrlichen Fiskus für 19.152 Taler auf Grund des Vertrages vom 12. Juni 1817 cfr. 13.03.1819 gekauft. Das Moorbruch kaufte sie von ihrem Mann für 200 Taler. Vorherr war Amtmann Gettkandt. Der Verkauf an Melhorn soll schon 1812 geschehen sein.

Die Melhorn hat das Gut von 01.06.1820/8 an die verwitwete Frau Landjäger Lau und deren Sohn den Leutnant Lau für jährlich 2166 Taler 60 Groschen und einigen Naturalleistungen verpachtet.

Die Frau Amtmann Melhorn, nachherige Land und Stadtgerichts Assessorin Melhorn, verkaufte Lappönen an Adotar Lindenau für 31.225 Taler lt. Vertrag vom 22.06.1840. Dieser vereinigte damit das Grundstück Warglauken Nr.2 mit 293 Morgen 38 R. welches er lt. Vertrag vom 10.12.1846 von den Georg Hundsalzschen Erben für 3180 Taler erkaufte und Wilschikken 2 das er durch Vertrag vom 15.11.1866 von den Krinekschen Eheleuten für 1.600 Taler kaufte, ganzer Kaufpreis 36.005 Taler. Zu der Grünheider - Aulowöhner Chaussee, welche die Feldmark Lappooenen durchschneidet verkaufte Lindenau lt. Vertrag vom 21.11.1865 an den Insterburger Kreis 6 Morgen für 222 Taler."

Zu den Belastungen, die das Gut Alt Lappönen tragen musste, heißt es:

"Grundsteuer 192 Taler 8 Silbergroschen. Gebäudesteuer 12 Taler, 14 Silbergroschen. Domainen Rente 7 Taler, 1 Silbergroschen. Decem an die Kirche Aulowöhnen 4 Taler, 5 Silbergroschen, 1 Pfennig. Zu den Patronatslasten 20 Taler. Gesamt 235 Taler, 28 Silbergroschen, 1 Pfennig. Pfarrkalende Roggen, Gerste, Hafer je 9 Scheffel 11 Metzen. Erbsen 2 Sch. 6 ¾ M. Flachs 38 ¾ Pfd. Präcentor die Hälfte von dem, was der Pfarrer bekommt. Lehrer Roggen 9 Sch. Gerste 4 Sch. 8 Mtz.1440 Pfd. Heu, 2166 Pfd. Stroh.“

Quelle: Alt Lappönen Gutsbezirk, Landkreis Insterburg 1907

Tabelle: Alt Lappönen: Flächenangaben nach Umrechnung von Hektar nach Quadratmeter (m²) (ha.ar.qm) um 1800

Alt Lappönen Flächen.png

Um 1807 wird das zuständige Domänenamt, zuständig für das im Eigentum des Staates stehende Gut in Alt Lappönen im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. Das Besitzerland der Amtsbauern kann nun deren Eigentum werden (Regulierung und Seperation ab 1811, Verschlechterung durch Reduzierung der An­spruchsberechtigten ab 1816).

Wie viele Amtsbauern auf dem Staatsgut Alt Lappönen ursprünglich angesiedelt waren und Eigentum verliehen bekamen und zu welcher Gemeinde ihre Höfe später gehörten, ist nicht bekannt. Jedenfalls gehörte das Königliches Scharwerksdorf Aulowöhnen zum Domänengut Alt Lappönen. Die überwiegende Zahl der 18 Wirte in Aulowönen ist um 1800 Salzburger Abstammung.

Die Gewerbefreiheit ließ den bürgerlichen Erwerb von Staatsdomänen zu. „Das 2.000 Morgen große Vorwerk (Ritter-Gut) Alt Lappönen erwarb 1810 Caroline Girod, die mit dem Amtmann Mehlhorn verheiratet war, zum Preis von 19.152 Taler.“ Nach der Auflösung des ehemaligen Domänenamtes Lappö­nen wurde das Gut mit 87.392 Thalern bewertet.

Während der Hyperinflation wurde das Gut,  es ist noch 457 ha groß, aber aufgelöst. Es entstanden 24 Bauernhöfe – alle ca. 20 ha groß, die, als das Rittergut Alt Lappönen nahe Willschicken nach 1920, dessen letzter Be­sitzer Herr Ornhorst war, durch die gemeinnützige „Baugesellschaft Königsberg“ für Neusiedler bereitgestellt wurden.


Quelle: Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)

Die folgende Karte zeigt die Neusiedler Alt Lappönen

Karte: Alt Lappönen Neusiedler, Die Zuordnungen auf Messtischblatt von Lappönen (1939) wurde von Herrn Mattulat 2021 unter Mithilfe von Hildegard Kiehl geb. Tuttlies erstellt. Quelle: privat


10.3 Modernisierung der Landwirtschaft

Die Modernisierung ihrer Güter stand für die die meist sehr konservativen Agrarier in Ostpreußen kaum im Vordergrund. Die Erlöse - wenn vorhanden - wurden anderweitig angelegt, wie repräsentative Gutshäuser, edle Rassepferde und Hunde, aufwendige Jagdreviere, luxuriöse Weinkeller, teure Ausbildungen, umfangreiche Aussteuer und zuhause in gelagerten Goldreserven.

Im Vordergrund der Großgrundbesitzer stand aber die Verteidigung, Vermehrung und Vererbung ihrer Güter. Dazu diente einerseits das Fideikommiss: Ein durch Stiftungsakt geschaffenes unveräußerliches und unteilbares, einer bestimmten Erbfolge unterliegendes Vermögen, das auch nicht belastet werden durfte. Dazu diente andererseits besonders auch die „Heirat nach Innen“. Sie beschreibt die soziale Vorgabe, dass die Menschen (Gutsbesitzer) zum Erhalt der eigenen sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe nur innerhalb dieser Gruppen heiraten und Kinder bekommen sollten.

Fortschrittliche Gutsbesitzer sorgten aber für einen Wechsel von der personenorientierten Feudalwirtschaft zur kapitalorientierten Produktwirtschaft. Häufig folgte ein Wertewechsel auch beim Verkauf von Adligen an Bürgerliche. Die Modernisierung erforderte verstärkter Maschineneinsatz, regelmäßiger Gebrauch von Mineraldünger, kürzere Wege auf eigenem Land, eine verbesserte Dreifelderwirtschaft, Ausbau der Melioration und neue Zuchtmethoden. Ein wesentlicher Punkt war der Einsatz von "moderner Technik".

Die Erträge der ostpreußischen Landwirtschaft wurden durch verbesserte Technik angehoben. Seit 1850 wirkte sich die Massenproduktion eiserner Halbfabrikate aus. Zunächst wurden diese noch aus England importiert. Schaufeln- und Spatenblätter, Sicheln, Sensen und Beile stammten nicht mehr vom Dorfschmied, sondern konnten im Handel preiswerter erworben werden. Die wichtigste Veränderung war aber der eiserne Pflug. Er hatte eine stärkere Belastbarkeit, vergrößerte Bodentiefe und verlängerte Lebensdauer. Dem folgten eiserne Eggen und Walzen.

Foto: Göpel von Pferden gezogen, Quelle: 02777Wieliczka - Göpel – Wikipedia

Ein erster Schritt der Mechanisierung der Landwirtschaft in Ostpreußen war das Aufkommen von Dreschmaschinen, die zunächst noch mit Muskelkraft (häufig von Pferden) betrieben wurden. Ende des 19. Jahrhunderts wurden erste Versuche mit motorbetriebenen Zugmaschinen gemacht, frühen Vorläufern etwa der Lanz-Traktoren. Parallel zu den Verbrennungsmotoren wurde in der Frühzeit der Motorisierung auch noch mit dampfbetriebenen Fahrzeugen gearbeitet, welche zwar unhandlich und schwer waren, sie waren aber für den stationären Betrieb an Feldrändern oder in landwirtschaftlichen Betrieben als Antrieb für weitere Geräte jedoch gut eigneten. Größere Güter begannen deshalb teilweise mit der Beschaffung von sogenannten Lokomobilen. Da nun eine verlässliche Kraftquelle zur Verfügung stand, wurden auch weitere Geräte entwickelt, die sich mit ihrer Hilfe betreiben ließen, etwa die Ballenpresse für Heu und Stroh.

Der Getreideanbau war in Ostpreußen die Haupteinnahmenquelle. Beim Dreschen von Getreide oder Hülsenfrüchten werden durch Trampeln, Schlagen, Walzen oder mit einer Dreschmaschine die Körner vom Stroh getrennt oder der Samen aus den Hülsen gelöst.

Die Geräte oder Hilfsmittel beim Dreschen haben sich im Laufe der Zeit immer weiter in Richtung einer Arbeitserleichterung entwickelt. Vom Dreschstock über den Dreschbock, den Dreschflegel bis zur Dreschmaschine geht der Weg. Dreschmaschinen kamen stationär und mobil vor.

Der Antrieb erfolgte per Hand, über Göpel oder Dampfmaschinen und Traktoren, die im stationären Betrieb mit einem Treibriemenantrieb ausgestattet waren.

Foto: Dampfmaschine zum Pflügen oder als stationärer Antrieb, Quelle: Foto & Bild | industrie und technik, landwirtschaftliche technik, landmaschinen Bilder auf fotocommunity

Der Einsatz zur  Mechanisierung der Landwirtschaft in Ostpreußen blieb aber überschaubar. Erfolgte dennoch der Einsatz, gingen häufig die Deputate für die Jahreskontrakte gebundene Arbeiter verloren. Die galt besonders für den Einsatz von Dreschkästen, die den Dresch-Einsatz von Land-Arbeitern drastisch reduzierten.

Das hat zur Folge, dass der Getreidedrusch in wenigen Wochen erledigt werden kann. Zuvor wurde die Getreideernte zumeist in Tagelohn mit dem Dreschflegel ausgedroschen, was etwa 30 Wochen von Ende September bis Anfang Mai dauerte. Die Tagelöhner bekamen vom Drusch einen Teil des ausgedroschenen Korns und hatten eine Dauerbeschäftigung durch den Winter.

Es wurden auch Dreschschlitten verwendet. Mit Einführung der Dreschmaschine wurden die Tagelöhner winterarbeitslos oder unterbeschäftigt und mussten sich für andere Arbeit zu einem möglicherweise geringeren Lohn verdingen.

Im Ersten Weltkrieg kam der Einsatz von modernen Landmaschinen in Ostpreußen fast völlig zum Erliege und wuchs bis 1933 nur sehr gering an.

Ab 1933 wurden die Modernisierung auf großen Höfen gezielt durch günstige Kredite gefördert. Parteiangehörige wurden bevorzugt.

°Ab 1882 besaß Rudolf Wernike die erste ostpreußische Landmaschinenfabrik in Heiligenbeil mit Dampfmaschinenbetrieb und 20 Schmiedefeuern, deren Produkte dank guter Qualität schon 1895 mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. Die Fabrik erwarb sich so den Ruf als „ostdeutscher Pflugbauer. Rudolf Wermke (geboren 1842) arbeitete schon früh im elterlichen Schmiedebetrieb.

Nach dem Tod seines Vaters entschied er sich gemeinsam mit seinem Bruder für die Gründung eines eigenen Unternehmens. So wurde die gemeinsame Firma am 01. Januar 1870 in Heiligenbeil ins Leben gerufen. Dass die Brüder mit der Firmengründung den Grundstein für die bedeutendste Landmaschinenfabrik Ostpreußens legten, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Innerhalb des Betriebs machte es sich Wermke zur Aufgabe, eigene Pflüge herzustellen und diese stetig weiterzuentwickeln.

Die Geschäfte liefen so gut, dass sich das Unternehmen nur zehn Jahre nach Firmeneröffnung vergrößern konnte und so wurde im Jahre 1882 die erste Fabrikhalle erbaut. In der neu errichteten Halle wurden von nun an Drillmaschinen, Eggen, Grubber, Krümmer, Walzen und später auch Düngerstreuer, Pferderechen, Heuwender, Häcksler und Rübenschneider produziert.

Die Heinrich Lanz AG in Mannheim war ein führender deutscher Landmaschinenhersteller. Das Unternehmen wurde 1859 in Mannheim gegründet.

Auf der Weltausstellung 1900 in Paris konnte Lanz bereits auf eine vierzigjährige Geschichte zurückblicken und war der größte Hersteller der Branche. So wurden bis 1900 ausgeliefert - wovon nur ein sehr kleiner Teil in Ostpreußen ankam:

  • über 10.000 Lokomobile für Landwirtschaft und Industrie,
  • 7.000 große und mehr als 120.000 kleinere Dreschmaschinen,
  • 180.000 Futter-Zubereitungsmaschinen,
  • 60.000 Göpel für 1 bis 6 Pferde und etwa
  • 16.000 verschiedene andere Maschinen

Ab 1921 begann eine neue Ära: Traktoren mit Verbrennungsmotoren sollten die schwerfälligen Dampfmaschinen ablösen. Nach dem Tod von Karl Lanz 1921 im Alter von 48 Jahren stellte der bis dahin unbekannte Ingenieur Fritz Huber einen Rohölmotor mit 12 PS (8,8 kW) und Glühkopfzündung vor. Dieser Glühkopfmotor war der erste Bulldog und lief mit nahezu jedem Treibstoff – vom billigen Rohöl bis zum heimischen Pflanzenöl. Dem „Ur-Bulldog“ folgte 1923 mit dem Typ HP, einem Bulldog mit Allradantrieb und Knicklenkung, eine Maschine, die ihrer Zeit technisch um Jahrzehnte voraus war.

Wie Lokomobile hatten die meisten Lanz-Traktoren eine kuppelbare Riemenscheibe, die im stationären Betrieb als Treibriemenantrieb für eine Vielzahl von Zusatzgeräten (wie Großmahlwerk, Dreschmaschine, Windfege, Ballenpresse, Heu- und Erntegutförderer, Feldhäcksler (Ernteguthäcksler), Steinbrecher, (Brennholz)-Kreissäge, Kegelspalter, Wasserpumpe, Werkstattmaschinen usw.) genutzt werden konnte.

Somit vereinte der Bulldog die Vorteile einer Acker- und Zugmaschine und eines stationären Antriebsmotors zum Betrieb von Zusatzgeräten. Der Erfolg des Bulldogs war in seiner Einfachheit und Robustheit begründet. Hinzu kam, dass er als Vielstoffmotor mit kostengünstigem Rohöl u. ä. betrieben werden konnte und gegenüber den ersten Dieseltraktoren als zuverlässiger galt.

In anderen Disziplinen wie Zugleistung, Technologie oder Verbrauch waren die Bulldogs den Dieselschleppern allerdings eher unterlegen. Trotzdem konnten sich Lanz-Bulldog-Ackerschlepper zumindest in Deutschland für viele Jahrzehnte behaupten, da ihr einfaches Glühkopfmotor-Prinzip günstig zu produzieren war und geringe Ansprüche an Zündwilligkeit und Klopffestigkeit des Kraftstoffs stellt.

In Ostpreußen waren, wenn überhaupt nur rentable Güter in der Lage, mo­derne Landmaschinen zu kaufen und einzusetzen. Auf dem Gut von Franz Sieloff in Wilkental war nach Berichten von Hildegard Tuttlies „die Pferde  immer blitz blank, fast so wie seine neuen Maschinen“, auf dem Gut von Ernst Grigull wirtschaftete „De ol Grigull“.

Kleinere Landmaschinen wie traditionelle Eggen, Heurechen, Pflüge und Zugpferde wurden in Wilkental im Rahmen der Talka („Bitthilfe“) unter den kleinen Höfen und zwischen Verwandten und Bekannten häufig ausgeliehen. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation waren größere Neuanschaffungen wie Trecker kaum möglich. Große Güter überließen ihre Maschinen nicht den „kleinen Krautern“. Dafür war auch der Soziale Abstand zwischen den Schichten der Junker und den (Klein) Bauern viel zu groß.

Die Rittergutsbesitzer (Junker) konnten auf dem Lande in Ostpreußen als eine „institutionalisierte soziale Organisationen“ bezeichnet werde. Es gab festgelegten sozialen Verhaltensregeln. So war heiraten untereinander üblich.  Das galt auch für eine Mitgliedschaft in bestimmten politischen Vereinen und Parteien. Sie zeichnete eine speziellen "monarchischer Gesinnung" aus. "Die Junker besaßen insbesondere im 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im östlich der Elbe gelegenen, auch Ostelbien genannten Kerngebiet Preußens eine bedeutende politisch-ökonomische Machtstellung, die politisch bis 1918 durch Gesetze, das Dreiklassenwahlrecht und ökonomisch durch den erheblichen Großgrundbesitz dieser Schicht gefestigt wurde.“ (Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 3)


10.4 Verbesserung der Infrastruktur

An einer generellen Verbesserung der Infrastruktur hatten konservative Großgrundbesitzer wenig Interesse. Sie hatten in den entsprechenden Gremien auf Kreis- und Provinzebene aufgrund des Dreiklassenwahlrechts stehts die Mehrheit. Sie befürchteten auf den Agrar-Märken einen Teil-Verlust ihrer traditionellen Monopolstellung.

Karte: Überlandleitungen in Ostpreußen, Quelle: Heimatatlas für Ost-Preussen - Digitales Repositorium wissenschaftlicher Institute (rcin.org.pl)[7]

Die Dörfer Lindenhöhe und Wilkental wurden erst 1934 mit Strom versorgt – der noch sehr teuer war, so dass "arme" oder abseitsliegende Höfe noch bei den Petroleum Lampen bleiben mussten. Elektrische Energie stand bis zum Ende des 1. Weltkrieges 1918 nur im geringen Umfang zur Verfügung. Sie kam aus rund 800 kleinen privaten Elektrizitätswerken und reichte mit rund 100 000 kWh Jahresleitung meist alleine für die Beleuchtung. Sie wurden mit Kohle, Holz oder Torf betrieben und liefen nur zeitweise. Ab 1921 wurde die Versorgung mit Hilfe der Ostpreußenwerk AG langsam zentralisiert. Einzelne Telefonanschlüsse - mit der Voranmeldung "Aulowönen" gab es schon ab 1932 – die der großen Güter, Bürgermeister, Polizei und der Post. Davon profitierte der Gasthof Lerdon in Lindenhöhe, der neben der Poststelle lag.

Das Straßennetz entwickelte sich nur langsam. Bis 1816 hatte Ostpreußen keine „Chausseen“, das sind mit Makadam belegte Kunststraßen.

Die vorhandenen Straßen und Brücken befanden sich vor 1816 in einem schlechten Zustand, die Landwege waren im Frühjahr und im Herbst kaum befahrbar

Makadam ist eine spezielle Bauweise von Straßen, bei der drei Schichten mit jeweils unterschiedlich großen, gebrochenen und gut verdichteten Gesteinskörnungen den Straßenoberbau bilden. Diese Bauweise wurde von dem schottischen Erfinder John Loudon McAdam zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt, um die Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit der bestehenden Straßen (häufig Packlagen-Bauweise) zu verbessern. Derart befestigte Straßen wurden als makadamisiert bezeichnet.

Als erster moderner Verkehrsweg wurde von Königsberg 1828 die Chaussee nach Berlin (die spätere Reichsstraße 1) vollendet. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Straßennetz in Richtung Tilsit (1832), Gumbinnen (1835) und Labiau (1853) verlängert. Am 3. Dezember 1938 konnte schließlich die Autobahn Elbing – Königsberg dem Verkehr übergeben werden, allerdings in beiden Richtungen zunächst nur einspurig.

Abbildung: Legende der Straßenarten in der Messtischkarte 1939 Quelle: Deutsche Fotothek

Die Reichsstraße 1 führte als wichtigste Landstraße der Provinz Ostpreußen in West-Ost-Richtung von Berlin über Elbing, Braunsberg, Königsberg, Insterburg und Gumbinnen bis nach Eydtkuhnen an der damaligen deutsch-litauischen Grenze. Diese wichtige Verkehrsader führte von Frauenburg bis Königsberg am Frischen Haff entlang und war bei ihrer Fertigstellung 1828 die erste ausgebaute Chaussee in der gesamten Provinz Ostpreußen. Ab 1831 wurde der Straßenbau in Richtung Insterburg fortgesetzt, 1835 war die Straße bis Gumbinnen fertiggestellt. 1837 wurde die Fertigstellung der Chaussee bis Eydtkuhnen feierlich bekanntgegeben.

Die ostpreußische Landwirtschaft verfügte bei der dünnen Bevölkerung nur über einen unbedeutenden inneren Markt. Sie war sowohl für den Absatz ihrer Erzeugnisse als für den Bezug ihrer Bedarfsgegenstände auf Mittel- und Westdeutschland angewiesen. Deshalb konnte ein nennenswerter Aufschwung der Landwirtschaft erst eintreten, als im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts sowohl in dem Bau der Chausseen, wie vor allen Dingen in der Anlage von Eisenbahnen ein etwas schnelleres Vorgehen eingeschlagen wurde. Im Jahre 1917 verfügte Ostpreußen über 3041 km Haupt- und Nebenbahnen, d. s. 82 km auf 1000 qkm Grundfläche, und 1918 waren 7729 km Chausseen vorhanden entsprechend 7 km auf l000 qkm der Landgemeinden und Gutsbezirke. Die Zahlen schlossen einen wesentlichen Fortschritt ein, aber bleiben doch weit hinter dem viel dichteren Verkehrsnetz der mittleren und westlichen Provinzen zurück. Die weite Entfernung der Provinz von den Absatzstätten und den Bezugsquellen der wichtigsten Bedarfsgegenstände wie Futter- und Düngemittel, Kohlen, Maschinen usw. sind von jeher ein schwerer Nachteil für die Provinz Ostpreußen gewesen.

Die Reichsstraßen in Ostpreußen, nummeriert von 1 und von 126 bis146 wurden durch das Reich finanziert. Die Landstraßen bzw. Chausseen, erster und zweiter Ordnung, finanzierte die Provinz bzw der Kreis, jedoch nur, wenn sie vor überörtlicher Bedeutung waren. Der Chaussee-Auf­seher und seine Leute waren für die Landstraßen bzw. Chausseen verantwortlich. Es gab aber in jeder Gemeinde weitere Verbindungen vor Ort, wie z. B. Kiesstraßen, Feldwege oder Trampelpfade. Diese Verbindungswege zu den ausgesiedelten Höfen oder auch zu den Äckern mussten an das örtliche Straßennetz angeschlossen werden und führten oft zu Streitigkeiten, wenn Nachbargrundstücke davon betroffen waren.

Das Wegenetz wurde von Gemeinden geplant und angelegt; lagen sie jedoch auf privatem Land mussten sie auch privat unterhalten werden, was wiederum oft zum Streit mit den Gemeinde-Gremien führte. Hintergrund waren Vorschriften der örtlichen Feuerwehr, die "jedes Bauwerk einschließlich Scheunen und Hütten in dem Gemeindeareal mit einem zweispännig gezogenen Kesselwagen" erreichen musste. Nach dem Winter wurden für die Pflege der gemeindlichen Wege Gemeindebewohner vom Bürgermeister zum Wegedienst aufgerufen. Sie mussten ihre Werkzeuge und Fuhrwerke mitbringen, das Material wurde gestellt, der als Kreis-Beamte abgeordnete Chausseeaufseher erteile die Befehle. Diese Einsätze dauerten bis zu zwei Wochen, zum Ärger der Betroffenen in Willschicken, da die Aussaat vor der Tür stand.

Wie die alten erhielten auch die neuen Straßen durchweg beidseitig Baumbepflanzung. Auch diese Alleen waren für die ostpreußische Kulturlandschaft typisch. Die Baumalleen dienten im Winter auch zur Orientierung. Teilweise wurden auch Sommer- und Winterwege parallel angelegt. Ein Sommerweg war ein unbefestigter, doch für den Fahrzeugverkehr vorgesehener Streifen einer ansonsten befestigten Straße. Er konnte als Randstreifen der Fahrbahn oder als getrennter Weg neben der Straße ausgeführt sein. Der Name bezieht sich darauf, dass ein solcher unbefestigter Weg oft nur bei trockenem Wetter, also vor allem im Sommer, passierbar war.


Durch die Eisenbahn (1849−1860 Bau der Ostbahn) wurde das Absatzgebiet unter anderem für Lebendvieh und Milchprodukte stark ausgeweitet (Berlin, Ruhrgebiet). Die Unterbrechung der Landverbindung zu den Hauptabsatzmärkten schuf nach 1919 eine erhebliche Absatzkrise. Die Seeverbindung über Pillau/Baltijsk ins Reich wurde ausgebaut („Seedienst Ostpreußen“), der Königsberger Hafen zum Hochseehafen erweitert und 1922 ein Flughafen eröffnet. Die Königsberger Ostmesse (ab 1920) wurde eine der größten Wirtschaftsmessen im Deutschen Reich.

Karte: Bahnnetz, Quelle: bahnnetz in ostpreußen - Bing images


Die Preußische Ostbahn, Königlich Preußische Ostbahn oder kurz Ostbahn bezeichnet im engeren Sinne die 740 Kilometer lange Eisenbahnverbindung von Berlin über Königsberg bis Eydtkuhnen an der Grenze zum Russischen Kaiserreich. Von Königsberg aus wurde die Strecke 1860 bis zur Grenze mit Russland verlängert. Am 6. Juni 1860 ging der Abschnitt bis Stallupönen, am 15. August bis zur Reichsgrenze bei Eydtkuhnen in Betrieb.

Die Züge aus Deutschland fuhren bis zur russischen Grenzstation Wirballen (russ. Вержболово).

Dort erfolgten die Grenzabfertigung und Umsteigen und Umladen auf die Breitspurgleise der Russischen Eisenbahn. In Gegenrichtung fuhren die russischen Züge bis zum deutschen Grenzbahnhof Eydtkuhnen, wo auf die deutschen Züge umgestiegen wurde.

Unter dem Namen Insterburger Kleinbahnen wurde ab 1902 ein Schmalspurnetz von rund 221 Kilometern Länge unterhalten, das von dem Eisenbahnknotenpunkt Insterburg im östlichen Teil der preußischen Provinz Ostpreußen ausging.

1904 wurde die 39,3 km lange Strecke der Kleinbahn von Insterburg noch Groß Skaisgirren/Kreuzberg eröffnet. Für die Fahrschüler Hildegard Tuttlies und Gerhard Kiehl bedeutete das: 30 Minuten von zu Hause mit dem Fahrrad zum Bahnhof Aulowönen und 1 Stunde 15  Minuten Bahnfahrt nach Insterburg und 20 bzw. 30 Minuten Fußweg zur Schule und wieder zurück.

In strengen Wintern fielen die Bahnverbindungen häufig aus.


Die folgende Tabelle zeigt die Stationen der Kleinbahn von Insterburg noch Groß Skaisgirren/Kreuzberg mit Kilometer-Angaben. Die fehlenden Angaben in den Kilometer Zellen zeigen Umsteigemöglichkeiten in den voraufgehenden Bahnstationen.

Kleinbahn Klbf Insterburg Groß Skaisgirren

Entfernung zwischen den Stationen in km

0,0 Insterburg Klbf (Tschernjachowsk)
Staatsbahn nach Eydtkuhnen/Eydtkau (Tschernyschewskoje) (–Litauen)
1,1 Insterburg Gumbinnerstraße
2,9 Insterburg Göringstraße
4,4 Insterburg-Luxenberg
8,1 Georgenburg (Majowka)
10,7 Pagelienen (Perelesnoje)
12,2 Kauschen/Horstenau
Kleinbahn nach Wirbeln (Schaworonkowo)
15,3 Klein Reckeitschen/Blüchersdorf
18,0 Auxkallen/Ringelau
20,2 Juckeln/Buchhof (Buchowo)
Kleinbahn nach Mehlauken/Liebenfelde (Ostpr.) (Salessje)
23,3 Gerlauken/Waldfrieden-Moorbad (Fjodorowo)
24,8 Gerlauken/Waldfrieden-Gründann
26,2 Groß Aulowönen/Aulenbach (Kalinowka)
27,9 Eichhorn (Jablotschnoje)
31,1 Swainen (Sadowoje)
31,8 Bersziupchen/Bersziubchen/Birkenhausen
34,8 Groß Aßnaggern/Grenzberg
35,8 Oschweningken/Breitenhof
36,1 Kletellen/Georgenheide (Uroschainoje)
39,3 Groß Skaisgirren/Kreuzingen Klbf (Bolschakowo)
Staatsbahn Königsberg (Kaliningrad) – Tilsit (Sowetsk)

Quelle: Insterburger Kleinbahnen – Wikipedia

Die 39 km langen Kleinbahnstrecke von Insterburg (KlBhf.) nach Groß Skaisgirren wurde am 12. November 1902 eröffnet.

Die folgende Abbildung zeigt eine Fahrplanseite der Insterburger Kleinbahnen 1932 und eine Postkarte der Kleinbahn in Skaisgirren und den Bahnhof in Insterburg:



11. Aufgaben der Gemeindeverwaltung bis zum Nationalsozialismus: Gebietsgliederung, Landgemeindeordnung, Kommunalabgaben und öffentliche Verwaltung

Bei einer Gemeindeverwaltung handelt es sich um eine Organisationseinheit, der einzelne Aufgaben für einen bestimmten Teil des Staatsgebiets zugewiesen sind. Die Aufgaben und Grenzen der Gebietskörperschaften sind staatsrechtlich geregelt (siehe Verfassung). Ihre Arbeitsweise unterhalb der Landesebene zeichnet sich durch Selbstorganisation und kommunale Selbstverwaltung aus, die eigene Organe (z. B. Bürgermeister, Gemeinderat) im Rahmen der ihnen zugewiesenen Aufgaben ausführen. Im Gegensatz zu anderen kommunalen Körperschaften wie dem Amt hat die Gebietskörperschaft eine direkt gewählte Volksvertretung.

11.1 Gebietsgliederung

Die Gebietskörperschaften Preußens waren Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden. Mit Wirkung ab 1. November 1905 wurden in der Provinz Ostpreußen die vier südlichen Kreise (Johannisburg, Lötzen, Lyck und Sensburg) vom Regierungsbezirk Gumbinnen abgetrennt und zusammen mit dem Südteil des Bezirks Königsberg zum neuen Regierungsbezirk Allenstein zusammengefasst.

Auf lokaler Ebene wurden Kreise eingerichtet, die ein Bindeglied zwischen der staatlichen Verwaltung und der durch die geplante (aber erst Ende des 19. Jahrhunderts verwirklichte) kommunale Selbstverwaltung zu größerer Bedeutung gelangten Gemeindeebene bilden sollte. Die Amtsbezirke waren die untersten staatlichen Institutionen, die Amtsvorsteher mit Aufgaben in den im Bezirk vorhandenen Gemeinden betrauten. Sie hatten ordnungsrechtliche Befugnisse. Die Berufung der Amtsvorsteher erfolgte auf Vorschlag des Landrates durch den Regierungspräsidenten. Die nunmehr selbständigen und von einem meist ehrenamtlichen Bürgermeister repräsentierten Gemeinden wurden durch die Kreisverwaltung und ihre professionelleren Strukturen in der Ausübung ihrer Amtsgeschäfte unterstützt.

Den Spitzenbeamten eines Landkreises nannte man Landrat, den Sitz der Kreisverwaltung Landratsamt oder Kreishaus. Das für Willschicken zuständige Kreishaus lang in der Nachbargemeinde Lindenhöhe, in der Nachbarschaft des Gasthofes von Hedwig Kiehl / Lerdon. Gerhard Kiehl, eines der vier Kinder aus der ersten Ehe, wird 1943 der spätere Ehemann von Hildegard Tuttlies.

Die Größe eines Kreises sollte so bemessen sein, dass von jedem Dorf aus innerhalb eines Tages eine Reise mit der Kutsche zum Sitz der Kreisverwaltung, die Ausführung der geplanten Amtsgeschäfte und die Rückreise möglich sein sollte oder umgekehrt der Landrat ein entlegenes Dorf besuchen konnte, ohne dort übernachten zu müssen.

Der König von Preußen (bis 1772 König in Preußen) war das Staatsoberhaupt der preußischen Monarchie, die von 1701 bis zur Novemberrevolution 1918 bestand. In den Jahren des Deutschen Kaiserreichs war der preußische König ab 1871 gleichzeitig Deutscher Kaiser. „Die Preußischen Reformen schufen mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Verwaltungsstruktur.

Dazu gehörte eine umfassende Kreis-Reform in Ostpreußen, da sich die 1752 eingerichteten Kreise als unzweckmäßig und zu groß erwiesen hatten. Aus dem Gebiet des alten Kreises Insterburg wurden elf neue Kreise gebildet, darunter auch ein neuer, deutlich kleinerer Kreis Insterburg. Dieser umfasste die Kirchspiele Aulowönen, Berschkallen, Didlacken, Georgenburg, Insterburg, Jodlauken, Norkitten, Pelleningken, Norkitten und Saalau. Es galten: Das Gesetz betreffend die Landgemeinde-Verfassungen in den sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie vom 14.04.1856 und das Gesetz betreffend die ländlichen Ortsobrigkeiten in den sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie vom 14.04.1856.

Nach der Neuorganisation der Kreis-Gliederung im preußischen Staat nach dem Wiener Kongress entstand mit dem 1. September 1818 der Kreis Insterburg im Regierungsbezirk Gumbinnen in der preußischen Provinz Preußen  Am 01.01.1874 erfolgt die Einführung der Kreisordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen vom 13.12.1872.

"Am 29.01.1874 erfolgt die Bildung der Landgemeinde Drohndorf aus dem Gutbezirks Forst Padronen (teilweise – Kolonien Drohndorf, Klein Franzdorf und Mittenwalde). Am 11.03.1874 wird der Amtsbezirks Groß Franzdorf (Nr. 27)  aus den nachfolgenden Gemeinden und Gutsbezirken gebildet: Bessern, Drohndorf, Groß Franzdorf, Ganden,  Groß Wartau, Klein Franzdorf, Klein Schunkern, Mehlen, Paducken, Pillwogallen und Willschicken sowie dem Gutsbezirk Wartau gebildet. Er besteht aus 12 Gemeinden bzw. Gutsbezirken und wird zunächst vom Amtsvorsteher in Jennen verwaltet, der somit die staatliche Autorität (standesamtlich und polizeilich) präsentiert.

Am 01.04.1881 wird die Einführung der Kreisordnung für die Provinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen vom 19.03.1881 umgesetzt, die endgültige Feststellung des Amtsbezirkes erfolgt vermutlich zu gleicher Zeit. Knapp ein halbes Jahr später folgt die Landgemeindeordnung für die sieben östlichen Provinzen (03.07.1891)

Am 17.11.1882: Endgültige Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franzdorf Nr. 27“ mit den Landgemeinden Bessern, Drohndorf, Groß Franzdorf, Gaden, Groß Wartau, Klein Schunkern, Mohlen, Paducken, Pillwogallen und Willschicken und den Gutsbezirk Wartau (11 Gemeinden/Gutsbezirke). 01.09.1931 umfasst der Amtsbezirk Franzdorf die Landgemeinden: Bassen, Drohndorf, Groß Franzdorf, Groß Wartau, Klein Schunkern, Lindehöhe, Mohlen, Paducken, und Willschicken. (9 Gemeinden bzw. Gutsbezirke).

Per Erlass erfolgt 01.01.1934 die Einführung des preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes vom 15.12.1933 und am 01.04.1935 erfolgt die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung vom 30.1.1935. Die Folgen sind u.a. die Umbenennung der Landgemeinden in Gemeinden. Zum 03.06.1938 erfolgt die Umbenennung der Gemeinde Paducken in Padau  sowie Gemeinde Willschicken in Wilkental, die Bestätigung der Namen wird am 16.07.1938 vollzogen. Die letzte Veränderung - die Eingliederung der Gemeinde Mohlen in die Gemeinde Bessen und Gemeinde Padau in die Gemeinde Klein Schunkern wird am 01.04.1939 umgesetzt." Quelle: Amtsbezirk Franzdorf – GenWiki (genealogy.net)


11.2 Landesgemeindeordnung

In Ostpreußen war ein Kirchspiel zugleich Verwaltungsbezirk, Gerichtsbezirk oder Bezirk für das militärische Aufgebot

Karte: Kirchspiel Aulowönen, 1939, In Ostpreußen war ein Kirchspiel zugleich Verwaltungsbezirk, Gerichtsbezirk oder Bezirk für das militärische Aufgebot, Quelle: Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)
Abbildung: Ostelbien, Text "Es ist eine liberale Stimme abgegeben worden. Der Schulmeister kriegt von heute ab keine Kartoffeln mehr." Quelle: E. Thöny Simplizissimus,1912, Jg. 16, Heft 40 Seite 715 Simplicissimus · die historische Satirezeitschrift · Personenliste

Die  preußische Landgemeindeordnung vom 3. Juli 1891, regelt die Verfassung und Verwaltung der ländlichen Gemeinden u.a. in Ost­preußen. Vorbereitet war die preußenweite Reform durch die Kreis-Ordnung für die östlichen Provinzen vom 13. Dezember 1872.

Sie nahm den Gutsherren die Polizeigewalt und das Recht auf Ernennung von Gemeindevorstehern und Schöffen. Die Bürgermeister der Gemeinden wurden auch Gemeindevorsteher und vor dem 1. Weltkrieg Schulzen genannt. Die Gemeinden wurden befugt, diese Ämter durch Wahlen zu besetzen.

Auch die rechtliche Stellung der selbständigen Gutsbezirke und der Landgemeinden wurde durchgreifend geordnet. Öffentlich-rechtlich hatte der Gutsbezirk dieselben Befugnisse und Verpflichtungen wie die Gemeinden.

"Unter einer Landgemeinde, früher auch Dorfgemeinde genannt, wird eine Mehrzahl von Personen verstanden, die auf einem räumlich abge­grenzten Gebiete des platten Landes zusammenwohnen und einer ge­meinsamen Ortsverfassung unterstehen. Sie sind öffentli­che Körperschaften, denen vorbehaltlich der Staatsaufsicht die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten zusteht; auch die »Gemeindeverbände« erfreuen sich innerhalb des Rahmens ihrer Zweckbestimmung einer relativen Selbständigkeit.

An der Spitze der Verwaltung der Landgemeinden steht der Gemein­de­vorsteher; ihm zur Seite stehen 2–6 Schöffen , die ihn in den Amtsge­schäften zu unterstützen und in Behinderungsfällen zu vertreten haben. Gemeindevorsteher und Schöffen werden aus der Zahl der Ge­meinde­glieder in der Regel auf 6 Jahre gewählt.

Der Gemeindevorsteher ist die Obrigkeit der Landgemeinde und führt deren Verwaltung und Ver­tretung nach außen, die Dienstaufsicht wie auch den Vorsitz in der Gemeindeversammlung und Gemeindevertretung."

"Jedem Preußen ward das Recht gewährleistet, an dem Ort sich aufzuhalten, wo er eine eigne Wohnung oder ein Unterkommen zu finden imstande war. Wer nach erlangter Großjährigkeit drei Jahre lang an einem Ort seinen Aufenthalt gehabt hatte, musste im Falle der Verarmung dort unterstützt werden.

Die Einwohner der Landgemeinden besitzen entweder nur die Gemeindeangehörigkeit oder auch das Gemeinde-Bürger­recht (Gemeinderecht). Angehörige der Landgemeinde sind, mit Aus­nahme der nichtangesessenen servisberechtigten Militärpersonen des aktiven Dienststandes, diejenigen, die innerhalb des Gemeindebezirks einen Wohnsitz haben.

Die Gemeindeangehörigen sind zur Mitbenutzung der öffentlichen Einrichtungen und Anstalten der Gemeinde berechtigt und zur Teilnahme an den Gemeindeabgaben und Lasten verpflichtet.


Ehrenrechte, Wohnsitz seit einem Jahr im Gemeindebezirk, Nicht­-Empfang einer Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln, Entrichtung der Gemeindeabgaben und Besitz eines Wohnhauses Gemeindebürger (Gemeindeglieder) sind alle Ge­meinde-Angehörigen, denen das Gemeinderecht zusteht; Voraussetzung hierzu ist deutsche Reichsangehörigkeit, Besitz der bürgerli­chen Gemeindebürger (Gemeindeglieder) sind alle Ge­meinde-Angehörigen, denen das Gemeinderecht zusteht; Voraussetzung hierzu ist deutsche Reichsangehörigkeit, Besitz der bürgerli­chen oder von Grundstücken im Gemeindebezirk oder Verpflichtung zur Staatsein­kommensteuer. "

In der „sozialen Realität“ in Willschicken war der Bürgermeister ein Großbauer. Unter den Schöffen saßen, wie anderswo auch, in Willschicken nur Großbauern Mittelbauern waren selten, Kleinbauern nie vertreten. Diese „Dorfelite“ bildete in den Gemeinden ein sehr wirksames soziales Netz der Macht-Aus­übung. 

Dazu zählten neben den Großbauern und Gutsherren auch sofern vorhanden Pfarrer, Ärzte und Apotheker, Kaufleute und Gastwirte. Diese standen allerdings in der "zweiten Reihe". Gutsherrn die einem selbstständigen Gutsbezirk vorstanden, ernannten Bürgermeister und Schöffen selbst

Es wird berichtet, dass Gutsherrn und Großbauern ihren Arbeiter, die die Voraussetzungen als Gemeindebürger erfüllten, "empfahl", die von ihnen vorgeschlagenen Personen zu wählen. Teilweise wurde die Position des Gemeindevorstehers auch innerhalb von "angesehenen" Familien weitergegeben, wenn die formale Zustimmung erreicht wurde.

1891 ist auch die rechtliche Stellung der selbständigen Gutsbezirke und der Landgemeinden durchgreifend geordnet, und zwar in der Weise, dass der Gutsbezirk, d.h. das Herrschaftsgebiet eines einzelnen Gutsbe­sitzers, öffentlich-rechtlich mit denselben Befugnissen und Verpflichtun­gen wie die Gemeinden ausgestattet worden sind.

Diese Verordnung galt bis 1927, dann wurde die Landgemeindeordnung durch ein Gemeindereformgesetz abgelöst, die die kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob.

Besonders in den ostelbischen Provinzen waren zahlreiche Gutsbezirke und bisher gemeindefreie Gebiete (Forsten, Gewässer, Mühlengrundstücke usw.) einer Gemeinde zuzuweisen Ab 1933 galt das Preußische Gemeindeverfassungsgesetz

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908


11. Kommunalabgaben und öffentliche Verwaltung

Nach dem Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893 galt u.a. folgendes:

"§ 1. "Die Gemeinden sind berechtigt, zur Deckung ihrer Ausgaben und Bedürfnisse nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes Gebühren und Beiträge, indirekte und direkte Steuern zu erheben, sowie Naturaldienste zu fordern"

"§ 23. "Die direkten Gemeindesteuern können vom Grundbesitz und Gewerbebetrieb (Realsteuern), sowie vom Einkommen der Steuerpflichtigen (Einkommensteuer) erhoben werden."

§ 68. "Die Steuerpflichtigen können durch Gemeindebeschluss zu Naturaldiensten (Hand- und Spanndiensten) herangezogen werden."

Bei der Eingruppierung der Zensiten (Steuerträger) durch verschiedene örtliche Kommissionen kam es im Regierungsbezirk Gumbinnen in einigen Fällen zur Bevorzugung der vermögenden Steuerzahler, was mit der Zusammensetzung der Kommissionen zusammenhing, in denen die Gutsbesitzer und Großbauern ihre Interessen vertraten. Die Kommissionen setzten sich zu einem Drittel aus Behördenvertretern und zu Zweidrittelen aus örtlichen (Gemeinde und Kreis) Gremien zusammen.

Dass es in einigen Gemeinden zu den Bevorzugungen kam, wurde von der Revision des Reichsfinanzministeriums in Berlin mehrfach kritisiert. Quelle: Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 - 1920.

Im Jahr 1905 beträgt der Grundsteuer Reinertrag in Willschicken 8,87 Mark je ha.

Die Dorfgemeinde war Träger der wesentlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung. Ihr fielen in der Hauptsache die Ausgaben für den Schulbau- und Unterhalt, den Wegebau und Wegedienst zu, auch örtliche Friedhöfe gehörten dazu. Dazu kam die Armenpflege. Sie war häufig besonders belastend. Auf Grund der Abwanderung bleiben verstärkt verarmte alte und verarmte Landarbeiter in den Gemeinden zurück. 1885 belief sich im Regierungsbezirk Gumbinnen die jährliche Armutslast auf 53,9 % aller Ortskommunalabgaben. Einige kleinere Städte wie Aulowönen und umliegende Dörfer mussten auch Stallgebäude oder Scheunen als Unterstützungswohnsitze für die von der Polizei oder der Besserungsanstalt Tapiau, zugewiesenen Heimatlosen zur Verfügung stellen oder Plätze für das fahrende Volk ausgewiesen werden. Am Unterstützungswohnsitz gab es einen Arbeitszwang, der von der Gemeinde kontrolliert werden musste. In Willschicken gab es keine Unterstützungswohnsitze, dagegen welche auch dem Gut Alt Lappönen. Dazu siehe auch den Teil Heimatlose.

Die Reichsstraßen wurden durch das Reich, die Chausseen 1. und 2. Ordnung durch den Landkreis finanziert. Nach dem Winter wurden für die Pflege der gemeindlichen Wege Gemeindebewohner vom Bürgermeister zum Wegedienst aufgerufen. Sie mussten ihre Werkzeuge und Fuhrwerke mitbringen, das Material wurde gestellt, der als Kreis-Beamte abgeordnete Chausseeaufseher erteile die Befehle. Diese Einsätze dauerten bis zu zwei Wochen, zum Ärger der Betroffenen in Willschicken, da die Aussaat vor der Tür stand.

Den gewählten Bürgermeistern standen bei der Bewältigung der Selbstverwaltungsaufgaben gewählte Gemeindevertreter (Schöffen) zur Seite, die über die anstehenden Probleme und über die vorliegenden Anträge zu beraten hatten.

Diese Gremien fassten im Rahmen der Selbstverwaltungsaufgaben auch Beschlüsse. Laufende Verwaltungsaufgaben z. B. Bodennutzungserhebungen, Viehzählungen, Erfassung von Wehrpflichtigen, Pferdemusterungen, Einziehung von Steuern, während des 2. Weltkrieges Ausgabe von Lebensmittelkarten erfolgten nach Weisungen der Verwaltung des Kreises.

Das Gremium legte die Kommunalabgaben (Grund-, Gewerbe- und Einkommenssteuer) fest, besaß in Absprache mit den Landjägern die „niedere“ Polizeigewalt und regelte – wenn noch vorhan­den – die Allmende-Nutzung und die Einteilung der Gemeindedienste wie Wegebau oder die Zulassung von Doktor- oder Hebammendiensten.

Die Bürgermeister der Landgemeinden waren ehrenamtlich tätige Personen und erhielten lediglich eine Aufwandsentschädigung, die nach den Einwohnerzahlen berechnet wurden. Der Bürgermeister führte in der Regel die Kasse.


12. Aufgaben im Regierungsbezirk Gumbinnen: Polizei und Volksschulwesen

Preußen gliederte zwischen 1808 und 1816 sein Staatsgebiet in Provinzen und Regierungsbezirke. Letztere gaben seit 1811 ein Amtsblatt für öffentliche Mitteilungen heraus. Der preußische Regierungsbezirk Gumbinnen lag im Nordosten Preußens. Er bestand von 1808 bis 1945, zunächst unter der Bezeichnung Regierungsbezirk Litthauen zu Gumbinnen. Von 1824 bis 1878 bildete er den östlichsten Teil der Provinz Preußen, dann der Provinz Ostpreußen.

Nachdem 1818 eine teilweise andere Aufteilung einiger Kreise stattgefunden hatte, mussten 1905 zugunsten des neu gebildeten Regierungsbezirks Allenstein die Kreise Lötzen, Lyck, Johannisburg und Sensburg abgegeben werden. Es unterstanden der Regierung Gumbinnen danach noch die Kreise Treuburg, Angerburg, Goldap, Angerapp (Darkehmen), Insterburg Stadt und Land, Gumbinnen, Ebenrode (Stallupönen), Pillkallen (Schloßberg), Niederung (Elchniederung), Ragnit, Tilsit Stadt und Land und Heydekrug.

Willschicken wurde zum Landkreis Insterburg gezählt.

Es sollen beispielhaft nur zwei Aufgaben im Regierungsbezirk kurz beschrieben werden.

12.1 Modernisierung des Volksschulwesen im Regierungsbezirk Gumbinnen

Bau und Unterhalt der Schulen war zwar eine Gemeindeangelegenheit, die Aufsicht lag jedoch beim Landrat in Insterburg bzw. beim Regierungspräsidenten in Gumbinnen. Von hier aus wurden Lehrer eingestellt, überprüft und bezahlt, Schulbücher gedruckt und Unterrichtspläne vorgegeben. Bei (un)angekündigten Besuchen waren Schulrat und Schulinspektor gefürchtete Autoritäten.

In kultureller Hinsicht kann von einer positiven, wenn auch langsamen Entwicklung gesprochen werden. Durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872, erlassen durch den preußische Kultusminister Adalbert Falk auf Veranlassung Bismarcks wird die kirchliche Schulinspektion im Königreich Preußen aufgehoben und alle Schulen der staatlichen Aufsicht unterstellte. Bis dahin unterstand die Volksschule der geistlichen Schulaufsicht durch die katholische oder evangelische Kirche, sowie unter Umständen den Patronatsrechten von Gutsherren.

Aus Ostpreußen wanderten jährlich seit der Reichsgründung etwas 30 000 junge häufig unverheiratete Landarbeiter ab. Ausschlaggebend waren wirtschaftliche und individuelle Gründe. Trotzdem wuchs die Bevölkerung in Ostpreußen von 1,85 Mio. im Jahre 1871 auf 2,03 Mio. im Jahre 1905. Im Regierungsbezirk Gumbinnen trat eine Bevölkerungszunahme der Wohnbevölkerung von 770.000 im Jahre 1871 auf 805.000 im Jahre 1905 ein. Zwischen 1901 und 1905 betrug in den Landkreisen die Geburtenrate 39,9 %, die Sterberate 18,7 % und die Heiratsrate 15,1 %. Für die Kinder der anwachsenden Bevölkerung mussten deshalb vor Ort neue Schulen und zusätzliche Klassen geschaffen werden. Zu lange blieben aber die vorhandenen oder neu geschaffenen Schulkassen überfüllt. Ende 1875 waren immer noch 630 Klassen mit mehr als 80 Schülern vorhanden, davon 303 mit 100 bis 150, 39 mit über 150 Kindern, obwohl 1875 neue Schulen mit insgesamt 22 Klassen eingerichtet worden waren. Im Regierungsbezirk Gumbinnen gab es 1872 noch 246 Schulen, in denen jeweils mehr als 100 Kinder nur von einem Lehrer unterrichtet wurden.

Die Zahl der Volksschulen stieg im Regierungsbezirk Gumbinnen zwar zwischen 1864 und 1901 von 1286 auf 1397, doch waren die meisten Schulen einklassig, so dass bei gleichzeitiger Zunahme der Schülerzahlen, die Überfüllung der Klassen nur sehr langsam zurückging. In den Städten im Regierungsbezirk saßen 1886 durchschnittlich 60 Kinder in den Klassen, 1901 waren es noch 51 Schüler. In den Landkreisen betrugen die Zahlen 70 und 60 Kinder. Damit lag der Regierungsbezirk unter der von ministerieller Seite angestrebten Höchstzahl von 80 Kindern pro Schulkasse. Quelle: Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 -1920. Mit Wirkung ab 1. November 1905 wurden die vier südlichen Kreise (Johannisburg, Lötzen, Lyck und Sensburg) vom Regierungsbezirk Gumbinnen abgetrennt und zusammen mit dem Südteil des Bezirks Königsberg zum neuen Regierungsbezirk Allenstein zusammengefasst.

Der Schulbesuch vieler Kinder war unregelmäßig. Nicht selten - vor allem im Sommer zur Erntezeit - fehlten mehr als die Hälfte der Schüler. Es gab aber noch weitere Gründe: Weiter oder schlechter Schulweg gerade im Winter, die wirtschaftliche Not der Eltern, die ihre Kinder bei der Arbeit benötigten, das Unverständnis der Eltern für die Notwendigkeit des Schulbesuches, die Einstellung vieler Gutsbesitzer, die billige Hütekinder brauchte. Dazu kamen die Lage der Lehrer, denen häufig die Befähigung für die Lehrertätigkeit fehlte und sich durch mehrere Nebenerwerbe wirtschaftlich über Wasser halten mussten. 1878 wurde eine Hüte-Genehmigung für die Kinderarbeit eingeführt, die allerdings in den Gemeinden sehr unterschiedlich ausgelegt wurde.

Für den Fall, dass Kinder wiederholt ohne triftigen Grund die Schule versäumten und die Vorhaltungen der der Schulbehörde bei den Eltern keine Wirkung zeitigten, konnten die Erziehungsberechtigten für jeden Tag und für jedes Schulkind mit einer Geldstrafe von 0,25 bis 2 Mark ersatzweise mit 6 bis 48 Stunden Haft bestraft werden. Arbeitgeber, die durch nicht genehmigte Beschäftigung von Schulkindern deren Erfüllung der Schulpflicht verhindert, konnten ebenfalls bestraft werden. Auch hier machte sich in den Gremien, die die Schulaufsicht innehatten, der Einfluss der adligen Gutsbesitzer stark bemerkbar. Viele Gutsherren plädierten für eine Verkürzung der Schulzeit, "damit die Jugend schneller in Arbeit kommt." Sehr große Güter, die erfolgreich waren, konnten sich Privatunterricht für ihre Kinder leisten.

Erst nach dem 1. Weltkrieg tat eine Besserung ein, da es jetzt eine größere Unterstützung durch die Regierung gab und der Einfluss der Gutsbesitzer zurückgedrängt werden konnte. Endlich wurden mehr Schulgebäude und Klassenräume gebaut und ausreichende Lehrerstellen und Lehrerwohnungen geschaffen, die Lehrergehälter wurden angehoben, die Ausbildung vereinheitlicht. Von 1811 bis 1924 gab es in Insterburg die Lehrerfortbildungsstätte Karalene, die danach in Königsberg angesiedelt wurde. Sie lag knapp zwölf Kilometer nordöstlich von Insterburg. Königin Luise hatte bei ihrem Aufenthalt in Ostpreußen die Notwendigkeit der Bildung der preußisch-litauischen Bevölkerung erkannt und die Ausbildung litauisch sprachiger Volksschullehrer in einem besonderen Seminar angeregt.

"Nach zähen Auseinandersetzung einigten sich 1920 die Parteien schließlich auf jenen Minimalkompromiss, der als "Weimarer Schulkompromiss" bekannt ist und den sie in Form des Grundschulgesetzes 1920 noch durch die Nationalversammlung brachten: Erstmals in der deutschen Geschichte sollte eine für alle Kinder gemeinsame "Grundschule" geschaffen werden. Private Vorschulen sollte es nur in seltenen Ausnahmefällen geben dürfen. Allerdings sah der Kompromiss eine Grundschuldauer von lediglich vier Jahren vor, anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler wieder auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden, die gemäß der "Mannigfaltigkeit der Lebensberufe" als einfache, mittlere und höhere Bildungsgänge unterschieden wurden. Darüber, welche dieser Schulen ein Kind besuchen würde, sollte fortan einzig und allein die in der Grundschule festgestellte "Anlage und Neigung" entscheiden, "nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern" (Artikel 146, Weimarer Reichsverfassung)" Quelle: Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich | Bildung | bpb.de

Bau und Unterhalt der Schulen war eine Gemeindeangelegenheit. Die Aufsicht lag jedoch beim Landrat bzw. beim Regierungspräsidenten. Häufig schlossen sich mehrere kleine Gemeinden zu einem Schulverband zusammen - wie Lindenhöhe, Wilkental, Schruben und Paducken. Der Schulverband vereinigte ein kleines Territorium der Kirchspiele Aulenbach und Grünheide. Das Schulhaus war neugebaut, dass die umliegenden Dorfbewohner hergerichtet hatten mit einem zusätzlichen Anbau für die Lehrer-Landwirtschaft. Jedem Lehrer standen 2 ha Land zur Selbstversorgung zu. Das Schulhaus lag neben dem Friedhof, auf dem sich die Schulkinder, sehr zum Missfallen von Lehrer Wiederhöft, auch gerne versteckten, wenn Strafen drohten.

Die Volksschule von Lindenhöhe, die Hildegard Tuttlies besuchte, hatte zwei Alters-Klassen, in denen es durchschnittlich aber noch pro Klasse zwischen 40 und 45 Schüler gab. Die Schule lag nicht weitentfernt vom Kreishaus - wo auch die Schulaufsicht für den Kreis ihren Sitz hatte. In der Nähe lag eine bedeutenden Straßenkreuzung - war sie gut erreichbar. (siehe die Karte von Lindenhöhe)

Edeltraut Tauchmann geb. Schlack berichtete aus der Volksschule Waldfrieden "Als ich in der 4. Klasse war, kam die Sprache auf die "höhere Schule". Das war keineswegs selbstverständlich auf dem Land, denn die Schulen kosteten Schulgeld (monatlich 10,. RM für die Mittelschule und 20,- RM für die Oberschule für Mädchen oder das Gymnasium für Jungen). Dazu kamen Fahrkartengeld, evtl. sogar für Pension, ferner Ausgaben für Lernmaterial sowie Taschengeld, und außerdem entfiel man ja als Arbeitskraft. Und wenn schon höhere Schule, dann vorwiegend für Jungen, denn "Mädchen würden ja sowieso heiraten"!" Quelle: Datei:Waldfrieden (Ostp.) - Ksp. Aulenbach - 2013 - Volksschule Waldfrieden.pdf – GenWiki (genealogy.net)

Auf die höhere Schule wechselten in Lindenhöhe jährlich pro Klasse zwischen 3 bis 4 Schüler, es waren überwiegend Jungen, und extrem selten kam ein Sohn oder eine Tochter aus einem kleinbäuerlichen Haushalt. Die Schulaufsicht hatte bei der Auswahl mitzureden. In der Schulaufsicht saßen auch nach dem 1. Weltkrieg in der Regel "preußische Beamte" mit einer konservativen Einstellung. Ab 1933 wurden auch diese systematisch ausgewechselt.

Schon wenige Wochen nach der Machtübernahme 1933 erhielt die rassistische und antijüdische Ideologie der Nationalsozialisten Einzug in das deutsche Schulwesen. Mit dem "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen" wurde die Zahl der Schulplätze in den weiterführenden Schulen verknappt, während zugleich die Zugangsmöglichkeiten für Schüler "nichtarischer Abstammung" beschränkt wurden. Ihr Anteil an der Schülerschaft durfte fortan in keiner weiterführenden Schule 5 Prozent übersteigen und bei den Neuaufgenommenen nicht mehr als 1,5 Prozent betragen (gleiches galt für alle Hochschulfakultäten). Diese Diskriminierung richtete sich vor allem gegen die jüdische Bevölkerung und wurde in den Folgejahren massiv verschärft: 1938 wurden jüdische Kinder gänzlich aus deutschen Schulen ausgeschlossen; 1942 wurde die Schließung der jüdischen Schulen angeordnet und darüber hinaus "jegliche Beschulung jüdischer Kinder durch besoldete und unbesoldete Lehrkräfte untersagt" .

Im Zuge der "Gleichschaltungspolitik" wurden ferner die demokratischen Beamten aus dem Schulsystem und den Schulbehörden entfernt. Die Schulverwaltung, die bis dahin – dem Prinzip des Kulturföderalismus folgend – immer in der Hand der einzelnen Gliedstaaten gelegen hatte, wurde nun im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zentralisiert und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Führerprinzip in den Schulen durchzusetzen und die Lehrpläne nach "völkischen Kriterien" umzuschreiben.

Es gab an der Schule in Lindenhöhe nur 2 ausgebildete Lehrer und zeitweilig 2 Hilfslehrer mit je einer halben Stelle. Die Lehrer wohnten in der Schule. Die Hilfslehrer kamen von außerhalb und waren ehemalige Unteroffiziere, die sich auch so benahmen. Wenn halbjährlich die Schulinspektoren auftraten, herrschte jedesmal große Aufregung, besonders bei den Lehrern. Häufig wurden dann sogar vorher die Klassenräum von den Schulkindern neu gestrichen. Der Rohrstock war ein übliches Erziehungsmittel für die Kinder. Die Fibel und das Rechenbuch waren nach Aussage von Hildegard Tuttlies "mindestens 10 Generationen alt".

In der Schule wurden aber auch langjährige Freundschaften geschlossen. (siehe auch den Text "Erinnerungen" von Hildegrad Tuttlies). In der Regel fielen Abschluss der Volksschule und Konfirmation im 14. Lebensjahr zusammen. Hildegard Tuttlies besuchte noch zwei weitere Jahre die Höhere Handelsschule in Insterburg, um die Mittlere Reife nachzuholen. Ihr Wunsch noch eine Lehrerinnenausbildung zu beginnen, wurde, obwohl es mögliche war, von den "Parteigrößen" in Insterburg abgelehnt. "Sie haben ja schon eine Ausbildung". Sie wurde als Landjahrmädel in einer Baumschule untergebracht, die sie sich aber ausgesucht hatte. Hier konnte sie später auch als Angestellte bis 1942 weiterarbeiteten, dann wurde ihr Vater krank und sie musste auf den Hof zurückkehren.

Nach der Einberufung der Männer und dem Kriegsbeginn wurden die Schulen häufig von frisch ausgebildeten Lehrerinnen aus dem Reich fortgeführt. Siehe dazu: Marianne Peyinghaus, Stille Jahre in Gertlauken

12.2 Entwicklung der Polizei


Die Gründung des Gendarmeriekorps erfolgte durch ein königliches Edikt am 30. Juli 1812 nach dem Vorbild der französischen Gendarmerie impériale. Bereits acht Jahre nach seiner Gründung wurde das Korps durch König Friedrich Wilhelm III. mit der Verordnung über die anderweitige Organisation der Gendarmerie nebst Dienst-Instructionen vom 30. Dezember 1820 gründlich reformiert. Bislang noch bestehende regionale Gendarmerien des Königreichs wurden aufgelöst und die Kompetenzen zwischen Militär- und Zivilverwaltung eindeutig geregelt. Organisatorisch unterstand die Gendarmerie dem Kriegsministerium, im Dienst jedoch dem Innenministerium und den zivilen Behörden vor Ort.

Karte: Verurteilte auf je 100.000 strafmündige Zivilpersonen, Quelle: Gefährliche Körperverletzung 1893/97 – Deutschland in Daten (deutschland-in-daten.de)

Für die Sicherheit und Ordnung sowie für den Schutz der Bewohner und deren Eigentum war im Kreis-Gebiet der Landrat zuständig.

Zur Durchführung dieser Aufgaben standen dem Landrat Polizeidienststellen der Landjäger mit ihren Beamten zur Verfügung.

Jeder Polizeibeamte hatte ein Gebiet von mehreren Gemeinden zugeteilt erhalten, in dem er seine polizeilichen Aufgaben zu erfüllen hatte.

Die Gendarmen selbst besaßen den Rang von Unteroffizieren und die Gendarmerieunteroffiziere den Rang von Wachtmeistern.

Aufgrund der schlechten Kommunikationsverbindungen waren die unteren Behörden sowie die Gastwirte verpflichtet,

die Gendarmen über polizeilich relevante Vorgänge zu informieren.

Die Ausrüstung der Fußgendarmen entsprach dem Infanteristen der Armee mit Tornister, Patronentasche und Brotbeutel

sowie dem Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, das ständig mitzuführen war.

Das Pferdematerial musste kriegstauglich sein, das heißt den Normen der Kavallerie entsprechen.

Ab 1825 begann auch in der preußischen Gendarmerie die Reduzierung der berittenen Gendarmen

zu Gunsten der Einstellung von Fußgendarmen.

Auch wurde die Anzahl der Offiziere stark beschränkt, die nach Kriegsende 1815 aus Versorgungsgründen übermäßig in der Gendarmerie eingestellt worden waren.

Die Einstellungsvoraussetzungen waren:

  • eine einwandfreie Lebensführung,
  • keine Vorstrafen,
  • gute Kenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens,
  • Gesundheit und „kräftiger Körperbau“,
  • „gute natürliche Geistesanlagen“.

Ab 1916 wurde die feldgraue Uniform der Infanterie mit Bluse, steingrauer Hose und dem feldgrauen Einheitsmantel eingeführt.

Nach dem Krieg wurde je nach Verfügbarkeit ein Sammelsurium von alten grünen und feldgrauen Bekleidungsstücken getragen.

1925 wurde für die nunmehrige Landjägerei eine graugrüne Uniform (Rock und Hose) und 1926 der Tschako der Schutzpolizei eingeführt.

Diese Uniform wurde 1928 noch einmal modifiziert und für alle Beamten zusätzlich eine Stiefelhose in Breechesform eingeführt.

Königlich Preußische Landgendarmerie – Wikipedia

Foto: Die frühere Königlich Preußische Landgendamerie, Quelle: Gendarmerie (polizeiuniform.de)

Mit einer Verordnung der preußischen Staatsregierung vom 21. Juni 1920 wurde die Landgendarmerie in Landjägerei umbenannt und die Dienstgrade entsprechend angepasst, z. B. Gendarmeriedistriktsoffizier zu Landjägerrat, Gendarmerie-Oberwachtmeister zu Landjägermeister, Gendarmerie-Wachtmeister zu Oberlandjäger und Landjäger.

Polizeichef war der jeweilige Landrat, die Gemeinde hatte nun keine direkten Einflussmöglichkeiten mehr.

Die mit dem königlichen Wappen versehenen Helme wurden noch bis 1922 getragen, bis ihre Verwendung sowohl inner- wie außerdienstlich durch eine Verordnung des MdI vom 9. August 1922 untersagt wurde. Stattdessen wurde lediglich die Dienstmütze getragen, bis 1926 analog zur Schupo der Tschako eingeführt wurde.

Die Personalstärke der Landjägerei im Außendienst betrug zum 1. April 1922 673 Landjägermeister, 4.227 Oberlandjäger und 4.227 Landjäger.

1920 wurde die einzige Polizeischule für West- und Ostpreußen in Sensburg, in den Kasernengebäuden stationiert.

1933 übernahm Erich Koch die Direktion dieser Polizeischule, um nationalsozialistische Lehrinhalte sicherzustellen. In den Fächern Staats- und Bürgerkunde sowie in Fach Allgemeinwissen, hatten bisher Lehrer der Stadtschule 9 - 12 Stunden bisher wöchentlich nebenberuflich unterrichtet.

Auch sie wurden 1933 ausgetauscht.

Die deutsche Polizei wurde ab 1933 zentralisiert und dann 1936 in zwei Dienstzweige unterteilt: die Ordnungspolizei und die Sicherheitspolizei.


13. Armee und Kaiserreich

Deutsches Kaiserreich ist die Bezeichnung für die Phase des Deutschen Reichs von 1871 bis 1918 zur eindeutigen Abgrenzung gegenüber der Zeit nach 1918. Im deutschen Kaiserreich war der deutsche Nationalstaat eine bundesstaatlich organisierte konstitutionelle Monarchie. Während der Zeit des Kaiserreichs war Deutschland wirtschafts- und sozialgeschichtlich geprägt durch die Hochindustrialisierung. Ökonomisch und sozial-strukturell begann es sich besonders ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vom Agrar- zum Industrieland zu wandeln. Auch der Dienstleistungssektor gewann mit dem Ausbau des Handels und des Bankwesens wachsende Bedeutung. Das auch durch die französischen Kriegsreparationen nach 1871 verursachte Wirtschaftswachstum wurde durch den sogenannten Gründerkrach von 1873 und die ihm folgende langjährige Konjunkturkrise zeitweilig gebremst. Trotz erheblicher politischer Folgen änderte dies nichts an der strukturellen Entwicklung hin zum Industriestaat.

13.1 Armee als Zentrale Institution im Kaiserreich

Die preußische Armee war auch in Ostpreußen eine zentrale Institution.

"Eines der wichtigsten Merkmale der preußischen Armee, dass ihr Bild bis in die Gegenwart bestimmt, war ihre bedeutende gesellschaftliche Rolle. Ihr Einfluss auch im zivilen Teil des Staatswesens prägte Preußen als Inbegriff eines militaristischen Staates."

Die fundamentalen Evolutionsetappen der preußischen Armee waren:

  1. Übergang vom temporären Söldnerheer zum stehenden Heer ca. 1650 bis 1680
  2. Professionalisierung, Vereinheitlichung, Disziplinierung und Institutionalisierung von ca. 1680 bis 1710
  3. Ausbau und der Erhalt einer Armee ersten Ranges in Europa von ca. 1710 bis 1790
  4. Ablösung der Armee der Kabinettskriege durch eine Volksarmee von ca. 1790 bis 1820
  5. Restauration der Armee als Herrschaftsinstrument des Königs von ca. 1820 bis 1850
  6. Übergang zu einer modernen Massenarmee mit industrialisierter Kriegsführung von ca. 1850 bis 1914"

Quelle. Preußische Armee – Wikipedia

Der Kaiser hatte auch im Frieden das Recht, die Präsenzstärke festzulegen, die Garnisonen zu bestimmen, Festungen anzulegen und für einheitliche Organisation und Formation, Bewaffnung und Kommando sowie Ausbildung der Mannschaften und Qualifikation der Offiziere zu sorgen. Das Militärbudget wurde durch die Parlamente der einzelnen Bundesstaaten festgelegt. Als Streitkräfte außerhalb des Heeres standen die Schutztruppen der deutschen Kolonien und Schutzgebiete und die Kaiserliche Marine einschließlich ihrer drei Seebataillone unter direktem Oberbefehl des Kaisers und der Verwaltung des Reichs. Das Militär wurde zu einem zentralen Element des entstehenden Reichspatriotismus im Deutschen Kaiserreich. Kritik am Militär galt als unpatriotisch. So erreichte das Militär erst 1890 mit einer Friedenspräsenzstärke von fast 490.000 Mann seine von der Verfassung vorgegebene Stärke von einem Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: vor der Wiedervereinigung betrug der Anteil der Bundeswehr rund 0,9 Prozent, der der Bewaffneten Organe der DDR rund 1,5 Prozent der Bevölkerung. Heute liegt er im wiedervereinigten Deutschland bei nur noch 0,3 Prozent.

Zu den zahlreichen Reformen im Kaiserreich gehörte auch die Reform der Wehrpflicht, die natürlich auch für die Bewohner von Willschicken galt.

Abbildung: Wehrpflicht im Deutschen Reich, Quelle: Wehrpflicht in Deutschland – Wikipedia

Dieses Wehrpflichtsystem wurde in Grundzügen von späteren deutschen Armeen und auch international vielfach zum Vorbild genommen.

Die allgemeine Wehrpflicht wurde durch das Gesetz, betreffend die Verpflichtung zu den Kriegsdiensten des Norddeutschen Bundes vom 9. November 1867 und Artikel 57 ff. des Gesetzes betr. die Verfassung des Deutschen Reichs (Reichsverfassung) vom 16. April 1871sowie das Reichs-Militärgesetz vom 2. Mai 1874 gesetzlich geregelt.

Osterpreußen gehörte zur Armee Inspektion 1 mit den entsprechenden Divisionsstandorten. Jedes Armeekorps hatte seinen eigenen Ersatzbezirk, aus dem der Personalbedarf zum allergrössten Teil gedeckt wurde. Rekruten aus Ostpreußen wurden in Ostpreußen ausgebildet.



13.2 Ausbildung in der Armee

Ferdinand Tuttlies wurde bei der 2. Division in Insterburg als Infanterist drei Jahre lang ausgebildet. Über seine Rekrutenzeit sagte er: "Hol de Freet on sing »Die Wacht am Rhein«".

Im Wilhelminismus galt "die Armee als beste Schule der Nation" - "Um die Manneszucht der Armee zu erhalten, muss der Egoismus des Einzelnen gebrochen werden". Doch viele Offiziere misshandelten ihre Rekruten auf bestialische Weise. Tausende junge Männer desertierten - viele, die sich dem Drill nicht gewachsen fühlten, flüchteten sich in den Suizid. Wer im Inneren von Kompanie und Regiment unangenehm auffiel, war der Willkür diensthöherer Ränge hilflos ausgeliefert. Soldaten konnten seelisch und körperlich gequält, drakonisch bestraft und für ihr Leben beschädigt werden. Bis zu 20.000 junge Männer flüchteten Jahr für Jahr. Wer dem Drill nicht gewachsen war oder am Sinn von Peinigungen zweifelte, konnte von Glück sagen, wenn er mit dem Leben davonkam. Etwa 20 - 30 % aller Rekruten wurden misshandelt, zum Teil schwer. Nur äußert selten griffen höhere Offiziere ein. Quelle: Militarismus im Kaiserreich - DER SPIEGEL

Die offiziellen Zahlen - ergangene Gerichtsurteile wegen Fahnenflucht, unerlaubtes Entfernen und Fahnenflucht in Abwesenheit von 1901 bis 1909 - sprechen nur von 4 - 5 Promille - zusammen etwa 2.300 Mann jährlich, bei einer gesamten Truppenstärke von etwa 500.000 Mann. Bei der Marine lagen die Zahlen etwa bei 6 Promille. Nicht berücksichtigt sind hier aber Truppenentfernungen, die im Rahmen des Disziplinarrecht behandelt wurden und nicht vor Gericht landeten. Diese Anzahl wird auf etwa 4 Prozent geschätzt. Quelle: Ulrich Bröckling, Armeen und ihre Deserteure

Abbildung: Rekruten 1910, ... und dann müsst ihr bedenken, als Zivilisten seit ihr hergekommen und als Menschen geht ihr fort, Quelle: Simplicissimus · die historische Satirezeitschrift · Blättern

Die Wehrpflicht im Kaierreich begann mit Vollendung des 17. Lebensjahres. Der Wehrpflichtige konnte sich in Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen. Der Landsturm bestand aus den Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 42. Lebensjahr, die weder dem Heer noch der Marine angehörten.

In der Reichsverfassung wurde festgelegt, dass jeder wehrfähige Deutsche 7 Jahre lang, vom 20. bis zum 28. Lebensjahre dem stehenden Heer angehöre. Im Reichsmilitärgesetz wurde diese Ausführung im Weiteren geregelt.

Die Militärpflicht begann vom 1. Januar des Jahres an, in dem das 20. Lebensjahr vollendet wurde. Militärpflichtige waren der Aushebung unterworfen. Die Militärpflicht dauerte bis zum 31. März des Jahres, in dem das 39. Lebensjahr vollendet wurde. Es bestand die Pflicht, sich regelmäßig bei den zuständigen Behörden zu melden, bis über die Verwendung entschieden wurde. Zur Kontrolle dieser Regelung wurden von den Gemeinden sogenannte Stammrollen aufgestellt.

Die aktive Dienstzeit belief sich auf 3 Jahre für die Infanterie. Auch Kavallerie und reitende Artillerie dienten 3 Jahre aktiv. Die Ersatzreservepflicht dauerte 3 Jahre bis zur Vollendung des 31. Lebensjahres." Quelle: Wehrpflicht in Deutschland – Wikipedia

Die aktive Dienstpflicht wurde Anfang 1890 geändert. Sie dauerte seit 1893 bei der Infanterie und allen übrigen Fußtruppen nur noch zwei Jahre, bei der Kavallerie, der reitenden Artillerie und bei der Marine noch drei Jahre. Beim Tross reduzierte sich die Dienstplicht auf ein oder zwei Jahre. Danach folgten für alle Truppenteile 5 Jahre in der Reserve.

Junge Männer, die eine wissenschaftliche Befähigung (zum Beispiel Zeugnis nach einjährigem Besuch der Untersekunda, Reifezeugnis) nachweisen konnten oder die Einjährigen-Prüfung bestanden hatten, sowie finanziell in der Lage waren, sich selbst einzukleiden, konnten ihrer Dienstpflicht als sogenannte Einjährig-Freiwillige genügen. Sie mussten sich zwischen dem vollendeten 17. und 23. Lebensjahr freiwillig melden. Die Prüfung erstreckte sich auf drei Sprachen (Deutsch und zwei Fremdsprachen) sowie Geographie, Geschichte, Literatur, Mathematik, Physik und Chemie. Die Einstellung erfolgte zum 1. Oktober eines jeden Jahres, ausnahmsweise auch zum 1. April eines Jahres. Die Einjährig-Freiwilligen durften – sofern möglich – sich den Truppenteil selbst aussuchen und dienten ein Jahr. Nach sechs Monaten aktiver Dienstzeit konnten sie zum Gefreiten befördert werden. Die Einjährig-Freiwilligen wurden, sofern sie sich eigneten, auf eigenen Wusch zu Offizieren der Reserve und der Landwehr ausgebildet.

Angehörige des Landadels wurden vom Militär in der Regel bevorzugt behandelt und sehr häufig, aufgrund der möglich kurzen Wehrzeit, zum Trosse eingezogen oder meldeten sich selber als Einjährig-Freiwillige.

Für eine Ehe wurde bei den Offizieren ein Jahreseinkommen von wenigstens 4000 M als notwendig angesehen, was erst der ältere Hauptmann erreichte. Vorher konnte der Offizier nur heiraten, wenn die Braut genügend Geld mit in die Ehe brachte. Für die Eheschließung musste eine vom Vorgesetzten erteilte „Heiratserlaubnis“ vorliegen. Die finanzielle Lage war bei der Erteilung dieser Erlaubnis sehr wichtig, ebenso die „standesgemäße“ Herkunft der Braut.

Unteroffiziere, die nach zwölfjähriger Dienstzeit ausschieden, erhielten einen Zivilversorgungsschein, der ihnen eine bevorzugte Einstellung im Staatsdienst z. B. als Lehrer ermöglichte. Darüber hinaus erhielten Verabschiedete eine Dienstprämie (Unteroffiziersprämie) von (1911) 1000 Mark


13.3 Junker

Als Junker (von mittelhochdeutsch Juncherre = junger Herr, Jungherr) wurde der Rittergutsbesitzer in den ländlich geprägten Gebieten Ostelbiens bezeichnet, die zum preußischen Adel gehörten. Das Wort „Junker“ bekam einen negativen Beigeschmack und wurde in der Zeit des Wilhelminismus zu einem polemischen Kampfbegriff, der die Vorstellung eines rückständigen, bornierten und unkultivierten Gutsherrn mit ungehobelten Manieren und autoritärem Gebaren hervorrief. Bereits seit den 1850er Jahren benutzte man in ähnlicher Weise den spöttischen Ausdruck „Krautjunker“. In der Weimarer Republik sammelten sich die Agrarier in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Die reaktionären Gesinnung und einflussreichen Positionen der Junker und Großagrarier im politischen Leben Preußens war ein entscheidendes Hindernis für die demokratische Entwicklung. Einigen Junkern, die 1932/1933 zum einflussreichen Kreis der so genannten „Kamarilla“ um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg angehörten, wird eine Mitverantwortung an der Machtergreifung der NSDAP unter Adolf Hitler zugeschrieben.

Foto: Garnisonsfahnen in Königsberg, 1900, Quelle: I. Armee-Korps (Preußen) – Wikipedia

Der militärische Verhaltens- und Ehrenkodex der Junker wirkte weit in die Gesellschaft hinein. Auch für viele Bürger wurde der Status eines Reserveoffiziers nunmehr zu einem erstrebenswerten Ziel.

Umgekehrt wirkten die Errungenschaften der Offizierserziehung zurück in die zivile Gesellschaft. Stramme Haltung, eine scharfe Stimme, zackige Begrüßungen, kurz: der Schneid eines Uniformträgers bestimmte auf Generationen das Männlichkeitsbild.

Kehrte ein Offizier auf sein Familiengut zurück, behielt er den militärischen Verhaltensstil bei, der auch dem Landrat als selbstverständlich galt.

Trat er in die Verwaltung ein, sah er keine Notwendigkeit sich gegenüber dem "Publikum" umzustellen.

Da viele Subalternbeamte aus dem Kreis der versorgungsberechtigten, ausgedienten oder invaliden Unteroffiziere stammte, sicherte dem Kommandoton auch auf der untersten Ebene der staatlichen Behörden seine Geltung.

Mit der verbesserten ökonomischen Situation vor dem 1. Weltkrieg wuchs auch der politische Einfluss der Junker. Ämter, Pfründe und das Offizierskorps wurden in den meisten ostdeutschen Gebieten fast ausschließlich an Adelige vergeben, was bürgerliche Aspiranten so gut wie ausschloss. Im weiteren Verlauf konnten die Herrscher auf Grund ihrer finanziellen Lage kaum noch etwas von Belang ohne die Zustimmung des Adels, d.h. der Landtage, beschließen.

Den preußischen Junkern, daran gewöhnt, an der Spitze von Gesellschaft und Militär zu stehen, kam dies gelegen: 1500 von ihnen wurden zwischen 1888 und 1914 in einflussreiche Ämter berufen.

Der Landadel galt als sehr konservativ, militaristisch und antiliberal. Er war die reaktionäre Stütze der Monarchie der Hohenzollern und des preußischen Staats- und Militärwesens. Die Demokratie lehnte der Landadel schroff ab.

Er dominierte praktisch die gesamte politische Elite der preußischen Stammlande mit Ausnahme Stadt Berlin.

Die Herrschaft der Junker wurde durch die im ländlichen Raum tief verwurzelten aristokratischen Traditionen und die Verbundenheit der Familien mit dem preußischen Militär gestützt, in dem die Söhne seit Generationen als Offiziere dienten.

Ihre Einkünfte bezogen die Junker vornehmlich aus der Landwirtschaft, in der sie eine monopolartige Stellung innehatten, welche sie nicht nur in den ostelbischen Gebieten, sondern auch im restlichen Preußen und dann im gesamten Reich erfolgreich zu behaupten wussten.

Die auf dem Land in den ostelbischen Gebieten bestehende junkergeprägte Gutsherrschaft prägte die ökonomische Rückständigkeit und Untertanengeist der Landbevölkerung. Prügel gehörte zu den verbreiteten Disziplinierungsmitteln der Gutsherren.

Die einfache Landbevölkerung gab sich königstreu und glaubte an die Legende vom „gerechten König“."

Hans-Ulrich Wehler fasst die Kaiserzeit zusammen:

„Zahlreiche politische, gesellschaftliche und rechtliche Reformen standen im Kaiserreich von Anfang an auf der Tagesordnung, und ihre Anzahl und Be­deutung nahm kontinuierlich zu, da sich das Modernisierungsdilemma des wachsenden Abstandes zwischen beschleunigter sozialökonomischer Ent­wicklung und erstarrten politisches Ordnungsgefüge verschärfte. …

Die Auf­wertung des Adels, die politische Zweitrangigkeit des Bürgertums, die Iso­liertheit der marxistischen Arbeiterbewegung, (die Armut von großen Teilen der ländlichen Bevölkerung) die Härte der Klassengegens­ätze – so beginnt eine lange Reihe von mehrfach diskutierten Faktoren, die für die gesellschaftsgeschichtliche Erklärung der Bedingungen des deut­schen Moderni­sierungsweges von grundlegender Bedeutung sind. …

Das Kaiserreich hat zu einem deutschen „Sonderweg“ geführt, weil seine politi­sche und soziale Herrschaftsstruktur es ermöglichte, um es in den Worten Max Webers zu sagen, “ in einem bürokratischen Obrigkeitsstaat mit Scheinparlamentaris­mus die Masse der der Staatsbürger unfrei zu lassen und sie wie eine Vieh­herde „zu verwalten“, anstatt sie als Mittherren des Staates in diesen einzu­gliedern." Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 3


14.  Soldatengrab aus dem 1. Weltkrieg

Nach Christopher Clark schlitterte die europäischen Mächte wie die Schlafwandler in den 1. Weltkrieg. Das Deutsche Reich war auf den Krieg z. B. weder finanziell von ernährungstechnisch vorbereitet. Quelle: Christopher Clark, Die Schlafwandler

14.1 Kriegsanleihen für den 1. Weltkrieg

Abbildung: Kriegsanleihe 100 Mark, Quelle: Kriegsanleihen ostpreußen - Bing images

Während des Krieges wurden neun Kriegsanleihen aufgelegt, die mit einem enormen Propagandaaufwand insgesamt einen Erlös von 97 Milliarden Reichsmark einbrachten und etwa 60 % der deutschen Kriegskosten deckten. Da der Reichstag Kriegskredite in Höhe von insgesamt über 160 Milliarden Reichsmark bewilligte und der Geldumlauf entsprechend ausgeweitet wurde, waren dies volkswirtschaftlich betrachtet allerdings "Kriegsanleihewunder aus der Notenpresse" (Adolf Lampe). Und insbesondere in der zweiten Kriegshälfte wuchs die durch Kriegsanleihen nicht gedeckte Reichsschuld rapide auf weit über 50 Milliarden an. Zugleich trieb der steigende Geldumlauf (ca. 30 Milliarden Reichsmark im Jahre 1918 gegenüber sieben Milliarden vor Kriegsbeginn) die Inflation in wachsende Höhen und bestärkte darüber hinaus die Entwicklung des hochinflationären Schwarzen Marktes Es wird berichtet, dass August Herrmann Tuttlies, geb. 1866 und Besitzer beim Bürgermeister in Willschicken eine Kriegsanleihe von 100 RM zeichnete. Den erhaltenen kleinen Kupon soll er immer stolz seinen Enkeln gezeigt haben. "Meine kleine Treuekarte für den Wilhelm". Die langfristigen Anleihen des Deutschen Reichs waren bis 1. April 1925 unkündbar. Trotz des für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieges war die Tilgung der Anleihen dem Staat durch den hyperinflationären Wertverlust der Mark von 1914 bis 1924 ohne Schwierigkeiten möglich. Die Zeichner der Kriegsanleihen erhielten praktisch keinen Wert zurück, ihr dem Staat geliehenes Geld war verloren.


14.2 Ernährung während des 1. Weltkrieges

Die Agrarwirtschaft war auch in Ostpreußen 1914 auf einen längerdauernden Weltkrieg auch nicht eingestellt. Ihr größter Erfolg bestand darin, dass trotz Abschnürung vom Weltmarkt und entsetzliche Hungernot das knappe Überleben der verarmten Bevölkerung ermöglicht wurde.

Die Verwaltung konnte die reguläre Ernährung der Bevölkerung nicht sicherstellen. Das Kaiserreich war vor 1914 der weltweit größte Importeur von Agrarprodukten, die 38 % seiner Einfuhren ausmachten. Ein Drittel seines Bedarfs an Lebensmittel wurde im Ausland gekauft. Der freie Handel mit landwirtschaftlichen Produkten wurde nach Kriegsbeginn mit dem Ausland eingestellt. Dazu kam, dass die deutsche Agrarproduktion während des Krieges insgesamt um mehr als ein Drittel zurückging, die Viehproduktion um 40 %, die Getreideproduktion um 36 % und die Kartoffelproduktion um 35 %. Die Gründe waren vielfältig.

Verantwortlich für den starken Produktivitätsrückgang in der Landwirtschaft waren u.a. die Beschlagnahmung einer Million Pferde als Zugtiere für die Armee. Bei den Kleinbauern spannten sich, wie nach der Bauernbefreiung, die zu Hause gebliebenen Menschen selbst vor den Pflug. Die Kartoffelproduktion sank im Deutschen Reich von 52 Millionen Tonnen (1913) auf 29 Millionen Tonnen (1918), und der Getreideertrag fiel von 27,1 Millionen Tonnen (1914) auf 17,3 Millionen Tonnen (1918).

Die Flächen des Ackerlandes schrumpften, weil Arbeitskräfte und Arbeitspferde fehlten. Maschinen und Geräte konnten weder gekauft noch repariert werden. Die Fruchtbarkeit des bestellen Kulturbodens sank wegen des Mangels an fachgerechter Bearbeitung und der hohen Kosten von Saatgut und Düngemittel ab. Es wurde nicht ausreichend gepflügt, weniger ausgesät und kaum gedüngt. Viel Ackerboden wurde in Weideland umgewandelt, da die Fleischpreise stiegen. Mit dem Kriegsernährungsamt (KEA) entstand eine wenig wirksame Behörde.

Schon mit der Mobilisierung wurden den landwirtschaftlichen Betrieben im Sommer 1914 viele ihrer leistungsfähigsten Arbeitskräfte zur Erntezeit entzogen. Bis 1918 wurden etwa 600.000 ostpreußische Männer zum Kriegsdienst eingezogen. Frauen und Kinder sowie die vor allem auf den ostpreußischen Gütern eingesetzten polnischen Wanderarbeiter, zu denen im weiteren Kriegsverlauf immer mehr Kriegsgefangene kamen, konnten die Arbeitskraft der eingezogenen Männer aber zu keinem Zeitpunkt vollwertig ersetzen und den deutlichen Einbruch bei der Nahrungsmittelproduktion verhindern. 1918 waren zwar insgesamt 700.000 zwangsverpflichtet und deportierte Landarbeiter im Einsatz. Sie konnten aber die 600.000 eingezogenen Männer aus Ostpreußen nicht ersetzten. Den "eingesetzten" Landarbeiter fehlte die Motivation, in der Regel die landwirtschaftlichen Kenntnisse und beklagten schlechte Unterkunft und mangelnde Verpflegung. Besonders Ostpreußen mit seiner Dominanz der Landwirtschat, litt besonders unter den aufgeschriebenen Mängeln.

Die staatlich eingerichteten Einkaufstellen kaufen z. B. das Getreide ab Oktober 1914 nur noch zu festgesetzten Höchstpreisen auf, andere landwirtschaftlicher Güter wie Kartoffeln folgten. Als die Ernteerträge 1915 um fast 20 Prozent unter denen des Vorjahres blieben, wurden nach und nach für fast alle landwirtschaftlichen Produkte Höchstpreise eingeführt. Durch den festgelegten Preis sollte ein geringerer Verbrauch und eine längere Streckung der Vorräte erreicht werden, was aber misslang. Die Versorgungslage wurde stetig schlechter. Die Höchstpreisfestsetzungen wurden von der Großagrariern als "politische Kontrollen" bekämpft und teilweise umgangen, in einigen Landkreisen konnte zu den festgelegten Preisen nicht ertrag bringend gewirtschaftet werden.

Durch den einsetzenden Schwarzmarkt konnte zwar die Verkappung zum Teil umgangen werden, aber nur wer genügend Geld besaß, konnte sich dort dauerhaft versorgen - dies waren schätzungsweise nur 7 % der Bevölkerung. Der große Teil der städtischen Bewohner bediente sich auf dem Schwarzen Markt wegen fehlender Mittel nur sehr sehr sporadisch. Es fehlten auch die Transportmittel, um Hamsterfahrten auf das Land zu organisieren. Es wird auch berichtet, dass in einigen großbürgerlichen Haushalten (schwarz) eingekaufte Lebensmittel zu überhöhten Preisen an die Dienerschaft weiterverkauft wurden. Hans-Ulrich Wehler vermerkt: "Im Grunde war der Krieg im Frühjahr 1916 ernährungstechnisch verloren. Nur mit einer gewaltigen Überdehnung, nur mit dem Auslaugen aller Kräfte um den Preis einer zunehmenden Unterernährung und des Hundertodes wurden die folgenden zweieinhalb Jahre in einer anhaltenden Zerreißprobe überstanden."

Foto: Anstehen für Lebensmittel, Berlin 1915, Quelle: lebensmittel schlangen 1. weltkrieg - Bing images

Auf dem Lande wurden in Ostpreußen die staatlich Steuerungsmaßnahmen von den Großagrarier systematisch unterlaufen, da sie wegen der Lebensmittelknappheit durch den Schwarzhandel prächtig verdienen konnten. Die regional verordneten Höchstpreise der Einkaufsstellen in den Regierungsbezirken von Ostpreußen waren unterschiedlich - abhängig von der Bodenqualität. Aber nicht immer konnten die Produktionskosten auf den Höfen gedeckten wurden. Daraufhin wurden Ernten verheimlicht und versteckt oder illegal verkauft. Aus Angst vor Beschlagnahmungen oder um höhere Preise zu erzielen, wurden die tatsächlichen Futtervorräte von den Bauern vielfach niedriger angegeben, als sie wirklich waren. Da man mit Fleisch höhere Gewinne machen konnte, wurden die verheimlichten Kartoffeln an die Schweine verfüttert. Die offizielle Futterkartoffelerhebung durch die Landräte Ende 1914 unterschätzte daher den tatsächlichen Vorrat. Da man die zur Schweinemast benötigten Kartoffel- und Getreidebestände alternativ auch direkt zur Versorgung der Bevölkerung einsetzen konnte, wurde die Schlachtung von fünf Millionen Schweinen angeordnet.1916 wurde das Verfüttern von Kartoffeln an Schweine verboten. Daraufhin kam es auf den Höfen zu verschärften Kontrollen, Hofdurchsuchungen und Beschlagnahmungen, was zu empörten Reaktionen der Lobby der Großagrarier führte, sie sprach vom "staatliche Schweinemord".

Wieder einmal spielten zahlreicht Landräte in Ostpreußen eine ominöse Rolle. Nachdem sie auch in den Friedensjahrzehnten bei der Steuerschätzung der Rittergüter durch ihre minimalen Wertangaben als korrupt erwiesen hatten, setzten sie sich jetzt für ein Mindestmaß an Kontrollen ein, dagegen für hohe Preise beim Schlachtvieh und manipulierten die Zahlen der Arbeitskräftebedarfe aufgrund der Einberufungen nach oben, später wurden sogar vielfach die Erntestatistiken z. B. für Kartoffeln frisiert. Hans-Ulrich Wehler geht davon aus, dass der Oberpräsident in Königsberg von den Manipulationen der Landräte wusste, aber nicht eingriff. Die Landräte waren auch Vorgesetze der Ortspolizei. Die vom Kriegsernährungsamt (KEA) angeordneten und von der Ortspolizei durchgeführten Kontrollen der Höfe wurden häufig - siehe oben - von den Landräten manipuliert. Wesentlich war aber, auch in Ostpreußen der bestimmende Einfluss des Militärs auf die örtliche Verwaltung, an der Spitze der ostpreußische Großagrarier von Hindenburg, der eine "Minderung der Bauerstandes durch die Zivilisten" beklagte. Aufgrund der Herkunft der Offiziere in Ostpreußen, überwiegend aus dem Milieu der Gutsbesitzer, gab es hier eine eindeutige Interessenlage.

Das 1916 eingerichtete Kriegsernährungsamt (KEA) konnte kaum Abhilfe schaffen, da es nur unzureichende Befugnisse hatte. Wolfgang Kapp, der ostpreußische Generallandschaftsdirektor attackierte dennoch das Amt als "höchst unerfreulichen Staatssozialismus". Das KEA war nur für die Zivilbevölkerung zuständig, die Armee organisierte ihre Versorgung durch die örtlichen Armee Inspektionen und stand in zur Konkurrenz zum KEA, da sie bei Bedarf auch höhere Abnehmerpreise "im Interesse unseres Kaisers" zahlen konnte.

Die Leidtragenden dieser verfehlten Politik waren die Masse der städtischen Konsumenten. Die offiziellen Lebensmittel-Rationen deckten allenfalls 50 – 60 % des Kalorienbedarfs bei mittler Arbeitsbelastung. Dabei ging man von einem Tagesbedarf von ca. 2570 Kalorien aus. Seit 1915/16 waren jedoch nur noch ca. 1000 Kalorien verfügbar.

Bis 1918 haben Erwachsene in den Städten ca. 20 % ihres Körpergewichtes verloren. In Deutschland wurde im Ersten Weltkrieg am 25. Januar 1915 zunächst Brot rationiert, später auch Milch, Fett, Eier und andere Nahrungsmittel. Es wurden in den Städten Lebensmittelkarten ausgegeben. Oft wurden den Bürgern Lebensmittel zugewiesen, die gar nicht vorhanden waren; viele ausgegebene Lebensmittelkarten blieben Makulatur. In einigen Städten, so auch in Gumbinnen kam es zu Hungerunruhen. Aus Angst vor der Ausbreitung der Krawalle wurde vielfach die Armee eingesetzt. In Gumbinnen gab so es zwei Tote. In Königsberg gab es im Mai 1917 Hungerunruhen, bei denen Bäckerläden gestürmt und geplündert wurden.

Ein riesiger Schwarzmarkt blühte auf, von dem eindeutig nur die wohlhabende Bevölkerung profitierte. Etwa 30 – 50 % aller verfügbaren Lebensmittel im Deutschen Reich wanderten auf die schwarzen Märkte. 1917 etwa verschwanden rund 300 000 Stück Rindvieh und rund eine Million Schweine nach dem regulären Ankauf durch die staatlichen Verteilungsstellen in den Kanälen den Schwarzen Markts. Darunter häufig auch die währende der Kontrollen auf den Höfen beschlagnahmten Tiere. Dabei entstanden informelle Kartelle zwischen Gutsbesitzern, Verwaltungsbeamten und Händlern, die von den Landräten geduldet wurden. Teile des "Geldadels" in Ostpreußen erzielten aber trotz der veranlassten staatlichen Preisgrenzen für die erzeugte Produkte auf dem Lande und der Rationalisierung der Lebensmittel in den Städten bis 1918 beträchtliche (illegale) Finanzgewinne. Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 3

Neben der städtischen Bevölkerung waren auch die Kleinbauern auf dem Land die wirtschaftlichen Verlierer. Sie konnten sich zwar hinreichend ernähren, konnten aber nicht wie ihre Gutsnachbaren und Großbauern die Schwierigkeiten bei der Bewirtschaftung ihrer Höfe intern ausgleichen und auf die veränderten Bedingungen des regulierten Marktes reagieren. Die Güter und Großbauern konnten einen Wechsel in der Tierhaltung, Anbauart und den Nutzpflanzen vornehmen. Sie legten Flächen still oder wandelten Acker- in Weideland um, da die Fleischproduktion höhere Gewinne versprach. Bei vorhandenen Wäldern kam es zu einem verstärkten Holzeinschlag. Wesentlich war aber die Möglichkeit, bei Bedarf, die verstärkte Einstellung von polnischen Landarbeitern. Gerne wurden bei gleicher Arbeit auch Frauen eingestellt, da sie geringer bezahlt werden konnten. Die Güter und Großbauern konnten durch gezielt angebaute Produkte auf dem Schwarzmarkt in genügenden Mengen attraktive Angebote machen. Die Kleinbauern betrieben zwar eine kleine Monokultur z. B. mit einer Kuh und zwei Schweinen, konnten aber dem Schwarzmarkt nicht genügende Produkte anbieten, da diese hauptsächlich zum Eigenverbrauch angebaut wurden. Es gab lediglich im kleinen Rahmen, einen örtlichen Tauschhandel. Die Kleinbauern waren auch durch die Einberufung ihrer Männer besonders betroffen.

Im "Steckrübenwinter" 1916/17 konnte selbst der errechnete Mindestbedarf an Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung in Deutschland nicht gedeckt werden, die allgemeine Lebensmittelknappheit schlug in eine regelrechte Hungersnot um. Da die Kartoffelernte nicht ausreichte, war der staatlich angewiesene Nahrungsersatz die Steckrübe. Durch ihren hohen Wassergehalt enthalten sie aber nur wenig Nahrungsenergie. In Deutschland starben von 1914 bis 1918 etwa 800.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung. In Willschicken, erinnert Ferdinand Tuttlies, sprach man von de arm Röbenfretr. Im Kirchspiel Aulowönen wurden dagegen von einigen Rittergutsbesitzern Schlachtvieh zu Höchstpreisen schwarz gehandelt. Es wurde zum Tagesgespräch im Gasthof. Wer got schmert, de got färt.

Die Unterschiede zwischen Land und Stadt war lt. Kapp angeblich das Ergebnis einer „politisch gewollten Benachteiligung des Landes“, da die rentablen Landwirte gerne mehr produzierte hätten, aber durch die festgelegten Preise des „Agrarbolschewismus“ zu niedriger Produktion gezwungen waren. Die "private deutsche Landwirtschaft muss dagegen immer ein massives Gegengewicht zur sozialdemokratischen Vergesellschaftung bleiben, damit wir den Krieg gewinnen".


14.3 Deutsches Militär in Ostpreußen während des 1. Weltkrieges

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war Helmuth von Moltke Generalstabschef im Deutschen Reich. Er musste jedoch nach der gescheiterten deutschen Offensive an der Marne in Frankreich (5. bis 12. September 1914) und damit des Schlieffen-Planes insgesamt, abtreten. Sein Nachfolger wurde der preußische Kriegsminister, Erich von Falkenhayn . Doch auch sein Konzept der Abnutzungsschlacht, wie es bei der Schlacht um Verdun zum Einsatz kam, scheiterte. Die dritte und letzte Oberste Heeresleitung (OHL) wurde ab August 1916 vom Generalfeldmarschall und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und dessen Chef des Stabes, Erich Ludendorff, angeführt. Hindenburg war Sieger von Tannenberg und Befreier von Ostpreußen überaus populären. Während Hindenburg sich vor allem für die "Öffentlichkeitsarbeit" zuständig sah, wurde die eigentlich Arbeit von Ludendorff im Hintergrund geleistet. Die Macht der 3. OHL ging so weit, dass das Deutsche Reich 1917 und 1918 Züge einer Militärdiktatur trug, der sich der Kaiser unterordnete. Militärisch wurde der 1. Weltkrieg im Westen verloren. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags verlor die OHL als Institution ihre äußere Existenzberechtigung. Hindenburg trat am 25. Juni 1919 zurück, am 3. Juli 1919 folgte die Auflösung der OHL. Vor dem Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges der Weimarer Nationalversammlung verbreitete von Hindenburg am 18. November 1919 die Dolchstoßlegende.

Bei der deutschen Mobilmachung am 2. August 1914 entstanden aus den acht Armee-Inspektionen die Armeen 1 bis 8. Von diesen wurde die 8. Armee zum Schutz Ostpreußens eingesetzt, die übrigen sieben Armeen marschierten an der Westgrenze auf. Die deutsche 8. Armee (3 Armeekorps und 1 Reservekorps) unter Führung von Generaloberst von Prittwitz hatte zu Kriegsbeginn 9. Infanterie- 2 Landwehr- und 1 Kavallerie-Division. Zusammen mit den Landwehrbrigaden und Garnisonen rund 220.000 Mann. Anfang September wurde die 8. Armee mit zwei Korps und einer Kavalleriedivision (insgesamt etwa 80.000 Mann) verstärkt. Mitte August begann der Angriff der russischen Truppen mit dem Ziel, die deutsche 8. Armee in Ostpreußen zu umfassen und zu vernichten. Dadurch sollte die Westfront entlastet werden. Die russische Nordwestfront konzentrierte Mitte August gegen Ostpreußen etwa 22 Infanterie- und 8½ Kavalleriedivisionen, zusammen etwa 420.000 Soldaten. Die 1. russische Armee drang bereits am 17. August 1914 auf einer Breite von 40 km zwischen Wischtynjez und Schirwindt (nördlich der Rominter Heide) in Ostpreußen ein. Die 2. russische Armee zog am 20. August in Masuren ein.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Maximilian „Max“ Wilhelm Gustav Moritz von Prittwitz und Gaffron Oberbefehlshaber der 8. Armee an der Ostfront und führte sie vom 19. bis zum 20. August 1914 in der Schlacht bei Gumbinnen. Als Meldungen eintrafen, dass die russische 2. Armee (Samsonow) die Südgrenze westlich der Masurischen Seen überschritten hatte, ließ von Prittwitz die Schlacht abbrechen und befahl den Rückzug hinter die Weichsel. Die Räumung von Ostpreußen war in der OHL nur als "theoretische Option" diskutiert worden. Daraufhin wurde von Prittwitz am 22. August durch Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff abgelöst und zur Disposition gestellt. Die von beiden geführte Schlacht bei Tannenberg Ende August 1914 beruhte noch auf dem Operationsplan des Generaloberst von Prittwitz und sein Chef des Stabes, Generalmajor Georg von Waldersee.

In Tannenberg gelang deutschen Truppen die Einschließung und weitgehende Vernichtung der russischen 2. Armee (Narew-Armee) unter General Alexander Samsonow. Vom 6. bis 9. September 1915 folgte die Schlacht an den Masurischen Seen, die mit der Niederlage der russischen 1. Armee (Njemen-Armee) unter General Paul von Rennenkampff endete. Die russischen Truppen räumten daraufhin den größten Teil Ostpreußens.

In der kaisertreuen Presse wurde Paul von Hindenburg als Sieger von Tannenberg und Befreier von Ostpreußen gefeiert. Der Sieg über die Narew-Armee war für Hindenburg in zweierlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zum einen war er der Beginn der engen Zusammenarbeit mit Ludendorff, dessen strategischem Geschick der Sieg in erster Linie zu verdanken war – Hindenburg selbst traf kaum Entscheidungen und erwähnte wiederholt, dass er während der Schlacht sehr gut geschlafen habe. Zum anderen begründete der Sieg Hindenburgs sein ganz außerordentliches Prestige in der Bevölkerung, das half, ihn im weiteren Verlauf des Krieges zum mächtigsten Mann in Deutschland zu machen. An seinem politischen Mythos, der sich um seine Person und den Sieg ranken sollte, arbeitete er selbst aktiv mit. Anfänglich in den deutschen Medien als „Schlacht bei Allenstein“ bezeichnet, wurde sie auf Wunsch Paul von Hindenburgs kurze Zeit danach offiziell zu Propagandazwecken in Schlacht bei Tannenberg umbenannt. Vom Kampfgeschehen war der Ort Tannenberg nur am Rande betroffenen.


In der eigentlichen Schlacht bei Tannenberg (Polnisch: Schlacht bei Grunwald) hatte 1410 ein polnisch-litauisches Heer den Deutschen Orden vernichtend geschlagen. Dies war nach Ansicht des Kaisers und erzkonservativer Kreise eine „historische Scharte“, die der auf seine Wirkung in der Öffentlichkeit bedachte Hindenburg, durch die falsche Namensgebung Tannenberg versuchte auszuwetzen, um die Niederlage der Ritter des Deutschen Ordens gegen die Polnisch-Litauische Union 1410 überstrahlen zu lassen. Das Tannenberg-Denkmal (offiziell Tannenberg-Nationaldenkmal, ab 1935 Reichsehrenmal Tannenberg) wurde auf Mitveranlassung von Hindenburg, von 1924 bis 1927 bei Hohenstein und mit Unterstützung durch den "Tannenbergbund", einem völkischen Verein, im heutigen polnischen Olsztynek, in der Provinz Ostpreußen errichtet. Pioniere der Wehrmacht sprengten das Denkmal im Januar 1945 vor der anrückenden Roten Armee. Von 1934 bis 1945 standen die Särge Paul von Hindenburgs und seiner Frau Gertrud in einer Gruft im Hindenburgturm des Denkmals. Die Särge von Hindenburg und seiner Frau wurden 1945 von der Wehrmacht über Königsberg in ein thüringisches Salzbergwerk gebracht. Sie befinden sich heute in der Elisabethkirche in Marburg. Quelle: Schlacht bei Tannenberg (1914) – Wikipedia

In Ostpreußen wurde zu Kriegsbeginn das militärische Etappenwesen der deutschen Armee aktiviert. Im Ersten Weltkrieg wurde das unmittelbar hinter dem Operationsgebiet einer Armee, aber außerhalb der Reichweite feindlicher Artillerie liegende Gebiet bis zur Reichsgrenze zur Etappe erklärt. Das Etappenwesen unterstand dem Generalquartiermeister in der Obersten Heeresleitung (OHL), der auch die Grenzen zwischen dem Operationsgebiet und dem Etappengebiet festlegte. Jeder Militärbezirk hatte sein "eigenes" Etappenwesen. In Ostpreußen gab es zunächst den Militärbezirk I. Nach der Niederlage bei Gumbinnen und dem Auswechseln der Militärführung wurde zusätzliche der Militärbezirk XX. eingerichtet. Entsprechend der Militärbezirke wurden das Etappenwesen von I. bis XVIII. durchnummeriert.

Das Etappenwesen hatte die Aufgabe, die rückwärtigen Verbindungen des Heers (Etappenlinien) mit der Heimat zu erhalten und stand unter der zentralen Aufsicht des Generalinspekteurs des Etappen- und Eisenbahnwesens. Die militärische Etappenbehörden vor Ort in Ostpreußen war die Etappeninspektion ebenfalls unter Leitung des Generaloberst von Prittwitz, dem eine Anzahl lokaler Etappenkommandanten unterstellt waren.

Karte: Militärbezirke in Preußen, 1914, Quelle: Deutsche Korpsbereiche 1914 - Deutsches Heer (Deutsches Kaiserreich) – Wikipedia

Das Etappenwesen sorgte

  • für Nachschub für alle Bedürfnisse des Heers,
  • für Zuführung nach Verlusten von Mannschaften, Pferden und Material,
  • für Etappenlazarette,
  • für Unterbringung und Verpflegung der zu und von der Armee gehenden Personen und Pferde,
  • für Brücken, Straßen, Telegraphen- und Postverbindungen,
  • für Abstimmung mit dem Eisenbahnwesen,
  • für Handhabung der öffentlichen Verwaltung auf feindlichem Gebiet.

Quelle: Kriegs-Etappenwesen – Wikipedia

Direkt nach der der Niederlage bei Gumbinnen, wurden von der ursprünglichen Etappeninspektion I. der deutschen Armee in Ostpreußen am 21. August 1914 der unbedachte und verhängnisvolle Befehl gegeben, alle Erntevorräte und alles Vieh in Ostpreußen westlich hinter die Weichsel zu schaffen. Die Folge war ein „endloser Strom von Flüchtlingen mit Wagen und Viehherden in Staub und Hitze, ein Zug von Hunderttausenden, wie ihn Europa seit Jahrhunderten kaum erlebt hatte". Quelle: Fried von Batocki, Klaus von der Groeben: Adolf von Batocki. Im Einsatz für Ostpreußen und das Reich. Ein Lebensbild

In Ostpreußen waren die Leistungen des Etappenwesens höchst umstritten, was auch mit dem Auswechseln der Armeespitzte zusammenhing. Nach dem der General von Prittwitz den Rückzug hinter die Weichsel angeordnet hatte, wurde er als bisherigen Befehlshaber durch Generalmajor Erich Ludendorff und Generaloberst Paul von Hindenburg ersetzt. An von Hindenburg ging auch die Befehlsgewalt über die Etappeninspektion der Bezirke I. und XX.

Die ergangenen Fluchtbefehle für die Zivilbevölkerung blieben aber zunächst bestehen - das angerichtete Chaos dauerte noch bis 1915.

Karte: Geplanter Rückzug aus Ostpreußen hinter die Weichsel 1914, Quelle: BattleOfTannenberg1 - Ostpreußische Operation (1914) – Wikipedia
Karte: Schäden nach dem Abzug der russischen Armeen, Quelle: Übersichtskarte über den Rußeneinfall in Ostpreußen — Google Arts & Culture

Ostpreußen war auf eine Massenflucht der eigenen Bevölkerung in keinem Fall vorbereitet. Werder die Behörden noch das Militär besaßen entsprechende Planungen im Voraus. Das vorhandene Verkehrsnetz war nicht in der Lage die Massen der beiden Armeen und die Flüchtlinge zu bewältigen. Hinzu kamen Sperrungen oder Beschädigungen des Verkehrsnetzes. Königsberg und Danzig wurden als Zielorte festgelegt.

Bei Bedarf sollte es von hier per Schiffe weitergehen Die auf dem Lande der Fluchtrouten liegenden Orte waren total überfüllt und hatten kaum Futter für die Tiere. Die Unterbringung in den Zielorten war oft noch schwieriger, vielfach wurden auf den Feldern kampiert. In Königsberg wurden Notquartiere für 50.000 Flüchtlinge geschafften. Vom 26. - 31. August wurden 12.000 Flüchtlinge sowie die Regierungshauptkasse mit Kähnen von Königsberg nach Danzig gebracht. Die Kühe wurden zu großen Herden gesammelt und westwärts getrieben. Häufig konnten sie nicht abgemolken werden. Die Menschen zogen, wenn noch Pferde vorhanden waren, mit bespannten Treckwagen oder zu Fuß los, manche nahmen auch ihre Ziegen und Hunde mit, das Geflügel wurde freigelassen. Ein Großteil der Pferde, Kühe und Schweine wurden aber von der Armee requiriert.

Die Quellen berichten von Kriegspsychose, Flucht und Vertreibung, Zerstörung, dem Zerfall bürgerlicher Ordnung und Normen in Ostpreußen. Geld wurde gehortet und die Kreise waren gezwungen Notgeld zu drucken, damit das Zahlungssystem nicht vollkommen zusammenbrach. Eine Art kollektiver Verfolgungswahn bemächtigte sich weiter Teile der ostpreußischen Bevölkerung: allerorts vermutete man Spione und Verrat. Alles war verdächtig, dem Feind zu dienen, selbst die sich drehenden Windmühlen (als Markierungsziel für feindliche Artillerie!) und das Gebrüll von Tieren wurden als Zeichen des Verrats gedeutet. Quelle: Gerhard Bauer Quellen zur Alltagsgeschichte in Preußisch-Litauen Teil 2: 19. - 20. Jahrhundert

Es gab aber auch Plünderungen von Teilen der russischen Soldaten, abhängig von den Moralvorstellungen der örtlichen Kommandeure. Besonders schlimm plünderten aber einheimischen Banden, häufig Jugendliche vor Ort - die, wurden sie von der verbleibenden Polizei gefasst, damit drohten, die russische Armee zu benachrichtigen. Die Jugendlichen wussten auch über die örtlichen Gelegenheiten gut Bescheid, wer hatte den größten Weinkeller und wer besaß das umfangreichste Silberbesteck. Die einheimischen Plünderer kamen aber kaum in die örtliche Presse, die fast ausschließlich von russischen Plünderungen berichteten.

Die Frontlinien durchzogen Teile von Ostpreußen zweimal. Die Ernten der Jahre 1914 und teilweise 1915 war vernichtet oder von russischen und deutschen Truppen requiriert worden. Nach dem endgültigen Russenabzug kehrten die geschwächten Menschen und das stark reduzierte Vieh wieder nach Hause zurück.

Zahlreiche Höfe waren abgebrannte, viele Wohnungen verwüstet. 39 Städte und 1.900 Dörfer wurden zu mehr als 50% zerstört, 40.000 Gebäude verbrannt und weitere 60.000 beschädigt, überwiegend in den Regierungsbezirken Gumbinnen (18.700 Gebäude) und Allenstein (12.900 Gebäude).

Die Wiederaufbaukosten wurden auf 300 bis 350 Millionen Goldmark geschätzt.

Infolge des Verlustes von 135.000 Pferden, 250.000 Kühen und 200.000 Schweinen war die Versorgungslage katastrophal. Besonders die Verluste der wertvollen Viehbestände an Rinder konnten erst ab 1935 behoben werden. Der Pferdebestand war durch den Krieg deutlich reduziert, konnte aber zum Teil durch die beginnende Motorisierung ausgeglichen werden.

Die ausgefahrenen Straßen, zerstörten Bahnlinien und kaputten Brücken behinderten den Verkehr noch lange. Bis 1918 wurden etwa 600.000 ostpreußische Männer zum Kriegsdienst eingezogen, mit enormen Auswirkungen auf die Erträge in der Landwirtschaft und das soziale Leben in den Familien.

Die Zahl der in Ostpreußen rotierenden Flüchtlinge wird bei der ersten Kriegswelle auf etwa 500.000 geschätzt, bei der zweiten auf etwa 350.000. In einigen Gegenden mußten manche Familien sogar zweimal fliehen.

In den Jahren von 1915 bis 1920 verließen etwa 150.000 Menschen Ostpreußen endgültig, aufgrund von Kriegsschäden und aus Arbeitsmangel.

Noch während des Krieges wurden überall im Reich von privater, kommunaler und nationaler Seite umfangreiche Hilfsaktionen für das zerstörte Ostpreußen und den dort lebenden Menschen gestartet, die bis in die dreißiger Jahre andauerten.

Die Ostpreußenhilfe wurde im Ersten Weltkrieg nach einem Aufruf des ehemaligen ostpreußischen Landrates des Kreises Gumbinnen Bernd von Lüdinghausen vom 16. März 1915 gegründet. Die Ostpreußenhilfe bildete die Basis für die spätere, auf das ostelbische Deutschland ausgeweitete Osthilfe. 61 Hilfsvereine hatten sich deutschlandweit in dieser Zeit zur „Ostpreußenhilfe“ zusammengeschlossen und die Patenschaft über einen kriegszerstörten Landkreis oder eine Stadt übernommen.

Die von Wilhelm II schon 1914 ausgerufene "Ostpreußische Kriegshilfe" verfügte kaum über Mittel und diente mehr der Propaganda. Quelle: Andreas Kossert, Ostpreußen Geschichte und Mythos.


14.4 Russische Besetzung von Insterburg während des 1. Weltkrieges

Der Landkreis und die die Stadt Insterburg war vom 24. August bis zum 11. September 1914 von der russischen Armee besetzt. In Insterburg wurde der praktische Arzt und das unbesoldete Magistratsmitglied, Stadtrat Max Bierfreund von dem Befehlshaber der 1. Russischen Armee General von Rennenkampf als Gouverneur eingesetzt. Der bisherige Landrat Adolf Overweg, der Oberbürgermeister Gustav Kirchhoff und ein Großteil der verantwortlichen Beamten waren unter Mitnahme der Finanzkasse bereits geflohen.

Foto: Gouverneur von Insterburg Dr Bierfreund Quelle: dr. bierfreund insterburg - Bing images

Die Gebäude- und Personenschäden waren dank Bierfreund in Insterburg wesentlich geringer als die in der Nachbarstadt Gumbinnen, in deren Nähe allerdings auch die Schlacht von Gumbinnen von 19. bis 20. August 1914 stattfand, die mit einer deutschen Niederlage endete.

„Daß es den zurückgebliebenen Bewohnern in allgemeinen glimpflich erging, verdanken sie in erster Linie der Tatkraft und der Besonnenheit des von der russischen Militärbehörde eingesetzten deutschen Gouverneurs Dr. Bierfreund.

Er war zugleich praktischer Arzt. Zudem waren die hier durchziehenden oder einquartierten Verbände Elitetruppen, unten denen sich auch viele Deutsche aus den ehemaligen Ostprovinzen befanden.

Als Gewähr für die friedliche Haltung der Bevölkerung waren aus der Bürgerschaft drei Geiseln zu stellen, die nach 24 Stunden von drei anderen abgelöst werden mussten. Später wurde ihre Zahl auf 18 erhöht.

Anstelle der aufgelösten Polizei trat eine Bürgerwehr.

Ihre Mitglieder übernahmen auch die Arbeit in den einzelnen Zweigen der städtischen Verwaltung, da die meisten Magistratsmitglieder und Beamten sich auf der Flucht befanden.

Auf Anordnung der russischen Militärbehörde mussten die Geschäfte der geflüchteten Gewerbebetreibenden geöffnet und der Verkauf unter Leitung der Bürgerwehr wieder aufgenommen werden.

Anfangs gezahlten die Russen die aus den Läden entnommenen Waren mit russischem Geld. Später kamen jedoch immer mehr Übergriffe vor. Die Eindringlinge bedrohten die Verkäufer mit dem Revolver, warfen ein paar Kopeken über den Ladentisch und gingen davon. “

Quellen: Wilhelm Obgartel, Die Kreise Insterburg Stadt und Land, besonders nach ihrer Landschaftsgliederung und ihrer Geschichte und invenio (bundesarchiv.de)

Nach dem Russenabzug erhielt am 21. September 1914 erhielt Max Bierfreund vom Regierungspräsidenten Gramsch folgende Mitteilung: "Mit dem Wiedereintritt des Oberbürgermeisters Kirchhoff in die Geschäfte, ist das Ihnen erteilte Kommissiorum erloschen." Quelle: Max Bierfreund, Meine Erlebnisse als Gouverneur von Insterburg während des Russeneinfalls (uni-tuebingen.de)


14.5 Willschicken im 1. Weltkrieg

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies berichtete von den "Vertellchens" ihrer Mutter Berta Tuttlies, geb. Burba während der „Uhleflucht" auf der Bank vor dem Wohnhaus. Sie erinnerte sich noch an vieles aus dem 1. Weltkrieg, Teile hatte sie auch aufgeschrieben und die Briefe von Opa als Soldat aufbewahrt. Die Kinder hörten gespannt zu:

"Die gesamte Zeit während des 1. Weltkrieges war für alle sehr sorgenvoll. In Willschicken sind während der drei Wochen der russischen Besetzung aber keine Höfe abgebrannt, Gott sei Dank. Die eigentliche Front lagen etwas weiter weg, Richtung Gumbinnen. Aufgrund eines plötzlichen Befehles des deutschen Militärs sollten ab dem 20. August 1914 alle Bauern die Kriegsgebieten in Ostpreußen verlassen, Vieh und Ernten seien mitzunehmen. Der Befahl wurde am Bürgermeisterhaus von Soldaten angeschlagen. In Willschicken herrschte große Aufregung. Keiner war vorbereitet. Die beiden Gendarmen aus Aulowönen und der Bürgermeister wussten auch nicht weiter. Einige Willschicker machten sich auch tatsächlich auf den Weg. Alle Tuttliesen waren aber nach einer kurzen Beratung zu Hause geblieben, ohne die eingezogenen Männer wollte keiner weg. Bei den Burbas in Paducken sah das anders aus. Hier startete ein kleiner Treck. Das Vieh wurden den Nachbaren übergeben. In Insterburg waren aber schon die Russen einmarschiert. Allen großen Straßen wurden Ende August für die Durchfahrt von deutschen Flüchtlingen von der Zarenarmee gesperrt. Auch die Bauern in Willschicken durften ihre Höfe selber nicht mehr verlassen, was die Arbeit auf weiterliegenden Feldern unmöglich machte.

Einige Trecks, die in unserer Gegend noch unterwegs waren, konnten in Willschicken vorübergehend Unterschlupf finden. Die Flüchtlinge hatten zum Teil nicht mal ihre Ersparnisse mitnehmen können, aber das sind ja eh alles Polen, so wurde gesagt! Eigentlich waren sie aber Deutsche und ganz nett. Ihre Kinder spielten gern mit unseren. Bei unserem Nachbarn nahm nach der Einquartierung von Flüchtlingen die Zahl der Esser für drei Wochen um fast das Dreifache zu. Es wurde in dieser Zeit auch schon heimlich geschlachtet. Wir wurden ein russisches Sanitätshaus, weil nach einer Inspektion auf dem Hof alles sauber vorgefunden wurde, worauf wir ordentlich stolz waren. Wir selber mussten uns aber räumlich sehr einschränken. Außen wurde eine weiße Fahne mit einem roten Kreuz aufgehängt. Sie bot auch Schutz vor Übergriffen der russischen Soldaten. Die allermeisten verhielten sich aber ordentlich. Der Kommandeur soll wohl darauf geachtet haben, sagte man.

Aber, so hörte man auch, in anderen Dörfern wurden Höfe geplündert und niedergebrannt. So musste die Mutter von Gerhard Kiehl, mit ihrem Sohn als Baby im Kinderwagen aus ihrem Haus in Lindenhöhe Hals über Kopf über die Felder in eine Feldscheune fliehen. Russische Soldaten hatten versucht, die Gaststätte und den Laden anzustecken, da sie aufgrund eines Verbotes keinen Alkohol bekamen. Der Schaden war in Gaststätte und Laden aber überschaubar. Beide kamen vorübergehend bei Verwandten in der Nachbargemeinde Paducken unter. Die Gaststätte und der Laden wurde nach dem Russenabzug wieder hergerichtet.

Lange Soldatenkolonnen zogen Tag und Nacht über die Chaussee, nur die Offiziere hatte Reitpferde. Mache Soldaten erbaten sich von dem Sanitätshaus einen Schluck Wasser. Leider strullten danach einige auch in unseren Vorgarten oder rissen Blumen ab. Auf den Hof selber trauten sie sich nicht. Der Hofhund Lux war wachsam und fing an zu bellen. Einmal wurde Lux beinahe von einem russischen Soldaten beschossen, der hatte schon angelegt. Der Eindringling wurde aber schnell von den russischen Sanitätsleuten verscheucht. Das Hoftor sollte während der gesamten Kriegszeit auch tagsüber immer geschlossen bleiben. Unsere Kinder mussten das auch erst lernen. Unsere zwei Fahrräder hatten wir schon vor Kriegsbeginn auseinandergenommen und auf dem Boden versteckt. Die paar "Wertsachen", die wir hatten, hatten wir heimlich vergraben.

Die Zimmerbeleuchtung wurde im Sanitätshaus ausgestellt, außerdem war es Sommer. Das Petroleum war auch knapp und teuer. Der Laden in Lindenhöhe war ja ausgebrannt und nach Aulowöhnen traute sich keiner. Die kaputte Kleinbahn nach Insterburg wollten die Russen erst wieder aufbauen und suchten überall nach Arbeitsleuten. Die Schule in Lindenhöhe war ein Russenlager, das Kreishaus ein Russenkommando.

1914 soll der Kaiser in Insterburg dagewesen sein und der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch auch, so hörte man. Allerdings nicht beide zusammen, das wäre ja was geworden! Meine Mutter Berta Tuttlies musste immer lachen, wenn sie davon erzählte.

Aber die Nahrungs- und Futtermittel waren für alle knapp, da sie von der deutschen und auch von der russischen Armee eingezogen worden waren. Viel mitgeführtes Vieh musste notgeschlachtet werden und verdarb den Schwarzhändlern die Preise. Das Zufüttern der Kühe mit Roggen wurde verboten, der sollte für die Menschen sein. Auch die Kartoffeln wurden rationiert, daraufhin wurden sehr viele Schweine geschlachtet. 1914 haben aber unsere Obstbäume prächtig getragen. An eine normale Ernte auf den Feldern war aber nicht zu denken. Die beiden ältesten Söhne Max *1903 und Erich *1905 mussten auf dem Hof auch schon tüchtig mithelfen. Mitgeholfen hat auch der Nachbar Ludzuweit, der wegen eines Augenleidens nicht eingezogen wurde, aber auch die zahlreichen Mitglieder der Familien Tuttlies und Burba - genau wie Berta Tuttlies auch auf den anderen Höfen ausgeholfen hat. Bei Feldarbeiten wurden die übriggebliebenen Pferde zusammengespannt. Nicht alle Flächen konnten bearbeitet werden. Geerntet und gedroschen wurde die karge Ernte immer gemeinsam. Was wir von den Genossenschaften für das bisschen Ernte bekamen, wurde von der Behörde bestimmt - es war nicht viel, es war weniger als vor dem Krieg. Manches von der Ernte wurde auch zum heimlichen Verfüttern versteckt.

Aus den Familienverbänden der Tuttliesen, der Burbas und vertrauter Nachbaren entstand eine kleiner Ring zum Tauschen mit Lebensmitteln und anderen Sachen. Besonders begehrt waren auch die Kartoffeln von Berta Tuttlies, die auf einem versteckt liegenden Feld angebaut und dort auch eingemietet wurden. Leider wurden im Herbst die Wildschweine an der Kartoffelmiete manchmal zu zudringlich. Die Miete wurde dann mit Baumstämmen abgedeckt, was aber auch nicht immer half.

Auf den großen Höfen wurde nach dem Russenabzug viel schwarz gehandelt - besonders Schlachtviel brachte Geld. Aber nur wer "genoch Dittchen in de Fupp häd, de bekäm och wat". Die beiden Gendarmen aus Aulowönen hörten bei den "Schwarzmarkt-Nachrichten" im Gasthof Lerdon immer nur zu. Nur bei den Schwarzhändler aus Polen wurden sie hellhörig. Sie drückten jedoch bei den hiesigen Gemeinde-Größen fast immer beide Augen zu. Soweit sich Berta Tuttlies erinnern konnte, wurde beim Schwarzhandel in Willschicken kaum jemand belangt, der bekannt war, bei den Polen und anderen fliegenden Händlern war das anders.

Eins unsere beiden Pferde mussten wir bereits zu Kriegsbeginn abgeben. Wir hatten 1914 außer dem einen Pferd nur noch eine Kuh, vier Schweine und Hühner, wobei deren Zahl "unerklärlicherweise" auch immer mehr abnahm. Später konnten wir eine "Flüchtlingskuh" günstig zu kaufen. Berta Tuttlies konnte tüchtig handeln. Ein zweites Pferd konnten wir uns erst wieder 1919 leisten, nach einer Entschädigung aus der Kreiskasse für die Einquartierungen im Sanitätshaus.

Wir hatten schon Angst um unseren Opa. Ferdinand Tuttlies hat auch bei Gumbinnen mitgekämpft, blieb aber Gott sei Dank unverletzt. Während der gesamten Kriegszeit blieb er in Ostpreußen. Er hat versucht, alle zwei Wochen einen Feldpostbrief zu schreiben und sich immer nach dem Zustand zu Hause erkundigt und dabei auch "deutliche Anweisungen aufgeschrieben, was auf dem Hof zu tun ist". Diese "Befehle" wurden in der Küche aufgehängt und nach Erledigung mit einem Haken versehen. Wir haben wiedergeschrieben, unsere Briefe brauchten manchmal bis zu vier Wochen. Postkarten fand er im Krieg nicht richtig - de kött jo jede lese. Die Kriegspost der Soldaten war portofrei, wurde aber zensiert. Zu seinem Geburstag (1.12.) und zu Weihnachten bekam er immer - obwohl die Termine dicht beieinander lagen - jeweils ein Paket mit Schinken von zu Hause, den er so gerne aß. Leider sind seine Briefe, die ich alle aufbewahrt hatte, verloren gegangen. Während der gesamten Kriegszeit hat er nur zwei Wochen Urlaub gehabt, die er auch noch auf unserem Acker verbracht hat."

Im Allgemeinen galt für russische Soldaten ein striktes Alkoholverbot. Dr. Bierfreund erließ dazu zwei Erlasse:

"Bekanntmachung Nr.1 An die Einwohner Insterburgs und die Flüchtlinge in Ostpreußen vom 25. August 1914: 2. Das bisherige allgemeine Verbot unserer Militärbehörde alkoholische Getränke zu verkaufen, ist auch von der russischen Militärbehörde allgemein durchgeführt, so dass das Verbot unserer Militärbehörde nicht nur nicht aufgehoben, sondern vielmehr in verschärften Maße durchgeführt wird, so dass alle dem Handel mit alkoholischen Getränken dienenden Geschäfte und Lokale geschlossen bleiben müssen und jeder Versuch, sich gewaltsam in den Besitz alkoholischer Flüssigkeiten zu setzen, ohne weiters als Anschlag auf das russische Heer von dem Kommandanten bestraft wird. Quelle: Meine Erlebnisse als Gouverneur von Insterburg während des Russeneinfalls (uni-tuebingen.de)

Siehe auch den Aushang für Insterburg und Land vom 3. September 1914 mit der Anordnung des Gouverneurs Dr. Bierfreund betr. die Trunkenheit der russischen Soldaten "Da noch immer einzelne Fälle von Trunkenheit russischer Soldaten von mir bemerkt worden sind, sichere ich demjenigen eine angemessene Belohnung zu, welcher mir einen Verkäufer alkoholischer Getränke (Schnaps, Likör, Wein usw.) zur Anzeige bringt." Insterburg, den 3: September 1914. Der Gouverneur Dr. Bierfreund. Quelle: Max Bierfreund, Bekanntmachung- Alkoholverbot .png – GenWiki (genealogy.net)

"Mutter Berta Tuttlies blieb 1914/15 mit vier Kindern in Willschicken zu Hause auf ihrem Hof. Hildegard Tuttlies spätere verh. Kiehl wurde erst 1920 geboren. In Willschicken stand im August 1914 die russische Militärverwaltung vor der Tür von Mutter Tuttlies und suchte Unterkünfte für verwundete russische Soldaten in der Umgebung. Es wurden ein Sanitätshaus eingerichtet. Das Wohnhaus musste geräumt werden und Mutter Tuttlies und ihre vier Kinder zogen zuerst in die Scheune, nach zwei Wochen auf den Dachboden des Wohnhauses. Die Küche durfte nach Absprache weiter benutzt werden. In der "Extra-Schneider-Stube" von Ferdinand Tuttlies wurde das Arztzimmer eingerichtet. Es wurde mit einem Ledersessel und einem großen Spiegel ausstaffiert.

Anfang September 1914 wurde ein schwerverwundeter russischer Soldat in das Wohnhaus gebracht, der bald darauf verstarb. Beim Abräumen des Sterbelagers durch Mutter Tuttlies standen plötzlich zwei russische Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag vor ihr. Erst die Rufe der anderen Verwundeten im Zimmer „Rotes Kreuz Haus, Rotes Kreuz Haus“ bewegte die Soldaten, sich zu entfernen. Vermutlich waren sie auf der Suche nach Wertgegenständen oder Alkohol. Der verstorbene Soldat wurde von der russische Militärverwaltung etwa 20 Meter vom Wohnhaus entfernt beerdigt, am Rand des Grabens der Grünheider Straße.

Am Ende des 1. Weltkriegs kam Vater Ferdinand Tuttlies gesund nach Hause. Das Soldatengrab wurde nach Abzug der Russen 1915 durch die Familie gepflegt. Es erhielt ein kleines Holzkreuz mit der Inschrift: „Hier ruht ein unbekannter russischer Soldat“ und einen Staketenzaun mit einer gezimmerten Tür. Zunächst wurde das Grab durch vier hohe Pfosten gesichert. Die Kinder waren für das Unkraut verantwortlich."

Andreas Kossert fasst zusammen:

Vom August 1914 bis zum Februar 1915 waren bis zu zwei Drittel Ostpreußens zeitweise russisch besetzt. Die zweimal durch Ostpreußen ziehende Frontlinie hinterließ durch die Kampfhandlungen ein zerstörtes Land. „Bereits 1914 setzte man eine Kommission ein, welche die Verluste in Ostpreußen protokollieren sollte. Für die Gesamtprovinz belief sich der Schaden auf 1,5 Milliarden Mark. Etwa 1.500 Zivilisten waren der Besatzung zum Opfer gefallen. Insgesamt kamen während der Kämpfe 1914/15 über 61.000 Soldaten ums Leben – 27.860 Deutsche, 1.100 Österreicher sowie 32.540 Russen. Dramatische Auswirkungen zeigte der Verlust an Vieh und Pferden, der die Versorgung ernsthaft gefährdete. … Viele Menschen hatten aber auch in ihren Dörfern ausgeharrt oder waren auf der Flucht von russischen Truppen überrascht worden. Auf ‚Spionageverdacht‘ hatten die Besatzer gnadenlos reagiert, es war zu zahlreichen Exekutionen gekommen. … Insgesamt wurden bis zu 13.000 Zivilisten nach Russland deportiert und kehrten erst nach Jahren wieder zurück.“ Quelle: Kossert: ZEIT 13.02.2014


15.   Zwischenkriegszeit

Durch die Novemberrevolution 1918 wurde auf Reichs- und Länderebene die Monarchie in Deutschland abgeschafft und die Republik ausgerufen. Am 31. 12. 1920 erfolgte die Umbenennung der Republik Preußen in den Freistaat Preußen. Der Freistaat Preußen, der im Zuge der Novemberrevolution von 1918 aus dem Königreich Preußen hervorging, war der größte Gliedstaat des Deutschen Reiches während der Weimarer Republik. Ab 1922 bestand der Freistaat Preußen aus 12 Provinzen und Berlin. Mit dem verfassungswidrigen „Preußenschlag“ von 1932 unterstellte Reichskanzler Franz von Papen das Land der Reichsregierung und nahm ihm so seine Eigenständigkeit. Damit hatte der Freistaat in der Zeit des Nationalsozialismus de facto bereits aufgehört zu existieren, auch wenn formal eine preußische Regierung unter Hermann Göring weiter amtierte. Nachdem am 23. August 1946 mit der Bildung eigenständiger Länder in der britischen Besatzungszone der Fortbestand Preußens verneint worden war, bestimmte das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 auch de jure die Auflösung Preußens. Die Zwischenkriegszeit wird auch als Weimarer Republik bezeichnet.


15.1 Polnischer Korridor

Die im Versailler Vertrag festgelegten Gebietsabtretungen Deutschlands betrafen zum größten Teil preußisches Territorium. Eupen-Malmedy fiel an Belgien, Danzig wurde Freie Stadt unter Verwaltung des Völkerbunds, und das Memelland kam unter alliierte Verwaltung. Das Hultschiner Ländchen ging an die Tschechoslowakei, große Teile der Provinzen Posen und Westpreußen wurden Teil des neuen polnischen Staates. Ostpreußen war nun vom übrigen Reichsgebiet getrennt und konnte ohne Grenzkontrollen nur per Schiff (Seedienst Ostpreußen), auf dem Luftweg oder über bestimmte Bahnstrecken durch den Polnischen Korridor erreicht werden.

Karte: Gebietsverluste des Deutschen Reiches 1920, Quelle: Versailler Vertrag - Polnischer Korridor – Wikipedia

Die wichtigste Route des „privilegierten Durchgangsverkehrs“ verlief auf der Strecke der alten Preußischen Ostbahn über Schneidemühl und Dirschau; 1934 verkehrten dort insgesamt sechs tägliche Zugpaare, ergänzt durch weitere Saisonzüge. Auf den anderen Strecken fuhren ein bis zwei Zugpaare.

Für die Durchfahrt musste die Deutsche Reichsbahn an die Polnische Staatsbahn (PKP) eine vertraglich festgelegte Vergütung zahlen. Unterschieden wurde zwischen „privilegierten Zügen“ und „privilegierten Zugteilen“. „Privilegierte Züge“ verkehrten nur über die Ostbahn; auf allen anderen Strecken gab es „privilegierte Zugteile“, da die Züge auch für den Verkehr von und nach Polen und Danzig genutzt werden konnten. In diesen Zügen wurden nur die „privilegierten Zugteile“ verplombt und von der Zoll- und Passkontrolle in den Grenzbahnhöfen ausgenommen.

Bei den „privilegierten Zügen“ über die Ostbahn war es bei einem Teil der Züge möglich, die Halte an den Bahnhöfen in Konitz und Dirschau zur Ein- und Ausreise nach Polen zu benutzen, auf beiden Bahnhöfen erfolgte nach dem Ausstieg bzw. vor dem Einsteigen eine gemeinsame deutsch-polnische Pass- und Zollkontrolle. Bei den übrigen Zügen auf der Ostbahn wurden die Halte in Polen lediglich als Betriebshalte zum Lokomotivwechsel genutzt. Zwischen Konitz und Marienburg wurden die Züge ausschließlich mit Lokomotiven der PKP bespannt.

Da es bei der Bahnreise von Berlin nach Königsberg weder Pass- noch Zollkontrollen gab, waren die Fahrgäste in den Korridorzügen von der kostenpflichtigen Beantragung polnischer Visa befreit.

Dennoch wurde das Verfahren wegen der Vielzahl zu beachtender Vorschriften – so war es beispielsweise zunächst verboten, die Abteilfenster zu öffnen – sowie der Kontrollen vor und nach der Verplombung nicht nur aus zeitlichen und psychologischen Gründen vielfach als Belastung empfunden. Quellen: Polnischer Korridor – Wikipedia und Marion Gräfin Dönhoffs, Namen, die keiner mehr nennt


15.2 Leiter der Verwaltung in Ostpreußen in der Zwischenkriegszeit

Die Weimarer Verfassung im Reich, die am 11. August 1919 beschlossen wurde, und die neue preußische Verfassung veränderten die Beziehung zwischen Reich und Preußen nachhaltig. Die Exekutive auf Reichsebene war nach der Revolution völlig unabhängig von der Preußens. Zu ihr gehörten die Provinzverwaltungen an der Spitze der Oberpräsident (Kontrolle) und der Regierungspräsident (Durchführung) und alle nachgeordneten Vollzugsorgane wie Staatsanwaltschaft, Polizei, Justizvollzugsanstalt und Finanzamt. Nach seiner Verfassung von 1920 eine parlamentarische Demokratie, erwies sich Preußen als politisch stabiler als das Reich selbst. Diese Aufgabenteilung war für die spätere NSDASP ein Dorn im Auge - versuchte sie doch später zuerst auf lokaler Ebene nationalsozialistische Einflüsse durchzusetzen.

Die große Bedeutung der Ländersteuern ging zu Gunsten einer zentralen Steuerverwaltung zurück. Das Reich hatte nunmehr die Steuerhoheit und verteilte die Einkünfte an die Bundesstaaten. Auch ein Großteil der Sozialverwaltung wurde Reichssache. Das Militär war nun allein Sache des Reiches, und Preußen schaffte konsequenterweise das Amt des Kriegsministers ab. Auch die preußische Eisenbahn ging mit der Bildung der Reichsbahn in die Verantwortung des Reiches über. Dasselbe galt für die Wasserstraßen.

Die Gebietskörperschaften Preußens waren Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden. An ihrer Spitze einer Provinz standen die Oberpräsidenten, die zu den 540 führenden politischen Beamten in den 12 Provinzen zählten und unter ihnen den höchsten Rang einnahmen: Außer den zwölf Oberpräsidenten gehörten 32 Regierungspräsidenten, 41 staatliche Polizeipräsidenten und 405 Landräte zu dieser Kategorie der preußischen Beamten, die vom Staatsministerium in Berlin ernannt wurden. Allerdings war das Staatsministerium keineswegs autonom, sondern musste bei seinen Entscheidungen die politischen Verhältnisse in den Provinzen, Regierungspräsidien bzw. den Landkreisen berücksichtigen. In der Praxis kam es aber zu häufigen Konflikten zwischen den Regierungspräsidenten und den Oberpräsidenten. Aufgrund der ungenauen Kompetenzzuweisung von Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten zueinander waren zahlreichte Konflikte in Preußen bis zur Auflösung des Staates 1947 ständiges Thema.

Der Oberpräsident (eigentlich: Oberregierungspräsident) war die Amtsbezeichnung des obersten Verwaltungsbeamten in den preußischen Provinzen.

Ab 1808 bzw. 1815 übte der Oberpräsident im Namen des Königs das Inspektionsrecht, die oberste Aufsicht über die Verwaltung in seiner Provinz, aus. Er war allerdings kein Vorgesetzter der Regierungspräsidenten, die direkt dem preußischen Innenministerium in Berlin unterstanden. Der Oberpräsident hatte das Recht, sich von den Regierungspräsidenten über alle Belange der Provinz unterrichten zu lassen, er konnte in alle Verwaltungsvorgänge Einblick nehmen und durfte bei Gefahr im Verzug auch selbst eingreifen. Er übte gegenüber den Regierungspräsidenten und der Verwaltung eine wichtige rechtsstaatliche Kontrolle aus. Er besaß das Recht zum unmittelbaren Vortrag beim Staatsoberhaupt und war lediglich dem preußischen Ministerpräsidenten nachgeordnet. Zur Erfüllung seiner Aufgabe stand ihm nur ein kleiner Stab von Mitarbeitern zur Verfügung. Er war in Aufgabe und Befugnis das zivile Pendant eines preußischen General-Inspizienten. Im Kriegsfall sollten die Armee-Inspekteure die Führung der aufzustellenden Armeen in den Provinzen übernehmen.

Wenngleich nach dem 9. November 1918 auf gesetzlichem Wege bzw. durch Rechtsverordnungen der Wirkungskreis der Oberpräsidenten immer wieder modifiziert wurde, so galt doch eine Reihe der im Laufe des 19. Jahrhunderts erlassenen Rechtsgrundlagen für die Amtsführung der Oberpräsidenten fort, wie der preußische Innenminister am 4. Dezember 1919 ausdrücklich bekräftigte. Seiner Oberaufsicht unterstanden die Regierungen und Regierungspräsidenten, das Provinzialschulkollegium, das Landeskulturamt, der Provinzialverband, die Rentenbanken und die berufsständische Provinzialverbände. Zum unmittelbaren Geschäftsbereich des Oberpräsidenten gehörten die Wasserstraßenverwaltung, die Seeämter, der Wasserbeirat und die Polizei- und Landjägereischulen.

Unter dem Nationalsozialismus wurden die Befugnisse der Oberpräsidenten ausgeweitet. Sie nahmen dann auch Reichsinteressen wahr, ähnlich den Befugnissen eines Reichsstatthalters. Als beratendes Gremium wurde außerdem der Preußische Provinzialrat eingerichtet. Der permanente Konflikt zwischen den Befugnissen von Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten wurde bis 1945 von der NSDAP auch nicht mehr gelöst.

August Winnig war ein deutscher Gewerkschafter, Politiker (SPD, Alte SPD, KVP, CDU) und Schriftsteller. In die Weimarer Nationalversammlung gewählt, unterstützte er in der SPD Friedrich Eberts Kandidatur als Reichspräsident gegen Philipp Scheidemann. Unter der neuen Regierung wurde er am 1.7.1918 Oberpräsident von Ostpreußen. Der Sozialdemokrat Winnig neigte aber immer stärker dem Nationalismus zu und unterstützte 1920 den Kapp-Putsch. Nach dem Scheitern floh Kapp am 17. März verkleidet nach Schweden. Nach zweijährigem Exil in Schweden stellt sich Kapp dem Reichsgericht, um seine Motive offenzulegen. Wolfgang Kapp stirbt am 12. Juni 1922 in der Untersuchungshaft in Leipzig an einer Krebserkrankung. (Quelle: Christopher Clark, Preußen) Winning wurde seines Amtes als Oberpräsident enthoben. Als völkischer Nationalist und Antisemit begrüßte er die „Machtergreifung“ Hitlers 1933. In Ostpreußen hatten sich alle höheren Verwaltungsbeamten mit Ausnahme des Königsberger Oberbürgermeisters Hans Lohmeyer dem Putsch von Kapp angeschlossen. Nach dessen Scheitern entließ die Preußische Staatsregierung den Oberpräsidenten August Winnig, drei Regierungspräsidenten und die meisten Landräte. Nicht entlassen wurden Oberbürgermeister Lohmeyer, der Regierungspräsident Matthias von Oppen (Allenstein) und die Landräte Heinrich von Gottberg (Bartenstein), Dodo Frhr. zu Innhausen und Knyphausen (Rastenburg), Herbert Neumann (Pr. Eylau) und Werner Frhr. v. Mirbach (Neidenburg).

Nach dem Kapp-Putsch wurde Ernst Siehr am 16. April 1920 zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Ostpreußen ernannt, weil sich sein Vorgänger August Winnig (SPD) auf die Seite der Putschisten gestellt hatte. In Siehrs Amtszeit fielen die Volksabstimmungen in Masuren und Westpreußen am 11. Juli 1920 über die Zugehörigkeit zu Ostpreußen oder zu Polen. Lokal sehr begrüßt wurde Siehrs eigenmächtige Verordnung einer vollen dreijährigen Schonzeit für Elche. Er setzte 1922 das Ostpreußenprogramm durch, aus dem 1926 die Osthilfe (Deutsches Reich) wurde. Mit ihr versuchten die Reichsregierung und die Preußische Staatsregierung, die Strukturnachteile der Provinz zu mildern, die durch die räumliche Trennung vom Reich entstanden waren. Auf eigenen Antrag vom 1. August 1932 endete Siehrs Amtszeit als Oberpräsident am 30. September 1932, wegen Differenzen mit der von Reichskanzler Franz von Papen beim „Preußenschlag“ eingesetzten reaktionären Regierung. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Kutscher.

Mit dem Staatsstreich in Preußen (auch als "Preußenschlag" bezeichnet) wurde am 20. Juli 1932 durch eine erste Notverordnung des Reichspräsidenten von Hindenburg die geschäftsführende und legale Regierung des Freistaates Preußen unter Otto Braun durch den Reaktionär Reichskanzler Franz von Papen als Reichskommissar ersetzt.

Nachdem das demokratische Kabinett Braun 1932 im "Preußenschlag" durch Franz von Papen abgesetzt war, wurde in der Provinz Ostpreußen u.a. Wilhelm Kutscher reaktiviert und im Oktober 1932 als Nachfolger von Ernst Siehr als Oberpräsident eingesetzt. Von 1914 bis 1919 war Kutscher Vortragender Rat im preußischen Innenministerium. Hier erwarb er sich während des Ersten Weltkriegs vor allem Verdienste beim Wiederaufbau der durch den Russeneinfall 1914 in Mitleidenschaft gezogenen ostpreußischen Städte und Gemeinden, wobei er eng mit dem dortigen Oberpräsidenten Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe zusammenarbeitete. Auf Betreiben des sozialdemokratischen preußischen Innenministers Wolfgang Heine wurde er aber 1919 als Regierungspräsident in den Regierungsbezirk Hildesheim "weg-versetzt". 1922 musste er wegen seiner konservativen Einstellung den Staatsdienst verlassen und wurde in den einstweiligen, 1924 in den (vorläufigen) Ruhestand versetzt.

Bereits im Mai 1933 musste Wilhelm Kutscher aber nach Intrigen durch den "Königsberger Kreis" der NSDAP diesen Posten an den Gauleiter Erich Koch wieder abtreten. Erich Koch blieb bis zum Kriegsende Oberpräsident der Provinz Ostpreußen. Quelle: Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter - Erich Koch eine politische Biographie


15.3 Litauisch

Es ist bezeichnend, daß bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Landkreise im Regierungsbezirk Gumbinnen, die vordem als „litauisch“ galten, wie z. B. Insterburg; Darkehmen, Stallupönen bereits als „deutsch“ genannt wurden.

Das Leben in Willschicken veränderte sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ferdinand und Berta Tuttlies sprachen zwar mit ihren älteren Verwandten und Bekannten untereinander häufig litauisch, ihren Kindern waren aber auch einige litauische Alltagsbegriffe geläufig. Siehe auch: Erinnerungen von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies undhttp://www.brieskorn.de/Brieskorn/Dokumentation/Ostpreussisch/body_ostpreussisch.html

Erwin Spehr berichtet aus Preußisch-Litauen: „Neben der litauischen Sprache waren zunächst fast alle deutschen Dialekte in Preußisch Litauen vertreten. Es bildete sich erstaunlicherweise jedoch kein Mischdialekt aus. Durchgesetzt hat sich neben dem Hochdeutschen das ostpreußische Plattdeutsch, auch Niederpreußisch genannt, obwohl bei der besitzenden bäuerlichen Bevölkerung die Niederdeutschen keine Mehrheit stellten.

Die folgende Karten zeigt das litauische Sprachgebiet:


"Man vermutet, dass Handwerker und Landarbeiter, die aus dem Westen Ostpreußens, laufend zuwanderten, der niederdeutschen Mundart zum Durchbruch verholfen haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man in Teil Ostpreußens in den Städten Hochdeutsch und auf dem Lande Plattdeutsch und Litauisch.“


Die folgende Tabelle zeigt die Bevölkerungs- und Schulstatistik im Regierungsbezirk Gumbinnen 1817 und 1825:

Muttersprache 1817 1825 absolute Veränderung prozentuale Veränderung
dt. 177.798 229.531 51.733 28,8 %
lit. 091.301 102.134 10.833 11,8 %
poln. 108.401 133.034 24.633 22,7 %
Gesamtbevölkerung 377.500 464.699 87.199 23,1 %
Unterrichtssprache schulpflichtiger Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr 1817 1825 absolute Veränderung prozentuale Veränderung
dt. 027.284 036.057 08.773 32,2 %
lit. 011.540 011.394 00.146 01,3 %
poln. 016.547 021.271 04.724 28,5 %
Gesamtschülerzahl 055.371 068.722 13.351 23,6 %

Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette

Bis zur Jahrtausendwende nahm der litauische Sprachgebrauch deutlich ab. In der Volkszählung 1905/06 gaben 79,5 % Deutsch, 14,5 % Polnisch/Masurisch und 4,8 % Litauisch als Muttersprache an. In fünf Kreisen im Süden überwog die polnische/masurische Sprache, im Kreis Heydekrug/Šilutė die litauische Sprache. In der Weimarer Republik und während der NS-Zeit ging der Anteil Nichtdeutschsprachiger deutlich zurück.

"1925 wurden noch vereinzelt Gottesdienste in litauischer Sprache abgehalten, obwohl weniger als 50 Mitglieder der Gemeinde Aulowönen litauisch als Muttersprache angegeben hatten. Um 1900 wurde die Pfarre Aulowönen als Muster hingestellt, "wo es möglich war, dass binnen kurzer Zeit aus einer verwahrlosten eine mustergültige Gemeinde entstand". 1932 gehörten der Kirchengemeinde 79 ha Pfarrland, wovon 64 ha verpachtet waren, den Rest bewirtschaftete damals Pfarrer Bernecker, als Verwalter der Kirchengemeinde. Dass Pfarrhaus stammt aus dem Jahre 1720. Es hat 13 große Zimmer und den Konfirmandensaal und es lag in einem 4 Morgen großen Obstgarten mit einem Teich, einer großen Scheune und geräumigen Stallungen, sowie zahlreichen anderen Nutzräumen." Quelle: Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Noch während der Weimarer Republik 1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste. Da man nun für diese größeren Einheiten oft neue Namen suchte, wurde die Gelegenheit wahrgenommen, die alten litauisch klingenden Ortsnamen durch deutsche zu ersetzen.“

Die Nationalsozialisten ersetzten 1938 systematisch alle litauischen Orts-, Fluss-, Forst- und Moornamen durch „Eindeutschungen“ und verdrängten die litauische Sprache und deren Kultur.

15.4 Sprachabstimmung 1920 in Ostpreußen

Karte: Sprachabstimmung, Muttersprache und Abstimmungsergebnis, Quelle: Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen – Wikipedia

Nach Ende des Ersten Weltkriegs und der staatlichen Restauration Polens war die Grenzziehung zwischen Polen und dem Deutschen Reich umstritten. Während der Versailler Vertrag den größten Teil der preußischen Provinz Posen (des historischen Großpolens) und den Polnischen Korridor dem polnischen Staat ohne Volksabstimmung zusprach, sollte in den südlichen Kreisen Ostpreußens, den östlich der Weichsel gelegenen Teilen Westpreußens sowie in Oberschlesien in Volksabstimmungen über die weitere staatliche Zugehörigkeit entschieden werden (Volksabstimmungen im Gefolge des Versailler Vertrags).

An den Grenzen Ostpreußens waren zwei Abstimmungsgebiete vorgesehen: das Abstimmungsgebiet Marienwerder in Westpreußen entlang der Weichsel und in Ostpreußen das Abstimmungsgebiet Allenstein, den Regierungsbezirk Allenstein sowie den Kreis Oletzko umfassend (Masuren).

Die polnische Delegation in Versailles forderte ursprünglich die Abtretung dieser strittigen Gebiete ohne jede Volksabstimmung an Polen. Darüber hinaus sollte das nördliche Ostpreußen an Litauen fallen, aus dem verbleibenden Teil rund um Königsberg sollte ein von Deutschland unabhängiges Völkerbundsmandat entstehen, das nach Einschätzung polnischer Politiker langfristig ebenfalls Teil Polens werden sollte. Dagegen protestierte die Regierung Friedrich Ebert und vor allem auf Drängen des britischen Premierministers David Lloyd George wurden Abstimmungen unter alliierter Aufsicht anberaumt.

Nach den Regelungen in den Artikeln 94–98 des Versailler Vertrags wurde das Abstimmungsgebiet entmilitarisiert und einer dem Völkerbund unterstehenden Abstimmungskommission unterstellt. Nach Abzug des deutschen Militärs in der ersten Februarwoche übernahm sie am 17. Februar 1920 die Verwaltung des Abstimmungsgebiets und stationierte britische und italienische Truppen zur Überwachung der Abstimmung. Deutsche Verwaltungsbehörden blieben im Amt, ihnen wurde jeder Kontakt zu vorgesetzten Dienststellen in Berlin oder Königsberg untersagt, die dort tätigen Beamten mussten der Kommission einen Treue-Eid leisten.

Im Rahmen der Volksabstimmungen infolge des Versailler Vertrags fanden am 11. Juli 1920 die Volksabstimmungen in Teilen Ost- und Westpreußens statt. In Ostpreußen wurde im Wesentlichen im Regierungsbezirk Allenstein abgestimmt und in Westpreußen in mehreren östlich der Weichsel gelegenen Kreisen des früheren Regierungsbezirks Marienwerder. Die Abstimmungsberechtigten konnten über die künftige staatliche Zugehörigkeit der Gebiete entscheiden.

Im Allensteiner Abstimmungsgebiet stimmten über 97 % und im Abstimmungsgebiet Marienwerder über 92 % der Wähler für den Verbleib bei Ostpreußen und somit beim Deutschen Reich und gegen eine Abtretung an die Zweite Polnische Republik.

Diese Ergebnisse waren auch insofern bemerkenswert, als ein erheblicher Teil der Bevölkerung in den Abstimmungsgebieten polnischer Muttersprache war.

Quelle: Volksabstimmungen in Ost- und Westpreußen – Wikipedia


15.5 Wirtschaftshilfe in der Zwischenkriegszeit

Die veränderten Existenzbedingungen, die Ostpreußen nach 1918 hinnehmen musste, haben sein politischen und wirtschaftliches Leben tief beeinflusst. Die neunen Grenzen unterbrachen wirtschaftliche Verbindungen, in denen die Provinz seit langem gestanden hatte und die sich nur teilweise wiederherstellen oder ersetzen ließen. Diese waren auf die Dauer nicht zu verschmerzen, weil Ostpreußen auf Grund seine einseitige Wirtschafts- und Sozialstruktur eher zur Stagnation als zur Dynamik neigte und deshalb die verlorenen Positionen schwerlich durch gesteigerte wirtschaftliche Aktivitäten im Landesinnern wettmachen konnte. Schon vor 1914 ist das Wachstum der ostpreußischen hinter dem der Bevölkerung zurückgeblieben und der Überschuss an Arbeitskräften in anderen Teile Deutschlands abgewandert. Obwohl dieses Phänomen und seine bevölkerungspolitischen Konsequenzen ausgangs des 19. Jahrhunderts aufgefallen sind, hat es doch an Politik gefehlt, die diese Entwicklung nachdrücklich korrigiert hätte. Infolgedessen ist das Abwanderungsproblem nach dem Ersten Weltkrieg abermals hervorgetreten und zu einem Symptom der Wirtschaftlichen Schwäche der Provinz geworden.   Quelle: Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink

"In den in der Umgegend von Königsberg gelegenen Kreisen stellt sich heute (November 1921) der Gesamtlohn eines landwirtschaftlichen Arbeiters auf 5300 M. wovon etwa 3/4 in Gestalt von zu verhältnismäßig niedrigen Preisen angesetzten Naturalien (Wohnung mit Stall und Garten, Kuh- und mitunter am Schafhaltung, Kartoffelland, Brennstoffe und etwa 40 Zentner Getreide), der Rest in bar gewährt wird. Gehobene Arbeiter erhalten 15% Zuschlag; Überstunden werden besonders vergütet. Am stärksten gestiegen sind die Löhne der jugendliche Arbeiter, der sogenannten Tagelöhner, welche je nach Geschlecht und Alter Löhne von 1.400 bis 3.400 M beziehen". Quelle: Die Landwirtschaft der Provinz Ostpreußen von Geh.-Rat Professor Dr. J. Hansen. Ein Arbeiter, der auf der Werft in Königsberg arbeitete, erhielt im selben Jahr 7200 M in bar, in Hamburg waren es 8700.

In der Landwirtschaft spielten in Ostpreußen die Genossenschaften eine große und wichtige Rolle. Sie leisteten intern durch ihre Strukturen "indirekte" Wirtschaftshilfe. Genossenschaften waren ein Zusammenschluss von Personen in der Landwirtschaft zu Zwecken der wirtschaftlichen oder sozialen Förderung der Mitglieder durch einen gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. Anders als bei Kapitalgesellschaften hing die Geschäftspolitik nicht von den Interessen außenstehender Investoren ab, sondern wurde allein von den Belangen der Mitglieder bestimmt.

Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen geht in seinen ersten Anfängen auf das Jahr 1871 zurück. Größere Bedeutung hatten sie aber erst seit Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts erhalten. In der Zwischenkriegszeit entstand ein, die ganze Provinz Ostpreußen umspannenden Netz von Einzelgenossenschaften, welche sich in vier Verbänden zusammengeschlossen.

Es handelte sich um folgende Verbände:

1. den Verband ländlicher Genossenschaften Raiffeisenscher Organisation für Ostpreußen mit dem Sitz in Königsberg,

2. den Verband wirtschaftlicher Genossenschaften des Ermlandes mit dem Sitz in Wormditt,

3. den Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften für Ostpreußen mit dem Sitz in Insterburg.

4. der Verband der Maschinen-Genossenschaft mit dem Sitz in Königsberg

Auch sie waren von wirtschaftlichen Veränderungen in der Zwischenkriegszeit betroffen. Der Schwerpunkt der beiden erstgenannten Verbände lag in den Spar- und Dahrlehnskassen. Der Insterburger Verband erstreckte sich in erster Linie auf Molkerei- sowie Bezugs- und Absatzgenossenschaften. Dem Ermländischen Verband gehörten auch einige Genossenschaften dieser Art an, während der Raiffeisenverband sich neben den Spar- und Darlehnskassen auf alle Arten landwirtschaftliche Genossenschaften erstreckt und weitaus die größte Ausdehnung umfasste. Er hat am 1. Januar 1921 zusammen 415 Genossenschaften, davon 359 Spar- und Darlehnskassen-, 13 landwirtschaftliche Bezugs- und 34 Verwertungsgenossenschaften. Die An- und Verkaufsgenossenschaft Insterburg, welche im Regierungsbezirk Gumbinnen verschiedene Zweigstellen errichtet hatte, suchte auch im Laufe der Zeit eine enge Verbindung mit dem Raiffeisenverband. Die große Maschinengenossenschaft mit ihren 7 über die- Provinz verteilten Zweigniederlassungen wurde im Jahre 1921 mit einer der Ostpreußischen Maschinen-Gesellschaft m. b. H. verschmolzen.

Die Inflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf in Ostpreußen eine Landwirtschaft, die unter sehr ungünstigen äußeren Bedingungen produzieren musste und auch die nationalen Kriegsschäden noch nicht voll überwunden hatte. Die Folge war die tiefe Agrarkrise von 1929 bis 1932, die zahlreichen Betriebe zum Opfer fielen. Pfändungen und Versteigerungen nahmen zu. Der Handel mit Getreide, Saatgut, Kartoffeln sowie mit landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln (Kunstdünger, Futtermittel oder Betriebsstoffen) vollzog sich in den Landkreisen um 1920 zu einem großen Teil über die An- und Verkaufsgenossenschaft in Insterburg, bzw. dem Raiffeisenverband in Königsberg und Wormditt. Aufgrund der Strukturen kauften sie etwa 60 % der landwirtschaftlichen Produkte in Ostpreußen auf und belieferten zu etwa 40 % den Mark für Bedarfsartikel. Viele Kein- und Mittelbauern waren Genossenschaftsmitglieder. Während der Wirtschaftskrisen in Ostpreußen gingen die Umsätze der Genossenschaften deutlich zurück und damit ihre "Marktmacht". Arbeitslos gewordene Mitglieder traten aus den Genossenschaften aus.

Die Großbauern und Gutsherren hatten zum Teil eigene private Marktzugänge durch eigene Wirtschaftsvereine aufgebaut, die sich auch aus den persönlichen Kontakten der eigenen "Klassenzugehörigkeit" ergaben. Für einigen Gutsbesitzer waren die Genossenschaften "bolschewistische Kampfvereine". Aber auch sie waren den Weltmarktpreisen ausgeliefert.

Quelle: Die Landwirtschaft der Provinz Ostpreußen von Geh.-Rat Professor Dr. J. Hansen

Wilhelm Obgartel schrieb 1931 in "Die Kreise Insterburg Stadt und Land, besonders nach ihrer Landschaftsgliederung und ihrer Geschichte":

„Das Rückgrat des einheimischen Lebens im Landkreis Insterburg ist die Landwirtschaft. Der überwiegende Teil der Bewohner des platten Landes findet in diesem Erwerbszweig seine Beschäftigung. Zwar ist es der einheimischen Landwirtschaft gelungen, die großen lokalen Schäden an lebendem und totem Inventar des Russeneinfalls unter tatkräftiger Hilfe der Regierung in verhältnismäßig kurzer Zeit auszugleichen und zu beseitigen. Doch hat sich nach dem Kriege infolge der Abtrennung Ostpreußens vom Mutterland, der hohen staatlichen, kommunalen und anderer öffentlichen Lasten, der drückenden Frachttarife, der jahrelangen für sie ungünstigen Preisverhältnisse, verursacht durch ein Überangebot landwirtschaftlicher Erzeugnisse auf dem Weltmarkt, in der ganzen Provinz schwer, um ihre Existenz zu kämpfen. Selbst der großen Rührigkeit und Umstellungsfähigkeit ist es dem Landwirt sehr schwer, auch nur eine bescheidene Rente aus seinem Betrieb herauszuwirtschaften. Die Lage der Landwirtschaft ist kaum weniger katastrophal als nach den napoleonischen Kriegen vor 100 Jahren“

Das Agrarland Ostpreußen lebte vom Export seiner landwirtschaftlichen Produkte. Nun aber waren alte Absatzmärkte, insbesondere die Provinz Posen, verloren gegangen, zudem riegelten die neu gebildeten Staaten Polen und Litauen die Provinz vom alten Handelspartner Russland ab. Neue Märkte mussten über weite Entfernungen im übrigen Deutschland gesucht werden. Die höheren Frachtkosten verteuerten die Produkte um mehr als 10 %, was auf Kosten der Gewinne ging. Das wiederum hatte Rückwirkungen auf Handel und Gewerbe in den Städten: Die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Abwanderungen aus Ostpreußen verstärkten sich. Immer mehr Politiker forderten den Erlass von Maßnahmen. Die Maßnahmen wurden zunächst von der Preußische Staatsregierung geplant, da die Reichsregierung aus finanziellen Gründen nicht die Notwendigkeit für das gesamte Reich einsah. Erst 1926 trat eine Änderung ein.

So beschlossen die Preußische Staatsregierung und die Reichsregierung 1926, mit kreditpolitischen Maßnahmen zu helfen. Die „Allgemeine Grenzhilfe“ sollte insbesondere den (im Vergleich zum Reichs­durchschnitt deutlich größe­ren) Gutsbetrieben in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien und in der Grenzmark Po­sen-Westpreußen die Um- und Entschuldung erleichtern. Wegen immer höhe­rer Zinslasten, sinkender Rentabilität und eines Preisver­falls bei Roggen und Kartoffeln ab 1927 wurde immer lauter nach einer Unter­stützung der ostdeut­schen Landwirtschaft gerufen. Ostpreu­ßens Oberpräsident Ernst Siehr hatte sich seit 1922 erfolgreich für solche Förderungsprogramme eingesetzt.

Gesetzesblatt: Osthilfe, 1931: Quelle: Osthilfe (Deutsches Reich) – Wikipedia

Das Ostpreußengesetz, beschlossen am 18. Mai 1929 vom Kabinett Hermann Müller (SPD), sollte Landwirtschaft und Ernährung im Deutschen Reich durch Siedlungskredite, Zinszuschüsse und staatliche Garantien sicherstellen. Im Juli 1930 – inzwischen hatte die Weltwirtschaftskrise begonnen – wurde das Gesetz durch eine Notverordnung verstärkt. Insgesamt entstand bis 1933 „ein undurchdringlicher Dschungel von 61 Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und 60 amtlichen Erlassen“. Diese Bemühungen wurden später unter dem Namen Osthilfe zusammengefasst. … Zusätzlich wurde die Deutsche Ost­messe Königsberg (DOK) 1920 gegründet, und zeitweise gehörten auch Aus­stellungen wie die Ostmarkschau in Frankfurt (Oder) (Ogela, 1924) zu diesem Investitionspro­gramm.

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das vom damaligen Reichspräsidenten Hindenburg initiierte Osthilfegesetz, mit dem den durch den starken Preisverfall für Getreideprodukte betroffenen Großbetrieben Ostpreußens geholfen werden sollte. Das Gesetz sah eine Entschuldung durch Konsolidierung und Kürzung der Verbindlichkeiten sowie durch Senkung der Zinsen vor. Im Zuge des Weiteren landwirtschaftlichen Niedergangs dehnte man die Gültigkeit der Norm bis Mitte 1932 auf sämtliche Gebiete östlich der Elbe und die bayerische Ostmark aus. Das Kabinett Brüning brachte am 31. März 1931ein förmliches Osthilfegesetz zur Entschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe auf den Weg. Die Förderung wurde auf die gesamte ostelbische Landwirtschaft ausgedehnt. Dieses Osthilfegesetz wurde Ende Mai mit dem brisanten Projekt der Ansiedlung von Neubauern auf Grundstücken bankrottgegangener Groß­grundbesitzer verbunden. Das brachte Brüning u.a. von Hindenburg den Vorwurf des „Agrarbolschewismus“ ein und führte zu seinem Sturz. Quelle: Osthilfe (Deutsches Reich) – Wikipedia

In der Krise waren Große Güter mit ihrem hohen Arbeitskräftebedarf dabei stärker betroffen als Bauern, die vorübergehend sich selbst ernähren konnten und so die Krise besser überstanden. Die Unruhen dieser schwierigen Zeit machten sich überall bemerkbar: 1923 kam es auf einigen Gütern zu Landarbeiterstreiks, und 1929 verhinderten aufgebrachte Bauern Zwangsversteigerung.“ Quelle: Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

In Wilkental mussten 7 Bauern lt. Schadensberechnung ihr Land verpachten, um wirtschaftlich zu überleben, darunter auch Ewald Tuttlies, der Sohn von August Herrmann Tuttlies.

Gerhard Dalheimer berichtete aus dem Kirchspiel Aulowöhnen:

Wenn wir früher von Aulowönen nach Grünheide fuhren, kamen wir an vielen Neusiedlerstellen (Besitzer) vorbei. Sie waren entstanden, nachdem das Gut Alt - Lappönen nach dem ersten Weltkrieg „ausgewirtschaftet“ hatte. Offensichtlich hatten diese Siedlungen so viel Land, dass ihre Besitzer davon leben konnten. Oder waren einige Betreibe auch als Nebenerwerbssiedlungen konzipiert? Meiner Erinnerung nach dürfte das aber die kleine Minderheit gewesen sein. Was ich aber erst Jahrzehnte später erfahren habe ist, dass etliche Siedler von ihren neuen Landesherren „rauskomplementiert“ worden waren, nachdem ihre Besitzungen im einst russischen Gebiet nach Versailles polnisches Territorium geworden waren. Das hatte sich Mitte der 1920er Jahre zugetragen, wie ich aus Kontakten mit den Nachkommen zweier “Aussiedlerfamilien“ erfahren habe. Außerdem erinnere ich mich, dass wir an der Grünheider Straßen einem Russengrab aus dem 1. Weltkrieg vorbeikamen, das war stets sauber gepflegt und eingezäunt war.“ Verfasst von Gerhard Dalheimer (Kiaunischken), 07/2014 Quelle: Alt Lappönen .

Gemeint ist das "Russengrab" vor dem Tuttliesen Hof.


16. Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus ist eine radikal antisemitische, rassistische, ultranationalistische, völkische, sozialdarwinistische, antikommunistische, antidemokratische und antipluralistische Ideologie. Seine Wurzeln hat er in der völkischen Bewegung, die sich etwa zu Beginn der 1880er Jahre im deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn entwickelte. Ab 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde er zu einer eigenständigen politischen Bewegung im deutschsprachigen Raum. Der Nationalsozialismus führte gezielt in den Zweiten Weltkrieg

Im europäischen Kontext war der Zweite Weltkrieg ein vom nationalsozialistischen Deutschland ausgelöster Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg mit dem langfristigen Ziel, ein unangreifbares deutsches Großreich aus eroberten und abhängigen Gebieten zu schaffen. Ziel war von Beginn an die deutsche Weltmachtstellung und die „rassistische Neuordnung des europäischen Kontinents. Dabei vermischten sich klassische machtpolitische mit rassenideologischen Motiven. Hierzu zählten einerseits die Gewinnung von „Lebensraum im Osten“ mit Umsiedlung oder Vernichtung der dort lebenden, als „rassisch minderwertig“ angesehenen, vorwiegend slawischen Völker, andererseits die „Endlösung der Judenfrage“. Beides wurde durch die antisemitische Vorstellung eines „jüdischen Bolschewismus“ als Teil einer Verschwörung des „Weltjudentums“ begründet, die in Gestalt der Sowjetunion als Bedrohung der Lebensgrundlagen der „arischen Rasse“ und der durch sie repräsentierten europäischen Zivilisation gesehen wurde. 1930 wählten 6,4 Millionen (18,3 %) und 1933 17,3 Millionen (43,9 %) aller Wähler in den Reichstagswahlen Hitler und die NSDAP.

Die nächste Abbildung zeigt die Toten des 2. Weltkrieges. Sie werden insgesamt auf 60 - 70 Millionen Menschen geschätzt.

Paul von Hindenburg, 1914 als "Befreien von Ostpreußen" gefeiert, wurde 1925 zum zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt. Er wurde bei der Reichspräsidentenwahl 1932 wiedergewählt und blieb bis zu seinem Tod, am 2. August 1934 im Amt. Nachdem er den Nationalsozialisten Adolf Hitler mehrmals als Regierungschef abgelehnt hatte, ernannte er ihn doch, auch nach Drängen seiner Umgebung, am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Er ermöglichte aber durch dieses formale Handeln, daß Hitler und die NSDAP in Deutschland zeitnahe eine Diktatur errichten konnten. Innerhalb weniger Monate beseitigte sein Regime mit Terror, Notverordnungen, dem Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltungsgesetzen, Organisations- und Parteiverboten die Gewaltenteilung, die pluralistische Demokratie, den Föderalismus und den Rechtsstaat. Politische Gegner wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, gefoltert und ermordet. 1934 ließ Hitler anlässlich des „Röhm-Putsches“ politische Gegner und potenzielle Rivalen in den eigenen Reihen ermorden. Hindenburgs Tod am 2. August 1934 nutzte er, um das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinen zu lassen, und regierte seither als „Führer und Reichskanzler“. Noch im März 1934 äußerte der aus dem ostpreußischen Landadel stammende von Hindenburg unverhohlen sein Bedauern darüber, daß der "Grundsatz der Rassenreinheit in den letzten zwei Jahrhunderten vielfach durchbrochen" worden sei. Quelle: Hans-Ulich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 4

16.1 Ideologie des Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus entwickelte u.a. folgende Leitgedanken: Führerprinzip, Volk-Gemeinschaft, Lebensraum im Osten und Überlegenheit der arische Rasse.

Das "Führerprinzip" galt als Grundgesetz nationalsozialistischer Weltanschauung. Es verpflichtete nach dem Motto "Führer befiehl, wir folgen" zu blindem Gehorsam und bedingungsloser Treue gegenüber Hitler als dem obersten "Führer" und die jeweilige Gefolgschaft zu Gehorsam gegenüber den Befehlen der Führer auf mittlerer und unterer Ebene.

Die „Blut-und-Boden-Ideologie“, von den Nationalsozialisten vorgegeben, sollte die Einheit eines „rassisch definierten Volkskörpers mit seinem Siedlungsgebiert“ herstellen.  Die Bäuerliche Lebensformen wurden dabei  als Gemeinschaft idealisiert. Sie sollten ein Gegengewicht zur Urbanität bilden Ein „Volk ohne Raum“ hat neuen „Lebensraum im Osten zu erobern.  Indem rassische und antisemitische Ideen verknüpft wurden, sollte die „germanisch-nordische Rasse“ einem angeblich „Jüdischen Nomadentum“ entgegengesetzt werden.

Der nationalsozialistische Begriff suggeriert, dass "Rassen" anhand von persönlichen Eigenschaften und Orts- und Ahnenzugehörigkeit erkennbar sind. Sie sollen durch ein bestimmtes Charakteristikum mit hervorstechenden äußerlichen Merkmalen und ausgeprägten Verhaltens-Typen, sowie geografischer und biografischer Zugehörigkeit erklärbar sein. Damit wäre aber insgesamt ein festgelegtes Verhalten von „Rassen“ genetisch vorge­geben und nicht veränderbar. Die "Grundlagen" wurden in der "nationalsozialistische Rassenhygiene" gesucht. Abgeleitet wurden u.a. von den Nationalsozialisten daraus eine scheinbar wissenschaftliche Rechtfertigung für ihren Rassismus.

Die ideologische Vorstellung  "Rassen" durch eine "negative" oder eine "positive" Kombination von körperlichen Merkmalen, bestimmten Verhaltens-Typen und geografischer und biografischer Herkunft zu erklären, wurde schon in der Zwischenkriegszeit von der seriösen Wissenschaft für falsch erklärt worden, da sich statistische zwischen den benannten Merkmalsgruppen keinerlei kausale Zusammenhänge nachweisen lassen. Quelle: Rassentheorie – Wikipedia

Die weitere Vorstellung, es gebe genetisch unterschiedliche menschliche Rassen, wird von der großen Mehrheit der heutigen Forscher in Europa und Nordamerika  wider­sprochen. Vielmehr gibt es genetisch unterschiedliche Menschen. "Der Abschied vom Rassenkonzept bedeutet nicht, genetische Unterschiede zwischen Menschen zu leugnen. Das Rassenkonzept erweist sich jedoch als ungeeignet, diese angemessen zu erfassen. Der größte Teil der genetischen Unterschiede ist nicht zwischen den geographischen Gruppen, sondern zwischen den Individuen ein und derselben Population zu finden." Dazu siehe u.a. Menschenrassen - Lexikon der Biologie (spektrum.de)

"Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Gräueln des Holocaust setzte die UNESCO 1949 ein Komitee von Anthropologen und Soziologen aus verschiedenen Ländern ein, dass eine Erklärung zur Rassenproblematik erarbeitete, die 1950 veröffentlicht wurde. Darin wurde festgehalten, dass im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist Menschengruppen als „Rassen“ bezeichnet wurden, welche der gültigen Definition dieses Begriffs in der Wissenschaft nicht entsprachen, etwa Amerikaner, Katholiken oder Juden. Insofern im Rahmen der Wissenschaft von Menschenrassen gesprochen werde (etwa bei der Unterscheidung von Mongoliden, Negroiden und Caucasoiden), beziehe sich das nur auf physische und physiologische Unterschiede. Dagegen gebe es keine Belege für nennenswerte Rassenunterschiede bei geistigen Eigenschaften wie der Intelligenz oder dem Temperament, und auch nicht in sozialer oder kultureller Hinsicht. Des Weiteren gebe es aus der Sicht der Biologie keine Hinweise darauf, dass eine Vermischung von Rassen nachteilige Auswirkungen habe. An diese Erklärung schloss sich 1965 das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung an." Quelle: Rassentheorie – Wikipedia

Im Oktober 1936 wurde auf dem NSDAP -Reichsparteitag der sogenannte Vierjahresplan verkündet. Dieser hatte zwei große Aufgaben:

I. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein.

II. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.

Der Vierjahresplan zielte zugleich auf die Herstellung der Wehrfähigkeit wie auch auf die Notwendigkeit, die Versorgung des deutschen Volkes wirtschaftlich zu gewährleisten. In seiner Denkschrift zum Vierjahresplan formulierte Hitler 1936: „Wir sind überbevölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren […] Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes beziehungsweise der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes.“

Das Dritte Reich ist für den Gebietsverlust von Ostpreußen verantwortlich. Von den fast 2,5 Mio. Einwohnern in Ostpreußen fielen 511.000 Menschen (darunter 311.000 Zivilisten) im Kampf, auf der Flucht, durch Verschleppung und Lagerinternierung sowie dem Hunger und der Kälte zum Opfer. Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte Band 4,

Siehe auch: "Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang", Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies,


16.2 Generalplan Ost

Im Herbst 1939 ernannte Reichsführer SS Heinrich Himmler seinen Gefolgsmann Professor Konrad Meyer, Mitglied der SS und Direktor des Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik an der Berliner Universität zum Leiter der Planungshauptabteilung des der Reichsführung SS unterstehenden Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums. Unter maßgeblicher Regie Konrad Meyers und aktiver Mitarbeit weiterer Wissenschaftler der landwirtschaftlichen Fakultät entstand in den folgenden Jahren der sogenannte Generalplan-Ost.1948 wurde er von einem amerikanischen Militärgericht im Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS angeklagt, wegen Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation für schuldig befunden, aber anschließend freigelassen. Von 1956 bis 1968 lehrte er als ordentlicher Professor für Landesplanung und Raumordnung an der Universität Hannover.

Karte: Geplante sogenannte deutsche Volkstumsbrücken (Siedlungsplanung), d. h. vollständig Deutsch zu besiedelnden Gebieten, 1942 Quelle: Generalplan Ost – Wikipedia

Unter dem Begriff Generalplan Ost (GPO) werden eine Reihe von Plänen, Planungsskizzen und Vortragsmaterialien zu einer möglichen neuen Siedlungsstruktur im Rahmen des nationalsozialistischen Leitgedankens "Lebensraum im Osten" zusammengefasst. Diese theoretischen Konzepte bildeten auf der Grundlage der NS-Rassendoktrin eine Planungsgrundlage für eine Kolonisierung und „Germanisierung“ von Teilen Ostmittel- und Osteuropas einschließlich der großangelegten Vernichtung der Bevölkerungsgruppen, die für eine zukünftige Siedlungsstruktur als nicht „geeignet“ angesehen wurden. Derartige Schriften wurden seit Frühjahr 1940 durch das Planungsamt des Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), die Planungsgruppe lll B beim Sicherheitsdienst des Reichsführers SS im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und das Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität erstellt.

Einige Planungen sahen vor, Teile der Bevölkerung Polens und der westlichen Teile der Sowjetunion nach Sibirien zu deportieren. Nach der am 28. Mai 1942 vorgelegten und im Dezember noch einmal überarbeiteten Version sollten das Wartheland, Ostoberschlesien und Westpreußen einschließlich von Teilen des „Generalgouvernements Polen“ (GG) völlig „eingedeutscht“

In Teilen der eroberten Sowjetunion sollten drei „Reichsmarken“ gebildet werden:

1.    „Ingermanland“ südlich von Leningrad;

2.    das Narewgebiet mit Białystok und Litauen;

3.    der „Gotengau“ mit Krim und dem Gebiet um Cherson.

Karte: Generalplan Ost mit geplanten Stützpunkten und Marken, Quelle: Generalplan Ost – Wikipedia

Die für die „Eindeutschung“ zunächst gesetzte Frist von 25 Jahren wurde am 23. Dezember 1942 noch einmal auf 20 Jahre herabgesetzt und Böhmen und Mähren, Elsaß-Lothringen, die Untersteiermark und Oberkrain wurden auf Himmlers Wunsch ebenfalls der Planung zugeordnet.

Die „frei gewordenen Gebiete“ in Osteuropa sollten mit mehreren Millionen Deutschen besiedelt werden. Voraussetzung zur vollen Umsetzung der Pläne wäre der militärische Sieg gegen die Sowjetunion gewesen

In den verschiedenen Entwürfen ist außerdem von den zu schaffenden Siedlungsgebieten als „Siedlungsmarken“ oder „Reichsmarken“ „an der vordersten Front des deutschen Volkstums gegenüber dem Russen- und Asiatentum“ (Entwurf vom 28. Mai 1942) die Rede, an deren Spitze jeweils ein „Markhauptmann“ zu stehen kommen sollte. Insgesamt hätten die Marken unter der Hoheitsgewalt des Reichsführers SS gestanden.

Auch außerhalb des GPO wurde die „Mark-“Bezeichnung, für die in Osteuropa bis 1942 besetzten Gebieten verwendet.

So hatte der Reichskommissar Ukraine, Erich Koch, vor, die Ukraine als neue „deutsche Ostmark“ in ein wirtschaftliches Ausbeutungsobjekt für das Großdeutsche Reich zu verwandeln. Erich Koch war gleichzeitig Gauleiter in Ostpreußen.

„Die Leitidee der NS-Großraumplanung für die Agrargebiete im „Altreich“ sahen Folgendes vor: Transformation der gesamten Besitz- und Erwerbsstruktur durch die Zerschlagung aller kleinen Einheiten und die Bildung ausschließlich mittlerer und großer Höfe, zugleich Ermittlung des „hochwertigen Erbgutes“ und Transfer der „wertvollen“ Kleinbauernfamilien in den osteuropäischen „Lebensraum“ des „Großgermanischen Reiches“.

Die "agrarische Großraumplanung" hatte in Deutschland eine gewaltige Umverteilung von Land und Leuten zum Ziel.

Der Kleinbesitz der Landwirte u.a. in Ostpreußen sollte lückenlos aufgelöst werden, der Boden den größeren Höfen zugeschlagen werden. Die so "freigesetzten Landwirte" auch das Arbeitskräftepotential der Industrie verstärken, vor allem aber den Siedlungszustrom für die Germanisierung der ehemals polnischen und russischen Ostgebiete gewährleisten.

Zugleich sollte diese gigantische Umwälzung mit einer "erbbiologischen" Überprüfung verbunden werden, damit mit "Altreich" und im Osten nur "rassisch wertvolle Bauernsippen den Bodden bestellen. Die "Minderwertigen" sollten sterilisiert oder "ausgemerzt" werden.

Zunächst wurde ein Bedarf von 770.000, im ersten „Generalplan Ost“ schon von 1,46 Millionen, später von 3,35 Millionen anzusiedelnden Neubauern ermittelt.“ 1,4 Millionen „rassisch Erstwertige“ Kleinbauern aus den „östlichen Gauen“ waren dafür vorgesehen.

Die Lücke sollte aus „rassisch Artverwandte“ die u.a. aus verschieden (europäischen) Gegenden stammen konnten, geschlossen werden. Um dafür „Platz zu schaffen“, sollten zwischen 30 bis 34 Millionen Russen jenseits des Urals nach Sibirien „transferiert“ werden.“

Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 4

Da die Mehrheit der einheimischen slawischen Völker für eine Eindeutschung sowie eine zukünftige Siedlungsstruktur als „ungeeignet“ angesehen wurde und eine „Germanisierung“ nur für einen kleinen Teil geplant war, plante man mit einer Besiedlung durch Volksdeutsche bzw. Nordeuropäer einhergehend gleichzeitig eine drastische Dezimierung der einheimischen Bevölkerung – insgesamt von 30 Millionen, davon im Einzelnen:

  • Vernichtung oder Vertreibung von 80–85 % der Polen
  • Vernichtung oder Vertreibung von 50–75 % der Tschechen;
  • Vernichtung von 50–60 % der Russen im europäischen Teil der Sowjetunion, weitere 15–25 % waren zur Verlegung in den Osten (d. h. zur Umsiedlung bzw. Vertreibung hinter den Ural, nach Sibirien) vorgesehen;
  • Vernichtung von 25 % der Ukrainer und Weißrussen, weitere 30–40 % der Ukrainer und weitere 30–50 % der Weißrussen sollten in den Osten „ausgewiesen“ werden.

Tatsächlich wurden im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg bis Kriegsende mehr als 30 Millionen Militärangehörige und Zivilisten osteuropäischer Staaten getötet.

Die Sowjetunion verlor 10 % ihrer Bevölkerung (die Ukraine und Weißrussland 25 %), Polen 17 %. Neben Russen, Ukrainern, Weißrussen, Polen, Tschechen, Slowaken, zählten ebenso Angehörige nicht-slawischer Völker (vor allem Juden, Roma und Sinti, aber auch Esten, Letten, Litauer, Tataren, Kaukasier, Karelier usw.) zu den Opfern.

Quelle: Generalplan Ost – Wikipedia

Der Generalplan Ost war zwar streng geheim, weil zurecht Widerstand befürchtet wurde. Aber auf Grund von Prahlereien der Gauleiters Koch wurde in der ostpreußischen NSDAP darüber gemunkelt. Hintergrund waren wohl Gerüchte aus seiner Stiftung, die weitergetragen wurden.

In der Nachbarstadt von Wilkental in Grünheide wohnte ein Zeitungsschreiber. Er war in der Gegend als ein „glühendes NSDAP-Pateimitglied" bekannt, der viel schwadronierte und auch gerne trank. Er hatte nach eigenen Aussagen angeblich "einen sehr guten Kontakt zur Kochstiftung". Nach Aussagen von Hildegard Kiehl, geborene Tuttlies, spekulierten er auch im Gasthaus Lerdon über "irgendwelche Pläne für neue deutsche Bauernhöfe in der Ukraine“. Er wollte sich angeblich sogar schon eine Landkarte-Karte gekauft haben. Die Mehrzahl der Zuhörer war eher skeptisch. "Was sollen wir da?" Die Informationen waren aber viel zu vage. Genaues war nicht bekannt. „Es blühten die Gerüchte. So richtig in die Ukraine wollte an sich keiner, die ist viel zu weit weg“. Ferdinand Tuttlies wollte aber auf alle Fälle in Ostpreußen bleiben. Hildegard Kiehl, die bei Bedarf im Gasthaus ihrer Schwiegereltern aushalf, konnte sich an den Namen des Zeitungsschreibers aber nicht mehr erinnern.


16.3 Wählerschaft des Nationalsozialismus

Die hauptsächlichsten Vorbereiter des Nationalsozialismus waren in unterschiedlichem Maße Unterstützer aus Großbetrieben, Landwirtschaft, Wissenschaft, Behörden und Kirchen. Entscheidend aber waren die Wahlen zum Reichstag. Bereits 1930–1932 hatten die Nationalsozialisten in den Bauernverbänden in großem Umfang Anhänger und Wählerstimmen gewonnen. Dies galt besonders im Ostpreußen. Am 5.3.1930 erhielt die NSDAP mit 56,5 % der abgegebenen Stimmen in den Wahlkreisen in Ostpreußen höchsten Stimmanteil im Deutschen Reich.

Sozialstruktur der NSDAP und ihre Führung 1933 und 1935 im Deutschen Reich
Mitglieder Führung Alterskohorten Mitglieder
1933 1935 1933 in Jahren 1933 1935
1. Arbeiter 31,5 30,3 22,0 18 - 20 1,8 3,5
2. Angestellte 21,1 19,4 23,4 21 - 30 40,4 34,1
3. Selbständige 17,6 19,0 19,7 31 - 40 27,8 27,9
4. Bauern 12,6 10,2 18,4 41 - 50 17,1 19,6
5. Beamte 6,7 12,4 10,9 51 - 60 9,3 11,2
6. Sonstige 10,5 8,5 3,1 61 - 3,6 3,7

Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 4


Sowohl die Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 als auch der Ablauf und Ausgang der Reichstagswahl vom 5. März 1933 führten in allen anderen Parteien Deutschlands zu Massenaustritten. Besonders betroffen waren die linksorientierten und sozialdemokratischen Parteien wie die KPD und die SPD, aber auch Parteien des Mitte-Rechtsspektrums. In der Folgezeit stellten Hunderttausende Deutsche einen Aufnahmeantrag für die NSDAP. Das galt besonders für die Gebiete mit über 55 prozentiger Wählerschaft der NSDAP, wie Ostpreußen.

Aus Angst vor “Konjunkturrittern” wurde von der NSDAP am 19. April 1933 eine allgemeine Mitgliederaufnahmesperre verhängt, welche bis1937 mit der Einführung des Parteianwärters gemäß Anordnung 18/37 des Reichsschatzmeisters der NSDAP vom 20.04.1937 schrittweise gelockert wurde. Wenngleich Parteianwärter nicht alle Rechte eines NSDAP-Parteimitgliedes beanspruchen durften, so oblagen ihnen dennoch alle Pflichten eines Parteigenossen, einschließlich der Melde- und Beitragspflicht. Die Parteianwärter-Eigenschaft wurde durch einen Aufnahmeantrag in die NSDAP begründet. Mit der Aushändigung der Mitgliedskarte erlosch der Anwärterstatus. Festgelegte Wartezeiten für Parteianwärter gab es nicht. Vielmehr sollten zwischen der Ausstellung der Parteianwärterkarte und der Aushändigung der Mitgliedskarte gemäß internen Arbeitsanweisungen nicht mehr als drei Monate vergehen.

"Während es auf der unteren Hierarchieebene durchaus offenen Zugang gab, wirken die oberen Entscheidungsränge, bereits vom Kreisleiter ab aufwärts, wie einbetoniert. Hier herrschte uneingeschränkt der Typus des "alten Kämpfers", der vor 1930 zur Partei gestoßen war. So gehörten 95 % der Gauleiter und 73 % der Kreisleiter zu den "alten Kämpfern". Zäh klammerten sich diese "braunen Bonzen" an ihr Amt. Hier zählten nur der ausschlaggebende Kontakt zu Hitler und der "Bewährung in der Kampfzeit". Verstoßen wurde ein" alter Kämpfer", auch wenn er gescheitert oder in die Kriminalität abgewandert war, so gut wie nie. Die Kaltstellung von Darré oder, sehr spät, von Göring; stellten eine auffällige Ausnahme dar." Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 4

Im Jahr 1929 besaß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) insgesamt 130.000 Mitglieder. Im Januar 1933 vor der der Machtergreifung waren es schon 850.000 Mitglieder, die Zahl stieg dann aber bis Ende 1933 trotz Mitgliedersperre sprunghaft auf über 2,6 Millionen Mitglieder an. Die Mitgliederentwicklung verlangsamte sich dann bis 1937, um dann bis zum Ende des Zeiten Weltkriegs weiter anzusteigen. Im Jahr 1945 hatte die NSDAP rund 8 Millionen Mitglieder. 1935 bestanden 10 % der NSDAP-Mitgliedern im Reich aus Bauern. Bis 1945 stieg der Anteil der Bauern unter den Parteimitgliedern auf 13 %. In Ostpreußen lagen die Zahlen jeweils um 3,5 bzw. 4 % höher. 1937 gehörten im Reich 63 % und in Ostpreußen 86 % aller Beamten der NSDAP an. Der größere Teil ist lt. Hans-Ulrich Wehler aus Opportunismus eingetreten.

Hildegard Tuttlies schätzt, dass von den 23 Höfen in Wilkental, es etwa Zweidrittel gab, auf denen häufig zumindest ein jüngeres Mitglied in der NSDAP bzw. in deren Unterorganisationen zu Hause war. "Es reicht, wenn einer dabei ist". Zwei oder drei junge Parteimitglieder sollen aber sehr aktiv gewesen sein. "Sie haben immer die größten Fahnen rausgehängt". Auf den restlichen Höfen lebten vermutlich überwiegend ältere Bewohner, die sehr reserviert gegenüber dem Nationalsozialismus waren. Nur etwa 4 % aller NSDAP-Mitglieder waren 60 Jahre und älter. Von den Tuttliesen war Max Tuttlies 1937 Parteimitglied geworden. Als er stolz zu Hause davon berichtete, das ist für das Geschäft gut, war die Antwort von Ferdinand Tuttlies "Lod me tofreden". Hildegrad Kiehl gehörte während ihres Jahres als Landjahresmädel bis zu ihrem 18. Geburtstag dem BDM an. Gerhard Kiehl am 01.10.1935 und Erich Tuttlies wurde 01.04.1938 zur Wehrmacht eingezogen. Das Wehrgesetz von 1935 verbot Soldaten die politische Betätigung. Parteimitgliedschaften mussten ruhen, sie waren ausgesetzt. Von den höheren Partei Chargen der NSDAP wurde dieses Verbot aber häufig durch ihre illegale Macht-Ausübung umgangen.


16.4 Struktur und Gliederung der NSDAP

Die Struktur der NSDAP war zentralistisch und straff hierarchisch. Als Massen- und Führerpartei machte sich die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei im NS-Staat zur einzigen legalen politischen Partei. Sie konkurrierte in außergewöhnlich hohem Maße mit staatlichen Behörden und übernahm zum Teil deren Aufgaben.

Streng nach dem Führerprinzip organisiert, konkurrierten die Gauleiter mit den staatlichen Strukturen, also mit den Reichsstatthaltern, die nach Auflösung der Länder die Ministerpräsidenten ersetzten. Sie versuchten sogar diesen Posten selber zu besetzen, was auch sehr oft gelang. Fast alle Gauleiter bauten sich in ihren Regionen deswegen ein eigenes Machtzentrum auf. Einige Gauleiter erhielten als Person und als Amtsträger große Macht in ihren Regionen. Dieser Macht-Zuwachs beruhte auf der Übertragung der regionalen Organisations- und Verbandsleitung auf den Verwaltungsapparat des Leiters des Gauamtes, der dem Gauleiter unterstellt war. Das betraf z. B. auf dem Lande besonders die Zuständigkeiten des Reichsnährstand. Nach Ausbruch der Zweiten Weltkrieges verlor aber der RNST erheblich an Einfluss. In der Praxis entstanden Probleme bei dem Verteilen seiner Zuständigkeiten. Hauptgrund für diesen Kompetenzwirrwarr waren die Machtkämpfe der NSDAP-Eliten untereinander und die höchst willkürliche Zuteilung administrativer Tätigkeiten auf den Kreisebenen durch die Gauleitungen.

Das Nebeneinanderbestehen von konkurrierenden Herrschaftsinstitutionen mit gleichen oder ähnlichen Kompetenzen charakterisiert die nicht klar abzugrenzende, ineinandergreifende Macht-Strukturen einer "Viel-Herrschaft" unterhalb des Führers. Besonders ausgeprägte war dieses im Herrschaftssystem des Nationalsozialismus zu finden, in dem Instanzen der NSDAP untereinander und mit staatlichen Einrichtungen rivalisierten. Bei Konflikten fielen die letztlichen Entscheidungen des Führers höchst unterschiedlich aus.

Die NSDAP teilte Deutschland bereits 1925 in zunächst 33, später 43 Gebiete (1941), die in Anlehnung an einen Begriff aus der mittelalterlichen Territorialverfassung Karls des Großen Gaue genannt wurden. Diese (Partei-)Gaue entsprachen den damaligen Reichstagswahlkreisen und traten nach 1933 neben die fortbestehenden Länder, welche durch die Gleichschaltungsgesetze (insbesondere durch das so genannte „Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 7. April 1933) in ihren Rechten erheblich beschränkt wurden.

Jedem Gau stand ein Gauleiter vor. In Ostpreußen war Erich Koch der Gauleiter. Nach einer Kaufmannslehre ging er als Anwärter für den mittleren Dienst zu den Preußischen Staatseisenbahnen. Er war in der Organisationsstruktur der NSDAP der regionale Verantwortliche der Partei und trug damit die politische Verantwortung für seinen Hoheitsbereich. Er erhielt die vollständige Disziplinargewalt und das Aufsichtsrecht über alle parteieigenen Organisationen und Verbände in seinem Gebietsbereich.

Erich Koch wollte Ostpreußen zum Mustergau entwickeln. Der Ostpreußenplan,1935 vom Rektor der Königsberger Universität Hans-Bernhard von Grünberg mitentwickelt, sollte Ostpreußen im Sinne von Gauleiter Koch zum Mustergau entwickeln. Doch durch die Kriegsvorbereitungen und die Nichtabstimmung mit anderen Planungen, blieb der Ostpreußenplan weitegehend Papier. Folgens war geplant: Mittelständische, über das ganze Land verteilte Industriebetriebe sollten die landwirtschaftlichen Rohstoffe weiterverarbeiten und so die Bauern von den Frachtkosten entlasten und neue Arbeitsplätze und damit Konsumenten schaffen. Außerdem sollten sie für den lokalen Konsum – von Lebensmitteln bis hin zu Landmaschinen – produzieren. Ein Teil der benötigten Industriebetriebe sollte mit den dazugehörenden Arbeitern vom Westen nach Ostpreußen verlegt werden. Eine bis anderthalb Millionen Menschen sollten auf diese Weise angesiedelt werden, um so die „Marktferne“ zu beseitigen und gleichzeitig die durch die geringe Bevölkerungszahl „nationalpolitisch“ gefährdete Provinz zu sichern. Die angebliche Gefahr einer schleichenden Polonisierung Ostpreußen wurde auch dazu benutzt, um den Aufbau unterstützende Sonderkonditionen wie niedrigere Steuersätze, günstigere Kredite oder die bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an ostpreußische Unternehmen zu begründen. Abgesehen von derartigen Fördermaßnahmen und einer grundlegenden Standortplanung sollte der Staat aber nur wenig in die Wirtschaft eingreifen, sie sollte weiterhin privatwirtschaftlich organisiert bleiben. Der Ostpreußenplan der Universität war nicht mit dem Generalplan Ost oder Plänen des RNST abgestimmt, was zu internen Spannungen und gegenseitigen Blockierungen führte. Von Grünberg fand in Wuppertal nach 1945 eine neue Heimat und arbeitete dort als Diplom-Volkswirt. Ab 1964 gehörte er dem Gründungsvorstand der NPD an. Später saß er im Bundesvorstand dieser Partei. Hans-Bernhard von Grünberg gehörte mit Karl Kaufmann, Friedrich Karl Florian und Wilhelm Meinberg zum inneren Führungszirkel des Naumann-Kreises, der den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik wieder an die Macht bringen wollte. Die Deutsche Reichspartei sah ihn 1955 als Mitglied ihrer Parteileitung. Ab 1964 gehörte er dem Gründungsvorstand der NPD an. Später saß er im Bundesvorstand. Quelle: Hans-Bernhard von Grünberg, Der Ostpreußenplan

Der ostpreußische Parteiführer Erich Koch war ein Multifunktionär. Er war Gauleiter und Oberpräsident Ostpreußens, Mitglied des Reichs- und Provinziallandtags sowie der Stadtverordnetenversammlung Königsbergs und des Preußischen Staatsrates, „Reichsredner“, Eigentümer und Herausgeber der regionalen Parteizeitung, Präses der Provinzialsynode der Kirchenprovinz Ostpreußen, Leiter der Ostpreußischen Verwaltungsakademie, Vorsitzender diverser Gremien in Staat und Wirtschaft, Gründer und alleiniger Vorstand der „Erich-Koch-Stiftung“, „Überleitungskommissar für die Eingliederung des Memellandes“, Führer der Besatzungsverwaltung im „Regierungsbezirk Zichenau“ (Ciechanów), „Chef der Zivilverwaltung“ im „Bezirk Białystok“ sowie „Reichskommissar für die Ukraine“ und zeitweise für das „Ostland“. Von Koch ging auch ein starker psychologischer Druck aus, denn er soll nicht nur häufig massive Drohungen ausgesprochen haben, er stand auch im Ruf, seine Widersacher kurzerhand ins Gefängnis, ins Konzentrationslager oder gar in die Irrenanstalt einweisen zu lassen. In einigen Fällen soll er sogar selbst handgreiflich geworden sein.

Fast alle Gauleiter waren Mitglied der SA oder der SS. Die Gauleiter waren in den meisten Fällen schon vor 1933 in der NSDAP vertreten und Hitler persönlich bekannt. Bereits 1933 hatten 22 von 30 Gauleitern auch ein hohes Staatsamt eingenommen – als Reichsstatthalter, Oberpräsidenten oder Minister. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 wurden die meisten Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren und ab Oktober 1944 auch Verantwortliche für die Aufstellung des Volkssturms.

Unter dem abgeschotteten Führer fand sich eine gemischte Gauleiter-Clique ein. Von den Gauleitern des Jahres 1933 waren 16 Angestellte oder Beamte, sechs Volksschullehrer, drei Arbeiter, drei besaßen einen Universitätsabschluss, zwei hatten ein Gymnasium besucht und 23 die Volksschule, die Hälfte war jünger als 40. Auf der Gauleiter Ebene wurde versucht, selbst beim kriminellen Vergehen, die Genossen in der Partei zu halten. Ein Beispiel ist der Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch und seine Stiftung

Die Stiftung wurde 1933 gegründet und diente anfänglich dazu, den Verlag des Gauorgans Preußische Zeitung in Königsberg, dessen Geschäftsanteile Koch gehörten, dem Zugriff von Adolf Hitlers Pressebeauftragten Max Amann zu entziehen. Dieser hatte von Hitler den Auftrag, die Verlage aller Gauorgane samt deren Gewinnen im Münchner Eher-Verlag zu vereinigen und sie so unter zentrale Kontrolle der NS-Führung zu bringen. Dies verhinderte Koch durch die Stiftung, deren Stiftungszweck die „Erziehung, Förderung und Ausbildung von Nationalsozialisten, insbesondere für die Aufgaben Ostpreußens“ war. Alleiniger Vorstand auf Lebenszeit war laut Satzung Erich Koch. Somit verfügte Koch über die Verwendung der Stiftungserträge, war formal allerdings an den Stiftungszweck sowie durch die jährliche Beratung des Verwaltungsrates gebunden. Als allein verfügungsberechtigter Vorstand der Stiftung war er de facto deren Eigentümer und nutzte ihr Vermögen für seine persönliche Lebenshaltung – ab 1938 wohnte er in dem der Stiftung gehörenden und großzügig ausgebauten Gut Groß Friedrichsberg in der Nähe Königsbergs, 1943, als er die Stiftung der Provinz schenkte, ließ er im Schenkungsvertrag „freies Wohnrecht und Unterhalt“ für sich und seine nächsten Angehörigen festschreiben.

Die Stiftung wuchs mit dem wirtschaftlichen Aufbau von Ostpreußen. Am Ende war die Stiftung ein gigantischer Mischkonzern, der im Verlaufe des Krieges riesige Vermögenswerte zum Teil durch Raub und Rechtsbruch ansammelte. Aus der Parteizeitung der NSDAP Ostpreußen entstanden, wurden ihr die meisten ostpreußischen Zeitungen einverleibt, außerdem gründete sie im Zuge einer von Koch forcierten, groß angelegten Infrastrukturreform für Ostpreußen mit Staatshilfe zahlreiche Betriebe in der Lebensmittelindustrie und im Baugewerbe. 12 bestehende Betriebe und 7 Gutshöfe wurden gegen den Willen ihrer Eigentümer in die Stiftung überführt, darunter auch jüdische Unternehmen, die auf diese Weise „arisiert“ wurden. Als allein verfügungsberechtigter Vorstand der Stiftung war er de facto deren Eigentümer und nutzte ihr Vermögen für seine persönliche Lebenshaltung – ab 1938 wohnte er in dem der Stiftung gehörenden und großzügig ausgebauten Gut Groß Friedrichsberg, 1943, als er die Stiftung der Provinz schenkte, ließ er im Schenkungsvertrag „freies Wohnrecht und Unterhalt“ für sich und seine nächsten Angehörigen festschreiben.

Die Stiftung entwickelte sich so zu einem Großkonzern, dessen einziger Nutznießer der Gauleiter war. Mithilfe der Erich-Koch-Stiftung machte sich der Gauleiter zum reichsten Ostpreußen. Die Stiftung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst.

In der Propaganda avancierte der Gauleiter schnell zum „Vater der Provinz“, und Ostpreußen wurde zum nationalsozialistischen „Mustergau“. Koch gelang es mit dem so genannten „Erich-Koch-Plan“, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als einen der größten wirtschaftlichen Erfolge innerhalb des Deutschen Reiches darzustellen. Tatsächlich beruhte die Aktion auf Zwangswirtschaft und Korruption. Kochs Korruption war der Öffentlichkeit kaum bekannt und wurde von Hitler hingenommen. Koch meldete als erster Gauleiter die vorgebliche Beseitigung der enormen Arbeitslosigkeit, ungeachtet dessen, dass sein Gau Ostpreußen der strukturschwächste des Reiches war. Auch in der Gleichschaltung der Verwaltung und in der Bekämpfung der politischen und kirchlichen Opposition war Koch nach NS-Maßstäben erfolgreich. Ostpreußen galt als NS-Mustergau.

1935 kam es zu einem Machtkampf zwischen Koch und Königsberger Gestapoleiter Bach-Zelewski. Dieser sammelte im Auftrag Himmlers dazu Hunderte von Belastungszeugen, um Koch Korruption nachzuweisen. Als sich Koch jedoch unzugänglich zeigte, richtete der Bach-Zelewski am 20. September 1935 eine Denkschrift von 75 Schreibmaschinenseiten an Adolf Hitler, Titel: »Über die gesetzlosen Zustände im Gau Ostpreußen in Partei und Verwaltung unter der verantwortlichen Führung des Gauleiters und Oberpräsidenten Erich Koch.«  Die gegen Koch in einem Dossier zusammengetragenen Vorwürfe bezogen sich vor allem darauf, dass er "gezielte Tötungsaufträge gegen persönliche Feinde erlassen habe" und korrupten sei und seiner Entourage "Mord, Raub, Blutschande, Ehebruch" gestattet habe, solange sie nur seine politische Linie mitmachte; andernfalls, so hätte er gedroht, würde er sie "umlegen" lassen. Von Koch ging auch ein starker psychologischer Druck aus, denn er soll nicht nur häufig massive Drohungen ausgesprochen haben, er stand auch im Ruf, seine Widersacher kurzerhand ins Gefängnis, ins Konzentrationslager oder gar in die Irrenanstalt einweisen zu lassen. In einigen Fällen soll er sogar selbst handgreiflich geworden sein. Er trat auch gegenüber hohen Beamten sehr grob auf, wenn es galt, seinen Machtbereich zu verteidigen. Koch schreckte schließlich nicht davor zurück, Richter, die sich nicht willfährig genug zeigten, massiv unter Druck zu setzen. Koch wurde am 26. November 1935 von Göring aller seiner Ämter enthoben. Am 22. Dezember setzte Hitler Koch aber wieder in die alte Machtfülle ein; Himmler sprach fortan nur noch von „diesem Schweinehund Koch“. 1938 wurde Koch zum SA-Obergruppenführer ernannt." Erich von dem Bach-Zelewski war ein deutscher SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und General der Polizei. Er war als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland-Mitte am Holocaust und später als „Chef der Bandenkampfverbände“ maßgeblich an den Massenmordaktionen in der Sowjetunion beteiligt. Im August 1944 befehligte er die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Wegen der Ermordung von Kommunisten im Jahr 1933 wurde er 1962 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Ab 1. September 1941 nahm Koch auch die Funktionen eines Reichskommissars für das Reichskommissariat Ukraine wahr. Damit wurde Koch der mächtigste Mann Osteuropas. Sein „Herrschaftsbereich“ reichte im September 1942 von Königsberg über Zichenau, Białystok, Kiew, Nikolajew und Poltawa bis zum Schwarzen Meer und auf die Ostseite des Dnepr. Er umfasste deutsches, polnisches und ukrainisches Gebiet." Quelle: Erich-Koch-Stiftung – Wikipedia und Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter - Erich Koch eine politische Biographie

Quelle: Struktur der NSDAP – Wikipedia

Die NSDAP übernahm zur räumlichen Organisation auch in Ostpreußen die damaligen Reichstagswahlkreisen. Diesen Kreisen stand ein NSDAP Kreisleiter vor. Er wurden ab 1933 hauptamtlich aufgestellt. Ihm untergeordnet war der Ortsgruppenleiter. Dieser gehörte dem „Korps der Politischen Leiter“ an und war nebenberuflicher „Amtswalter“ der Partei. Ihm unterstand wiederum der ebenfalls nebenberufliche Blockleiter.

Der Kreisleiter der NSDAP stand ab 1933 an der Spitze einer eigenen Dienststelle der „Kreisleitung“, mit einem Stab von Mitarbeitern. Er erhielt seine Befehle vom Gauleiter und bekleidete somit – von der geographischen Verwaltung aus gesehen – den vierthöchsten Posten in der NSDAP nach dem Gauleiter, dem Stellvertreter und dem Führer. Die Dienststellung des Kreisleiters entsprach der eines stellvertretenden Gauleiters, eines Gauhauptamtsleiters oder eines Reichsamtsleiters.

Kreisleiter der NSDAP (Land-Kreis Insterburg im Gau Ostpreußen)
1931 Waldemar Weißeel: Ortsgruppenleiter der NSDAP in Insterburg, Verbleib unbekannt, nebenamtliche Position
1932 Erich Post, versetzt 1933 als Kreisleiter der NSDAP nach Rosenberg i. Westpr. und Marienwerder, nebenamtliche Position, Quelle: Erich Post – Wikipedia
1933 Gerhard Kohlhoff aus Gerdauen: Kreisleiter der NSDAP, versetzt in den RNST, hauptamtliche Position
1933 Otto Bochum aus Tilsit: Kreisleiter der NSDAP, versetzt 1934 als Kreisleiter der NSDAP nach Stallupönen, hauptamtliche Position
1934 Erich Fuchs, hauptamtliche Position, versetzt in die NS-Volkswohlfahrt, Quelle: Erich Fuchs (Politiker) – Wikipedia
1935 Dr. Heinz Schwendowius: Oberbürgermeister in Insterburg, hauptamtliche Position, Quelle: Heinz Schwendowius – Wikipedia
1943 Otto Heuer: Bannführer der HJ, vorher Hauptabteilungsleiter in der Behörde des Reichsjugendführers, Soziales Amt, Berlin, Position hauptamtlich

Quellen: Landkreis Insterburg (territorial.de) und Kategorie:Kreisleiter (NSDAP) – Wikipedia

Danach oblagen auf der Kreisstufe in Insterburg

  • die Menschenführung dem Kreisleiter der NSDAP,
  • die Verwaltung dem Landrat beziehungsweise dem Oberbürgermeister.

Jede gegenseitige Einmischung sei zu unterlassen. Alle Stellen sollten aber eng und verständnisvoll zusammenarbeiten. Bei den Kreisleitern Post, Kohlhoff, Bochum und Fuchs kam es aber zu frühzeitigen Auswechselungen. Über den Kreisleiter Waldemar Weißeel ist nichts bekannt.

Die jährlichen Wechsel bis 1935 im Amt der Kreisleitungen in Insterburg, lassen sich mit vorhandenen Problemen wie Alkoholismus oder Kriminalität erklären. Trotzdem wurde versucht, diese Personen in der Partei auch durch das Versetzen auf andere Posten zu halten. Bei den Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleitern sah es anders aus. Nach 1933 setzte eine enorme Fluktuation unter der niederen den Funktionärsposten ein. Zwischen 1933 und 1935 schieden 40.153 Parteifunktionäre aus, die vor dem 30. Januar 1933 in die NSDAP eingetreten waren. Das entspricht einer Fluktuation von fast 20 Prozent. In dieser Zeit wurden 53,1 Prozent der Kreisleiter- und 43,8 Prozent der Ortsgruppenleiter-Stellen neu besetzt. Quelle: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – Wikipedia

Dem Ortsgruppenleiter unterstanden nicht nur die NSDAP-Parteimitglieder (mindestens 50 und höchstens 500), sondern alle Haushalte (mindestens 150 und höchstens 1500) in der Ortsgruppe. Auch waren dem Ortsgruppenleiter die Zellen- und Blockleiter unterstellt. Er selbst war dem Kreisleiter der Partei verantwortlich und wurde von diesem dem Gauleiter zur Ernennung vorgeschlagen. Als Stellvertreter verfügte der Ortsgruppenleiter über einen Adjutanten, den Stützpunktleiter, dessen Amt 1939 aufgelöst wurde. Die Ortsgruppe bestand meistens aus acht Zellen und sollte möglichst nicht die Grenzen einer Gemeinde überschreiten; dennoch konnte in ländlichen Gebieten eine NSDAP-Ortsgruppe durchaus mehrere Gemeinden umfassen.

Es war Aufgabe des Ortsgruppenführers, „durch geeignete Veranstaltungen die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten“ und „sich durch die der Gemeindevertretung angehörenden Politischen Leiter seines Stabes über kommunale Vorhaben und Beschlüsse Bericht erstatten zu lassen und nötigenfalls Meldungen an den Beauftragten der Partei zu machen“. Dieser „Beauftragte der Partei“ war in der Regel der übergeordnete NSDAP-Kreisleiter. Der Ortsgruppenleiter war für die „Belange der gesamten Bevölkerung eines Ortes“ und nicht nur für die Partei-Mitglieder verantwortlich. Der Ortsgruppenleiter residierte in der „Ortsgruppendienststelle“, in der auch die örtlichen Vertreter der DAF, der NS-Frauenschaft und der NSV untergebracht waren. Die obersten Vertreter dieser örtlichen Teilorganisationen der NSDAP bildeten zusammen mit dem Ortsgruppenleiter den „Ortsgruppenstab“, der für Schulungen, Organisation und Propaganda in der Ortsgruppe verantwortlich war.

Der Ortsgruppenleiter war beauftragt, Fragebögen nicht nur über Mitglieder der NSDAP, sondern auch über alle Einwohner eines Ortes anzufertigen: In 45 Fragen wurde die politische Zuverlässigkeit im Sinne des Nationalsozialismus überprüft

Die parteirechtliche Funktion des Ortsgruppenleiters entsprach eigentlich derjenigen des Vorsitzenden einer Parteigliederung auf der Ebene einer Kommune; faktisch kontrollierte jedoch der jeweilige Ortsgruppenleiter sogar den Bürgermeister oder Oberbürgermeister und durfte sich ihm gegenüber unter Missachtung von Recht und Gesetz Weisungsbefugnisse anmaßen. Dabei waren die Zuständigkeiten zwischen der staatlichen Organisation und der Parteigliederung keineswegs klar abgegrenzt. Die Funktionsträger – einerseits der Bürgermeister und andererseits der Ortsgruppenleiter – verfolgten häufig unterschiedliche Ziele und agierten teils miteinander, teils gegeneinander. Die fehlende Konturierung der Zuständigkeiten führte mitunter zu chaotischen Zuständen, welche die Verunsicherung der Bevölkerung beförderte. Vor allem bei geringer Siedlungsdichte im ländlichen Raum wurde die Funktionsebene des Zellenleiters auch eingespart und die Aufgaben vom Ortsgruppenleiter selbst übernommen. Dies war auch im Landkreis Insterburg der Fall.

Der für Wilkental zuständige Ortsgruppenleiter saß in Aulenbach.

Die Dienstbezeichnung Blockleiter der NSDAP (Blockwart) gab es in der NSDAP-Parteiorganisation ab 1933. Der Name leitet sich vom innerstädtischen Häuserblock ab. Ein Blockleiter war für 40 bis 60 Haushalte („Wohngemeinschaften einschließlich Untermieter“) mit durchschnittlich rund 170 Personen zuständig. Blockleiter gab es während der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern, wo ein „Blockwart“ mehrere Bauernhöfe, Handwerksbetriebe und Arbeiterhäuser einer entsprechenden Gemeinde überwachte.

Vom Hauptschulungsamt der NSDAP wurden die Aufgaben eines Blockleiters 1940 so beschrieben: „Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern. Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten.“ Seine Aufgaben waren tatsächlich umfassend:

  • Als Propagandist der nationalsozialistischen Ideologie musste er für deren Verbände werben, Schulungsmaterial ausgeben, Beiträge kassieren, für Winterhilfswerk und Eintopfsonntag sammeln lassen sowie als Vermittler für die Volkswohlfahrt auftreten.
  • Zur Durchsetzung der Rassenpolitik meldete er „Judenfreunde“ und achtete auf die genaue Befolgung schikanöser Vorschriften wie des Verbots für Juden, ein Haustier zu halten. Auch listete er jüdischen Besitz und jüdische Wohnungen auf.
  • Als Organisator der „Inneren Front“ besorgte er die Verteilung von Lebensmittelkarten, sorgte für das Entrümpeln der Dachböden und das Einhalten der Verdunkelung im Rahmen des Luftschutzes. Er betreute die Ausgebombten und organisierte in der Endphase des Krieges den Volkssturm.
  • Zur politischen Überwachung führte er eine normierte Haushaltskartei, notierte Unmutsäußerungen und das Verhalten bei Beflaggung, gab Leumundszeugnisse ab und war allgegenwärtiger Ansprechpartner für Denunziationen

Auch Mitglieder der staatlichen Verwaltungsbehörden waren in Ostpreußen dem Nationalsozialismus zugeneigt. 1935 waren hier 86 % aller Beamten Parteimitglieder.

Karl Moritz Friedrich Wilhelm Graf von der Groeben (* 10. September 1902 auf Herrenhaus Divitz; † 1. Januar 1989 in Lübeck) war ein deutscher Verwaltungsjurist und Landrat. Der Regierungsrat Dr. Karl Graf von der Groeben stand im Landkreis Insterburg als Landrat von 1935 bis 1945 der öffentlichen Verwaltung vor. Graf von der Groeben war promovierter Doktor der Rechte und lebte auf Gut Neudörfchen bei Marienwerder. Er wirkte von 1935 bis 1945 als Landrat im Landkreis Insterburg. Am 1. April 1932 trat er in die NSDAP (Mitgliedsnummer 1.118.812) ein. Ihm wurde von nationalsozialistischer Seite "eine vertrauensvolle Parteiarbeit" bescheinigt. In den Jahren 1939 bis 1940 wurde er vertretungsweise als Landkommissar in Mława eingesetzt, dem zukünftigen Landkreis Mielau, im von Polen annektierten Regierungsbezirk Zichenau. Nach Kriegsende arbeitete er ab 1949 als Ministerialrat im Sozialministerium in Rheinland-Pfalz. Des Weiteren war er stellvertretender Bundessprecher der Landsmannschaft Westpreußen Quelle: Karl von der Groeben (Landrat) – Wikipedia

Heinz Schwendowius, ausgebildeter Jurist, war ab 1934 Bürgermeister und von 1934 bis 1941 Oberbürgermeister der Stadt Insterburg in Ostpreußen. Am 1. Dezember 1931 trat Schwendowius in die NSDAP ein. Er war als Rechtsberater und Verteidiger für die Partei tätig. 1932 wurde er zunächst Ortsgruppenleiter und danach Kreisleiter der NSDAP in Marienburg. Im März 1932 wurde er auch Kreisleiter für den Kreis Stuhm. Ab 1933 amtierte er als Landrat und Gauinspekteur der NSDAP in Marienburg. Am 1. November 1934 wurde Schwendowius, aus Marienburg kommend, für zwölf Jahre zum Oberbürgermeister von Insterburg vereidigt. 1941 wurde er als Stadt- und Kreiskommissar nach Bialystok berufen.

Hans Ehmer war Bürgermeister in Aulenbach und Parteimitglied. Er war Gutsbesitzer und besaß 195 ha, davon 135 Acker, 20 Wiesen, 33 Weiden, 5 Holzungen, 1 Hof, 1 Wasser, 35 Pferde, 120 Rinder, davon 55 Kühe, 60 Schweine; Anerkannte Saatgutwirtschaft, Zuchtviehverkauf; Telefon: Aulowönen Nr. 8

Curt Stamm, war Ortsgruppenleiter in Aulenbach und Besitzer einer Buchdruckerei

Wilhelm Mikuteit war Bürgermeister, Parteimitglied und Blockeiter in Wilkental. Er war Großbauer mit 15,75 ha Land

Hildegard Tuttlies war bekannt, daß der Ortsgruppenleiter von Aulenbach, Curt Stamm, Besitzer einer Buchdruckerei, dort ein Büro hatte. "Die älteren Dorfschüler aus Lindenhöhe mussten von dort immer Pakete mit Flugblättern abholen, um sie in den heimatlichen Dörfern zu verteilen. Einige Hofhunde waren damit nicht einverstanden. Zwei "schlaue" Schüler beklagten sich auch darüber, denn in den Dörfern, wie Wilkental, wäre das Verteilen eigentlich eine Aufgabe des dortigen Blockleiters gewesen. In Wilkental war das Herr Wilhelm Mikuteit, der dort zugleich Bürgermeister war. Was Herr Mikuleit aber immer gemacht hat, war nachzusehen, ob die Flugblätter tatsächlich verteilt wurden. Er hatte wohl auch mit allen Hofhunden ein Abkommen."


16.5 Veränderungen in der Verwaltung während des Nationalsozialismus

Die Verwaltung in Ostpreußen erfuhr ab 1933 organisatorische und ab 1939 auch räumliche Veränderungen:

Am 22. März 1939, eine Woche nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, schloss die litauische Regierung unter starkem Druck mit dem Deutschen Reich einen Übergabevertrag (Deutsch-litauischer Staatsvertrag).

Litauen war gezwungen, auf das deutsche Ultimatum an Litauen vom 20. März 1939 zu reagieren, zog daraufhin seine Truppen und Behörden ab und erhielt im Gegenzug eine Freihandelszone in Memel sowie freies Wegerecht für 99 Jahre. Das Memelland wurde in die Provinz Ostpreußen eingegliedert und kam unter Wiederherstellung der historischen Kreiseinteilung zum Regierungsbezirk Gumbinnen. Memelländer, die ihre deutsche Staatsbürgerschaft wegen der Abtretung an Litauen verloren hatten, wurden wieder deutsche Staatsbürger.

Nach dem Überfall auf Polen wurde zum 26. Oktober 1939 der Landkreis Ciechanów – in Zichenau umbenannt – als Teil des neuen gleichnamigen Regierungsbezirks der Provinz Ostpreußen und damit völkerrechtswidrig vom Deutschen Reich annektiert. Der polnische Regierungsbezirk Zichenau (polnisch Ciechanów) war ein nach der deutschen Besetzung Polens 1939 gebildeter und völkerrechtswidrig der preußischen Provinz Ostpreußen angegliederter Regierungsbezirk im Deutschen Reich. Er umfasste ein Territorium von 13.186,4 km² und hatte eine Bevölkerung von ca. 895.000 Einwohnern. Hiervon waren 800.000 polnischer, 80.000 jüdischer und 15.000 deutscher Herkunft.

Während des 3. Reiches wurde Ostpreußen nicht nur räumlich neu gegliedert, auch die Verwaltung bekam einen neuen Leiter. Am Tag der Machtergreifung ernannte Adolf Hitler Herman Göring zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich, zum Reichskommissar für den Luftverkehr und zum Reichskommissar für das preußische Innenministerium. Am 11. April 1933 wurde Göring auch Ministerpräsident Preußens. In Preußen tauschte Ministerpräsident Göring im Verlauf des Jahres 1933 alle zehn Oberpräsidenten aus, fünf der Ämter gingen an Gauleiter, die anderen an verdiente Parteigenossen oder Honoratioren, von deren „Inthronisation“ sich die nationalsozialistische Führung Vorteile versprach.

Foto: Ehemaliger Gauleiter Erich Koch 1985 im Staatsgefängnis in Barczewo, Woiwodschaft Olsztyn, Volksrepublik Polen. Er starb dort 1986, Quelle: erich koch - Bing

Ab 1928 war Erich Koch Gauleiter der NSDAP in der preußischen Provinz Ostpreußen. Von September 1930 bis 1945 vertrat er den Wahlkreis Ostpreußen im Reichstag (Weimarer Republik) und im Reichstag (Zeit des Nationalsozialismus). Nach dem Wahlsieg der NSDAP bei der Reichstagswahl März 1933 erhielt er - trotz lokalem Widerstand - das staatliche Amt eines Preußischen Staatsrats. Er drängte den ostpreußischen Oberpräsidenten Wilhelm Kutscher aus dem Amt und machte sich zu seinem Nachfolger. Im August 1933 übernahm er auch das Amt des Präses der Provinzialsynode der Kirchenprovinz Ostpreußen. Im Zweiten Weltkrieg war er von 1941 bis 1945 Chef der Zivilverwaltung im besetzten Bezirk Bialystok und von 1941 bis 1944 Reichskommissar im Reichskommissariat Ukraine. 1950 von der britischen Militärregierung in Deutschland an Polen ausgeliefert, wurde er dort 1959 zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde ein Jahr später aus formalen Gründen in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Quellen: Erich Koch – Wikipedia und Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter - Erich Koch eine politische Biographie

In einer strengen Hierarchie waren Koch als Gauleiter die Kreisleiter, die Ortsgruppenleiter, die Zellenleiter und die Blockleiter der NSDAP untergeordnet. Durch die Vorgaben der NSDAP in Person der Kreisleiter wurden die Aufgaben der Bürgermeister und Schöffen in den Kreisen neu, aber auch unterschiedlich geregelt und bewertet, was zu einem Durcheinander der Verwaltungsabläufe führte. Die NSDAP als Partei stand auf dem Lande in permanenter Konkurrenz zum Reichsnähstand und zur bestehenden staatlichen Verwaltung. Abgemildert wurde dieser Zustand scheinbar, wenn die zwei oder gar drei dieser Funktionen in einer Person auftraten.

Die Deutsche Gemeindeordnung (DGO) vom 30. Januar 1935 löste das zuvor geltende von den deutschen Ländern geschaffene Kommunalverfassungsrecht ab (66 verschiedene Städte- und Gemeindeordnungen für rd. 68 Mio. Einwohner in über 51.000 Gemeinden) und schuf in Deutschland eine „reichsweit“ einheitliche, zentralistische gesetzliche Regelung. Mit der Einführung wurden die landesrechtlichen Gemeindeverfassungen u.a. das Preußische Gemeindeverfassungsgesetz von 1933 aufgehoben. Die kommunale Selbstverwaltung blieb zwar nominell als Konstrukt erhalten: Die Gemeinden "verwalten sich unter eigener Verantwortung", faktisch jedoch wurde sie abgeschafft: Es gab weder eine gewählte Vertretungskörperschaft die Gemeindevertretung noch ein gewähltes Verwaltungsorgan den Gemeindevorstand. Wahlen durch die Gemeindebewohner oder gewählter Vertreter (Schöffen) gab es ebenfalls nicht mehr.

„Gemeinderat“ gab es nur noch als Bezeichnung für eine Person, einen Gemeinderat als Kollegialorgan gab es nicht mehr: Das Wort „Gemeinderat“ ist nicht eine Bezeichnung für eine Versammlung, sondern eine Bezeichnung für eine Person und Die Gemeinderäte sind nicht wie die früheren Gemeindevertreter Inhaber eines Mandats, das ihnen eine politische Partei oder die Wahl der Bürgerschaft verlieh, sondern auf Grund besonderen Berufungsverfahrens durch die NSDAP ausgewählte Ehrenbeamte der Gemeinde. Anstelle der Wahl durch die Gemeindebewohner musste die Berufung der Gemeinderäte durch den Beauftragten der NSDAP treten. Der Bürgermeister war nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, wichtige Angelegenheiten der Gemeinde mit den Gemeinderäten zu beraten. Andererseits waren die einzelnen DRäte verpflichtet, den Bürgermeister „eigenverantwortlich“ (aus eigenem Antrieb) zu beraten. In vielen Gemeinden wurden - wenn es der NSPAP passte - Großbauern zu Gemeinderäten. "Kleinbauern fehlten angebliche Verwaltungserfahrungen, passen aber auch nicht die das Raumordnungskonzept der NSDAP" Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 3 , siehe auch: weiter unten: 18. Generalplan Ost

Die Leiter der Gemeinde führten fortan im gesamten Deutschen Reich die Bezeichnung „Bürgermeister“ oder in den kreisfreien Städten „Oberbürgermeister“ bzw. in den Landkreisen "Landrat". Die Festlegung der Befugnisse und Stellung des Bürgermeisters, Oberbürgermeisters oder Landrates erfolgte im Sinne des Führerprinzips durch Berufung von oben. Der Beauftragte der NSDAP für die Berufung der Oberbürgermeister und Landräte war der Gauleiter, für die Bürgermeister war es der Kreisleiter.

Danach oblagen auf der Kreisstufe in Insterburg

  • die Menschenführung dem Kreisleiter der NSDAP,
  • die Verwaltung dem Landrat beziehungsweise dem (Ober) Bürgermeister.

Die Position wurde in Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern hauptamtlich für zwölf Jahre besetzt und sollte – von begründeten Ausnahmefällen abgesehen – in den übrigen Gemeinden ehrenamtlich für sechs Jahre besetzt werden. Zur Vertretung des Bürgermeisters standen diesem ebenfalls berufene Beigeordnete zur Seite.

Jede gegenseitige Einmischung sei laut GDO zu unterlassen. In der Praxis gab es aber keine Entscheidungen des Landrates oder der (Ober) Bürgermeister, die der NSDAP nicht genehm waren oder gar widersprachen. Bei Streitigkeiten entschied immer der Gauleiter

Die deutsche Polizei wurde ab 1933 zentralisiert und dann 1936 in zwei Dienstzweige unterteilt: die Ordnungspolizei und die Sicherheitspolizei. Diese Zweiteilung war 1919 bereits in der Weimarer Republik eingerichtet, dann aber 1920 von der alliierten Verwaltung verboten worden.

Zuständig für die Neuorganisation war Heinrich Himmler, der 1936 als „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium“ dem Innenminister und Hitler direkt unterstellt war.

Die uniformierte Polizei (Schutzpolizei, Gendarmerie, Gemeindepolizei) wurde organisatorisch im „Hauptamt Ordnungspolizei“ zusammengefasst. Es war dem Reichsministerium des Inneren unterstellt. Es hatte seinen Sitz in Berlin, Unter den Linden, und bestand bis zum Kriegsende 1945. Die Leitung der Ordnungspolizei wurde gemäß Durchführungserlass 1936 General der Polizei und SS-Oberstgruppenführer Kurt Daluege übertragen, im September 1943 folgte ihm der General der Polizei und SS-Obergruppenführer Alfred Wünnenberg. Ihre Dienststellung war „Chef der Ordnungspolizei“.

Die nicht uniformierte Sicherheitspolizei setzte sich aus Kriminalpolizei (Kripo) und Geheimer Staatspolizei (Gestapo) zusammen. Die Leitung des "Hauptamtes Sicherheitspolizei" bekam 1936 SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, der seit 1933 im Auftrag Himmlers aus den politischen Polizeien der Länder den Sicherheitsdienst (SD) aufgebaut hatte. Im folgte 1943 Ernst Kaltenbrunner. Die Sicherheitspolizei besorgte die Verfolgung schwererer und insbesondere politischer Delikte im Reich wie im besetzten Ausland. In den besetzten Gebieten wurde vom SD ein Terror- und Mordregime ausübte. 1939 war der Aufbau des SD abgeschlossen und das Hauptamt Sicherheitspolizei in "Reichssicherheitshauptamt (RSHA)" umbenannt. Hauptsitz des RSHA war das Prinz-Albrecht-Palais in der Wilhelmstraße. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) war eines von zwölf SS-Hauptämtern in der Zeit des Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkrieges die zentrale Behörde im Repressionsapparat der NS-Diktatur. In dieser Verklammerung von SS und Polizei waren beide über Himmler ausschließlich an den „Führer“ gebunden. Das RSHA als Polizei der SS unterstand in dieser Konstellation ebenso wenig der Verfügungsgewalt des Innenministers oder die militärischen SS-Formationen, die auch nicht der Verfügungsgewalt der Wehrmacht unterstanden. Damit war eine Kontrolle durch traditionelle Verwaltungsabläufe ausgeschaltet. Die neben der organisatorischen, war räumliche Trennung zwischen Ordnungspolizei und Sicherheitspolizei waren ein weiterer Beleg für die jeweils gewollten Eigenständigkeiten der beiden Institutionen.


16.5.1 Beamte im Nationalsozialismus

"In der Zeit des Nationalsozialismus wirkte die herrschende Staatstreue der Beamten regimeerhaltend, da auch verbrecherische Maßnahmen, wenn sie nur formaljuristisch korrekt waren, von der überwiegenden Mehrzahl der ausführenden Beamten mitgetragen oder zumindest geduldet wurden." Quelle: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 4.

1937 gehörten im Reich 63 % und in Ostpreußen 86 % aller Beamten der NSDAP an. Der größere Teil ist lt. Hans-Ulrich Wehler aus Opportunismus eingetreten. Anzutreffen waren darunter auch der sogenannte "Gesinnungsbeamte" in den Verwaltungen. Diese Beamtengruppe zeichnete sich durch sehr hohe Zustimmung und aktives Handeln im Sinne des Nationalsozialismus aus. Sie gab es in allen Stufen der Beamtenschaft, besonders aber in der Justiz. Eine juristische Ausbildung war die Voraussetzung für die höhere Beamtenlaufbahn. "Ein Großteil der Vorgesetzte in der Justiz kontrollierten schon in der Frühzeit des Nationalsozialismus die "rechte Gesinnung" ihrer Untergebenen aus eigenem Antrieb. Auch war teilweise das Herkunfts-Milieu und besonders aber einige der Ausbildungs- und Karriere-Stationen der jungen Männer für faschistische Gedankengut empfänglich." Frauen wurden aber systematisch verdrängt . Ab 1936 durften Juristinnen weder Richterin, Staatsanwältin oder Rechtsanwältin werden noch leidende Positionen in der öffentlichen Verwaltung oder im Schuldienst bekleiden. Quellen: Ungesühnte Nazijustiz – Wikipedia und Furchtbare Juristen – Wikipedia

Ab 1937 wurde die Gesinnung auch rechtlich abgesichert. Durch das Deutsche Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 (RGBl. I, S. 39) wurden Beamte in den Dienst der nationalsozialistischen Bewegung gestellt. Ein „von nationalsozialistischer Weltanschauung durchdrungenes Berufsbeamtentum, das dem Führer des Deutschen Reichs und Volkes, Adolf Hitler, in Treue verbunden ist,“ sollte laut Präambel zum „Grundpfeiler des nationalsozialistischen Staates“ werden. Darüber hinaus nutzten zahlreiche kommunale Beamte und Angestellte im vorauseilenden Gehorsam oder aus Amtsmissbrauch ihre Handlungsspielräume zulasten der Verfolgten, gingen immer wieder über zentralstaatliche Direktiven hinaus und ersannen Verfolgungsmaßnahmen aus eigenem Antrieb. Die Kommunen wurden somit zu einem wesentlichen Schauplatz von Verfolgung und Repression.

Deutsches Beamtengesetz vom 26. Januar 1937

Auszug

"Abschnitt II. Pflichten der Beamten

1. Allgemein

§ 3. (1) Die Berufung in das Beamtenverhältnis ist ein Vertrauensbeweis der Staatsführung, den der Beamte dadurch zu rechtfertigen hat, daß er sich der erhöhten Pflichten, die ihm seine Stellung auferlegt, stets bewusst ist. Führer und Reich verlangen von ihm echte Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft und volle Hingabe der Arbeitskraft, Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten und Kameradschaftlichkeit gegenüber den Mitarbeitern. Allen Volksgenossen soll er ein Vorbild treuer Pflichterfüllung sein. Dem Führer, der ihm seinen besonderen Schutz zusichert, hat er Treue bis zum Tode zu halten.

(2) Der Beamte hat jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten und sich in seinem gesamten Verhalten von der Tatsache leiten zu lassen, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in unlöslicher Verbundenheit mit dem Volke die Trägerin des deutschen Staatsgedankens ist. Er hat Vorgänge, die den Bestand des Reichs oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gefährden könnten, auch dann, wenn sie ihm nicht vermöge seines Amtes bekanntgeworden sind, zur Kenntnis seines Dienstvorgesetzten zu bringen.

(3) Der Beamte ist für gewissenhafte Erfüllung seiner Amtspflichten verantwortlich. Durch sein Verhalten in und außer dem Amte hat er sich der Achtung und des Vertrauens, die seinem Beruf entgegengebracht werden, würdig zu zeigen. Er darf nicht dulden, daß ein seinem Hausstande angehörendes Familienmitglied eine unehrenhafte Tätigkeit ausübt."

Quelle: Deutsches Beamtengesetz – Wikipedia


16.5.2 Wilkentaler Informationen

In Wilkental kam es ab 1933 nicht nur bei den Tuttlies zu Verwirrungen. "Was wollen die schon wieder von uns?" Die (subjektiven) Vorgaben der Gauleitung, die Anordnungen von NSDAP-Gliederungen und Verwaltung, die Bewirtschaftungsanordungen des Reichsnähstandes, die Anordnung über die Entschuldung der Höfe, strikte Vorgaben des Reichserbhofgesetz, die Einberufung, die Kriegswirtschaft, das Verdunkeln, das Verhalten der Lehrerschaft oder der Einsatz von Ostarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen und vieles mehr schufen in der Gemeinde eine sehr große Rechtsunsicherheit. "Hast Du schon gehört?"

Hildegard Kiehl geb. Tuttlies erinnert sich in Wilkental an folgenden Veröffentlichungs-Ablauf: Zuerst wurde eine Aushangskasten, und zwar der des Bürgermeisterbüros mit den Neuigkeiten bestückt. Hier blieben die Aushänge eine Woche bestehen. Das eigentliche "Verkünden" erfolgte - mit einigem Glück - nur wenige Wochen später - auf einer Gemeindeversammlung. Auf diesen Versammlungen waren auch immer die von der NSDAP ernannten "Gemeinderäte" anwesend - meist waren es Großbauern. Die Versammlungen bestand im Wesentlichen nur aus den Vorlesen der Texte und den daraus abgeleiteten Terminen. Bei längeren Texten nahm die Aufmerksamkeit spürbar ab. Im Übrigen wurde zu den weiteren Erklärungen auf die Flugblätter und die Versammlungen der NSDAP verwiesen. Zu einigen ausgehängten Veränderungen wurden aber gar keine Gemeindeversammlungen einberufen, die Gründe blieben unbekannt.

Die gesetzlichen Neuigkeiten konnten danach zwar auch noch von den Gemeindemitgliedern im Bürgermeisterbüro selber nach Anmeldung mit Begründung und unter Aufsicht angesehen werden, aber nur für eine kurze Zeit und Abschreiben war nicht erlaubt. Die Materialien, es waren in der Regel "verriegelte" Aktenordner, wurden in der ersten Zeit noch mit einer Schnur durch das vorgestanzte Griff-Loch der Ordner extra "angebunden", damit sie nicht "abhanden" kamen. Tatsächlich fehlten in den Ordnern manchmal aber gerade die interessanten Seiten. Die Texte waren verfasst in einem schwerverständlichen Behördendeutsch. Erklärt wurde aber auch auf Nachfragen Nichts. Hildegard Kiehl hat zweimal das Bürgermeisterbüro aufgesucht, ihr Vater war durch Krankheit verhindert und war danach genau so schlau, wie vorher.

Sie versuchte auf den Gemeindeversammlungen anfangs immer mitzuschreiben, gab aber nach einer Weile auf, da die Vorträge gegen Ende immer unverständlicher wurden und keine inhaltlichen Fragen beantworte wurden. Fragen aber wurden später von den "Oberschlauen" im Gasthaus Lerdon erst nach dem 2. Bier beantwortete. Sie wussten im Grunde auch nicht mehr und spekulierten viel lieber ins Blaue. Hildegard Kiehl hat ist dann immer ins Kreishaus in Lindenhöhe gegangen, obwohl sie nicht in dieser Gemeinde wohnte. Hier arbeitet eine ehemalige Mitschülerin, die ihr manchmal weiterhelfen konnte. Trotzdem blieben viele persönliche Fragen offen, über die die Tuttliesen wochenlang sprachen. "Dann müsse wir wohl..." In der Regel versuchten Freunde und Verwandte gemeinsam eine Klärung.


17.6 Der Reichsnährstand im Nationalsozialismus

Mit über 9.000.000 Beschäftigten in der Landwirtschaft und einer Vielzahl an weiteren indirekt mit der Landwirtschaft in Verbindung stehenden Personen war die Landwirtschaft neben Industrie und Gewerbe mit insgesamt über 14.000.000 Beschäftigten im Dritten Reich ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und ein bedeutendes Wählerpotential der Nationalsozialisten. Das Bauerntum spielte eine bedeutende Rolle in der „Blut-und-Boden-Ideologie“ der Nationalsozialisten.

„Die Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im nationalsozialistischen im Deutschen Reich war durch umfangreiche Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen und der zugehörigen Verbandsstruktur und der Gesetzgebung geprägt." Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia

Der Diplomkolonialwirt Walther Darré baute während des Nationalsozialismus den Reichsnähstand auf. Durch Vermittlung des Architekten Paul Schultze-Naumburg traf Darré im Frühjahr 1930 Hitler und erhielt das Angebot, eine der bäuerlichen Welt gewidmete Abteilung der NSDAP zu leiten. Darré wurde so zum Berater Hitlers in landwirtschaftlichen Angelegenheiten und Leiter des agrarpolitischen Apparats der Reichsleitung. Erst im Juli 1930 trat Darré der NSDAP (Mitgliedsnummer 248.256) und der SS (SS-Nummer 6.882) bei.

Darré war beeinflusst von seinen Erfahrungen in der Tierzucht und den "Theorien" des Rassenideologen Hans F. K. Günther, dessen Nordischem Ring er seit 1927 angehörte. Hans F. K. Günther war ein deutscher Philologe, der in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus als Rassentheoretiker tätig war. Quelle: Hans F. K. Günther – Wikipedia Er gilt neben Houston Stewart Chamberlain als einer der Urheber der nationalsozialistischen Rassenideologie. Houston Stewart Chamberlain (* 9. September 1855 in Portsmouth, England; † 9. Januar 1927 in Bayreuth) war ein englisch-deutscher Schriftsteller. Chamberlain, der in französischer und deutscher Sprache schrieb, war Verfasser zahlreicher populärwissenschaftlicher Werke mit pangermanischer und antisemitischer Einstellung. Sein bekanntestes Werk sind Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899), das zu einem Standardwerk des rassistischen und ideologischen Antisemitismus in Deutschland avancierte. Quelle: Houston Stewart Chamberlain – Wikipedia

Walther Darré fasste seine "Weltvorstellungen" in zwei Büchern zusammen: Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (1929) und Neuadel aus Blut und Boden, ein Grundgedanke des Nationalsozialismus (1930) das Bauerntum. Dieses betrachtete er als rassischen Mittelpunkt des deutschen Volkes. Er postulierte die Sanierung der Landwirtschaft unter rassischen Gesichtspunkten. Dies wäre Voraussetzung, um die rassischen Qualitäten des deutschen Volkes wiederherzustellen. Das deutsche Volk sei durch die Industrialisierung verfallen. Mit dem Begriffspaar „Blut und Boden“ wollte Darré die Beziehung zwischen rassischem Niveau und bäuerlicher Tätigkeit herausstellen. Er wollte die angeblichen Unterschiede zwischen der germanischen und der slawischen Rasse in ihrer Beständigkeit und ihrem bäuerlichen Charakter zeigen. Er glaubte nachzuweisen, dass die "innere Gliederung" der alten deutschen Gesellschaft in mythischer Vorzeit einen "funktionalen Charakter" besessen habe. In der Konsequenz forderte er die erneute Verbäuerlichung Deutschlands. Die Schaffung und "Auslese eines neuen bäuerlichen Adels" mit "besten rassischen Eigenschaften" war sein Ziel.

Die Vorstellung, ein bodenverwurzeltes Bauerntum sei die Grundlage der nordischen Rasse nahm in seinem Welt- und Geschichtsbild den „Rang einer fixen Idee“ ein. Walther Darré hatte aber noch eine weiter fixe Idee: "Das „Besondere“ an Darrés Ideologie im Vergleich zur Weltanschauung anderer Nationalsozialisten war, dass bei ihm das Schwein zum entscheidenden Kriterium wurde. Während die nordischen Völker das Schwein nutzten, würden die „Semiten“ dies ablehnen. Das Schwein für Darré ein Vehikel, um die Besonderheiten der „Nordischen Rasse“ herauszustellen: Die „Nordische Rasse“ war für ihn eine „Herrenrasse“, aber keine „reine Kriegerrasse“. Vielmehr wurden nach Darré aus den „eurasischen Wanderhirten“ Siedler und Bauern, und das Schwein wurde „einer ihrer ältesten Opfertiere“. Dagegen würden alle „Nomaden“ das Schwein „restlos ablehnen“, dass sie bei ihren Wanderungen Schweine „nicht über größere Strecken“ mitführen könnten. Das Schwein war für Darré der Beweis dafür, dass die „Nordische Rasse“ aus Bauern bestanden haben müsse. Ohne Schwein keine Bauern, und ohne Bauern keine „Wiedergeburt“ der „Nordischen Rasse“. Quelle: Andreas Dornheim, Rasse, Raum und Autarkie Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit

Ab dem 31. Dezember 1931 leitete Darré im Rang eines SS-Standartenführers das neu gegründete Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) innerhalb der SS. Himmler selbst hatte ihn 1930 gebeten, beim Aufbau der SS als biologischer Elite behilflich zu sein. Himmler förderte Darré, seit sie sich im Mai 1930 kennengelernt und befreundet hatten. Beide teilten Ideen zur Aufzucht einer „reinen deutschen Rasse“ und verknüpften damit die Konzeption des Germanen als einem ackerbebauenden Siedler. Beide wollten ein neues, reinrassiges Bauerntum heranziehen, das ein neuer deutscher Adel werden würde

Der Reichsnährstand (RNST) war zunächst ein Interessenverband und wurde 1933 durch ein Gesetz legitimiert und wurde eine ständische Organisation. Sie war als Körperschaft des öffentlich Rechts (Selbstverwaltungskörperschaft) mit eigener Satzung sowie eigener Haushalts-, und Beamtenrecht eingerichtet worden. Organisatorisch war der Reichsnährstand in Landes-, Kreis- und Ortsbauernschaften gegliedert, die jeweils von einem Landes-, Kreis- oder Ortsbauernführer kontrolliert wurden.

Abbildung: Bescheid, Quelle: Ortsbauernführer - Reichsnährstand – Wikipedia

Der RNST war eine Zwangsorganisation. Es mussten alle Personen und Verbände, die an der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte mitwirkten, Mitglied werden.

Der Reichsnährstand übernahm die totale Lenkung der landwirtschaftlichen Produktion, den Anbau, den Absatz, die Festsetzung von Verkaufspreisen und Handelsspannen, wie z.B. für Brot. Genaue Kontrollen vor Ort waren üblich.

Die Beiträge wurden vom Finanzamt eingezogen.

Der nach 1933 im Reichsnährstand zentral zusammengefassten Interessenvertretung kam nach der NS-Ideologie besondere Bedeutung zu. Als Selbstverwaltungskörper unter der Führung des Ministers Walther Darré sollte sie Markt und Produktion landwirtschaftlicher Produkte kontrollieren und die Autarkie erreichen. Ein weiteres Ziel war die Kontrolle der Produktion, des Vertriebes und der Preise im Agrarbereich

Der Reichsnährstand entstand offiziell acht Wochen nach der Amtsübernahme von Walther Darré, der seit August 1930 erfolgreich einen personell und organisatorisch umfangreichen „agrarpolitischen Apparat“ (aA) in der Weimarer Republik aufgebaut hatte. Am 13. September 1933 wurde das „Gesetz über den vorläufigen Aufbau des Reichsnährstandes“ erlassen.

Im § 2 des Gesetzes heißt es: „Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft kann den Reichsnährstand oder einzelne seiner Gruppen ermächtigen, die Erzeugung, den Absatz, sowie die Preise und Preisspannen von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu regeln, wenn dies unter Würdigung der Belange der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls geboten erscheint.“ Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia

Am 26. September 1933 wurde Darré dann vorweg ermächtigt, „feste Preise für Getreide festzusetzen“, und am 8. Dezember 1933 folgte die grundlegende „Erste Verordnung über den vorläufigen Aufbau des Reichsnährstandes“, der sich 1934 eine differenzierte Marktordnung in allen Bereichen der Landwirtschaft anschloss.

Gegenüber sozial niedriger gestellten Personen verhielt sich Darré bisweilen so herrisch, dass er Zugeständnisse machen musste, um den Schaden in Grenzen zu halten: Als im Oktober 1935 Darrés Dienstwagen durch ein anderes Kraftfahrzeug behindert wurde, „sprang der uniformierte Minister“ aus seinem Auto und schlug auf den gegnerischen Fahrer ein, wobei er diesen mit Schimpfworten wie „Schweinehund“ überschüttete, mit der „Reitpeitsche wütend ins Gesicht und über den Kopf“ schlug und schließlich sogar drohte, ihn zu erschießen.

Eine später erfolgte Entschuldigung durch den Adjutanten des Ministers hielt den Fahrer, der selbst Parteimitglied war, nicht davon ab, sich an das Gaugericht der NSDAP in Düsseldorf zu wenden. Der Vorfall konnte schließlich nur dadurch unter der Decke gehalten werden, dass Darré, wie der Oberste Parteirichter der NSDAP, Walter Buch, in einer Aktennotiz festhielt, sich dazu bereit erklärte, den Fahrer „in seine Dienste“ zu nehmen, d.h. im Ministerium zu beschäftigen.

Der Zuchtgedanke, z. B. die Einteilung junger Mädchen in "zuchtwerte Klassen" oder „zuchtunwerte Klassen“ und die Selektion der gesamten Menschheit nach bestimmten Auslesekriterien bestimmte Darrés Tätigkeit im Rasse- und Siedlungshauptamt, das die logistische Basis bildete, um die Bevölkerung der besetzten Gebiete einer Selektion zu unterziehen und anschließend zu deportieren und/oder zu töten. Einzelne Beamte und Gutsbesitzer achteten darauf, dass ihren Töchtern nicht bei Veranstaltungen zu gegen waren, auf denen Darré auftrat. Quelle: Andreas Dornheim, Rasse, Raum und Autarkie Sachverständigengutachten zur Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft in der NS-Zeit

In seinem Buch Blut und Boden, ein Grundgedanke des Nationalsozialismus griff Darré die Blut-und-Boden-Ideologie auf. Er geriet aber immer mehr in Gegensatz zu der von Hermann Göring geleiteten Vierjahresplan-Verwaltung, zu Hjalmar Schacht als Reichswirtschaftsminister und zur Reichsbank. Während Darré an eine Rückkehr zu Verhältnissen wie vor der industriellen Revolution dachte, rüstete das Dritte Reich die Industrie im Sinne der Kriegswirtschaft auf.

Im September 1938 ergab sich ein Konflikt mit Himmler, da Darrés Pläne zur Förderung bäuerlicher Siedlungen im Reich dessen Generalplan Ost widersprachen. Darré wurde als Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamts abgesetzt und trat mit Beginn des Zweiten Weltkriegs auch als Minister für Ernährung und Landwirtschaft immer mehr in den Hintergrund. Am 16. Mai 1942 verfügte Hitler, dass Darré „mit Rücksicht auf seinen seit längerer Zeit angegriffenen Gesundheitszustand“ von der Leitung des Reichsamtes für Agrarpolitik „bis auf weiteres“ beurlaubt werde und die Geschäftsführung des Amtes an Herbert Backe zu übertragen sei. Zwar übernahm Backe somit faktisch den Aufgabenbereich von Darré als Minister, seine offizielle Ernennung zum Reichsernährungsminister erfolgte indessen erst im April 1944.

Am 15. Januar 1934 erklärte der Reichsbauernführer und Leiter des Reichsnährstandes Walther Darré Goslar zum Sitz des Reichsnährstandes, zwei Jahre später erhielt die Stadt die offizielle Bezeichnung "Reichsbauernstadt". Goslar war von nun an bis zum Kriegsende Ort der Reichsbauerntage, an denen der nationalsozialistische Staat seine Blut- und Bodenschwüre praktizierte. Walther Darré wurde 1953 in Goslar beerdigt. Bemerkenswert war dabei die hohe Anteilnahme der Stadt Goslar: Neben ehemaliger NS-Größen wie Hartwig von Rheden nahmen mehrere hundert Goslarer Bürger, aber auch ihr damaliger Oberbürgermeister Alexander Grundner-Culemann mit dem damaligen Oberstadtdirektor Helmut Schneider an der Trauerfeier teil. Die Stadt übernahm sogar die Begräbniskosten. Darré war seit1935 Ehrenbürger der „Reichsbauernstadt“ Goslar. Sie wurde ihm 2013 von der Stadt Goslar aberkannt. Quelle: Walther Darré – Wikipedia

Ein kurzer Blick auf den Landesbauernführer von Ostpreußen Erich Spickschen.

Das Reichsgebiet wurde streng hierarchisch in 26 Landesbauernschaften eingeteilt, die jeweils in Kreis- und Ortsbauernschaften gegliedert waren. Die Kreisbauernschaften unterstanden einem ehrenamtlichen Kreisbauernführer, der hauptsächlich die Ortsbauernschaften betreute. Erst die Ortsbauernschaft stand im direkten Kontakt zum einzelnen Bauern, den nicht nur umfassend Kontrollieren und betreut, sondern auch ideologisch indoktriniert sollte.

Im Jahr 1919 arbeitete Erich Spickschen als landwirtschaftlicher Lehrling zunächst auf einem Hof in Pommern, dann auf verschiedenen Höfen im südlichen Dänemark, um sich zum Landwirt auszubilden. Den Besuch der Höheren Landbauschule in Wolfsanger bei Kassel schloss er 1923 als staatlich geprüfter Landwirt ab.

Erich Spickschen wurde 1933 Kreisbauernführer des Kreises Fischhausen und im Reichsnährstand Landeshauptabteilungsleiter von Ostpreußen. Im Dezember 1935 wurde er zum Landesbauernführer von Ostpreußen ernannt. In Verbindung damit wurde er zwei Jahre später Gauamtsleiter für Agrarpolitik. Außerdem war er Generallandschaftsrat, Preußischer Provinzialrat und Mitglied des Reichstages. Im November 1936 wurde Spickschen – wie sämtliche Landesbauernführer – von der SA in der damals üblichen Doppelfunktion als SS-Ehrenführer in die „Allgemeine SS“ überwiesen, wo er zuletzt, im November 1942, den Rang eines SS-Brigadeführers hatte. Beim Überfall auf Polen 1939 war er Hauptmann der Reserve. Danach war er als Landesbauernführer Ostpreußens zusätzlich für den Regierungsbezirk Zichenau und seit Sommer 1941 für den Bezirk Bialystok zuständig. Im Spätherbst 1944 gelangte er zum Volkssturm. Während seiner Amtszeit in Ostpreußen kam es am Anfang zu erheblichen Spannungen mit Gauleiter Erich Koch, die aber beigelegt wurden, da Koch mittlerweile der Ranghöhere war.

Spickschen stand ab Dezember 1933 an der Spitzte des Reichsnährstandes (RNST) in der Provinz Ostpreußen. Sie war in 36 Kreisbauerschaften, in denen 563 Bezirksbauernführer und 4.605 Ortsbauernführer tätig waren.

Die Position von Spickschen war ansehnlich dotiert. Zwar bekamen die Funktionäre des Reichsnähstandes – auch zur Wahrung des Anscheines „ehrenamtlicher Tätigkeit“ - kein Gehalt, üblich war aber eine, von steuerlichen Abzügen befreite Dienstaufwandsentschädigung für die Leiter von 800 Reichsmark monatlich, für die Kreisbauernführer waren es 250 Reichsmark. Der Ortsbauernführer erhielt nur auf Antrag für besondere Leistungen eine Erstattung. Ein Landrat (Volljurist) bezog 1933 zum Vergleich nur zwischen 450 und 750 Reichsmark Gehalt monatlich.


Abbildung: Fragebogen Lastenausgleich, 1954, Quelle: Lastenausgleichsgesetz – Wikipedia

Darüber hinaus kamen bei Spickschen Einkommen aus anderen Funktionen hinzu, z.B. als Mitglied des Reichstages und Aussichtsrat in Unternehmen der Kochstiftung. Sachverständige für den Lastenausgleich haben 1953 sein gesamtes Jahreseinkommen zwischen 1937 und 1939 auf über 30.000 Reichsmark geschätzt. Darin enthalten sind auch die 15.000 bis 18.000 Reichsmarkt Jahreserträge eines landwirtschaftlichen Gutes Woydiethen enthalten, dass er und seine Frau 1927 übernommen hatte.  Abzurechnen währen möglicherweise die gezahlten Löhne für das Gesinde auf seinem Gut. Das Ehepaar Schpickschen hatte 7 Kinder und brauchte deshalb zeitweise keine Einkommenssteuer zahlen.

 Quelle: Christian Rohrer, Landesbauernführer. Band 1: Landesbauernführer im nationalsozialistischen Ostpreußen. Studien zu Erich Spickschen und zur Landesbauernschaft Ostpreußen

Mit der „Verordnung über die Wirtschaftsverwaltung“ vom 27. August 1939 wurde die deutsche Ernährungswirtschaft für den Zweck der Kriegswirtschaft mobilisiert und umgebaut. Der Reichsnährstand wurde als Gesamtheit dem  Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) unterstellt, das nunmehr nicht mehr nur die Oberaufsicht, sondern auch die Weisungsbefugnis hatte.  Zugleich wurden auf der Grundlage der Verordnung in den Provinzen Provinzialernährungsämter gebildet, die dem Oberpräsidenten Koch unterstanden. Spickschen wurde dadurch bis zum Kriegsende zum Leiter des Provinzialernährungsamtes Königsberg berufen. Nach dem Krieg pachtete Erich Spickschen im November 1950 in Dannenfels (Donnersbergkreis) eine Gastwirtschaft mit einer Landwirtschaft von knapp 15 Hektar. Er hatte später im Rahmen des Lastenausgleiches eine Entschädigung für das Gut Woydiethen erhalten. Im Entnazifizierungsverfahren wird er zunächst in die Kategorie IV (Unterstützung des Nationalsozialismus) eingestuft, nach zwei Berufungsverfahren in die Kategorie III (wesentlicher Förderer des Nationalsozialismus). Er verliert damit das aktive und passive Wahlrecht. In Kirchheimbolanden ist er später Kreisvorsitzender des Flüchtlingsvereins und betätigt sich für die CDU-nahe Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise. Er starb am 1. Oktober 1957 in Kirchheimbolanden, Donnersbergkreis, Rheinland-Pfalz.

"Die Landesbauernschaften in Ostpreußen im Reichsnährstand (Stand 1941) waren in den Landesernährungsämtern in der Abteilung A eingebunden

Daraus ergaben sich folgende Aufgabenstellung:

  •        ordnungsgemäße Wirtschaftsführung in den Erzeugerbetrieben
  •        Maßnahmen zur Sicherstellung des Anbaus
  •       Sicherstellung der Viehhaltung
  •        sichere Einbringung der Ernte
  •        termingerechte Ablieferung von Erzeugnissen
  •        sichere Bewirtschaftung und Verteilung der Erzeugnisse*

Zu diesem Zweck hatte jeder landwirtschaftliche Betrieb in Ostpreußen eine „Hofkarte“ zu führen. Diese Karte sollte ermöglichen:

  •        die genaue Feststellung des Ernteertrages
  •        die genaue Feststellung des Viehbestandes
  •        die genaue Feststellung aller sonstigen Erzeugnisse
  •        die Feststellung des zustehenden Eigenverbrauchs
  •        die Feststellung des notwendigen Bestandes an Saatgut zur Fortsetzung des Anbaus
  •        die Feststellung der abzuliefernden Mengen

Quelle: Landesbauernschaften im Reichsnährstand (Stand 1941) - Enzyklopädie Marjorie-Wiki

Die Situationen in den dörflichen Milieus hingen oft von der Einstellung des Ortsbauernführer vor Ort ab. Kreis- und Ortsbauernführer hatten gegenüber den Bauern und Landwirten keine Befehlsgewalt. Ihre Aufgabe bestand in der Durchsetzung der Richtlinien und Anordnungen des Reichsnährstandes über Produktion, Absatz, Landarbeiter- und Pachtfragen usw. Kraft ihrer Autorität.

Der Ortsbauernführer (OBF) war in der Zeit des Nationalsozialismus der Leiter der kleinsten beziehungsweise untersten Einheit im Aufbau des Reichsnährstandes. Er vertrat somit die Ortsbauernschaft, in der Regel ein Dorf oder eine Gemeinde, in der er selbst ansässig war. Einen eigenen Verwaltungsapparat besaß er nicht, sondern musste sich mit den örtlichen Führern wie Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der NSDAP auseinandersetzen. Selten war der Ortsbauernführer in Personalunion staatlicher oder parteilicher Hoheitsträger. Mehrere Ortsbauernschaften wurden zu einer Kreisbauernschaft (1938 rund 52.000) zusammengefasst. Quelle: Reichsnährstand – Wikipedia

Abbildung: Schild OBF, Quelle: Ortsbauernführer - Reichsnährstand mit eingeschlagenem Reichsadler – Wikipedia


Ein Ortsbauernführer musste kein Mitglied der NSDAP sein, tatsächlich ist wohl eher von einem Anteil von weniger als der Hälfte auszugehen. Formal übte er eine Vielzahl Kontrollfunktionen aus. Ob er auch bei der Hofbewirtschaftung in Wilkental alles kontrolliert hat, ist nicht mehr erinnert worden. Sicherlich spielte hier auch die "soziale Nähe " zu den Nachbaren, Bekannten und Verwandten und die Abstimmung mit dem Ortsgruppenführers eine große Rolle. In Wilkental hatte, nach Erinnerungen, der Ortsbauernführer folgende Aufgaben:

  • Es war eine Hofkarte anzulegen (siehe oben). Der Eigenverbrauch wurde sehr genau kontrolliert. Bei Ernte konnten nur noch die festgesetzten Preise erzielt werden. 1936 wurden die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse eingefroren.
  • Bei großen Manövern und Truppenbewegungen musste mit kostenlosen Einquartierungen gerechnet werden. Von 1939 bis 1941 war Ostpreußen Aufmarschgebiet. Der Ortsbauernführer war z. T. auch Quartiersmeister.
  • Es gab den Wehrdienst ab 1935 und die Einberufungen ab 1938. Das führte zur Doppelbelastung der Frauen. Die private Nachbarschaftshilfe und der Einsatz von privaten Hilfsarbeitern musste angemeldet werden.
  • Über private Besucher war Buch zu führen.
  • Für die Erbfolge war ein „Ariernachweis notwendig“.
  • Die Anbindung an das lokale Stromnetz musste bei Pateigremien erbeten werden.
  • Über den möglichen Treibstoffverbrauch und die Maschinenanwendung waren Buch zuführen.
  • Kredite für landwirtschaftliche Maschinen wurden aufgrund fehlender Pateizugehörigkeit verwehrt, das galt auch bei Entschuldungen.
  • Bei Durchfahrten von "Parteigrößen" musste die Dorfbevölkerung Spalier stehen und die Häuser beflaggen.
  • Bei Ernten wurden Jugendliche aus den Parteigliederungen wie HJ und BDM und Schulklassen mobilisiert

Allerdings wurde von der NSDAP und dem Bezirksbauerführern auch in Willkental örtlicher Druck auf die Höfe ausgeübt. Dazu gehörten regelmäßige "Sonntagsbesuche" und (Zwangs )Einladungen zu Versammlungen durch örtlichen Parteigrößen. Der Rundfunk, die Zeitungen, Aushänge und Flugblätter dienten ebenfalls der Propaganda.

Zwischen dem Blockleiter und dem Ortsbauernführer soll es in Willschicken "nicht immer gut gegangen sein." Einmal wollten beide sogar zum gleichen Termin separat mit den Dorfbewohnern im Gasthof Lerdon tagen - was zu einer lautstraken Auseinandersetzung zwischen den beiden "Führern" im Gasthof führte. Auch bei der "Organisation und Verteilung" der Ostarbeiter und Kriegsgefangenen gab es Probleme zwischen den beiden Funktionären. "Die Gutsherren sind deswegen immer eine Etage höher aufgetreten." Der Name des Bezirksbauernführer war Bernhard Zienau aus Paducken, an den Namen des Ortsbauernführer von Wilkental erinnert Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies nicht mehr genau. "Vielleicht war es der Dingel, der Pächter von Mikuteit. Es gab so viele braune Uniformen".


17.7 Die Lage der ländlichen Bewohner in Ostpreußen ab 1933

Fritz Reinhardt übernahm 1930 für die NSDAP die führende Rolle in Finanzangelegenheiten und zog als Abgeordneter in den Reichstag ein. Dort vertrat er seine Fraktion im Haushalts- und im Reichsschuldenausschuss. Er galt als detailbesessener, didaktisch talentierter und der Nachfrageorientierung zugeneigter Finanz- und Steuerfachmann. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten tauschte Reichsminister der Finanzen Schwerin von Krosigk am 30. Januar1933 nach persönlicher Intervention Hitlers den jüdischen Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Arthur Zarden (ein Anhänger der desaströsen strikter Sparpolitik Reichskanzlers Brüning) mit dem NSDAP-Finanzexperten Fritz Reinhardt aus. Ausgehend von John Maynard Keynes und Wilhelm Lautenbach und deren Idee einer finanzpolitischen Wirtschaftssteuerung begann der neue Staatssekretär umgehend mit der Umsetzung des nach ihm benannten Arbeitsbeschaffungsprogramms.

Abbildung: Gesetz zur Arbeitsbeschaffung, § 1, Quelle: ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (onb.ac.at)

Die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik oder auch Nachfragepolitik besagt, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die Höhe der Produktion und den Beschäftigungsgrad des Arbeitsmarkts einer Volkswirtschaft bestimmt. Bei dieser makroökonomischen Theorie steht im Mittelpunkt, durch Steuerungsmaßnahmen und wirtschaftspolitisches Eingreifen die Nachfragesituation zu verbessern. Die Nachfragesteigerung kann durch zusätzliche Staatsausgaben, Beschäftigungsprogramme oder staatliche Investitionszulagen erfolgen.

Neben dem generellen Interesse des Reichsfiskus an Einnahmesteigerungen (Zentralisierung, feste Termine, genormte Einzüge, verschärfte Strafen) und der weltanschaulichen Durchdringung des Steuerrechts durch die NS-Ideologie (§1 Steueranpassungsgesetz vom 16.10.1934: „Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“), zielte die Steuerpolitik Reinhardts auch auf die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Zu den Maßnahmen der schrittweisen und systematischen Enteignung gehören höhere steuerliche Abzüge, die Sperrung und Beschlagnahmung von Auswanderergut- und vermögen, Sonderabgaben wie die Judenvermögensabgabe und schließlich die Beschlagnahmung und Verwertung des Eigentums der Deportationsopfer.

Von 1945 bis 1949 war Fritz Reinhardt von den Alliierten ohne Einzelprüfung interniert. Er trat als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen auf. Bei der Entnazifizierung wurde er 1949 als besonders aktiver Nationalsozialist in Gruppe 1 (Hauptschuldiger) eingestuft und zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. Dagegen legte Reinhardt Berufung ein. In einem weiteren Spruchkammerverfahren wurde die Einstufung nochmals bestätigt, die Lagerhaft jedoch auf drei Jahre reduziert und seine bisherige Internierung auf die Strafe angerechnet, womit er sofort freikam. Reinhardt arbeitete später als Steuerberater und publizierte weitere Steuerfachbücher, trat ansonsten aber nicht öffentlich in Erscheinung. Er starb am17. Juni 1969 in Regensburg

Das Reinhardt-Programm vom 1. Juni 1933 enthielt Gesetzgebungen zur Arbeitsbeschaffung, der Steuererleichterung und verschiedene Bestimmungen über den Einsatz von Arbeitskräften. Quelle: ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (onb.ac.at) .

An diesem Tag trat das Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit in Kraft, in welchem der Reichsminister der Finanzen ermächtigte wurde, eine Milliarde Reichsmark zur „Förderung der nationalen Arbeit auszugeben“.

Am 21. September 1933 folgte das Zweite Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit mit nochmals 500 Millionen Reichsmark und am 16. Oktober 1934 das Steueranpassungsgesetz nebst zehn weiteren Steuergesetzen.

Viele Einzel-Maßnahmen waren schon in der Weimarer Republik z. B. unter den Kabinetten Hermann Müllers entwickelt worden, konnten aber auf Grund der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag nicht durchgesetzt werden.

Erst spätere Regierungen die von Papen und die von Schleicher versuchten die Umsetzung. Fast alle der neu eingeführten Elemente der NS-Steuerpolitik waren nichts anderes als eine Fortsetzung der Weimarer Steuerpolitik.

Abbildung: Bruttosozialprodukt 1928 - 1938, Quelle: Wirtschaft im Nationalsozialismus – Wikipedia

In der Bevölkerung, auch in Ostpreußen, erzielten diese Steuerpakete Aufsehen, weil damit neben der Schaffung von Arbeitsplätzen erhebliche Steuerentlastungen verbunden waren.

Jungvermählte erhielten ein zinsloses Ehestandsdarlehen für die Beschaffung von Hausrat in Höhe von bis zu 1.000 Mark. In einem erheblichen Umfang wurden die Einkommen-, Umsatz-, Kraftfahrzeug- und Grundsteuer gesenkt; die Körperschaftssteuer stieg hingegen von 20 % auf 40 %. Steuerbefreiungen gab es für private Eigenheimbauer und Besitzer von Kleinwohnungen. Sehr große steuerliche Vergünstigungen wurden der Landwirtschaft gewährt.

Konkrete staatliche Aufträge ergingen für Instandsetzungs- und Ergänzungsarbeiten an öffentlichen Gebäuden, für den sozialen Wohnungsbau, für Brückenbauten, für Flussregulierungen, den Bau der Reichsautobahn und Kanälen.

Um den Effekt zu erhöhen wurden Regelungen über den Einsatz von Arbeitskräften erlassen. Beispielsweise durften erhöhte Arbeitsaufträge nicht zu einer Verlängerung der Arbeitszeit führen. Für derartige Mehrarbeit sollten Neueinstellungen vorgenommen werden, darunter mussten mindestens 80 % Arbeitslose sein. Maschinen, die durch Neuinvestitionen ersetzt wurden, sollten verschrottet werden, damit sie nicht anderweitig verwendet werden konnten.

Bis 1936 hatte Deutschland die Weltwirtschaftskrise überwunden und das Vorkriegsniveau der Produktion von 1914 überschritten. Allerdings erholte sich die deutsche Wirtschaft bereits schon seit 1932 wieder. De jure und de facto knüpften die Steuer- und Arbeitsbeschaffungsgesetze im Reichsfinanzministerium seit 1933 unmittelbar an die Vorarbeiten der Weimarer Republik an, konnten aber jetzt auf Grund der Machtergreifung schnell und massiv durchgesetzt werden. Quelle: Reinhardt-Programm – Wikipedia

Betrug die Zahl der Arbeitslosen im Januar 1933 – auch saisonbedingt – die Rekord-Ziffer von sechs Millionen, so zeigte die offizielle Statistik im Jahresdurchschnitt 1933 noch 4,8 Millionen Erwerbslose, 1934 nur noch 2,7 Millionen, 1936 dann nur noch 1,6 Millionen, und 1937 schließlich lag ihre Zahl unter einer Million. In einigen Erwerbsbereichen gab es 1935 bereits einen Mangel an Facharbeitern. Ballungsräume der Arbeitslosigkeit waren neben den Großstädten und deren Einzugsgebiete, die Industriezentren. In Deutschland entwickelten sich gleich mehrere Industriezentren mit der Industrialisierung. In Sachsen bildete sich die Textilindustrie aus. Der Steinkohlenbergbau und die Hüttenindustrie waren bedeutend in Oberschlesien. Die Rohstoffvorkommen machten das Ruhrgebiet zu Deutschlands Zentrum im Bergbau und der Eisenverarbeitung. "Ungeniert wurde allerdings die Statistik manipuliert, indem 2,2 Millionen Arbeitslose auf dem Papier wegdefiniert wurden." Die Wohlfahrtsemfänger wurden ab 1933 nicht mehr mitgezählt. Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4.

Die Arbeitslosenzahl sank auch deshalb, weil einige Branchen (Landarbeiter, Fischereiarbeiter, Forstarbeiter, Dienstboten) Jugendliche und Ausländer aus der Arbeitslosenversicherung herausgenommen wurden.

Ein zusätzlicher Effekt wurde erzielt, indem Frauenarbeit verpönt und eine Kampagne gegen Doppelverdiener gestartet wurde. Insbesondere aus dem Dienstleistungsgewerbe und den höher qualifizierten Berufen wurden Frauen systematisch verdrängt und dadurch viele freie Stellen geschaffen.

1935 wurde die Wehrpflicht eingeführt und im selben Jahr bis zu Kriegsbeginn ebenfalls ausschließlich für junge Männer der zwangsverpflichtende Reichsarbeitsdienst, wodurch die Arbeitslosigkeit weiter zurückging.

Nach Einführung des Pflichtjahres 1938 für junge Frauen und durch die massive Aufrüstung der Wehrmacht wurde bis 1939 faktisch Vollbeschäftigung erreicht.

Karte: Arbeitslosigkeit in Landkreisen 1933, Quelle: Arbeitslose 1933 – Deutschland in Daten (deutschland-in-daten.de)

Häufig werden nur die Reinhardt-Programme als alleinige Ursache für den Rückgang der Arbeitslosigkeit genannt.

Als Ursachen für den Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland von 1933 bis 1936 nennt Hans-Ulrich Wehler die folgenden sechs folgende Gründe:

  • Die Vorgängerregierungen von Papen und von Schleicher hatten bereits 1 Milliarde Markt für Arbeitsbeschaffungen mobilisierte, die sich aber wegen der Wirkungsverzögerung erst ab 1933 auswirkten. 1932 gab es bereits erste Signale der wirtschaftlichen Erholung.
  • 6,2 Milliarden Mark wurden bis 1935 durch die Reinhard-Programme zur Steuerung des Arbeitsmarktes eingesetzt - die Regierung zeigte Handlungsbereitschaft.
  • 10,6 Milliarden Mark wurden bis 1936 für die Rüstungsprojekte ausgegeben - sie zeigten einen Multiplikatoreneffekt auf dem Arbeitsmarkt
  • Es herrschte ein faktischer Lohnstopp, die Basisgröße die Lohnquote der Wirtschaft (prozentualer Anteil des Arbeitnehmerentgelts Bruttolöhne, -gehälter, Sozialbeiträge des Arbeitgebers am Volkseinkommen) schrumpfte von 68 % von 1932 auf 55 % 1938. Im gleichen Zeitraum nahmen die Gewinne der Unternehmen um 36,5 % zu. Für die Unternehmen lohnten sich Investitionen.
  • Durch den zügigen Ausbau der NSDAP- Bürokratie und ihrer Nebenorganisationen, der expandierenden Wehrmachtsverwaltung und der Wehr- und Arbeitsdienstpflicht nahm seit 1935 Hunderttausende aus der Arbeitslosigkeit
  • Die NSDAP und die Regierung trommelten auf allen Kanälen für ihre Programme - Deutschland erlebte eine "riesige Propagandaschlacht" - staatliche Mittel und Maßnahmen wurden "umfassend beworben" und "vor Ort von den Funktionsprägern der NSDAP gegenüber den Betroffenen aggressiv umgesetzt" - Vergrößerungen von Belegschaften wurden zu öffentlichen hervorgehobenen Beispielen, Entlassungen schärfsten kritisiert.

„Damals jedoch war ein derart massives, geradezu bedenkenlos optimistisches Engagement von Regierungsvertretern noch eine Innovation, die freilich ganz auf der Linie, der zu dieser Zeit von Keynes suggerierten Konjunkturtherapie lag. Jedenfalls ging davon, dass die Regierung Hitler und vor allem der Reichskanzler selber so anhaltend um einen wirtschaftspolitischen Vertrauensvorschuss warben und er Öffentlichkeit ihre geschäftige Aktivität einhämmerte, eine ansteckende Dynamik aus. Überdies verstärkte die Arbeitsbeschaffungspolitik das „Bewusstsein von volksgemeinschaftlicher Solidarität". Diese „Bewusstseinstatsache“, das erfasste Hitler sehr genau, wirkte aber naturgemäß auch volkswirtschaftlich stimulierend. Insofern darf am die eigentliche Leistung Hitlers, mit seinen rhetorischen Fähigkeiten und dem Beschwörungsgestus des charismatischen  Demagogen die Erholung herbeigeführt zu haben, nicht unterschätzen. Als sich dann der Erfolg relativ schnell einstellte und Abermillionen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes zurückgewannen, konnte Hitler mit guten Gründen sich öffentlich rühmen, dass seiner Führungsherrschaft eine „Autorität“ zugewachsen sei, „wie sie noch kein Regime vor uns besessen hat.“

Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 4

Die Arbeitslosigkeit in Ostpreußen verringerte sich von 102.000 im Jahre 1933 auf 18.200 im Jahre 1936.

Im Landkreis Insterburg lang 1933 die Arbeitslosigkeit bei 6 %. Hier waren hauptsächlich Handwerker wie der Maurer Erich Tuttlies betroffen. In Berlin lag die Arbeitslosigkeit bei 37 %, hier waren alle Erwerbstätigen betroffen.

Aufträge in Ostpreußen für Wehrmachtsanlagen und Bunker, staatliche und zivile Bauprogramme (Neuansiedler auf dem Lande und Wohnsiedlungen in den Städten, Verkehrseinrichtungen Straßen, Eisenbahnlinien und Kanäle) sicherten vielen Gewerbezweigen einen raschen Aufschwung.

Nach dem Auslaufen der Programme gab es aber kaum neue Arbeits-Perspektiven - es blieben die NSDAP-Bürokratie, die Kriegswirtschaft und die Wehrmacht.

Im Rahmen des Gesetzes zur Verminderung der Arbeitslosigkeit wurden zur wirtschaftlichen Belebung Ostpreußens z. B. umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verkündeten. In diesem Zusammenhang wurde beschlossen, den Bau des Masurischen Kanals fortzusetzen und bis Mai 1941 abzuschließen. Die Arbeiten hatten schon 1908 begonnen wurden aber durch den 1. Weltkrieg unterbrochen. Der Weiterbau begann im Jahre 1934. Anfangs war, dank der ununterbrochenen Finanzierung und der stärkeren Mechanisierung der Erdarbeiten, das Arbeitstempo recht hoch. Im Jahr 1936 galt der Bau des Masurischen Kanals als das zweitteuerste Investitionsprojekt in Ostpreußen nach der Autobahn Berlin–Königsberg. Gearbeitet wurde Tag und Nacht. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1939 wurden Gefangene, Kriegsgefangene und ausländische Arbeiter aus den besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit am Kanal herangezogen. Auch die paramilitärischen Arbeitskommandos des Reichsarbeitsdienstes (RAD) waren in die Arbeiten mit einbezogen.

Doch der 1941 begonnene Krieg mit der Sowjetunion erforderte von Deutschland die Mobilisierung aller wirtschaftlichen, materiellen und menschlichen Ressourcen. Wegen Mangels an Baumaterial und an Arbeitskräften, die zum Bau von Bunkern des Hauptquartiers des Oberkommandos der Wehrmacht im Dorf Mauerwald und Hitlers Wolfsschanze bei Rastenburg abkommandiert wurden, verlangsamte sich der Kanalbau. Und im Jahre 1942, nach dem radikalen Umschwung an der Ostfront und dem Beginn der sowjetischen Offensive, wurde er vollständig eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren der Kanal und seine Technikbauten zu etwa 70 Prozent fertig. Im Nordteil des Kanals standen schon fast alle fünf Schleusen, im Südteil war nur die Schleuse bei Sandhof fertig; die anderen Schleusen waren zu 15 bis 65 Prozent fertiggestellt. Das gesamte Kanalbett im nördlichen und abschnittsweise auch das im südlichen Teil war bereits in der vorgesehenen Tiefe von 2,5 Meter mit Wasser gefüllt. Außerdem waren 33 der 35 geplanten Straßenbrücken, 6 Eisenbahnbrücken, 16 Häuser für Wartungspersonal und Schleusenwärter und alle 36 Düker, die unter dem Kanalbett hindurchführten, gebaut. Der Kanal blieb eine Bauruine und wurde nie fertiggestellt. Erich Tuttlies arbeitete von 1933 bis 1935 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ebenfalls am Ausbau des Masurischen Kanals mit. Einmal im Monat durfte er am Wochenende nach Hause fahren, ansonsten waren die Wochenenden mit politischen Veranstaltungen und Sport ausgefüllt.

Obwohl es in Deutschland bis 1935 zu einem Anstieg der Verbraucherpreise und der Löhne im Agrarbereich kam, musste eine weitere Verteuerung der Grundnahrungsmittel verhindert werden. Der zur Berechnung der geplanten Aufrüstung relevante durchschnittliche Industrielohn sollte ein stabiler Faktor bleiben und nicht durch Preissteigerungen in die Höhe getrieben werden. So fielen durch umfangreiche staatliche Subventionen bis 1938 die Verbraucherpreise wieder auf das Niveau von 1933 zurück. Die auch für die Landwirtschaft geltende, bis 1935 geschaffene "Wehrwirtschaft" war eine Vorstufe der späteren Kriegsernährungsordnung.

Erzeugungsschlacht war ein 1934 vom damaligen Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, entwickeltes Konzept zur Leistungssteigerung der Nahrungsmittelproduktion. Verkündet wurde das Programm vom Reichslandwirtschaftsminister Richard Walther Darré und Backe auf dem Reichsbauerntag am 17. November 1934 in Goslar. Der Reichsgau Ostpreußen war durch seine landwirtschaftliche Prägung besonders betroffen.

Die Erzeugungsschlacht beinhaltet einen Maßnahmenkatalog (Die Zehn Gebote), durch den der Selbstversorgungsgrad in Deutschland bis zur höchsten wirtschaftlich noch möglichen Grenze angehoben werden sollte, um den NS-Staat von Nahrungsmittelimporten möglichst unabhängig zu machen, gerade in Hinblick auf einen neuen Krieg. Die Maßnahmen waren im Einzelnen:

  • Erfassung aller Betriebe,
  • Verbesserung der Böden,
  • Vergrößerung der Anbauflächen für Ölfrüchte,
  • Kredite für die Bauern zur Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen,
  • Bau von Wohnheimen für Wanderarbeiter,
  • Ausbau der staatlichen Beratung sowie die
  • sparsame und effektive Verwendung der landwirtschaftlichen Produkte.

Soweit sich Hildegard Kiehl erinnert, wurden in Wilkental zwar alle Betriebe erfasst, die übrigen Maßnahmen betrafen aber nur die Großbauern und die beiden Güter. Ob sie dann auch durchgeführt und erfolgreich waren, wurden nur teilweisen in der dorfinternen "Neuigkeits-Börse" besprochen - allerdings waren richtig "durchschlagende Erfolge" in Wilkental nicht zu vermelden.

Durch die "Erzeugungsschlacht", welche auch im Schulunterricht in Lindenhöhe thematisiert wurden, gelang es dem Deutschen Reich nur teilweise, die Nahrungsmittelautarkie herzustellen. Wo die Preisfestsetzungen durch den Reichsnährstand die Gestehungskosten eines Erzeugnisses nicht deckten, blieb die Erzeugung hinter den Erwartungen zurück. Dies zeigte sich unter anderem bei der Milcherzeugung, bei der die Verantwortung für den Milchpreis vom Reichsnährstand weg auf den Führer und Reichskanzler hinaufgehoben worden war. Vor allem der Mangel an Fett (so genannte Fettlücke) und Hülsenfrüchten konnte bis Kriegsende, trotz der rücksichtslosen Ausplünderung der besetzten Gebiete, nicht kompensiert werden. Das nach dem Missernte-Jahr 1934 als einmalige Propaganda-Aktion gedachte Programm wurde ab 1940 als Kriegserzeugungsschlacht bis 1944 weitergeführt. Quelle: Erzeugungsschlacht – Wikipedia

Die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche wurde trotz Ausrufung der „Erzeugungsschlacht“ durch Darré von 1933 bis 1939 um ca. 800.000 ha verringert. Grund dafür war die Beanspruchung der Flächen durch die Reichsautobahn und die Wehrmacht. Allein die Errichtung des Westwalls forderte 120.000 ha landwirtschaftlichen Gebietes. Zudem fehlten Düngemittel und Anreize in der Preispolitik. Es bahnte sich die Stagnation der Getreideproduktion an, die kaum noch an die Produktionszahlen von 1913 herankam. Nach Kriegsbeginn entwickelte die Produktion sich sogar rückläufig. Das größte Defizit herrschte aber bei der Versorgung durch Fette und pflanzliche Öle, die bis zu 50 % durch Clearing-Verträge mit Dänemark und den baltischen Staaten eingeführt werden mussten.

Gestoppt werden sollte durch die Neugliederung der Landwirtschaft, neben dem Hauptziel der Sicherung der Ernährungslage u.a. auch die Landflucht. Zwischen 1933 und 1939 verringerten sich die Arbeitsplätze in der deutschen Landwirtschaft um 440.000 auf 1,4 Millionen Menschen, was einem Rückgang von etwa 20 Prozent entsprach. In Ostpreußen konnte die Bevölkerung zwischen 2,33 Mio. im Jahre 1933 und 2,43 Mio. im Jahre 1940 aber stabilisiert werden.

In gewissem Umfang gelang es dem Regime, den Selbstversorgungsanteil Deutschlands von 68 Prozent im Jahre 1928 auf 83 Prozent im Jahre 1938 zu steigern.

Auch eine Produktionssteigerung war zu verzeichnen, aber auch höhere Preise für landwirtschaftlicher Produkte im Inland im Vergleich zu den Weltmarktpreisen. Dieser Aufschwung beruhte in der Landwirtschaft in Ostpreußen weder auf einer Flächenausdehnung oder einer Veränderung der Bodennutzung noch auf einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Sachkapitaleinsatz (Maschinen) und Anzahl der Arbeitskräfte, sondern auf eine (erzwungene) Steigerung der Arbeitsintensität, die nicht zuletzt von den mithelfenden Frauen erbracht werden musste.

In einigen Gemeinden des Kirchspiel Aulowönen wurden die Feldarbeit regelmäßig durch Ortsbauernführer kontrolliert und vor Ort kommentiert. Durch diese gezielten Einschüchterungen entstanden angstvolle Situationen, die sich herumsprachen. Die Arbeitsintensität gerade auf den Gütern nahm zu, was einigen Gutsbesitzern gar nicht so unrecht war. Neben diesen plumpen Methoden hat der Landesbauernführer Spickschen im Zusammenhang mit der Steigerung der Arbeitsintensität auch auf den Reichsausschuss für Arbeitsstudien als mögliches Instrument für die Landwirtschaft hingewiesen. Quelle: Christian Rohrer, Landesbauernführer. Band 1: Landesbauernführer im nationalsozialistischen Ostpreußen. Studien zu Erich Spickschen und zur Landesbauernschaft Ostpreußen.

Foto: Tuttliesen vor der Haustür in Wilkental 1940, von links Erich, Hildegard, Friedel und Manfred

Trotzdem bleiben viele Problem aus der Weimarer Republik in Ostpreußen während des Dritten Reiches bestehen:

  • Die Verschulung der Landwirtschaft stieg nach dem 1. Weltkrieg generell wieder an
  • Etwa ein Fünftel der Güter und 10 % der Großbauern mußten Konkurs anmelden. Z. B. den Bankrott des Willschicken nahen Gutes Akt Lappönen 1920 und damit der Verlust von ca. 35 Arbeitsplätzen. Die 24 Neuansiedler waren nicht identischen mit den freigesetzten Gutsarbeitern. Bis auf 2 Ausnahmen fanden die Gutsarbeiter auf den neuen Höfen keine Arbeit.
  • Der Ausbau von Verkehrswegen ließ trotz einiger Programme auf dem Lande zu wünschen übrig
  • Der durchschnittliche Wochenverdienst lag unter dem der anderen östlichen Provinzen
  • Auf dem Lande fehlten männliche Arbeitskräfte
  • Es gab einen großen Facharbeitermangel im Gewerbe
  • Es fehlten ca. 35.000 Wohnungen
  • Es gab die höchsten Lebenshaltungskosten im Reich

Quelle: Dieter Stüttgen, Die Preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Gumbinnen 1871 - 1920

Die Ostarbeiter und Kriegsgefangenen im Dritten Reich wurden zum Teil nur bewacht eingesetzt, ihre Arbeitsleistung hing wesentlich von ihrem Können, ihrer Behandlung und ihrer Ernährung ab. Die im europäischen Vergleich gute Ernährungslage der Deutschen bis kurz vor Kriegsende war nur durch den millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeitern in Europa und eine massive Ausbeutung der besetzten Gebiete möglich. Sie wurde von Darrés Nachfolger Herbert Backe organisierte und in den Lagern der Zwangsarbeiter und den besetzten Gebieten mit einer rücksichtslosen "Hungerpolitik" durchgesetzt. Diese "Politik" sah den Arbeitseinsatz durch Kürzung der Rationen bis zur Erschöpfung vor - danach wurde bewusst der Hungertod in Kauf genommen.

Während des Krieges wurden Versorgungs- und Lebensmittelkarten eingeführt. Anfangs wurde für Lebensmittel eine „Einheitskarte“ ausgegeben, die vier Wochen galt. Zuerst war der Händler frei wählbar und an den Karten befanden sich Bestellscheine für bestimmte Waren. Diese Bestellscheine trennte der Händler ab, stempelte sie und reichte sie gesammelt beim Reichsernährungsamt ein. Dafür erhielt er von diesem Amt einen Bezugsschein, mit dem der Kaufmann eine entsprechende Menge vom Großhändler bestellen konnte. Dieses System erwies sich bald als wenig praktikabel. Im Laufe des Krieges wurde das Bestellschein-System durch ein sogenanntes „durchlaufendes Bezugsrecht“ ersetzt: Händler schnitten beim Verkauf der Ware die entsprechende Marke ab, klebten sie auf Sammelbögen und erhielten dafür dann einen Bezugsschein, den sie beim Großhändler oder Importeur vorlegten. Hedwig Lerdon, sie führte den Koloniealladen in Lindenhöhe, fuhr mit einem Gespann zweimal die Woche nach Aulenbach, um sich für ihre Kunden im Großhandel einzudecken. Die Lebensmittelkarten galten auch für Ostarbeiter, aber nicht für Kriegsgefangene, die separat - meistens sehr schlecht - versorgt wurden.

Aus Aulenbach wird auch berichtet: "Es wurden Lebensmittelkarten ausgegeben, entsprechend der Anzahl der Personen pro Haushalt. Wenn z.B. ein Schwein geschlachtet wurde, musste das der Behörde gemeldet werden. Die Fleischzuteilung wurde dann entsprechend gekürzt, oder ganz gestrichen. Nach dem Schlachten mußten die beiden Schweinehälften gewogen und von einem Vertrauensmann (höchstwahrscheinlich der Ortsbauernführer) begutachtet werden. Auch wir haben geschlachtet, nur statt eines, haben wir gleich zwei Schweine geschlachtet. Angemeldet haben wir jedoch nur eines. Aus Versehen nahm nun unser Gefangener zum Wiegen die beiden Hälften mit den Schwänzen mit. Wäre nicht mein Großvater Vertrauensmann gewesen, hätte es schlecht für uns ausgehen können. Auf Schwarzschlachten stand damals Zuchthaus." Quelle: Horst Seidler einen Bericht "Meine Kindheit in Ostpreußen" abgedruckt in: Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)

Im Rahmen der erzwungenen Eingliederung aller sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte in die einheitlichen Organisationen des Nationalsozialismus und dem von ihnen gewollten Krieg wurde die Hofbewirtschaftung in Wilkental tief betroffen. Eine allgemeine Verunsicherung machte sich breit. Die Weitergabe von "Neuigkeiten" innerhalb der dörflichen Netzwerke wurde ängstlich eingeschränkt. "Wem kann man noch trauen?" Übereifrige nationalsozialistische Funktionsträger wurden innerhalb des Dorfes zum Teil gemieden. Vorn den familiären Funktionsträgern hieß es: "Der tut nichts, der gehört zur Familie".




Hildegard Kiehl, geborene Tuttlies erinnert sich auch noch im hohen Alter und teilweiser mündlicher Nachfrage an die Veränderungen in Wilkental ab 1933. "Wenn ich daran denke, muss ich immer noch weinen, aber wenn ich lange genug in meinem alten Kopf krame, fällt mir schon vieles ein, was bei uns zu Hause seit Hitler anders wurde."

und zwar an:

  • die Einziehung von Familienmitgliedern zum Krieg - Max und Erich Tuttlies, Gerhard, Siegfried und Walter Kiehl und Fritz Lerdon wurden zum Kriegsdienst eingezogen,
  • die Trauer um die Kriegstoten und Verfolgten - Der Bruder von Gerhard Kiehl Walter ist am 17.08.1944 gefallen und der Schwager Helmuth Harward ist 1940 vermisst worden, Zum Wehrdienst von Gerhard Kiehl siehe auch: Mit klingendem Spiel. Insterburg 1919-1939 - Zander Horst F. (djvu.online) Seite 170 – 173
  • die Sorge um die Gesundheit von Kriegsteilnehmer, Verhafteten und Bombardierten - Gerhard Kiehl musste 1940 wegen einer Schussverletzung für zwei Monate ins Militär-Lazarett,
  • die alltägliche nationalsozialistische Propaganda und persönliche Direktansprache durch NSDAP Funktionäre zu Hause und auf der Straße - Der Bürgermeister besuchte die Tuttliesen regelmäßig und hat sich immer besonders nach der "Gesinnung" der Zwangs-Einquartierten erkundigt, andere Funktionäre fragten die Schulkinder auf der Straße, was ihre Eltern zu Haus lesen und im Radio hören,
  • die Überwachung der Aussaat und Ernte (nach RNST-Vorgaben im Rahmen der Hofkarte - siehe unten) - Ferdinand Tuttlies hat nie eine Hofkarte gesehen, was mit seinem Nebenerwerb zusammenhing, auf den größeren Höfen gab es sie aber, so bei den Burbas, den Eltern von Hildegard Tuttlies,
  • die Bedrohung durch Strafen, bei Verletzung von nationalsozialistischen "Vorschriften" - So migrierte Anni Bartuschat aus Willschicken mit Familie, um den Nazis zu entgehen 1932 nach Neu York,
  • das Fehlen der eingezogenen männlichen Arbeitskräften - Auf dem Tuttliesen Hof konnten nicht alle landwirtschaftlichen Flächen bestellt werden,
  • dass der Schulbesuch in Insterburg und in Lindenhöhe nur noch eingeschränkt möglich war - Viel Schüler kamen trotzdem am Morgen zur Schule und fanden aber wegen nicht angekündigter Partei-Sitzungen, Kriegseinwirkungen, wie Strom- oder Brennstoffmangel oder plötzlicher Abwesenheit der Lehrer eine verschlossene Tür vor,
  • die Doppelbelastung von Frauen in der Landwirtschaft - Berta Tuttlies litt unter ernsten Erschöpfungszuständen und Weinkrämpfen,
  • den festgesetzten niedrigen Wochenlohn der weiblichen Tageslöhner auf den Gütern - Deren Männer waren eingezogen und die Frauen konnten deshalb kaum noch Geld nach Hause schicken und mussten zum Teil im Dorf bei vertrauten Nachbaren heimlich betteln gehen. In einem Fall soll es auch zur angeblichen (Armuts-) Prostitution gekommen sein.
  • die schlechten Verkehrswege, die zunehmend von Militärfahrzeugen ausgefahren waren - Wegen der fehlenden Männer wurden die Straßen in und um Willkental nicht mehr ausgebessert,
  • die Pflicht zur Milchablieferung im NS-Regime 1941 wurde verschärft, um die Fettversorgung im Rahmen der Kriegswirtschaft zu verbessern - Um die Erzeugung von Butter in Wilkental zu erhöhen, wurden nicht nur die Milchablieferungen der Bauern weiter erhöht, sondern auch der Milchverbrauch in den ländlichen Haushalten und bei der Tierfütterung erheblich eingeschränkt,
  • die Verdunkelung. ab 1941 mussten, wegen verstärkter Luftangriffe, alle Fenster verdunkelt werden, das galt auch auf dem Lande. Das Verdunklungspapier war wochenlang ausverkauft. Regelmäßige Kontrollen durch Parteiangehörige in den Dörfern führten bei Nichteinhalten zu Anzeigen - Die Nachbarin Frau Kianka mussten wegen fehlender Verdunkelung eine Strafe von 10 RM zahlen und erhielt eine scharfe Verwarnung,
  • die Ausgabe von Lebensmittelkarten - Beim Kinderbesuch zu Hause gab es in Wilkental keine zusätzlichen Lebensmittelkarten,
  • die Fleischzuteilungen aus eigener Schlachtung und deren Kontrolle - Die "Schwarz-Schlachtungen" von Geflügel und Ferkeln fanden auch bei den Tuttliesen unter großer "Geheimhaltung" statt, das Fleisch wurden gegen andere "Begehrlichkeiten" nur bei engen Bekannten und vertrauten Verwandten eingetauscht, obwohl darauf sehr strenge Strafen standen.
  • die Reglementierung von Viehfutter wie Kartoffeln und Getreide - Hildegard Kiehl kann sich an keine eigene Reglementierung erinnern, auf den größeren Höfen fand sie aber statt,
  • die Zwangs-Einquartierung von ausgebombten Familien - Auf dem Tuttliesen Hof wurden regelmäßig ausgebombte (Teil) Familien einquartiert. Ihnen standen 2 möblierte Zimmer, die Mit-Benutzung der Küche und ein eigenes Hof-Klo zu. Die Kinder besuchten die Schule in Lindenhöhe,
  • den Einsatz von Ostarbeitern und Kriegsgefangenen und deren teilweise katastrophalen Unterbringungsmöglichkeiten auf den Gütern und bei einigen Großbauern - Eine junger weißrussischer Ostarbeiter Michael Kitursko,18 Jahren alt; wurde 1941 dem Hof der Tuttliesen „zugeteilt“ und er wohnte auch dort. Er wurde zu einem geachteten Familienmitglied mit gemeinsamen Mahlzeiten und einem eigenen Zimmer im Wohnhaus. Er erhielt auch dieselben Lebensmittelkarten wie die Tuttliesen. Seine Teilnahme an der Flucht 1945 wur­de ihm vom Bürgermeister in Willschicken untersagt.
  • die Einberufung zum Volkssturm umfasste in erster Linie Bau- und Schanzarbeiten, Sicherungsaufgaben und die Verteidigung von Ortschaften, zumeist in unmittelbarer Heimatgegend - Ferdinand Tuttlies wurde mit 76 Jahren noch auf der Flucht zum Volkssturm in Königsberg eingezogen,
  • das teilweise Versagen der ostpreußischen Verwaltung durch völlig verspäteten Räumungsbefehle zur Flucht - Gauleiter Erich Koch floh selbst am 24. April 1945 mit einem Flugzeug von Pillau-Neutief auf die Halbinsel Hela, von wo er auf dem eigens für ihn extra bereitgehaltenen Hochsee-Eisbrecher "Ostpreußen" am 27. April 1945 vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee über die Ostsee entkommen konnte. Koch erteilte bis zu seiner eigenen Flucht keinen allgemeinen Räumungsbefehl für die gesamte Provinz Ostpreußen,
  • die bleibende tiefe Trauer über den Verlust der Heimat Wilkental.


17.8 Das Reichserbhofgesetz

Das Reichserbhofgesetz für das Dritte Reich wurde am 29. September 1933, zwei Tage vor dem ersten Reichserntedankfest erlassen. Ein preußisches Erbhofgesetz wurde bereits am 15.5.1933 vorhergegangen.

Das Reichserbhofgesetz war nicht frei von Bürokratie und juristischem „Kleinkram“ - das alles kostete Zeit und Geld.

1. Man musste zunächst zu einem Notar, um einen Antrag zu stellen

2. der Hof musste sodann als Erbhof ins Grundbuch (Erbhof-Rolle) eingetragen werden. Durch dieses Erbrecht wollte man verhindern, dass ein Hof unter die Nachkommen des Bauern aufgeteilt, also zersplittert und damit wirtschaftlich instabil wurde. Dass bei diesem neuen Erbgesetz viele Nachkommen benachteiligt wurden, versuchte man dadurch zu kompensieren, dass der Erbe ihnen Erziehung und Ausbildung zu Verfügung stellen musste und ihnen ebenso „Heimatzuflucht“ gewähren musste, falls sie ohne eigenes Verschulden in Not geraten waren. Die fixe Anerbe-Ordnung hielt viele Landwirte davon ab, ihren Hof als Erbhof eintragen zu lassen. Sie wurden zum staatlich garantierten, unverkäuflichen, unteilbaren, allein an den erstgeborenen Sohn vererbbaren Dauerbesitz erho­ben. Miterben hatten nur ein Recht auf Berufsausbildung und Aussteuer. Die Erbfolge wurde kraft des Anerben-Rechts gehandhabt. Später wurde das Reichserbhofgesetz dahingehend geändert, dass nicht mehr der älteste, sondern der jüngste Sohn der Anerbe war. Danach konnten auch Frauen Anerbe werden.

3. wobei drittens verschiedene Bedingungen erfüllt sein mussten. Besitzer des Erbhofs mussten „deutsch oder stammesgleichen Blutes“, deutscher Staatsbürger, „ehrbar“ und anfänglich männlich sein, erst ab 1943 wurden Frauen zugelassen. Der Begriff „ehrbar“ wurde so interpretiert, dass Juden, Menschen mit Behinderungen und andere von den Nazis als nicht lebenswürdig eingestufte Personen davon ausgeschlossen wurden. Die tatsächliche Zahl der Juden in der Landwirtschaft war gering, doch hatte das Gesetz auch eine ideologische Wirkung: Seit Einführung des Gesetzes durften sich nur mehr Besitzer von Erbhöfen Bauern nennen; alle anderen landwirtschaftlichen Betriebsbesitzer mussten sich Landwirt nennen. Damit konnte man unter anderem die politische Zuverlässigkeit feststellen, außerdem wurde der Erbhofbauer damit symbolisch über die Landwirte gestellt. Des Weiteren war der Erbhof „unveräußerlich“, er konnte also weder verpfändet noch als Sicherheit bei Krediten angegeben werden. Damit bezweckte man, dem Hof den „kapitalistischen Warencharakter“ zu nehmen

1939 waren von insgesamt 3.198.563 land- und forstwirtschaftlichen Betrieben 689.625 Betriebe als Erbhöfe gemeldet. Der Anteil der Erbhöfe bei den Betrieben lag bei nur 21,6 Prozent, doch diese Erbhöfe bewirtschafteten über 38 Prozent des gesamten Ackerlandes.

Der größte Anteil der Erbhöfe lag im Größenbereich von 10 bis 15 ha, dem von den Nationalsozialisten als ideal angesehenen Größenmaß. Gleich darauf folgten die Höfe zwischen 25 und 50 ha, die alleine fast 30 Prozent der Erbhoffläche besaßen. Es wurden freiwillig nur 21.000 Höfe gemeldet, die außerhalb der Größennorm lagen, also kleiner als 7,5 oder größer als 125 ha waren.

Die größten Schwachpunkte des Reichserbhofgesetz lagen darin

  • Der überwiegende Teil der "Landwirte" das Anerbenrecht nicht akzeptierten, da sie über die Erbfolge nicht mehr frei entscheiden konnten.
  • Die "Nichterben" sahen auf dem Land keine Perspektive und wanderten in die Städte und Industriegebiete ab - das war der größte Teil der Hofbewohner.
  • Dass „aus politischen Gründen“ die ökonomisch überlegenen Großgrundbesitzer in den Umbau nicht einbezogen werden wollten. In den Anfangsjahren der Diktatur hatte die Großagrarier auch in den entsprechenden landwirtschaftlichen Gremien noch Einfluss, der aber nach der Konsolidierung des Nationalsozialismus deutlich zurückging.
  • Aus dem Planungsvorhaben, die klei­nen Höfe und Zwergbetriebe mit weniger als 7,5 Hektar Land durch staatlichen Zwang zusammenzulegen nichts wurde, da die Partei zu Rechte Unruhen auf dem Land gefürchtet. Die Kleinbauern in Ostpreußen waren Hitlers treueste Wähler.

Quelle: Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945) – Wikipedia

Im Elternhaus der Tuttliesen in Willschicken wurde der Besitzer August Herrmann Tuttlies 1866 geboren. Er hatte zwei Söhne Ferdinand und Ewald und zwei Töchter Eva und Magarete. Im Jahre 1904 machte sich Ferdinand Tuttlies, der erste Sohn, unterhalb der Lindenhöher - Alt Lappöner Chaussee auf Willschicker Gemeindeland an den Bau eines eigenen Hofes. Die junge Familie suchte ein eigenes Zuhause. Auf der anderen Straßenseite lag in Willschicken sein El­ternhaus.

Nach seinem 64sten Geburtstag am 01.12.1932  überschrieb Ferdinand Tuttlies, aufgrund des Verbotes der Hofteilung an alle leiblichen Kinder sein Anwesen an seinen zweiten Sohn Erich Tuttlies, der es auch bewirtschaftet. Die Sorgen dem Reichserbhofgesetz von 1933 zu unterliegen, waren aber nicht begründet, da der Hof von Ferdinand Tuttlies als Nebenerwerbsstelle klassifiziert wurde und ein genereller Zwang zur Antragstellung um "Bauern" zu werden, nicht vorgesehen war. Erich Tuttlies wurde aber 1938 eingezo­gen. Ferdinand Tuttlies war zwar Altsitzer, arbeitet aber noch auf dem Hof bis 1941 mit. Als er ernsthaft erkrankte, sprang die Tochter Hildegard und der Ostarbeiter Michael Kitursko ein. Ferdinand Tuttlies behielt mit seiner Ehefrau Berta rechtlich die Wohnung im Wohnhaus einschließlich eines festgelegten Deputats an Verpflegung und Heizmaterial für den Winter. Dieses war schriftlich festgelegt worden. Erich Tuttlies plante, für eine Familiengründung, in einem noch zu errichtenden Anbau, eigene Räume einzurichten, daraus wurde aber nichts.

Die Altersversorgung der Landwirte in Ostpreußen war bis 1911 ausschließlich im Rahmen der Hofübergabeverträge als sogenannte Ausgedinge bzw. Altenteilsleistungen geregelt. Diese waren oft auf Sachleistungen beschränkt, so dass der älteren Generation zu großen Teilen der Zugang zu Bargeld gänzlich fehlte. Die Schneiderei übte Ferdinand Tuttlies auch im Alter - wenn nicht durch Krankheit gehindert - das ganze Jahr über noch bis zur Flucht am 10 Januar 1945 aus. Für sein Genähtes verlangte er während der Wirtschaftskrisen Naturalien ansonsten Bargeld. Seine Preise hatte er - unbeschadet der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskriese - seit 15 Jahren real nicht erhöht. Sein Maßstab war und blieb der Naturalien-Wert. D.h. wenn Ferdinand Tuttlies ein Oberhemd nähte dauerte es etwa 6 - 8 Stunden mit Anprobe. Er berechnete dafür etwa 3 RM oder 5 Kilo Roggen. Der Stoff wurde je nach Qualität extra berechnet. Der monatliche Zuverdienst als Rentner blieb aber überschaubar.

Als Nebenerwerbler hatte er sich freiwillig sozialversichert und zahlte, wenn auch nur einen geringen Betrag, seit 1911 in die Landesversicherungsanstalt (LVA) von Ostpreußen in Königsberg, ein. Seine Soldatenjahre während des 1. Weltkrieges wurden angerechnet. Mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 wurden Krankenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung zu einem einheitlichen Gesetzwerk zusammengefasst. Durch die RVO dehnte sich die Versicherungspflicht auf Dienstboten, Waldarbeiter sowie beschäftigte der Land- und Forstwirtschaft aus. Ferdinand Tuttlies war zumindest krankenversichert, seine Frau nicht.

Nach dem Tod von August Herrmann Tuttlies 1921 übernahm dessen 2. Sohn Ewald Tuttlies den elterlichen Hof oberhalb der Straße. Er führte einen "liederlichen" Lebenswandel und verschuldete sich u.a. in der Verwandtschaft sehr hoch und konnte so sein Schulden aufgrund seiner eigenen wirtschaftlichen Lage nicht mehr zurückzahlen. Ihn "schützte" auch das Beleih- und Zwangsvollstreckungsverbot von Höfen, hingegen war eine Zwangsversteigerung noch möglich. Schließlich einigte man sich mit Hilfe des Gerichtes. Er musste das Haupthaus seiner Familie überlassen und sein Land verpachten, blieb aber Eigentümer. Die Kreditgeber verloren auf Grund der Weltwirtschaftskrise ihre Gelder bzw. wurden als Pächter ohne Pacht zuzahlen eingesetzt. Er trennte sich von seiner Familie, blieb aber auf dem Hof in einem separaten Gebäude wohnen, für das er auch Miete an seine Familie zu zahlen hatte. Weitere Hofgebäude wurden ebenfalls vermietet. Die Mieten dienten zum Unterhalt der Restfamilie im Haupthaus. 1934 ging Ewald Tuttlies zur Wehrmacht. Sein späteres Schicksal ist unbekannt.



17.9 Entschuldung

Mit dem Gesetz zur Regelung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse (LWSG) vom 1. Juni 1933 wurde eine neue Entschuldungsmaßnahme für Landwirte geschaffen. Diese richtete sich nun nicht mehr an die ostelbischen Landwirte, sondern war reichsweit anwendbar. Zur Durchführung wurden Entschuldungsgerichte an Amtsgerichten gebildet. Um die Arbeit zu vereinfachen, wurden ab dem 1. Juli 1935 Entschuldungsämter geschaffen. Ein solches Entschuldungsamt war typischerweise für verschiedene Amtsgerichtsbezirke zuständig.

Die Entschuldungsämter benannten Entschuldungsstellen, die die eigentliche Schuldenregelungsverfahren durchführten. Diese Entschuldungsstellen waren öffentlich-rechtliche oder genossenschaftliche Banken, landwirtschaftliche Genossenschaften oder gemeinnützige Siedlungsgesellschaften. Sie waren typischerweise auch Hauptgläubiger. Im Vordergrund des Verfahrens stand zunächst einmal die einvernehmliche Einigung der Gläubiger auf einen Schuldenregulierungsplan. Dieser konnte einen Teilverzicht der Gläubiger (auf Zinsen oder Kapital) und/oder eine Abgabe/Verkauf von Flächen beinhalten. Im Gesetz waren hierzu umfangreiche Regelungen getroffen, wie hoch die Verzichtsquoten bei erst- und nachrangig besicherten und nicht besicherten Krediten maximal ausfallen konnten. Kam keine Einigung zustande, so konnte das Entschuldungsamt einen Zwangsvergleich verordnen. Der Vergleich bedurfte zur Wirksamkeit keiner Einstimmigkeit der Gläubiger, sondern nur einer Mehrheitsentscheidung. Die Entschuldungsstelle hatte auch die Möglichkeit ein Zwangsversteigerungsverfahren zu betreiben. Dies diente als Druckmittel zur Einigung. Das Entschuldungsverfahren durchliefen in Ostpreußen aber nur zwischen 10 und 20 % aller verschuldeten Höfe. Dies betraf in der Regel auch nur die kleineren und mittleren Höfe. Gutsbesitzer "entschuldeten" sich in der Regel durch den gesamten Landverkauf an eine Privatperson oder eine Gesellschaft außerhalb des Verfahrens, das Verfahren war für sie nicht "standesgemäß".

Quelle: Landwirtschaftliches Schuldenregelungsverfahren – Wikipedia

Das Anwesen von Ferdinand Tuttlies war schuldenfrei, nicht zuletzt durch den Landverkauf von 1904 und die erfolgreichen gewerblichen Nebenerwerbe von Ferdinand Tuttlies als Maurer und Schneider. Die Dörfler wussten im Allgemeinen die wirtschaftliche Lage ihrer Nachbaren gut einzuschätzen. Hildegard Tuttlies hat ihren Vater als einen freundlichen und sehr gutgläubigen Menschen beschrieben. Der größte Schuldner von Ferdinand Tuttlies wurde im Laufe der Zeit allerdings sein eigener Bruder Ewald, was zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Familien führte. Inzwischen war eine beträchtliche Summe aufgelaufen. Da eine Einigung privat nicht mehr möglich war, nahm Ferdinand seinen Bruder jetzt am Schlafittchen. Er suchte, auch auf Drängen seiner Frau Berta, die Unterstützung durch die Behörden. Dies führte im Dorf zu beachtlicher Aufregung. Das Verfahren dauerte fast zwei Jahre. Nach einem gerichtlichen Vergleich übernahm Ferdinand Tuttlies 1929 Teile des Landes von seinem Bruder als kostenfreie Pacht, sein verliehenes Geld war auf Grund der Weltwirtschaftskriese nichts mehr wert - ähnlich dem Wert-Verlust der Kriegsanleihen, die sein Vater 1914 gezeichnet hatte, durch die Hyperinflation ab 1918. Die Dörfler standen zu Ferdinand Tuttlies, Ewald Tuttlies wurde gemieden. Er ging 1934 zur Wehrmacht.


17.10 Ostarbeiter

Nach Ausbruch der Zweiten Weltkrieges verlor der Reichsnährstand (RNST) an Einfluss. Die Kriegswirtschaft und der massiven Armeaufbaus hatten Vorrang.

Dazu kam, die noch verbliebenen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft wurden knapp. Viele wanderten ab. Hilfskolonnen der Hitlerjugend (HJ), des Bund Deutscher Mädel (BDM) und des Reichsarbeitsdient (RAD), dazu Tausende von Mädchen, die das neugeschaffe­ne „Pflichtjahr“ in einem Haushalt absolvieren mussten, wurden zum „Ern­teeinsatz“ abkommandiert, ohne jedoch die abgewanderten Fachkräfte erset­zen zu können. Der Hauptgrund der Abwanderung lag in den deutliche besse­ren Einkommensmöglichkeiten in Industrie und Handel und im Reichshofge­setz, das den Nichterben keine Perspektive bot. Quelle: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte, Bd. 3

Herrmann Göring sah die "Lösung" im Einsatz von Ostarbeitern. Im Januar 1942 befahl Göring mit Erlass vom 19. Dezember 1941 die Ostanwerbung und unterstellte alle Bewohner der besetzten Ostgebiete der öffentlichen Arbeitspflicht, da der Übergang zu einem Abnutzungskrieg zu einem dramatischen Arbeitskräftemangel - gerade in der Landwirtschaft - in Deutschland geführt hatte. Ohne die rund 8 Millionen Zwangsarbeiter in ganz Europa und die rücksichtslos wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Länder wäre das Kriegsende schon einige Jahre früher erfolgt.

Ostarbeiter war in der Zeit des Zweiten Weltkrieges die offizielle Bezeichnung für Arbeitskräfte nichtdeutscher Volkszugehörigkeit, die im Reichskommissariat Ukraine, im Generalkommissariat Weißruthenien oder in Gebieten, die östlich an diese Gebiete und an die früheren Freistaaten Lettland und Estland angrenzten, erfasst wurden und für das Deutsche Reich arbeiteten. Nach der Besetzung dieser Gebiete durch die Wehrmacht wurden sie zur Arbeit im Deutschen Reich einschließlich des Protektorates Böhmen und Mähren angeworben oder dorthin zur Zwangsarbeit verschleppt. Sie wurden hauptsächlich in Betrieben der Rüstungsindustrie und Landwirtschaft und im Rahmen der „Bauhilfe der Deutschen Arbeitsfront GmbH“ für den Bau von Behelfsunterkünften im Rahmen des Deutschen Wohnungshilfswerks eingesetzt, um den kriegsbedingten Mangel an deutschen Arbeitskräften auszugleichen.

Im Gesamtzeitraum des Krieges waren ca. 2,75 Mio. Ostarbeiter im Reich beschäftigt, davon geschätzte 700.000 in Ostpreußen, einschließlich der vor Kriegsbeginn vorhandenen Zivilarbeiter aus Polen.


Nach dem Angriff auf die Sowjetunion kamen in den Allgemeinen Bestimmungen über Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten im Osten von 1942, auch „Ostarbeitererlass“ genannt, vom 20. Februar 1942 nach dem Vorbild der Polen-Erlasse schärfer gefasste Bestimmungen für sowjetische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter hinzu

Die „Ostarbeitererlasse“ enthielten folgende Bestimmungen:

  •        Verbot, den Arbeitsplatz zu verlassen
  •        Verbot, Geld und Wertgegenstände zu besitzen
  •        Verbot, Fahrräder zu besitzen
  •        Verbot, Fahrkarten zu erwerben
  •        Verbot, Feuerzeuge zu besitzen
  •        Kennzeichnungspflicht: ein Stoffstreifen mit der Aufschrift „Ost“ musste gut sichtbar auf jedem Kleidungsstück befestigt werden
  •        Betriebsführer und Vorarbeiter besaßen ein Züchtigungsrecht
  •        schlechtere Verpflegung als für Deutsche
  •        weniger Lohn als Deutsche
  •        Verbot jeglichen Kontakts mit Deutschen, selbst der gemeinsame Kirchenbesuch war verboten
  •        Gesonderte Unterbringung der Ostarbeiter, nach Geschlechtern getrennt
  •        Bei Nichtbefolgen von Arbeitsanweisungen bzw. Widersetzlichkeiten drohte die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager
  •        Strenges Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Deutschen, darauf stand zwingend die Todesstrafe "

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/OstarbeiterOstarbeiter – Wikipedia

Die deutsche Kriegswirtschaft, Industrie und Landwirtschaft hätte ohne das Millionenheer deportierter Fremdarbeiter und Kriegsgefangener nicht funktio­niert; deren Zahl stieg von 1,2 Millionen im Jahr 1941 auf 7,8 Millionen im Jahr 1944 – davon knapp fünf Millionen Russen und Polen. Die „Zuteilung“ der Ostarbeiter für die Landwirtschaft sollte über die Landesbauernschaft aufgrund der „Arbeits-Meldungen“ des lokalen Ortsbauernführer erfolgen. Dabei kam es zu Problemen mit eifrigen Blockleitern, die die Zuteilung und besonders die Überwachung für sich reklamierten.

Quelle: ÖNB-ALEX - Deutsches Reichsgesetzblatt Teil I 1867-1945 (onb.ac.at)und https://de.wikipedia.org/wiki/OstarbeiterOstarbeiter – Wikipedia

Auf dem ehemaligen Gut Alt Lappönen wurde in einem Gebäude ein bewachtes "Zwangs-Arbeits-Lager" für 40 Ostarbeiter eingerichtet, die alle auf den umliegenden Gütern arbeiten mussten. Das Gebäude wurde früher als "Schnitterkaserne" genutzt. In der übrigen Jahreszeit waren dort früher Tageslöhnen untergebracht gewesen. (Quelle: Erinnerung von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies)

Eine junger weißrussischer Ostarbeiter Michael Kitursko,18 Jahren alt; wurde 1941 dem Hof der Tuttliesen „zugeteilt“ und er wohnte auch dort. Er wurde zu einem geachteten Familienmitglied mit gemeinsamen Mahlzeiten und einem eigenen Zimmer im Wohnhaus. Er erhielt auch dieselben Lebensmittelkarten wie die Tuttliesen. Seine Teilnahme an der Flucht 1945 wur­de ihm vom Bürgermeister in Willschicken untersagt. Sein späteres Schicksal ist trotz veranlasster Nachforschungen durch das Rot Kreuz in Weißrussland im Heimat-Rajon Maladsetschna (belarussisch Маладзечанскі раён; russisch Молодечненский район) ungewiss geblieben.


17.11 Herr Meyer aus Aulenbach

Lothar Kuparat berichtet aus Aulenbach, der Nachbargemeinde von Wilkental:

In: Ein Spaziergang durch mein altes Aulenbach Lothar Kuprat Bremen Februar 2013

„… Ich gehe die Flötkestraße zurück bis an die Kreuzung (Insterburger Str.). Über die Brücke der Aula hinter Gefeller komme ich nach ca. 100m, rechts, an das erste Haus. Herbert Meyer, man sagte nur Jud Meyer, hatte hier bis 1938 sein Konfektionsgeschäft. Mein Spaziergang geht weiter, doch an das Haus komme ich zurück.  …

Ich gehe zurück an das Konfektionsgeschäft Herbert Meyer. Da meine Mutter hier einkauft, gehe ich ab und zu mit. Eigentlich soll sie hier nicht einkaufen. Das bekomme ich erst später mit. Mein Stiefvater ist Beamter. Irgendwann steht vor dem Haus ein Schaukasten, innen "Der Stürmer", dem Hetzblatt von Julius Streicher. Ich habe mir die Bilder angeschaut und über die Karrikaturen gelacht. Die Schaufenster werden 1938 eingeschlagen, einige Tage wird Meyer in die Zellen des Spritzenhauses eingesperrt. Ich sehe seine Frau mit dem kleinen Kind, wie sie ihrem Mann das Essen bringt. Bürgermeister Ehmer bemüht sich um die Ausreise und bringt die Familie persönlich nach Inster­burg. Ob er Erfolg hatte, habe ich bis heute nicht eindeutig klären können. In meinem Alter habe ich dieses Drama nicht verstanden. Der Vater war ein de­korierter Soldat des 1.Weltkrieges und im Ort beliebt und angesehen. Für den Ort ist es kein Ruhmesblatt, auch wenn der Einzelne sicher machtlos war.“

Quelle:  [https://wiki.genealogy.net/images/1/12/Aulenbach_%28Ostp.%29_-_Ein_Spaziergang_durch_mein_altes_Aulenbach_2013.pdf Aulenbach_(Ostp.)__Ein_Spaziergang_durch_mein_altes_Aulen bach_2



"Das KZ Stutthof war ein deutsches Konzentrationslager, 37 Kilometer östlich von Danzig bei Stutthof im Landkreis Danziger Niederung auf dem Gebiet der annektierten Freien Stadt Danzig. Das Lager bestand nach vorbereitenden Arbeiten im Juli und August vom 2. September 1939 bis zum 9. Mai 1945." Etwa 110.000 Menschen wa­ren insgesamt in diesem Konzentrationslager inhaftiert, wovon ungefähr 65.000 umkamen."

Quelle: KZ Stutthof – Wikipedia

„Angesichts des Anrückens der sowjetischen Truppen wurden im Januar 1945 die ostpreußischen Außenlager des KZ Stutthof aufgelöst und die Insassen über Königsberg nach Palmnicken getrieben. Den Todesmarsch überlebten von ursprünglich über 7000 jüdischen Häftlingen, überwiegend Frauen aus Polen und Ungarn, nur etwa 5000, die am 27. Januar in Palmnicken eintrafen.

Am nächsten Morgen lagen in den Straßen Dutzende erschossene und er­schlagene Frauen in Häftlingskleidung, vielfach furchtbar entstellt. Nicht alle der entsetzten Palmnicker schwiegen. Der ursprüngliche Plan der SS-Wachmannschaften, die Häftlinge in einem Stollen des Bernsteinbergwerkes Anna einzumauern, scheiterte am Widerstand des Werksdirektors Landmann sowie des Güterdirektors und Volkssturmkommandanten Feyerabend, der an die in der Werksschlosserei eingepferchten Frauen Kartoffeln und Essen ver­teilen ließ. Auch andere Einwohner versuchten, den Häftlingen zu helfen.

Weil der Plan der Vernichtung durch Einmauern misslang, mussten sich etwa 2000 Häftlinge am 30. Januar an einer langen Grube im Bernsteinwerk paar­weise nacheinander niederknien. Quelle: Jantarny – Wikipedia

Nach Martin Bergau ( Martin Bergau – Wikipedia ) tötete sie ein SS-Mann per Genickschuss, ein zweiter lud die Magazine der Pistolen nach. Die etwa 3000 Juden, die noch am Leben waren, trieb die SS in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar an die Steil­küste zwischen Palmnicken und Sorgenau, weiter auf das Eis der Ostsee und schoss mit Maschinenpistolen auf sie.

Zehn Wochen später nahmen sowjetische Truppen den Ort ein und entdeck­ten die Leichen am Strand. Der Kommandeur, selbst russischer Jude, zwang die in Palmnicken verbliebene Zivilbevölkerung, die Toten aus dem Strand zu graben und in Massengräbern zu bestatten. Höchstens 15 der 7000 Gefange­nen überlebten dieses letzte große Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg.

An einem Massengrab für 263 Opfer an der Grube Anna wurde 1999 ein Ge­denkstein errichtet. 2011 wurde das Holocaust-Mahnmal Palmni­cken eingeweiht“

Nach den bekannten Quellen gab es in Willkental keine "jüdische Bevölkerung.

Nahe dem Tannenberg-Denkmal wurde während des Zweiten Weltkrieges das größte Kriegsgefangenenlager auf ostpreußischem Boden eingerichtet. In Baracken und Erdhöhlen wurden durchschnittlich 20.000 polnische, französische und sowjetische Soldaten untergebracht. Insgesamt starben hier 55.000 Kriegsgefangene, die auf dem Friedhof Schwenteinen (polnisch Świętajny) begraben wurden. Mit Wirkung zum 1. April 1941 wurden Teile der Stadt, die durch eine Flussregulierung auf das östliche Ufer der Passarge geraten waren, in den Landkreis Allenstein umgegliedert. Quelle: Olsztynek – Wikipedia


18. Ausblick

Zur Vertreibung der Bevölkerung aus Ostpreußen siehe den Text: "Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang", Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies.

Zwischen dem Foto von 1925 von Berta und Ferdinand Tuttlies mit Enkel und dem Luftbild von 1980 liegen 55 Jahre, in denen sehr viel passiert ist.

Das folgende Foto zeigt Berta und Ferdinand Tuttlies 1930 mit den Enkeln Manfred und Carlhorst :




Die Oblast Kaliningrad (russisch Калинингра́дская о́бласть Kaliningradskaja Oblast), auch Kaliningrader Gebiet genannt, ist die westlichste Oblast (Russisch für Gebiet) der Russischen Föderation. Sie ist eines der kleinsten Föderationssubjekte und zugleich die kleinste Oblast Russlands. Die Oblast hat knapp 942.000 Einwohner (2010) und ist mit 15.125 km² Fläche etwas kleiner als Schleswig-Holstein. Quelle: Oblast Kaliningrad – Wikipedia

Bei dem Besuch von Hildegard Kiehl 1982 in Wilkental mit einer Reisegruppe waren der Hof der Familie Tuttlies und das Soldatengrab nicht mehr vorhanden. Der Ort existiert heute nicht mehr. Einige Mitreisende hatte ihre alten Hausschlüssen dabei.

Die Unterkunft in Insterburg war das Hotel „Zum Bären“ in der Tunnelstraße. In den Jahren 1983 und 1995 folgten weitere Besuche.

"Das Hotel hat 5 Einbett-, 18 Doppelzimmer und 4 Dreibettzimmer. Alle Zimmer sind mit Telefon, Bad oder Dusche/WC ausgestattet. Es gibt eine Bar und ein Restaurant. In der Nähe des Stadtzentrums, unweit vom Bahnhof gelegen." Die Adresse lautet: Uliza Tunnelnaya 2, Tscherjakovst im Oblast Kaliningrad

Quelle: Reise nach Insterburg Tschernjachovsk Hotel Insterburg Tschernjachovsk Visum für Insterburg (baltictravel.de)


Anlage 1: Schadensberechnung


Anlage 2: Bevölkerungsentwicklung im Deutschland 1900 -1946

Jahr Bevölkerung Lebend­geborene Sterbefälle natürliche

Bevölkerungsveränderung

Geburtenrate Sterberate natürliche

Bevölkerungsveränderung

Zusammen­gefasste

Fruchtbar­keits-

ziffer

in %

in % in % in %
absolut absolut absolut absolut je 1 000 Einw. je 1 000 Einw. je 1 000 Einw.
1900 54 326 000 1 944 139 1 199 382 744 757 35,8 22,1 13,7 4,93
1901 55 144 000 1 980 313 1 140 489 839 824 35,9 20,7 15,2 4,88
1902 56 017 000 1 971 735 1 088 492 883 243 35,2 19,4 15,8 4,82
1903 56 869 000 1 931 078 1 135 905 795 173 34,0 20,0 14,0 4,77
1904 57 695 000 1 972 847 1 128 183 844 664 34,2 19,6 14,6 4,68
1905 58 514 000 1 935 153 1 158 314 776 839 33,1 19,8 13,3 4,60
1906 59 343 000 1 970 477 1 078 202 892 275 33,2 18,2 15,0 4,51
1907 60 183 000 1 948 933 1 084 309 864 624 32,4 18,0 14,4 4,43
1908 61 023 000 1 964 052 1 100 490 863 562 32,2 18,0 14,2 4,34
1909 61 857 000 1 929 278 1 062 217 867 061 31,2 17,2 14,9 4,18
1910 62 698 000 1 876 778 1 016 665 860 113 29,9 16,2 13,7 4,01
1911 63 469 000 1 824 729 1 097 784 726 945 28,7 17,3 11,5 3,85
1912 64 236 000 1 823 636 1 000 749 822 887 28,4 15,6 12,8 3,68
1913 65 058 000 1 794 750 975 950 818 800 27,6 15,0 12,6 3,52
1914 65 860 000 1 775 596 1 246 310 529 286 27,0 18,9 8,0 3,27
1915 65 953 000 1 353 546 1 410 420 -56 874 20,5 21,4 -0,9 3,02
1916 65 795 000 1 005 484 1 258 054 -252 570 15,3 19,1 -3,8 2,76
1917 65 450 000 912 109 1 345 424 -433 315 13,9 20,6 -6,6 2,51
1918 64 800 000 926 813 1 606 475 -679 662 14,3 24,8 -10,5 2,26
1919 62 897 000 1 260 500 978 380 282 120 20,0 15,6 4,5 2,33
1920 61 794 000 1 599 287 932 929 666 358 25,9 15,1 10,8 2,40
1921 62 473 000 1 581 130 869 555 711 575 25,3 13,9 11,4 2,48
1922 61 890 000 1 424 804 890 181 534 623 23,0 14,4 8,6 2,55
1923 62 250 000 1 318 489 866 754 451 735 21,2 13,9 7,2 2,62
1924 62 740 000 1 290 763 766 957 523 806 20,6 12,2 8,4 2,42
1925 63 110 000 1 311 259 753 017 558 242 20,8 11,9 8,8 2,21
1926 63 510 000 1 245 471 742 955 502 516 19,6 11,7 7,9 2,10
1927 63 940 000 1 178 892 765 331 413 561 18,4 12,0 6,5 1,98
1928 64 470 000 1 199 998 747 444 452 554 18,6 11,6 7,0 1,99
1929 64 670 000 1 164 062 814 545 349 517 18,0 12,6 5,4 1,93
1930 65 130 000 1 144 151 718 807 425 344 17,6 11,0 6,5 1,88
1931 65 510 000 1 047 775 734 165 313 610 16,0 11,2 4,8 1,71
1932 65 716 000 993 126 707 642 285 484 15,1 10,8 4,3 1,62
1933 66 027 000 971 174 737 877 233 297 14,7 11,2 3,5 1,58
1934 66 409 000 1 198 350 725 000 473 000 18,0 10,9 7,1 1,93
1935 66 871 000 1 263 976 792 018 471 958 18,9 11,8 7,1 2,03
1936 67 349 000 1 278 583 795 793 482 790 19,0 11,8 7,2 2,07
1937 67 831 000 1 277 046 794 367 482 679 18,8 11,7 7,1 2,09
1938 68 424 000 1 348 534 799 220 549 314 19,7 11,7 8,0 2,25
1939 69 314 000 1 413 230 854 348 558 882 20,4 12,3 8,1 2,39
1940 69 838 000 1 402 258 885 591 516 667 20,1 12,7 7,4 2,40
1941 70 244 000 1 308 232 844 435 463 797 18,6 12,0 6,6 2,25
1942 70 834 000 1 055 915 847 861 208 054 14,9 12,0 2,9 1,83
1943 70 411 000 1 124 718 853 246 271 472 16,0 12,1 3,9 2,00
1944 69 000 000 1 215 000 915 000 300 000 17,6 13,3 4,3 1,89
1945 66 000 000 1 060 000 1 210 000 -150 000 16,1 18,3 -2,3 1,53
1946 64 260 000 921 998 1 001 331 -79 333 14,3 15,6 -1,2 1,65


Quelle:   Demografie Deutschlands – Wikipedia

Anlage 3: Links zu Willschicken und Umgebung:

Aulenbach - ALT – GenWiki (genealogy.net) Wilkental neu

"Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)


"Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)" – GenWiki (genealogy.net)



http://wiki-de.genealogy.net/GOV:WILTALKO04VT

Wilkental – GenWiki (genealogy.net)

Alt Lappönen – GenWiki (genealogy.net)

Paducken – GenWiki (genealogy.net)

Aulenbach – GenWiki (genealogy.net)

Aulowönen – GenWiki (genealogy.net)

Bambullen – GenWiki (genealogy.net)

Birkenhof (Ostp.) – GenWiki (genealogy.net)

Hof Brandstäter – GenWiki (genealogy.net)

Grünheide (Kirchspiel) – GenWiki (genealogy.net)

Klein Schunkern – GenWiki (genealogy.net)

GOV: Willschicken, Wilkental (genealogy.net)

GOV: Pillwogallen, Lindenhöhe (genealogy.net)

GOV: Schruben (genealogy.net)

Ziegelei Mauerwald – GenWiki (genealogy.net)

Portal:Pillkallen/Geschichte/Aus der Geschichte des Kreises (von Erwin Spehr) – GenWiki (genealogy.net)

https://www.wikiwand.com/de/Preu%C3%9Fisch_Litauen#/google_vignette

https://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2021/Ausgabe29.shtml

Annaberger Annalen (annaberger-annalen.de)

Ostpreußen (uni-oldenburg.de)

Bevölkerung und Wirtschaft in Ostpreussen | SpringerLink

Wirtschaft_und_Statistik-1939-13.pdf (statistischebibliothek.de)

Suche nach 'willschicken' in Metadaten und Volltexten | MDZ (digitale-sammlungen.de)

Siehe den Familien­stammbaum der Familien Podewski, Tuttlies und Kiehl

FamilySearch-Katalog: Die Nachkommen Padeffke und Podewski des Peter Paquadowski    — FamilySearch.org  

und  Stammdaten Fam Podewski.pdf (familien-archiv.de)

und GEDBAS: Vorfahren von Hildegard TUTTLIES (genealogy.net)

und GEDBAS: Vorfahren von Gerhard KIEHL (genealogy.net)


Anlage 4: Weitere Literatur:

Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1 - 3

Pierre Bourdieu: Der feine Unterschied

Christopher Clark: Preußen

Jens Dangschat u.a.: Aktionsräume von Großstadtbewohnern

Jürgen Friedrichs: Stadtentwicklung in West- und Osteuropa

Walter G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts

Gerd Hohorst, Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter: Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Band II Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914

Georg Friedrich Knapp: Die Bau­ernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preu­ßens

Andreas Kossert, Ostpreußen Geschichte und Mythos

Max Weber: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (Preußische Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Großherzogtümer Mecklenburg, Kreis Herzogtum Lauenburg). Dargestellt auf Grund der vom Verein für Socialpolitik veranstalteten Erhebungen Duncker & Humblot, Leipzig 1892 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, LV. Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland; Bd. 3)

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschafs - Geschichte, Band 1 – 5


Ein besonderer Dank gilt Herrn und Frau Mattulat. Sie haben dankenswerterweise wichtige Eigenarbeiten zur Verfügung gestellt.

Der Text wurde im April 2021 von Hildegard Kiehl angeregt und 2023 von Klaus Kiehl unter Mithilfe von Simon Kiehl erstellt.

Die inhaltliche Gliederung des Textes konnte 2021 noch mit Hildegard Kiehl abgesprochen werden, die im selben Jahr verstarb.

In der Hoffnung, dass alle Angaben und Quellen richtig eingeordnet sind,

sind Berichtigungen und neue Informationen herzlich willkommen.

Bitte senden Sie diese an die E-Mail-Adresse von Klaus Kiehl: klaus-kiehl@t-online.de

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies * 21.03.1920 in Willschicken † 19.06.2021 in Hamburg.

Der litauische Name Tuttlies heißt übersetzt Wiedehopf.


Hamburg 2023


Hier enden die Texte über Willschicken. Die folgenden Infos sind Voreinstellungen auf GenWiki

Amtliche Zählung

Wohngebäude


Haushalte


Einwohner

  • 134 (1867) [2]
  • 154 (1871) davon 77 männlich[2]
  • 150 (1905) davon 75 männlich [2]
  • 146 (1925) davon 66 männlich[2]
  • 127 (1933) [3]


1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabethen, 5 ortsabwesend. [2]
1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 deutsch und eine andere. [2]
1925 alle evangelisch, [2]

Ortsgrundfläche

  • Im Jahr 1905 : 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha. 1925 analoge Ortsgrundfläche [2]


Weitere Informationen


Orts-ID :

Fremdsprachliche Ortsbezeichnung :
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung (Lautschrift):

russischer Name : Ort exsistiert nicht mehr
Kreiszugehörigkeit nach 1945 :
Bemerkungen aus der Zeit nach 1945 :
weitere Hinweise :
Staatszugehörigkeit :

Ortsinformationen nach D. LANGE, Geographisches Ortsregister Ostpreußen (2005)

Bibliografie

Genealogische Bibliografie

Historische Bibliografie

Karten

Wilschikken o. Wilkschicken o. Wilpischen auf der Schroetterkarte (1796-1802), Maßstab 1:50 000
© Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz


Daten aus dem Genealogischen Ortsverzeichnis

<gov>WILTALKO04VT</gov>

Quellen

  1. 1,0 1,1 Niekammers Güteradressbuch 1932
  2. 2,00 2,01 2,02 2,03 2,04 2,05 2,06 2,07 2,08 2,09 2,10 2,11 2,12 2,13 Kurt Henning und Frau Charlotte geb. Zilius, Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon, ca. 1970
  3. Deutsche Verwaltungsgeschichte von der Reichseinigung 1871 bis zur Wiedervereinigung 1990 von Dr. Michael Rademacher M.A. [6]

Allgemeine Information

Ortsbeschreibung

Willschicken (ab 1938: Wilkental) Ksp. Aulowönen
auf der Messtischkarte (1196/1197), 1934/1939

Willschicken 1),D.(orf), Pr.(eußen), Ostpr.(eußen), RB. (Regierungsbezirk) Gumbinnen, Lkr. (Landkreis), AG (Amtsgericht), Bkdo (Bezirkskommando) Insterburg, StdA (Standesamt), P.(ost) Aulowönen; A.(mt) Groß Franzdorf, E.(isenbahn) 3,2 km Groß Aulowönen; 168 E.(inwohner),"aus: Meyer Orts- und Verkehrslexikon (1912)" [1].

Die Gemeinde lag in ”Preußisch Litauen "[2] oder ”Klein Litauen” (Lithuania minor), dem nordöstlichen Teil des alten Ostpreußen.

Seine Einwohner waren nach der Reformation überwiegend evangelisch.

Ortsnamen

  • Deutsche Ortsbezeichnung (Stand 1.9.1939): Wilkental, Ort & Gemeinde
  • Vorletzte deutsche Ortsbezeichnung (vor der Umbenennung 1938) : Willschicken
  • weitere (alte) Ortsnamen: Wilpischen,Wilschicken

Willschicken, litauisch wilszikei = Schimpfname; Wilpischen, litauisch wilpiszys = die wilde Katze

Der Ort existiert heute nicht mehr .


Geschichte


  • 1678 - wird ein Waldwart genannt [3]
  • 1719 - heiratet Christoph Pirage [3]
  • 1785 - Wilschicken oder Wilpischen, Chatouldorf, 15 Feuerstellen, Landrätlicher Kreis Tapiau, Amt Lappönen, Patron der König [3]
  • 1815 - Chatouldorf, 4 Feuerstellen, 85 Bewohner, bis 30.04.1815 zum Königsberger Departement gehörig, dann zum Regierungsbezirk Gumbinnen geschlagen [3]


Dorfentwicklung von Willschicken / Wilkental

Der nachfolgenden Texte benutzt als Hauptquelle eine Vielzahl mündlichen und schriftlicher Überlieferungen verschiedenster Personen aus Ostpreußen. Leider sind 2023 - 78 Jahre nach Kriegsende - schon sehr viele dieser Personen verstorben. Daneben gibt es auch einiges an "grauer Literatur" wie Artikel, Briefe, Karten und Fotos aus mehreren Nachlässen. Diese privaten Quellen wurden ergänzt durch Angaben in öffentlich zugänglichen Internetseiten und einer sehr begrenzten Anzahl von Fachliteratur. Die Ergänzungen sollen im kleinen Rahmen Begriffe klären, Situationen erläutern und zeitliche Abläufe ansprechen. Sie können helfen, von Hintergründen über Willschicken zu wissen.


Willschicken (1938 umbenannt in Wilkental) wurde etwa um 1785 als Schatulldorf zuerst erwähnt. Es hatte schon eine gemeinsame Pferdetränke und einen Friedhof [4] (siehe auch separaten Bericht: "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken)".

Um 1807 wird das für Willschicken zuständige Domänenamt verantwortlich u.a. auch für die Güter Alt/Neu Lappönen und Kreppurlauken im Rahmen der „Bauernbefreiung“ aufgelöst. In Willschicken siedelten damals Schatull-Bauern. Nur auf den vorgenannten Gütern, die jedoch nur zum kleinen Teil den späteren Wilkentaler Grund bewirtschafteten, wurden später Scharwerker eingesetzt. Die Preußischen Reformen schufen mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ vom 30. April 1815 in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Verwaltungsstruktur. Am 11.03.1874 wird der Amtsbezirk Groß Franzdorf (Nr. 27) gebildet, zu dem auch Willschicken gehört. 1882 erfolgte die endgültige Feststellung der Grenzen der Gemeinde Willschicken.

Von der "Bauernbefreiung" (Ablösung der Erbuntertänigkeit, Erwerb von Eigentum und gesetzlichen Flurbereinigung) 1807-1850 waren die sieben Großbauern von Willschicken nur am Rande betroffen. Es waren alle ehemalige Schatull- und Erbfrei-Bauern, die hatten ihren Boden vom König ge­kauft und urbargemacht hatten. Sie waren schon Eigentümer ihres Landes. Für sie arbeitete ihr Gesinde und Instleute. Bei Bedarf kamen Tageslöhner und Wanderarbeiter hinzu. Die Landarbeiter besaßen keine größeren Grundstücksansprüche und kamen in Gemeinschaftsunterkünften oder in Nebengebäuden und Katen unter. In so einem Nebengebäude wohnten 1938 noch Friedrich Papendick und Frau Flemig, gelegen in der Nähe des Hofes von Besitzer August Herrmann Tuttlies. Teilweise wohnten die Altenteiler zusammen mit den Erben noch in einem Wohngebäude, hatten dort aber deutlich weniger Platz.

Während der "Bauernbefreiung" kam es in den Nachbargemeinden von Willschicken zu zahlreichen Landabtretungen, da die dortigen Scharwerks-Bauern die Abtretungssummen an ihre Gutsherren nicht zahlen konnten. Zu Landabtretungen kam es aber auch in Willschicken, und zwar im Erbschaftsfalle. Nach Meinung des Insterburger Landrates Konrad von Massow entstand die Parzellierung von Privatgrundstücken nach der Bauernbefreiung häufig durch Erbschaftsregulierungen, wobei der Grundstücksnehmer als Erbe nicht die Mittel besaß, um die Miterben mit Geld zu entschädigen, und sie deshalb mit Landabtretungen abfinden musste.

Der Verkauf von Bauerland aus wirtschaftlichen Notlagen kam hinzu. Die traditionellen (Ritter) Güter und Teile der Großbauern gerieten zusammen mit den früheren Amtsbauern in Ostpreußen ab 1873 in sich wiederholende schwere wirtschaftliche Krisen, so dass deren notwendigen Grundstückverkäufe nicht nur für die unmittelbaren Dorfnachbaren und den unversorgten Kindern, sondern auch für die umliegende Bauern und Güter von großem wirtschaftlichem Interesse waren. Häufig ging es hier um Arrondierungen der eigenen Grundstücke. Hinzu kamen bürgerliche Spekulanten. Diese "wirtschaftlich" notwendige Flurbereinigung erfolgte in Willschicken hauptsächlich während der wirtschaftlichen Depressionen und längeren Krisen, 1873-1879 und 1918-1924.

Es entstanden zunächst stark zersplitterten Grundstücksflächen auf dem Lande. Von 1850 - 1871 wurde versucht, die zersplitterten Grundflächen durch eine gesetzlich unterstützte Seperation zusammenzulegen, um sie so für die alten Besitzer und die Neusiedler rentabler zu machen. Die Flurbereinigung wurde auch nach der Reichsgründung durch verschiedene Programme fortgesetzt. Durch die Seperation entstanden zusammenhängende Bauern-Grundstücke. Sie waren in Willschicken durch die Bodenwerte 4 und 5 bewertbar. 1935 lag der steuerliche landwirtschaftliche Einheitswert für diese Böden im Kreis Insterburg zwischen 600 und 699 Reichsmark pro Hektar. Die gesamte Spannweite für Ostpreußen lag zwischen 300 und 1599 Reichsmark pro Hektar. Diese Werte wurden für notwendige Verkäufe und Hypotheken-Kredite zu Grunde gelegt. Im Jahr 1905 beträgt der Grundsteuer Reinertrag in Willschicken 8,87 je ha [5]

Alle drei Entwicklungen hatte auch in Willschicken räumliche Folgen. Die sieben Großbauern behielten zwar ihre Höfe, mussten aber aus wirtschaftlichen Gründen einen beträchtlichen Teil ihres Landes aufteilen und verkaufen. Von den 319 ha Gesamtfläche in Willschicken hielten die Großbauern um 1900 nur insgesamt nur noch 83 ha. Auf den verkauften Flächen entstanden durch "Abbau" und Neubau 2 Güter, 8 Mittelbauer und 8 Kleinbauer. Die Grundstücke lagen aber nicht immer dorfnahe. Willschicken wurde zu einer Streusiedlung, mit einem kleinen alten Dorfkern. Die Hofgrößen bis 7,5 ha. wurden in der Steuerklasse als Kleinbauern bezeichnet. Die Finanzierung der Neusiedler geschah neben Erbschaftsanteilen in der Regel über Hypotheken-Kredite. Eine Alternative war die Pacht. Die Pachtverhältnisse sind aus der unten folgenden Tabelle Betriebsgrößen der Höfe in Willschicken in ha 1945 zu entnehmen.

Die Konjunkturzyklen waren gerade für die Landwirtschaft in Ostpreußen eine Berg- und Talfahrt. Von 1848 bis 1873 gab es einen deutlichen und langen Aufschwung. Nach der Reichsgründung lösten sich danach bis zum 1. Weltkrieg 5 Konjunkturen und 5 Depressionen zeitlich ab. Dann folgten der 1. Weltkrieg, die Unterzeichnung des Versailler Vertrages, die Hyperinflation, die goldene Jahre, die Weltwirtschaftskrise und die Kriegsfinanzierung des 2. Weltkrieges. Alle Veränderungen betrafen besonders auch die Landwirtschaft und deren Bevölkerung auch in Willschicken fundamental, da sie keine ausreichenden Arbeitsplätze anbieten konnte.

Zwischen 1871 und 1933 verlor die Provinz Ostpreußen zwei Drittel ihres Zuwachses an Wohnbevölkerung (einschließlich Polen und Litauer) insgesamt 920.000 Menschen durch Abwanderung. Auch Willschicken und die Familie Tuttlies war von der Abwanderung betroffen. [17]

Von 1853 stieg die Einwohnerschaft in Willschicken durch Geburtenüberschuss von 110 auf 168 im Jahre 1868, um dann bis 1939 auf 127 Einwohner zu sinken. Was sich bemerkbar machte, war die dauerhafte Abwanderung der Landlosen, da die landwirtschaftlich zu nutzenden Flächen nicht beliebig vermehrbar waren, bzw. durch das Erbrecht festgelegt waren. Dazu kam, das Willschicken als kleines Bauerndorf nicht in der Lage war, dem Geburtenüberschuss seiner Bewohner eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten.

Zur Flurbereinigung in Willschicken konnten zusätzlich durch die Gemeindereform auch kleine Teile des Landes der Rittergüter Alt/Neu Lappönen und Keppurlauken genutzt werden. 1927 wurde ein Gemeindereformgesetz erlassen, welches die bisherige kommunale Selbständigkeit der großen Güter aufhob und diese an bestehende Gemeinden angliederte oder zu neuen Gemeinden zusammenfasste. Die Gutsbesitzer bildeten aber in Ostpreußen trotzdem bis 1933 eine einflussreiche soziale Gruppe in den Kreis- und Gemeindegremien. 1932 werden zwei Gutsbesitzer in Willschicken erwähnt (siehe: Wirtschaft)

Nach der endgültigen Feststellung des Amtsbezirks „Groß Franz­dorf Nr. 27“  am 17. 11. 1882 wurden die Grenzen von Wilkental festgelegt und die Lage der Neusiedlungen in Willschicken durch eine Wegekarte zu den erworbenen Grundstücken vorbereitet. Die Zufahrtswege zu den neuen Grundstücken, häufig auch über die Nachbargrundstücke, führte oft zu Rechtsstreitigkeiten. Während oder nach dem 2. Weltkrieg wurden fast alle Gebäude zerstört oder abgebrochen. Die Gemeinde wurde aufgelöst.

Aufgeschrieben von Klaus Kiehl - Nachfahre der Familie Tuttlies aus Willschicken, 2023 .


Politische Einteilung

Zugehörigkeit

Gemeinde Wilkental Ksp. Aulenbach 1939

Provinz  : Ostpreußen
Regierungsbezirk  : Gumbinnen

Landkreis  : Insterburg [18]
Amtsbezirk  : Groß Franzdorf [Franzdorf] [19]
Gemeinde  : Wilkental (Kr. Insterburg) - ab 16.07.1938
Kirchspiel  : Aulenbach (Ostp.). [Aulwowönen]

im/in  : südlich der Ossa
bei  : ca. 22 km nördlich v. Insterburg, ca. 3 km östlich von Aulowönen

Weitere Informationen

Orts-ID : 62435

Fremdsprachliche Ortsbezeichnung : - - -
Fremdsprachliche Ortsbezeichnung (Lautschrift):

russischer Name : - - -
Kreiszugehörigkeit nach 1945 : - - -
Bemerkungen aus der Zeit nach 1945 : Der Siedlungsplatz existiert nicht mehr
weitere Hinweise :
Staatszugehörigkeit : Russisch

Ortsinformationen nach D. LANGE, Geographisches Ortsregister Ostpreußen (2005) [20]


Kirchliche Einteilung / Zugehörigkeit

Evang. Kirche Aulowönen (ca. 1900)

Evangelische Kirche

Der Ort Willschicken (Wilkental) gehört zum Kirchspiel Aulowönen, die evangelische Kirche befand sich in Aulowönen. Das Kirchspiel war überwiegen, auch bedingt durch die Migration der Salzburger um 1732 evangelisch. Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar:

  • Kirchspiel Aulenbach (Ostp.) --> Kirchenkreis Insterburg --> Kirchenprovinz Ostpreußen --> Kirchenbund Evangelische Kirche der altpreußischen Union.

Kirchenbuchbestände existieren und können - jedoch gebührenpflichtig - bei www.ancestry.de unter Gross Aulowönen online eingesehen werden. Sie sind jedoch nicht immer vollständig.

- Heiraten und Tote 1737-1839
- Heiraten und Tote 1766-1866
- Taufen 1736-1775
- Taufen 1809-1817
- Taufen 1818-1839
- Taufen, Heiraten und Tote 1604-1860
- Taufen, Heirate, Tote und Index 1788-1808

Außerdem befinden sich einige Kirchenbuchunterlagen, verfilmt auf Microfiche im Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leibzig, hierbei handelt es sich um die Bestände der ehemaligen Deutschen Zentralstelle für Genealogie (DZfG).

Katholische Kirchen

Eine katholische Kirche existierte nur in Insterburg (Ostp.). Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar: Landgemeinde Aulowönen --> Kirchspiel Insterburg --> Katholische Kirchengemeinde Insterburg --> Dekanate Tilsit --> Katholische Kirche in Ostpreußen.

Über den Verbleib von Kirchenbüchern liegen keine Informationen vor.

Neuapostolische Kirche

In Aulowönen gab es einen Betsaal der Neuapostolischen Kirche. Die Gemeinderäume befanden sich in Haus der Familie Herzigkeit Die hierarchische Unterstellung stellt sich wie folgt dar: Bezirk Tilsit --> Apostelbezirk Königsberg (Ostp.)


Amtliche Zählungen / Zensus

Ortsgrundfläche

  • 1905/1925 : 319,8 ha, Grundsteuer Reinertrag 8,87 je ha, [3]

Wohngebäude

Amtlich gezählt :

Haushalte

Einwohner

  • 85 (1700)
  • 134 (1815)
  • 85 (1823)
  • 110 (1853)
  • 155 (1858)
  • 127 (1865)
  • 134 (1867)
  • 154 (1871) davon männlich 77 [3]
  • 166 (1885)
  • 150 (1905) davon männlich 75 [3]
  • 146 (1925) davon männlich 66 [3]
  • 127 (1933) [3]


1871 sind alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahre, 73 können lesen und schreiben, 44 Analphabethen, 5 ortsabwesend; 1905 139 evangelisch, 11 andere Christen, 131 geben Deutsch als Muttersprache an, 15 litauisch, 4 Deutsch und eine andere. 1925 alle evangelisch [3]

Ausschnitt Ortsschafts- und Adressverzeichnis Landkreis Insterburg Seite 68 (1927)


Folgende Einwohner sind im Ortschafts- und Adreßverzeichnis des Landkreises Insterburg (1927) unter Willschicken genannt : Post Aulowönen, 20 km, [21]

  • Besitzer : Wilh.(elm) Grigull, Franz Sieloff, Joh.(ann) Aßpodin, Gustav Kirchsat, Fritz Stuhlemmer, Aug.(ust) Stuhlemmer, Gust.(av) Kollecker, Franz Krause, Wilh.(elm) Mikuleit, Louis Bartoschat, Gust.(av) Petschull, Tuttlies, Franz Kirschning, Ferdinand Milpauer, Otto Ludszuweit, Hermann Häsler, Ferd.(inand) Tuttlies, Wilhelm Bartschat, Reinh.(ard) Reinke, Christ.(ian) Mattulat, Albert Ennulat
  • Altsitzer : Karl Pastarbeit, Maria Mitukeit, Georg Greinies,
  • Windmühlbesitzer : Johann Mischnat,
  • Rentenempfänger: Leopoldine Kalweit
  • Arbeiter : Adolf Kolweit,
  • Depudant : Friedrich Jurkat, Ed. Naujokat, Heinrich Keßler.


Zahl und Größe der landwirtschaftlichen Betriebe

  • 0 zwischen 0,5 - 5 ha [3]
  • 8 zwischen 05-10 ha [3]
  • 5 zwischen 10-20 ha [3]
  • 10 zwischen 20-100 ha [3]


Wirtschaft


In Niekammer’s landwirtschaftliche Güter-Adreßbücher, (Band III) 1922 Seite 130/131 [22]

Willschicken : Gut, Nr. 12 zur Gem.(einde) W.(illschicken) geh.(örend) , Aulowöhnen P(ost) T(elegraph) St(andesamt) Grünheide E.(isenbahn), Groß Warkau A(=Amtsbezirk), Insterburg AG (=Amtsgericht),

  • Wilhelm Grigutt: Grundsteuerreinertrag in (Reichs)Mark : 474,--; 60 ha, davon 46,5 Acker incl. Gärten, 10 Weiden, 3 Unland/Hof/Wege, 0,5 Wasser, 9 Pferde, 24 Rinder, davon 11 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine;


In Niekammer’s landwirtschaftliche Güter-Adreßbücher, (Band III) 1932 Seite 167 [23]

Willschicken, Aulowönen P(ost) T(elegraph) Grünheide E(isenbahn) 5 (km)

  • Abbau Wilhelm Grigull: 60 ha, davon 42 Acker, 15 Weiden, 2,5 Unland/Höfe/Wege, 0,5 Wasser, 10 Pferde, 30 Rinder, davon 12 Kühe, 3 Schafe, 12 Schweine; Telefon: 64
  • Abbau Sieloff: 43 ha, davon 30 Acker, 2 Wiesen, 10 Weiden, 1 Unland/Höfe/Wege, 8 Pferde, 24 Rinder, davon 10 Kühe, 10 Schweine; Telefon: 67.


Aufstellung Betriebsliste Gemeinde Wilkental (Stand 1945 (1955)

Die Tabellen "Schadensberechnung Landwirtschaft" wurden zum Zweck eines möglichen Lastenausgleiches von der Bundesrepublik 1955 auf Grund der fortgeschriebenen Datenlage von 1945 als Erhebungspunkt erstellt Die Daten beruhen aber durchweg auf den real erhobenen vorläufigen Ergebnissen der Volkszählung vom 17.Mai 1939. Landverkäufe waren nach dem Preußischen Erbhofgesetz von 15.5.1933 in Ostpreußen nicht mehr möglich.

Die Schadensberechnung Landwirtschaft Betriebsliste Gemeinde Wilkental Kreis Insterburg, Bez. Gumbinnen (Stand 1945 - erstellt 1955) nennt folgende landwirtschaftliche Betriebe:

Gemeindehektarsatz : 650,-- Reichsmark, Gemeindefläche 320 ha, Durchschnitt der Betriebshektarsätze : 325,-- ha.

  • A1. Ludzuweit, Otto und Ehefrau, 3,49 ha
  • B1. Allissat, August, -,-- ha +5,00 (Zugepachtet)
  • 2. Bartschat, Wilhelm, 25,00 ha / -25,00 ha
  • 3. Dingel, Artur, -,-- ha +15,75
  • 4. Ennulat, Kurt, 12,00 ha
  • 5. Grigull, Ernst, 66,66 ha GÜ 60
  • 6. Haesler, Herman, 6,50 ha
  • 7. Kollecker, Gustav u- Ehefrau, 11,27 ha
  • 8. Kornberger, August, 26,75 ha
  • 9. Mattulat, Paul, 25,82 ha
  • 10. Mikuteit, Wilhelm, 15,75 ha
  • 11. Milpauer, Albert 8,75 ha
  • 12. Papendick, Friedrich -,-- ha / +6,50 ha
  • 13. Petschull, Gustav 4,00 ha
  • 14. Reinke, Reinhold 5,00 ha
  • 15. Sieloff, Franz 43,48 ha GÜ 43
  • 16. Stuhlemmer, Fritz und Ehefrau 16,50 ha
  • 17. Tuttlies, Ewald 7,00 ha / -7,00 ha
  • 12. Tuttlies, Erich 6,00 ha
Bisher nicht angemeldete Betriebe :
  • 19. Bartoschat, Auguste, 10,25 ha
  • 20. Kirschning, Franz, 4,50 ha / -4,50 ha
  • 21. Krause, Leopoldine, 21,25 ha
  • 22. Nolde, Kurt, 11,00 ha


Höfe - Besitzer und Beschreibungen

Höfeverzeichnis

Die folgende Tabelle zeigt die Betriebsgrößen der Höfe in Willschicken in ha 1945. Die Zuschreibungen Großbauer, Gutsbesitzer, Besitzer, Arbeiter und Meier stammen aus den Quellen Niekammers Güteradressbuch 1932,sowie dem Fachbuch "Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen - Ein Namenslexikon". [3]

Sie gehen vermutlich auf amtliche Steuerlisten aus den Jahren 1910 und 1920 zurück.

Verzeichnis der Hofbesitzer / Pächter Gemeinde Wilkental (früher Willschicken) ca. 1944
(Bitte mehrmals auf den Plan klicken, um ihn zu vergrößern)

Stand: ca. 1944 [6]

Verzeichnis der Hofbesitzer / Pächter Gemeinde Wilkental (früher Willschicken) ca. 1944
(Bitte mehrmals auf den Plan klicken, um ihn zu vergrößern)
  • 1: Hof: Kollecker, Gustav - Besitzer, 11,27 ha
  • 2: Hof: Allissat, August - Besitzer, gepachtet von Reinke, 5,00 ha Pacht
  • 3: Gut Sieloff, Franz - Gutsbesitzer, 43,48 ha
  • 4: Hof Pukris - Molkerei (Molkereibesitzer),
  • 5: Hof Dingel, Artur - Besitzer, gepachtet von Mikuleit, 15,75 Pacht
  • 6: Hof Stuhlemmer, Fritz - Besitzer, 16,50 ha
  • 7: Hof -unbekannt-
  • 8: Hof Nolde, Kurt - Besitzer, 11,00 ha
  • 9: Hof: Bartschat, Wilhelm (*) - Großbauer, verpachtet an Bartoschat -25,00 ha
  • 10: Hof Milpauer, Albert (*) - Großbauer, 8,75 ha
  • 11: Hof Mikuteit, Wilhelm (*) - Großbauer, Bürgermeister, 15,75 ha verpachtet an Dingel
  • zwischen 10 und 11: Bürgermeister Stube (Gebäude auf der anderen Straßenseite mit Scheune)
  • 12: Hof: Krause, Leopoldine (*) - Großbauer, 21,25 ha
  • 13: Hof Kirschning, Franz (*) - Großbauer, verpachtet -4,50 ha
  • 14: Hof Kornberger, August (*) - Großbauer, 26,75 ha
  • 15: Hof Bartoschat, Auguste (*) - Großbauer, 10,25 ha + 25,00 Pacht
  • 16: Hof Mattulat, Paul - Großbauer, 25,82 ha
  • 17: Gut Grigull, Ernst - Gutsbesitzer, 60,66 ha
  • 18: Hof Häßler, Hermann und Frau Bartschs - Besitzer, Nähe Friedhof 6,50 ha
  • 19: Windmühle und Hof Pettschull - Besitzer, 4,00 ha
  • 20: Hof Papendieck, Friedrich und Frau Flemig - Arbeiter in Tuttliesens Häuschen, 6,50 ha Pacht
  • 21: Hof Tuttlies, Ewald - Besitzer, verpachtet an Papendick 7,00 ha
  • 22: Hof Ludzuweit, Otto - Besitzer, 3,49 ha
  • 23: Hof Ennulat, Kurt - Besitzer, 12,00 ha
  • 24: Hof Tuttlies, Erich - Besitzer, Maurer, Schneider, 6,00 ha (Unterhalb der Nr. 15)
  • 25: Hof Reinke, Reinholf - Besitzer, 5,00 ha


1939 bildeten nur noch 7 Großbauern von insgesamt 23 Höfe den alten Dorfkern von Wilkental. (obigen Tabelle mit (*) markiert). Die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Wilkental betrug 1939: 8 zwischen 5-10 ha, 5 zwischen 10-20 ha und 10 zwischen 20-100 ha. Die Besitzverhältnisse hatten sich umgedreht. Von den 319,8 ha die Gesamtfläche der Gemeinde Wilkental in den Grenzen 1882 ausmachte, besaßen die Großbauern 1939 zusammen nur noch 83 ha, die Neusiedler dagegen kamen zusammen auf 236,8 ha. Um 1880 besaß noch jeder der 7 Großbauern in Wilkental durchschnittlich ca. 40 ha. Land.


Die Höfe und Ihre Bewohner - Familie Tuttlies

Familienstammbaum Tuttlies

Berta Tuttlies, geb. Burba
*31.08.1883 in Paducken,
†03.07.1968 in Hamburg
(um 1930)
Ferdinand Tuttlies
*01.12.1869 in Plattupönen,
†01.08.1949 in Vethem
(um 1930)

Willschicken war die Heimat von Berta und Ferdinand Tuttlies. Das Ehepaar Tuttlies hatte 5 Kinder: Max, Erich, Otto, Friedel und Hildegard (*21.03.1920 in Willschicken, †19.06.2020 in Hamburg).

Die Familiennamen waren, gerade auch in den älteren  Unterlagen, häufig mit unterschiedlicher Schreibweise zu finden. Es gab noch keine amtlich festgelegte Schreibweise der Personennamen. Zudem wurden die Namen im weitgehend analphabetischen ländlichen Bereich mündlich gebraucht und dabei laufend verändert. Der Amtsschreiber hat den Namen dann so geschrieben, wie er ihn akustisch verstanden hatte und wie er das Gehörte in Buchstaben umsetzen konnte. Zum Gedenken an das Ende der Befreiungskriege wurde am 4. Juni 1816 in der Kirche in der Nachbargemeinde Aulowönen eine Totenfeier für die in den Feldzügen 1813 -1815 gefallenen 28 Gemeindemitgliedern abgehalten. Unter der Ziffer 15. war zu lesen: " Johann Tutlys, Kürassier des Ostr. Rgt., Sohn des Wirthen David Tutlys aus Klein Popelken (Kirchspiel Aulowönen), er starb einen ehrenvollen Tod in der Schlacht bei Leipzig mit 23 Jahren."

Die auffindbaren Daten der Kirchenbücher und der Mühlenlisten zeigen für die männliche Linie der Tuttliesen in Willschicken folgende Einträge:

„Stammbaum von Michael Tuttlys

  1. Michael Tuttlys, Losmann, *1802, in Treinlauken/Kreuzberg, †25.3.1842 in Ernstwalde, ∞23.10.1830 in Treinlauken Charlotte Schoentaube, *03.01.1806 in Spannegeln,  
  2. Kind von 1: Johann Ferdinand Tuttlies, Maurergeselle, *11.07.1833 in Treinlaucken/Kreuzberg, †13.10.1923 in Willschicken,  ∞10.11.1865 in Staggen Maria Mauscherning, *02.06.1836, †15.03.1901 in Willschicken
  3. Kind von 2: August Herrmann Tuttlies Besitzer, *1866 in Willschicken, †1921 in Willschicken
  4. Kind von 3: Ewald Tuttlies, Besitzer, *1886 in Willschicken
  5. Kind von 3: Ferdinand Tuttlies,  Besitzer, Maurer, Schneider, *01.12.1869 in Plattupönen, †01.08.1949 in Vethem ∞14.11. 1902 Berta Tuttlies, geb. Burba, *31.08.1883 in Paduken, †03.07.1968 in Hamburg
  6. Kind von 5: Max Tuttlies, Kaufmann,  *19.01.1903 in Paducken,  †13.01.1964 in Krostiz, ꝏ Gertrud, geb. Heinrichs, *26.07.1908 in Jennen, †28.01.1982 in Jesingen
  7. Kind von 5: Friedel Tuttlies, Hausmeisterin, *25.10. 1910 in Willschicken,  †03.12.1993 in Oberweißbach, ∞Helmuth Harward, *05.05.1906, †gef. 1944
  8. Kind von 5: Erich Tuttlies, Besitzer, Maurer,  *19.11.1905   in Willschicken,  †12.04.1995 Südkampen, ∞Erna … , *06.07.1924, †20.07.2017 Südkampen
  9. Kind von 5: Otto Tuttlies, *1909 in Willschicken, †31.12.1913 in Willschicken, ist schon mit 4 Jahren verstorben
  10. Kind von 5: Hildegard Kiehl, Angestellte, *21.03.1920 in Willschicken, †19.06.2020 in HamburgGerhard Kiehl, *04.08.1914 in Pillwogallen, †09.09.1998 in Hamburg  

Schon vor der Reichsgründung tauchte der Name Tuttlies in Willschi­cken auf . Nachfahren der Familie Tuttlies waren sehr aktiv in der Ahnenforschung und es gibt zahlreiche Veröffentlichungen zu den Familien Podewski, Tuttlies und Kiehl: hierzu :

Johann Ferdinand Tuttlies der Großvater von Ferdinand Tuttlies, ein Maurergeselle, wurde 11.07.1833 in Treinlaucken/Kreuzberg geboren. Er heiratet am 10.11.1865 in Staggen im Kirchspiel Aulowöhnen Maria Mauscherning. Er hat im Kirchspiel Aulowönen in Willschicken, während der Getreidekonjunktur 1848-1873, um 1860 als Maurer Arbeit gefunden und eine Bauernstelle als Besitzer mit Wohnhaus einrichten können. Er hat relativ spät geheiratet und ist dann auch in Willschicken gestorben. Seine 5 Söhne und sein 8 Enkel wuchsen dann ebenfalls in Willschicken auf. Von ihnen blieben nur 3 Söhne und 3 Enkel in Willschicken.

Ferdinand Tuttlies ist am 01.12.1869 in Plattupönen, dem Nachbar-Wohnort seiner Ur-Großeltern geboren worden - hier gab es eine verwandte Hebamme - ist dann aber noch als Kleinkind nach Willschicken zurückgekehrt. Das frühere Dorf Plattupönen gehörte zwischen 1874 und 1945 zum Amtsbezirk Schaltischledimmen (1929 bis 1947: Neuwiese, heute russisch: Nowoselskoje). Dieser wurde 1930 in „Amtsbezirk Neuwiese“ umbenannt und war Teil des Kreises Labiau im Regierungsbezirk Königsberg der preußischen Provinz Ostpreußen. Im Jahr 1938 wurde Plattupönen in „Breitflur“ umbenannt.

Zum regionalen Tuttliesen-Clan im Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) gehörten, neben die Höfe von Ferdinand und Ewald Tuttlies, wie berichtet auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weinowski (mit 3,49 ha Pachtland) in Willschicken und zwei weitere Höfe in Aulowönen/Lappönen – Tuttlies und Jägu. (siehe Karte Lappönen Neusiedler). Hinzu kamen weitere (unbekannte) Verwandte aus dem Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) in den Gemeinden Klein Popelken, Staggen und Aulowönen selbst. Diese wurden in Gesprächen in Willschicken zwar erwähnt, aber nach der Erinnerung von Hildegard Tuttlies nie besucht.

Die erhebliche kürzere Lebenserwartung und Anzahl der überle­benden Kinder spielte im Leben der Familien auf dem Lande eine große Rolle. Im Deutschen Reich betrug 1871/1881 die durchschnittliche Lebenserwartung, wie schon berichtet, bei Geburt für Jungen 35,6 Jahre und für Mädchen 38,4 Jahre. Um 1900 lag die Fruchtbarkeitsziffer für Frauen bei 4,93 Kinder. Sieht man sich den Stammbaum der Tutt­liesen an, trifft das nicht für alle Familienmitglieder zu. 1871/1881 wurden in jedem Haushalt im Deutschen Reich durchschnittlich 5,8 Kinder älter als 5 Jahre. Diese trifft für die Tuttliesen überwiegend zu.

Nach der Bauernbefreiung in Preußen hatte beispielsweise die Hälfte der auf dem Land Lebenden keinen Grundbesitz mehr und musste sich anderen Erwerbsquellen zuwenden, sich in der Landarbeit verdingen oder abwan­dern. Das galt besonders für überwiegende Zahl der aufwachsenden Kinder auf dem Lande. Dieses trifft auch auf die Familien Ferdinand Tuttlies zu. Max, Friedel und Hildegard Tuttlies verließen (zeitweise) ihr Zuhause.

Hausbau in Willschicken

Talka beim Bau des Wohnhauses Tuttlies (1904)
ganz oben Ferdinand Tuttlies,
ganz unten Frauen der Familie Burba

Die Landwirtschaft im Willschicken war um 1900 stark von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage abhängig. Nach der Reichsgründung lösten sich bis zum 1. Weltkrieg 5 Konjunkturen und 5 Depressionen zeitlich ab. Seit dem Frühjahr 1902 gab es die 4. Konjunktur, die reichsdeutsche Wirtschaft wuchs wieder sichtbar. Sie trieb eine Konjunktur voran, die bis zum Februar 1907 anhielt. Besonders die Industrie war ein Wachstumsmotor. Von 1902 bis 1907 wuchs die Wirtschaft um 17,1 %. Wenn auch im negativen Maße, betraf das Wachstum im Westen auch die Landwirtschaft im Osten. Während dieser Zeit wanderten etwa 150 000 Ostpreußen aus der Landwirtschaft  in den Westen ab, sie wurden dort als Arbeitskräfte dringend gesucht. Zu Hause fanden sie keine Arbeit. Hinzu kamen sinkende Erzeugerpreise für Getreide in Ostpreußen, aufgrund einer stark gestiegenen Einfuhr von preiswerten Roggen aus Russland ins Kaiserreich. Der private Hausbau auf dem Lande war auch stark von der wirtschaftlichen Situation der Heimatprovinzen Ostpreußen abhängig, da die Preußische Staatsregierung nach den politischen Vorgaben den rechtlichen Rahmen für Neusiedler schuf und die lokalen Institutionen häufig auch wirtschaftlich als Kreditgeber beim Hausbau gebraucht wurden.

Burbas Frauen nach dem Kirchenbesuch
zum Richtfest, 1904

In Ostpreußen, besonders im Regierungsbezirk Gumbinnen versuchte die Verwaltung seit langen, durch verschiedene Maßnahmen, die Bevölkerung auf dem Lande zu halten und dort zu ernähren. Dazu zählten auch die Unterstützung bei Ansiedlung von Höfen, z. B. durch die Umwandelung von Ackerland in Siedlungsflächen durch die Separation (Flurbereinigung) und der Hausbau (siehe unter: „Ländliche Entwicklung in Ostpreußen am Beispiel des Dorfes Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)“. Auch im Landkreis Insterburg wurden durch die "Ostpreußische Landgesellschaft" günstige Kredite zum Hausbau zur Verfügung gestellt. Die genaue Höhe und die Verteilung konnten aber nicht ermittelt werden. Auf alle Fälle wurde die Separation real durch die "An­siedlungskommission" und rechtlich durch bestehende Gesetze und Vorschriften unterstützt. Bei den aufzusiedelnen Grundstücken handelte es sich überwiegend um das Land ehemalige Großbetriebe. Vor dem Ersten Weltkrieg richtete in Ostpreußen die "An­siedlungskommission" auf 35.000 ha ehemaligen Großgrundbesitzes 1.600 Siedlerstellen ein. Die Hofstellen wurden durch günstige Hypotheken finanziert.

Talka beim Bau des Stallgebäudes
der Familie Tuttlies (1905)

Manches kleine Bauerndorf hat sich durch die Separation aber zum Teil aufgelöst. Es entstanden Gemeinden in Streulagen mit einem "alten" Dorfkern - so wie Willschicken. Hier blieben nur 7 von insgesamt 22 Höfe Bauern den alten Dorfkern. Bauern deren Besitz weit vom Dorf entfernt lag siedelten aus wirtschaftlichen Gründen aus. Sie gaben ihren alten Hof auf und bauten einen neuen auf einem Außengrundstück. So wurden in Ostpreußen im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der der neuen Höfe „ausgebaut“, wie man in Ostpreußen sagte. Die andere Hälfte bestand aus Neusiedlern.

Um den "Ausbau" und das Neusiedeln technisch möglich zu machen, bedurfte es Straßen. "Zum Bau der Grünheider - Aulowöhner Chaussee, welche die Feldmark Lappönen durchschneidet, verkaufte der Gutsbesitzer von Alt Lappönen lt. Vertrag vom 21.11.1865 an den Insterburger Kreis 6 Morgen Land für 222 Taler." Die ersten Höfe in Willschicken und die Windmühle, die an dieser Chaussee lagen, bzw deren Verkehrswege hier einmünden, konnten demnach ab 1865 nach dem Straßenbau "ausgebaut" oder neu besiedelt worden sein.

Traditionellerweise lagen die Ländereien der Bauern innerhalb einer Gemeinde. Die historische gewachsenen Gemeindegrenzen waren im Regelfall identisch mit den äußeren Grundstücksgrenzen der Eigentümer deren Land am Gemeinderand lagen. Ausnahmen bildeten groß Güter, die mehrere Gemeinden umfassten, historische Entwicklungen wie die Separation und Zusammenlegungen von Gemeinden, Ver- und Zukäufe von Land während wirtschaftlicher Konjunkturen und Depressionen und Erbfälle in großen Familien, wie bei den Burbas und Tuttliesen. Seit 1882 waren die Grenzen der Gemeinde Willschicken festgelegt. Ein Teil der Chaussee zwischen Grünheide und Aulowönen, die gradlinig verlief, bildete die Gemeindegrenze zwischen Paducken und Willschicken und durchschnitt aber zwei vorhandene Grundstücke der Gemeinde. Zwei kleine Flächen der Gemeinde Wilkental lagen südlich dieser Chaussee. (siehe die Karte von 1939, die die Gemeinde Wilkental zeigt.)

Mutter Berta Tuttlies bekam zur Hochzeit 1902 als Mitgift 16 ha Land von ihrem Elternhaus - den Burbas aus Paducken – einer Nachbarge­meinde. Das Land war nicht vollständig landwirtschaftlich nutzbar. 10 Hektar konnten u.a. an die Kleinbahn verkauft werden, um den Hausneubau mitzufinanzieren. Vater Ferdinand Tuttlies war Besitzer und Handwerker zugleich, er war zusätzlich als gelernter Maurer und als angelernter Schneider tätig. Ein kleiner Landteil wurde für den Hofbau als Grundfläche benötigt. Er lag direkt an der Chaussee in Willschicken. Dieses Landteil erhielt Ferdinand Tuttlies von seinen Willschicker Eltern ebenfalls zur Hochzeit.

Im Jahre 1904 machte sich Ferdinand Tuttlies unterhalb der Lindenhöher - Alt Lappöner Chaussee auf Willschicker Gemeindeland an den Bau eines eigenen Hofes. Die junge Familie suchte ein eigenes Zuhause. Auf der anderen Straßenseite lag in Willschicken sein El­ternhaus. Im Elternhaus wohnte der Besitzer August Herrmann Tuttlies, gebo­ren 1866. Nach dessen Tod 1921 übernahm es dessen 2. Sohn Ewald Tuttlies. Zum Tuttliesen-Clan gehörten auch die Anwesen von Papendieck (mit 6,50 ha Pachtland) und Ludzuweit früher Weihnowski (mit 3,49 ha Pachtland), die Nachbaren auf der anderen Straßenseite waren, zwei weitere Höfe in Aulowönen/Lappönen – Tuttlies und Jägu. (siehe Karte Lappönen Neusiedler) sowie das Baugeschäft Tuttlies im Aulowönen.

Beim Hofbau halfen Verwandte und Bekannte mit. Die Talka bezeichnete in Preußisch-Litauen die gegenseitige „Bitthilfe“ unter den Dorfbewohnern, die bei umfangreichen landwirtschaftlichen Arbeiten wie Pflügen, Aussaat, Roggenernte, Dreschen und Hausbau erbeten und gewährt wurde. Verwandte und Dorfbewohner halfen, wie damals üblich, mit. Die „Bau-Talka“ (lit. pastatyti talką) galt allgemein als bedeutende Veranstaltung im Vergleich etwa zu den weniger Personen einbeziehenden Mäh-, Dresch- und Schlacht-Talkas. Einigen Berichten zufolge war sie allerdings noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Gegend von Pillkallen eine Angelegenheit des ganzen Dorfes. Oft schloss ein großes abendliches Fest – möglichst mit Musik und Tanz – eine Talka ab, immer war sie mit reichlicher Verköstigung der Helfer verbunden.

Bei der Bau-Talka wurde in der Regel hauptsächlich am Wochenende gearbeitet. Dies erklärt auch die lange Bauzeit auf dem Tuttliesen Hof.

So entstanden für die junge Familie von Ferdinand Tuttlies und Berta Burba ein stabiles eineinhalbgeschossig Wohnhaus. Es war ganz aus Ziegel aufgemauert hatten hellen Außenputz und war mit roten Dachpfannen bedeckt. Es wurde beheizt durch einen großen Kachelofen, der seine Wärme über ein Warmlust-Kanalsystem auch im Obergeschoss verteilte, den Küchenherd und im Winter auch durch die Außenwand der eingebauten Räucherkammer. Dazu kamen im Winter in den Schlafzimmern kleine "Stöfkes".

Hof Tuttlies - eine Beschreibung

Gegenüber dem Wohnhaus lag die zweistöckige Scheune mit aufgemauerten Giebeln. Die Zufahrt war rechtwinkelig von der Straße zu der hinteren Hofseite angelegt. Sie war auch gepflastert und führte außen am Scheunengebäude vorbei. So konnte die Scheune von beiden Seiten "beladen" werden. Im rechten Winkel lag dazu das ebenfalls eineinhalbgeschossiges, mit Holz verschalte Stallgebäude. Auf der Hinterseite der Ställe gab es mit einem Schweinegarten und einem Rossgarten. Ein Anbau mit Geflügel- und Ziegenstall schloss den Vierkant ab.

Der innere Hof war mit behauenen Feldsteinen ausgepflastert. Der Hof maß etwa 15 x 15 Meter, so dass eine bespannte Feuerwehrspritze darin wenden konnte. Zur Straßenseite gab es einen Ziergarten und hinter dem Wohnhaus einen Gemüse- und Obstgarten mit 24 Obst-Bäumen. Der Hof war außen mit einem Staketenzaum umfriedet und wurde außen zum Windschutz mit Bäumen und Hecken umpflanzt. Er wurde durch ein großes Tor verschlossen und vom Hofhund Lux bewacht. Es war ein kleiner Vierkanthof entstanden. Die Baumaterialien waren Ziegel, Feldsteine, Lehm und Holz. Es hat bis 1906 gedauert, bis alles fertig war. Diese Annahme läßt sich aus dem Messtischblatt 1197 (Grünheide) Bereich Willschicken von 1934 ableiten. unten rechts. Die Vermessung muss vor 1906 entstanden sein, da sie nicht den endgültigen Ausbau des Tuttliesen-Hofes zeigt)


Vier- oder Dreikant war die vorherrschende Bauform der Höfe in Preußisch-Litauen. Die "neuen" Wohnhäuser der Bauern, zumindest im Willschicken, waren in der Regel eineinhalbgeschossig aufgemauert, außen hell verputzt , häufig mit einem Zierband aus roten Ziegeln oder weißen Aufputz um Außentüren, Fenster und am Giebel versehen und mit roten Dachpfannen gedeckt. Ställe, Scheunen und Nebengebäude wurden in Fachwerk mit einem Feldsteine-Unterbau und zum Teil mit einer äußern Holzverschalung ausgeführt. Die Ziegel kamen aus Aulenbach von der Ziegelei Teufel oder der Ziegelei Guddadt. Feldsteine, Holz und Lehm gaben das eigene Land oder das der Nachbaren in Willschicken her. Keller waren bei kleinen Höfen unüblich. Der Dachboden "de Lucht" war ein sehr beliebter Kinderspielplatz. Die genaue Quelle und Inhalte der behördlichen Bau-Vorgaben (Bauordnung) konnte bisher nicht ermittelt werden.

Aufgeschrieben von Klaus Kiehl - Aus Erinnerungen von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies aus Willschicken, 2019/2021 .


Geschichten & Anekdoten rund um Willschicken

Dorfleben in Willschicken / Wilkental

Auf- und Abstieg innerhalb von Gesellschaftsschichten in Ostpreußen um 1900
(Quelle: Köllmann, Bevölkerungsgeschichte)

In Wilkental gab es 1939 das ehrenamtliche Bürgermeisteramt (Gemeindevorsteher), eine kleine Molkerei und einen Friedhof, aber es gab keinen Laden, keine Schule, keine Kirche und keine Gaststätte. Scherenschleifen, Zwiebelbauern, Heringshändler und Petroleums-Verkäufen zogen zu bestimmten Zeiten durch das Dorf, dazu kamen Vieh- und Pferdehändler und Heimatlose. Die Post kam zweimal die Woche. Seit 1825 war es gestattet, Land-, Fuß-Boten oder Briefträger einzustellen. Sie stellten zwei- bis dreimal in der Woche Briefe, Adressen, Zeitungen und Amtsblätter gegen ein Bestellgeld in der Umgegend des Postbezirks zu und nahmen, wieder gegen ein Bestellgeld, solche Sendungen an. Die Landbriefträger wurden von der Postanstalt unter Vertrag genommen und besoldet, das Bestellgeld floss in die Postkasse und sollte die Kosten für diese Dienstleistung decken. Diese Reglungen blieben bis zur Weimarer Verfassung bestehen.

Dörfer wie Wilkental haben wie zu jeder Zeit auch belastbare soziale Netze von Hilfe und Zurückhaltung (siehe: Pierre Bourdieu, Der feine Unterschied). Sie dienten der Sozialkontrollen und zur Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Sozialgruppen im Dorf und der Region. Gutsbesitzer, Bauern und Gesinde grenzen sich sozial gegenseitig ab und heiraten so wie Gutsbesitzer häufig nur untereinander. Allerding war sozialer Aufstieg durch Einheirat in die sozial angesehene Bauerngruppen auch ein gängiges Muster. Gerade auf dem Lande gingen "Eigentumswünsche häufig vor Herzenswünsche". "Wer geht mit wem?" "Hast Du gesehen, dass... " Die Bauern sind ausgestattet mit "feinen" positiven oder negativen Verhaltensregeln den anderen Dörflern gegenüber": "Gode Frind un trie Noawersch send nich mit Gild to betoale", dauerhafte Zuschreibungen: "De ol Grigull" und fixierten Klassenschranken: "Wat du seggst un de Landrat schött, das gölt datselwige" , "Wer nuscht häd, de hoost" , "Tohuus is Tohuus" (siehe: Ostpreußische Sprichwörter, Redewendungen und Weisheiten)

Soziale Rangordnungen wurden schon von den Kindern wahrgenommen. Hildegard Kiehl berichtet von der freiwillig eingenommen Sitzordnung ihrer ersten Konfirmandenstunde: "Vorne saßen kerzengerade die Kinder der Großbauern, dann lümmelten sich die Sprösslinge der mittelprächtigen Bauern und hinten hocken die blassen Kinder der Knechte und Arbeitsleute und ganz hinten verkroch sich der Sohn Micha, sein Vater war im Nebenberuf Abdecker. Man erzählte, dass auf sehr reichen Gütern die feinen Kinder des Gutsherrn vom Pfarrer alleine zu Hause im Haus des Gutshauses über die Religion belehrt wurden - sie sollten wohl von der Dorfjugend nicht verdorben werden. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Das sie aber Privatlehrer hatten, weiß ich von meinem Vater, der schon auf solchen Gütern gemauert hatte".

Das Arbeitsleben auf den Höfen war bestimmt durch Aussaat und Ernte. Ansonsten war das Dorfleben durch christlichen Feiertag, Familienfest und die vier Jahreszeiten geprägt, wobei die langen und strengen Winter eine besondere Rolle spielten. Die Arbeit auf den Höfen richtete sich gewöhnlich nach Aussaat und Ernte nach dem Lebenszyklus von Geburt, Kindheit, Schule, Ausbildung, Armee, Hochzeit, Beruf, Altenteil und Tod. Dabei spielen die erhebliche kürzere Lebenserwartung und Anzahl der überlebenden Kinder eine große Rolle.

In Willschicken wurden die Zeitungen zwar ab 1871 mit der Post (den Gütern) zugestellt, meistens die "Königsberger Hartungsche Zeitung" oder das "Me­meler Dampfboot". Sie wurden aber von den Bauern mit einem Tag Verspätung häufig aus Kostengründen in der Gaststätte gele­sen. Damals, 1871 waren alle Einwohner preußisch und evangelisch, 68 ortsgebürtig, 37 unter 10 Jahren, 73 konnten lesen und schreiben, 44 Analphabeten.  

Die „Ostmarken Rundfunk AG“ später Reichssender Königsberg wurde mit einem 50-Prozent-Anteil der Reichspost am 2. Januar 1924 in  Königsberg gegründet. Nicht alle Höfe in Willschicken hatten schon einen Stromanschluss. Während des 2. Weltkrieges kam es in Ostpreußen ab 1941 relativ häufig zu Stromsperren, die manchmal tagelang andauerten. Manche Höfe waren froh, ihre alten Petroleum-Lampen behalten zu haben. Beim Radio musste dann zuerst noch der Akku 4 Stunden lang fremd aufgeladen werden, was aber manchmal „tagelang“ dauerte, da es außerhaus passieren musste. Die Gaststätte Lerdon in Lindenhöhe war eine elektrische "Ladestation" für die Willschicker Bauern. Tuttliesen hörten ab 1934 am Abend zwischen 20 und 21 Uhr eine Stun­de Radio Königsberg.

Uhrenersatz - Sirene der Ziegelei Teufel
in Aulowöhnen, OT Uszupönen (1920)

Es gab lange Zeit keine Uhr im Haus Tuttlies. Gerichtet wurde sich nach der Sonne und den Werks-Sirenen der Ziegelei Teufel im nahen Aulowönen: 7:00 in der Frühe und 19:00 am Abend. Bei Tuttlies hieße es: „Wenn de Diwel huult“. Jeden zweiten Sonntag putzte sich die Familie Tuttlies fein heraus und besuchte mit dem Kastenwagen die Kirche in Aulowönen.

Im Stall der Tuttliesen waren 2 Pferde ("Rieke" und "Alexa") in der Regel 2 Milchkühe ("Lisa" und "Mona"), 6 kleine und große Schweine "Franz 1-6"), 4 Ziegen (Ziegenbock "Mäck" und Anhang), Hühner und Gänse zu versorgen. Die Pferde wurden häufig gegen Naturalien verliehen, da sie auf dem kleinen Hof nicht ausgelastet waren. Ferdinand Tuttlies sagte: "Wo Duwe sönd, da fleege noch Duwe to." Dazu gaben einen freistehenden echten Taubenschlag und den treuen Hofhund "Lux". Am Stall waren unter der Dachkante zahlreiche Schwalbennester gebaut worden. Trotz Drängen wollte Opa Tuttlies keine Bienenvölker, "De sönd to krabblich".

Auf den 6 ha Land wurden Roggen und Kartoffeln angebaut, die zur Eigenversorgung und zur Viehfütterung zum Teil eingelagert wurden. Der eingelagerte Roggen war bei sachgemäßer Lagerung bis zu 6 Jahren haltbar, damit konnten Missernten ausgeglichen werden. Außerdem gab es Grünland, auf dem Heu gemacht wurde. Direkt am Hof gab es noch einen großen Gemüsegarten und 24 Obstbäume. Auf "ihre" Obstbäume war Berta Tuttlies besonders stolz. Die Bäume wurden nur auf Anweisung von ihr zurückgeschnitten - beim Obst Ernten mussten aber alle mithelfen. Alle landwirtschaftlichen Geräte waren einfacher Art und zum größten Teil vererbt oder günstig gebraucht erworben. Es waren vorhanden ein Schwing-Pflug, ein Tiefpflug, eine Drillmaschine, eine Rechenmaschine, ein Kartoffel-Häufler, ein Kartoffel-Roder, vier Eggen, zwei Ackerwagen, ein Kastenwagen und ein großer Schlitten. Bei Bedarf konnten zusätzliche Gerätschaften von Nachbaren oder vom Familien Clan ausgeliehen werden.

Werbung der Landwirtschaftliche An- und Verkaufsgenossenschaft eGmbH Interburg in Aulowönen

Der größere Teil der Ernte wurden von der An- und Verkaufsgenossenschaft in Aulowönen aufgekauft. Ferdinand Tuttlies war als "Genosse" Mitglied und besaß einen kleinen Genossenschaftsanteil. Die Milch landete hauptsächlich in der Molkerei Pukris in Willschicken und diente zum Eigenverbrauch. Das Buttern der Milch zu Hause war für die Tuttliesen Kinder eine der unerfreulichsten Arbeiten - es war langweilig und dauerte viel zu lange. Die Ernteerlöse und das Milchgeld reichten etwa für ein Dreivierteljahr, um die Haushalts-Kosten zu decken. Kunstdünger wurde wegen der Kosten nicht gekauft. Das Jahreseinkommen aus der Landwirtschaft betrug etwa 1.200 Reichs-Mark. Die teuersten Posten bei den Tuttliesen waren Kaffee, elektrischer Strom und Lederschuhe. 1926 betrug Monatslohn in Deutschland durchschnittlich 139 RM, bei einem Kaffee-Preis von 7,20 RM. Man musste also auf dem Lande in Ostpreußen ungefähr 20 Stunden für ein Kilo Kaffee arbeiten (siehe auch Hof Brandstäter und Monatslohn Entwicklung [7] ). Die Bauern auf dem Landen versorgten sich mit Nahrungsmitteln und Brennmaterialien in der Regel selber. Räuchern und Einwecken diente auf den Höfen der Haltbarmachung.

Ferdinand Tuttlies war zusätzlich im Sommer als gelernter Maurer und im Winter als angelernter Schneider erfolgreich tätig. Er wurde zum kleinen Dorfschneider, den jedes Dorf hatte. "E kleenet Etwas öss beter als e grotet Garnuscht". Beide Nebenerwerbe hatte er angemeldet. Ferdinand Tuttlies „benähte“ im Winter regelmäßig seine Stammkunden, die Nachbaren, Verwandte, Bekannte und Schulfreunde "für ein paar Dittchen". Das Schneidern hatte ihm Gertrud Kianka aus dem Nachbardorf Paducken beigebracht - eine gelernte Schneiderin. Frau Kianka war langfristig an Rheuma erkrankt, da sie im Winter ihre Kate nicht ausreichend heizen konnte. Sie "hatte zu lange im Kalten genäht". Ferdinand Tuttlies hatte schon während der Anlernzeit wesentlich am Einbau eines Kachelofens bei Frau Kianka mitgearbeitet. Frau Kianka freute sich über "die flotten Hände von Ferdinand". Die Zufahrt zur Hofstelle Kianka lag westlich neben dem Soldatengrab. Frau Kiankas Mann war verstorben und lebte später unverheiratet mit Herrn Bundel zusammen, um besser versorgt zu sein. Ferdinand Tuttlies übernahm von Frau Kianka eine gusseiserne "Singer-Nähmaschine" mit Fußantrieb und Holzabdeckung, dazu zwei großen Schneider-Scheren und ein riesiges Dampfbügeleisen. Dazu kam ein wichtiger Schrank, in dem etwa 50 Schnittmuster aus Zeitungspapier von Frau Kianka lagerten. Ein selbstgebauter Schneidertisch und ein Stoffregal mit Kurzwaren vervollständigten seine "Extra-Schneider-Stube" im 1. Stock. Sie wurde im Winter, wie die Schlafzimmer, durch den Warmluft-Kanal des Kachelofens mit beheizt. Bei besonders strengen Wintern wurden aber noch zusätzliche Öfen, die einen Abzug zum Hauptkamin besaßen, angeworfen. Die extra langen Ofenrohre in den Zimmern wärmten mit. Die Schneider-Stube besaß aber auch noch einen separaten "Schneiderofen" für das Dampfbügeleisen. Sein ganzer Stolz war ein bodenlanger Spiegel und ein Kundensessel mit Lederbezug. Beide Gegenstände waren Überbleibsel des "russischen Rotes Kreuz Hauses " aus dem 1. Weltkrieg. (siehe 1.8 Soldatengrab). Sie sollen ursprünglich wohl von einem besetzten Gut der Umgebung herstammt und landeten während der russischen Besatzung bei den Tuttliesen im "Ärzte-Zimmer", es war die "Extra-Schneider-Stube".

Die Stoffe kauft Ferdinand Tuttlies nach einem bestens gehüteten Katalog auf Bestellung per Post in Insterburg ein und holte sie persönlich ab, und zwar bei der Tuchhandlung Rosenberg Gebrüder & Simon, Insterburg. Die ganz Familien musste seine Bestellung (Korrektur)lesen. Für ihn war es jedesmal eine aufregende Tagesreise. Dazu zog er jedesmal sein "englische" Jacke an - ein Sakko aus groben Tweed und eine Manchesterhose aus Cord, eine Kombination, an der auch einige Großbauern in der Umgebung Gefallen gefunden hatten. Eine Schiebermütze und von den Kindern sorgfältig geputzte Schnürstiefel vervollständigten seinen Auftritt. Mutter Berta hatte ihm eine Stulle für die Hinfahrt und eine Stulle für die Rückfahrt geschmiert. Während der deutschen Kolonialzeit wurden die Winteruniform der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika aus Cord hergestellt, daher war Cord auch in Ostpreußen bekannt. Er setzte auch jedesmal seinen selbst genähten Extra-Schneiderrucksack auf, der regendicht war; es gab auch einen entsprechenden Maurerrucksack. - "Man must e weete wat em koft" - Für die Kinder war seine Rückkehr heiß ersehnt, da er in den Taschen seines Rucksackes stets "Bomche" mitbrachte. Es verging mindestens eine Stunde, bis er zu Hause von all seinen Erlebnissen in der Bahn und in der Stadt erzählt hatte - alle waren mucksmäuschenstill und hörten gespannt zu. Auch auf dem Wochenmarkt in Aulowöhnen konnte man auch Stoffe und Kurzwaren auf Vorrat erstehen. Das Geschacheriche auf dem Markt sagte Ferdinand Tuttlies aber nicht zu, seine Frau Berta begleitete ihn dann jedesmal bei diesen Einkäufen. Manchmal kaufte er auch im Textilgeschäft Wilhelm in Aulowöhnen ein. Hier war aber die Auswahl nicht sehr groß. Die Kinder durften seine "Extra-Schneider-Stube" nur nach "ausdrücklicher" Anmeldung betreten.

Nach dem 1. Weltkrieg gab es an den Häusern viel zu reparieren. Im Sommer baute er "gegen Geld" für die „Baugesellschaft Königsberg“ bis 1930 bei den Neusiedlerhäusern in Alt Lappönen in Teilzeit beim Innenausbau mit. Auch hier wurde während der Inflation mit Naturalien bezahlt. Von Dezember bis Januar gab es für Maurer kaum Arbeit und Lohn, in den Monaten Februar, März, Oktober und November mäßige Aufträge und Einkommen. Die meiste Arbeit und vollen Lohn gab es von April bis Oktober. Ferdinand Tuttlies hatte sich Maurer für Innenausbauten einen Namen gemacht. Er wurde aufgrund seines Rufes auch von Gütern der Umgebung angefragt. Manchmal, aber sehr selten, bedingten sich Schneider und Maurer in der einen Person von Ferdinand Tuttlies auch vor Ort. Ob er dann mit zwei Rucksäcken gefahren ist, ist nicht erinnert worden.

Während der Sommermonate wurden auf dem Tuttliesen Hof bis zu 4 noch nicht schulpflichtige Waisenkinder aus Insterburg untergebracht. Dies besserte den finanziellen Haushalt der Familie noch zusätzlich auf. Ab Oktober 1940 wurden Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in zur damaligen Zeit weniger gefährdeten Gebieten wie z. B. Ostpreußen untergebracht. Die „Reichsdienststelle KLV“ evakuierte bis Kriegsende insgesamt wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder und versorgte dabei vermutlich 850.000 Schüler im Alter zwischen 10 und 14 Jahren und älter. Auch deren Rückkehr verlief teilweise viel zu spät und unter oft chaotischen Bedingungen. Auf dem Hof der Tuttliesen wurde Anfang 1941 eine Hausfrau mit 2 schulpflichtigen Kindern aus Köln einquartiert. Ihre Wohnung in Köln war zerbombt und ihr Mann an der Front. Es kam aber zu Spannungen zwischen den Familien. Die Kölner zogen aber bald ins traditionell katholische Ermland weiter, da die Tuttliesen aber auch das Dorf "nicht genug katholisch" waren. Auf einigen Höfen in Willschicken wurden Kinder durch die Kinderlandverschickung (KLV) untergebracht, die in Lindenhöhe auch zur Schule gingen.

Auf den anderen Kleinbauerstellen arbeiteten die Besitzer häufig Teilzeit bei den Großbauern und Gütern über das ganze Jahr verteilt. Straßen- und Eisenbahnbau und der Holzeinschlag, die Moorkultivierung und der Wasserbau waren zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten. Seit 1935 bot sich auch die Wehrmacht als "Alternative" an. Zur Erntezeit wurden auf den Gütern zusätzliche Saisonkräfte angeworben. Nach wie vor mussten die bäuerlichen Nichterben sich außerdörfliche Arbeitsplätze suchen. Bei den Tuttliesen waren zu Kriegsanfang die Kinder Max Tuttlies Kaufmann in Insterburg, Friedel Tuttlies Hausmeisterin in Königsberg, Hildegard Tuttlies Angestellte in Paßdorf. Nur Erich Tuttlies wollte als gelernter Maurer in Wilkental bleiben und der Hof übernehmen.

Erich Tuttlies arbeitete, nach seiner Mauerlehre bei seinem Onkel in Aulowönen, von 1925 bis 1933 als Maurer in einer Baukolonne, die von Baustelle zu Baustelle zog und ihr Werkzeug mitbrachten. Sie bestand aus einem soliden sozialen Netzwerk von bis zu 12 miteinander vertrauen Mauren aus dem Kirchspiel Aulowönen, das sich auch bei Notfällen wie Unfällen unterstützte, die Löhne vor Ort aushandelten, aber keine Firma war. Vor dem eigenen Hausbau gehörte auch Ferdinand Tuttlies dazu, der aber nach der Familiengründung nicht mehr wochen- oder monatelang umherreisen mochte. Die Kontakte zu den Bauherren - es waren ganz überwiegend Gutsbesitzer - kamen in der Regel durch persönliche Beziehungen oder durch Empfehlungen zustande. Später kamen auch seriöse und unseriöse Vermittler dazu. Die Kolonne arbeitete neben dem Landkreis u.a. punktuell auch in Städten wie Insterburg, dann in Königberg und mit Zwischenstationen sogar auch in Berlin, hier an einem großen Geschäftshaus in Berlin Mitte - es soll heute noch stehen. Auch das Berline Objekt gehörte einem vermögenden Gutsbesitzer aus dem Landkreis Insterburg, der es als Geldanlage bauen ließ. Erich Tuttlies hatte "während seiner Zeit in Berlin Sachen gesehen, von denen er nie was in Willschicken gehört hatte."

In Ostpreußen waren äußere Bauarbeiten auf Grund des langen Winters nur von April bis Oktober möglich. Im Winter waren dann alle Maurer wieder zu Hause. Während der Inflation 1918 - 1924 und der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1933 war es fast unmöglich in den Städten Arbeit zu bekommen. Auf dem Lande war die Situation nur zu Teil etwas besser. Während der Wirtschaftskriese gab es eine "Flucht in Immobilien", was den Bauleuten nur zum Teil half - Aus- und Umbau waren jetzt angesagt. Für Neubauten gab es keine Kredite mehr. Die Konkurrenz war auch hier sehr groß, besonders von polnischen Bauarbeitern, die "unter Preis" arbeiteten. Von 1929 bis 1933 verloren in Ostpreußen fast zwei Drittel der in Bau- und Baunebengewerbe abhängig Beschäftigten ihre Arbeit - ca. 35.000 Handwerker wanderten ab. Viele Arbeitslose belasteten als billige Schwarzarbeiter den Markt, andere suchten sich durch Gründung von Kleinstfirmen über Wasser zu halten. Bezahlt wurde während der Wirtschaftskriese und der Inflation, wie auf dem Lande üblich, teilweise oder ganz in Naturalien. Geschlafen wurde in der Regel auf den Baustellen. Zum Teil wurden die Bauleute aber auch systematisch um ihren Lohn betrogen. Bei Protesten wurden dann die Arbeiter von der gerufenen Polizei, teils unter Waffengewalt, von der Baustelle vertrieben. Einige Gutsherrn hatten sich einen besonders schlechten Ruf "erarbeitet". Es wurden aber auch Fälle bekannt, in denen das zuvor Erbaute von den betrogenen Bauleuten nachts heimlich wieder eingerissen wurde.

Erich Tuttlies hatte den Hof seiner Eltern zwar schon 1932 überschrieben bekommen, auch weil Vater Ferdinand krank geworden war, hatte aber von 1933 bis 1935 hatte eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme am Masuren Kanal erhalten, die er auch antrat. Bis zu seiner Einberufung 1938 war er dann nur auf dem Tuttliesen Hof tätig.     

„Die Faustregel hieß, dass man ein Besitztum bis zu zehn Hektar mit der eigenen Familie bewirtschaften konnte; ging es um zehn bis zwanzig Hektar, brauchte am öfters, von zwanzig Hektar ab regelmäßig fremde  Arbeitskräfte“ [8]. Höfe ab 20 ha konnten ihre Besitzerfamilien in Wilkental bei guten Ernten das ganze Jahr über sicher ernähren und kleinere Rücklagen z.B. in Form von Genossenschaftsanteilen bilden. Langanhaltende Winter wie 1928/29 führten in Ostpreußen teilweise zu Missernten.

Nutzung der Landflächen
in Ostpreußen und dem Dt. Reich,1938
(Quelle: Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1)

Bei den Großbauern und den Gütern waren die Ernteerträge sehr von den vorhandenen Arbeitskräften abhängig. Hinzu kamen das Wetter und die jeweiligen Konjunkturlagen. Aus der beigefügten Tabelle ist zu ersehen, dass das Getreide mit 54,9 % Fläche des Ackerlandes in Ostpreußen die "führende Ackerfrucht" war.

Auf dem Hof der Familie Tuttlies wurden hauptsächlich Roggen und Kartoffeln angebaut, außerdem wurde Heu gemacht. Vor der Aussaat wurden die Felder gedüngt, gepflügt und geeggt. Das Getreide wurde per Hand ausgesät - später mit der Drillmaschine - aber per Hand mit Sensen gemäht und zu Hocken aufgestellt. Nach dem Trockner wurde das Getreide gedroschen. Nach der Abfuhr der Hocken wurden die Felder noch abgeharkt. Dieses Reststroh wurde zum Ausstreuen des Schweine-Stalls benutzt.

Bei der Getreideernte herrschte die traditionelle Arbeitsteilung vor. Mitglieder des Familien Clan der Tuttliesen und vertrauten Nachbaren traten zur Ernte an. "Wenn der Lindenbaum zu Johanni seine Blüten offen hat, dann ist auch zu Jakobi der Roggen reif". Zunächst wurden die "langen" ostpreußischen Sensen entrostet, dann mit Hämmern gedängelt. Die Bauernwagen wurden zu Leiterwagen umgebaut und verlängert. Die Pferde bekamen eine Extraportion Hafer. Ferdinand Tuttlies erteilte als "Schnittmeister" vor Beginn einen kleinen Segen und ging voran, dann folgten die Söhne seiner Familie und danach die anderen Männer. Jedem Schnitter folgten zwei Binderinnen. Gearbeitet wurde von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Die Tuttliesen benötigten zur gesamten Mad etwa vier bis fünf Tage, abhängig vom Wetter, von der Personenanzahl und deren Können.

Die Männer schnitten das Korn mit ihren eigenen Sensen. Die Stiellänge der Sensen musste zur Körpergroße passen. Nach etwa 50 Schnitten wurde mit dem mitgeführten Schleifstein nachgeschärft. Vier bis fünf Schnitte reichten für eine Garbe. Die Frauen hoben die Schnitte auf und banden die Roggenähren im Stehen zu einer Garbe. Beim Binden wurde zwischen kurz gebunden und Langbinden unterschieden. Beim Kurzbinden wurden die Köpf der Ehren umgeknickt, beim Langbinden nicht. Maßgeblich war die Weiterverarbeitung. Das Binden selbst wurde mit Roggenähren ausgeführt, Binde-Seile konnten sich nur rentable Güter leisten. Danach wurden die Garben niedergelegt und am Abend in schrägen Hocken aufgestellt, damit eventueller Regen besser ablaufen konnte. Die Garben blieben bei gutem Wetter einige Tage als Zwischenlager auf dem Feld stehen. Drohte Regen, so wurden die Roggengarden schnell in die Haus Scheune gefahren. Das verursachte jedesmal wegen der zusätzlichen Arbeit großen Ärger und war noch jahrelang Gesprächsthema in der Tuttlies Familie. Bei gutem Wetter wurde, wenn alle Hocken aufgestellt waren, rasch eingefahren. Die großen Kinder fuhren mit auf den Erntewagen, die kleinen Kinder jagten nach Mäusen, die sich in den Hocken versteck hatten.

War der Dreschtermin angesagt, wurden die Getreidegarben zum Dreschen jeweils mit zweispännigen Fudern auf den Hof der Familien Burba in Paducken - den Eltern von Berta Tuttlies - gefahren. Es waren mehrere Fahrten notwendig und es musste schnell gehen. Hier stand ein Lohndreschkasten, der vom gesamten Burba- und Tuttliesen-Clan tageweise gemietet wurde. Der fahrbare Dreschkasten - er war von der Fa. Rudolf Wernike in Heiligenbeil gebaut worden - wurden von einem Lanz Bulldog mit Rundscheibe über einen Treibriemen angetrieben. Das Be- und Entladen des Dreschkasten nahmen die Tuttliesen vor, sie waren mit dem Dreschkasten vertraut. Das Dreschen der Familie Ferdinand Tuttliesen dauerte etwa 8 Stunden, vorher und nachher waren die anderen Tuttliesen und Burbas an der Reihe, es folgten weitere Familien. Generell wurde mit dem Dreschkasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Je nach dem Getreidewachstum wurde der Dreschkaten etwas 4 - 6 Wochen gemietet. Wie immer, war auch hier Regen ein Spielverderber.

Vor dem Einsatz von Dreschkästen wurde auf den kleinen Höfen mit der Hand gedroschen. Auf den Gütern war das die Aufgabe von Insten und freien Lohnarbeiter. Die Dreschsaison dauerte hier häufig von Oktober bis zum nächsten April des nächsten Jahres. Als Zwischenstufe wurden auch Pferde-Göpeln eingesetzt. Mit dem Aufkommen der Dreschkästen verloren große Teile der Lohnarbeiter schlagartig ihre Arbeitsgelegenheiten - was früher auf großen Gütern 4 - 6 Monate gedauert hatte, wurde jetzt in 4 - 6 Wochen vom Gesinde erledigt.

Der größere Teil der Körner-Ernte wurden zur An- und Verkaufsgenossenschaft in Aulowönen gefahren, das Stroh zur Haus Scheune der Tuttliesen. Die Erträge bei den Tuttliesen lagen, abhängig vom Wetter, etwa bei 17 Doppelzentner Rogen pro Hektar Ackerland. Roggen wurde auf etwa 4 Hektar Land angebaut. Da auch andere Familien sehr stark am rechtzeitigen Drusch interessiert waren, gab es regelmäßig "Schachereien" um einen günstigen Termin. Häufig wurden diese "Verhandlungen" auch in der Gaststätte Lerdon geführt.

Foto: Tuttliesen bei der Ernte 1925, von links: Erich, Ferdinand und Ehefrau Berta, im Vordergrund die Enkel Carlhorst und Manfred, im Hintergrund Gertrud mit Ehemann Max, daneben die Nachbaren das Ehepaar Ludzuweit mit zwei Kinder und davor die Kleinste von recht Hildegard Tuttlies

Bei den Kartoffeln wurden schon ein Häufler und ein Kartoffel-Roder eingesetzt, der von zwei Pferden gezogen wurde. Das Aufsammeln erfolgte per Hand. Hier dauerte die Ernte bei den Tuttliesen zwei bis drei Tage. Nach der Einberufung der Männer 1935 wurden auch Schulklassen zur Kartoffelernte eingesetzt. Auf den Gütern der Umgebung verdienten sich auch die schulfrei gestellten Kinder aus den umliegenden Dörfern zum Kartoffelsammeln: Neben den Mahlzeiten bekamen sie 50 Pfennig pro Tag - aber nur, wenn sie mindestens die Hälfte der Erwachsenen schafften, sonst blieb es nur bei den Mahlzeiten. Hildegard Tuttlies hatte als junges Mädchen auch einmal diese Erfahrung gemacht. Sie meine: Einmal reicht es! Die 50 Pfennige bekam sie nachträglich von ihren Eltern.

Im Herbst gab es große Feuer, auf denen das Kartoffelkraut verbrannt wurde. Das ganze Dorf Willschicken "duftete" dann nach Kartoffelkraut. Die außerhäusliche Kartoffelmiete war im Winter auch ein Anziehungspunkt für Wildschweine. Die Ernten wurden privat jeweils mit einem großen Fest mit üppigem Essen und Trinken und viel Gesang abgeschlossen. Vor dem 1. Weltkrieg wurden die Erntewochen nach Festsetzung des Gutsherrn von Alt Lappönen durch den Dorfpfarrer verkündet. Sie galten hauptsächlich für die nebenerwerblichen Dorfbewohner in den umliegenden Gemeinden von Alt/Neu Lappönen und Keppurlauken, die zur Erntehilfe angeworben werden mussten. Nach diesen Terminen richtete sich aber das gesamte Dorf Willschicken. Im selben Zeitraum waren in der Schule in Lindenhöhe alle entsprechenden Kinder freigestellt. Das Erntefest wurde auch von den Dorfautoritäten - mit einem Umtrunk im Gasthaus Lerdon, der Schule - mit einem Umzug durch das Dorf und der Kirche mit einem Gottesdienst begangen, dabei wurden jeweils angefertigte Ernte-Kronen überreicht. Bei den größten Gütern der Umgebung wurde eine Erntekrone dem Gutsherrn überreicht.

Nach der Reformation wurde das Erntedankfest in den Kirchen an unterschiedlichen Daten gefeiert. Einige evangelische Kirchenordnungen „verbanden den Dank für die Ernte mit Michaelis, andere legten ihn auf den Bartholomäustag (24. August), auf den Sonntag nach Ägidii (1. September) oder nach Martini (11. November).“ Schließlich bürgerte sich die Feier am Michaelistag (29. September) oder – weit überwiegend – am ersten Sonntag nach Michaelis als Termin ein. Diese Regelung geht u. a. auf einen Erlass des preußischen Königs aus dem Jahre 1773 zurück. Dies konnte dazu führen, dass das Erntedankfest noch in den September fällt. Im Dritten Reich wurde dann mit viel Pomp ein zentrales Erntedankfest zelebriert. 1933 verfügte Adolf Hitler zunächst, dass das Erntedankfest zentral am ersten Sonntag im Oktober gefeiert werden sollte. Mit dem Gesetz über die Feiertage vom 27. Februar 1934 wurde der Erntedanktag am ersten Sonntag nach dem 29. September (Michaelis) gesetzlicher Feiertag. An diesem Tag würdigte das NS-Regime auf der Grundlage der Blut-und-Boden-Ideologie besonders die Bedeutung der Bauernschaft für das Reich. Zentrale Veranstaltung war das Reichserntedankfest, mit dessen Organisation das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda beauftragt war.

Das Leben auf dem Lande durch den Nationalsozialismus zu beeinflussen, gelang nur teilweise. Gravierender waren die erlassenen rechtlichen Vorschriften, die auch sanktioniert wurden. Im Arbeitsalltag der Bauern war der ideologische Anspruch der Nationalsozialisten, Frauen auf ihre Mutterrolle zu reduzierte, bloße Propaganda. Während des Krieges wurden Lebensmittelkarten eingeführt, so wurde auch der Anspruch autark zu sein, zur Propaganda. Am gravierendsten waren jedoch der Einzug der Männer zum Krieg und wurde so für die Frauen zu Hause zur Doppelbelastung. Berta Tuttlies schaffte die Arbeit nicht mehr und die Kinder Hildegard und Erich kehrten auf den Hof zurück. Vater Ferdinand Tuttlies war zum "Schanzen" abkommandiert und wurde krank. Hilfskolonnen der HJ, des BDM und des RAD, dazu Tausende von Mädchen, die das neugeschaffe­ne „Pflichtjahr“ in einem Haushalt absolvieren mussten, wurden zum „Ern­teeinsatz“ in Ostpreußen abkommandiert, ohne jedoch die eingezogenen Männer erset­zen zu können. Auch die zwangsrekrutierten Ostarbeiter, Kriegsgefangen und KZ-Häftlinge konnten diese Lücke nicht schließen. Siehe dazu auch "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)" im weiteren Anschluss.

Das Leben auf dem Lande - auch während des Nationalsozialismus - war in Willschicken im Wesentlichen durch Alltagsroutinen geprägt. Dazu zählten die wiederkehrenden Aktivitäten an verschiedenen Orten. Was muss wie, wann und wo gemacht werden und wie komme ich dahin? Der so entstandene "Aktivitätsraum" setzte sich zusammen aus den verschiedenen Aktivitätsarten und den unterschiedlichen Aktivitätsorten. Die Aktivitäten kann man unterschieden nach Art, Häufigkeit, Zeitpunkt, Zeitdauer und Ort[9]. Es gab es für die Tuttliesen auch höchst unterschiedliche Gelegenheiten aktiv zu werden, sowohl in den Nachbargemeinden als auch zu Hause (siehe auch die folgende Tabelle). Für längere Distanzen wurden die vorhandenen Verkehrsmittel gebraucht. So wurde der Aktionsraum auch durch äußere Einflüsse beeinflusst. Mal regnete es, mal war das Fahrrad kaputt, mal war der Einkaufsladen geschlossen.

Bei längeren Distanzen war auch das "Koppeln" von Aktivitäten interessant. Nach dem Marktbesuch, die Gaststätte aufsuchen um danach bei Onkel Otto vorbeisehen und dann nach Hause fahren. In der Fortbildungsstätte für Landwirte in Königsberg wurden solche "Koppelungs-Tabellen" differenziert unterrichtet, um so auf "modernen" Gütern so auch kleinteilige Arbeitsabläufe mit Hilfe von REFA zu optimieren. Der REFA – Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e. V. ist Deutschlands älteste Organisation für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung. Die Abkürzung REFA geht auf den ursprünglichen Namen im Jahr 1924 zurück: Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung.

Auf dem Gut Neu Lappönen wurde möglicherweise auch die Zeit-Erfassung angewandt. Ferdinand Tuttlies war einmal eher zufällig in seiner Nebentätigkeit als Maurer in einem Gesindehaus des Gutes tätig. Als plötzlich ihm von einem Unbekannten ein Formular unter die Nase gehalten wurde. Er war wohl irrtümlich für einen Gutsarbeiter gehalten worden. Er sollte seine Arbeitszeit mit einem Bleistift selbst in die Tabelle eintragen. Er waren die genaue Minutenlänge seiner Arbeiten im Gesindehaus aufzuschreiben. Das widersprach allerdings den strengen REFA-Grundsätzen, die dafür einen separaten "Zeit-Erfasser" und sehr genaue Regeln vorsahen. Der Fremde wollte aber nicht bleiben, "er habe sofort im Gutshaus etwas sehr Wichtiges zu erledigen" und verschwand. Ferdinand Tuttlies sagte dazu, "dass es in beiden Häusern wohl eher sehr sehr unterschiedlich gerochen habe." Er konnte auch mit dem Formular allein nichts anfangen, da er auch keine Uhr hatte. Da der fremden "Zeit-Erfasser" nicht wieder auftauchte und der Zahlmeister des Gutes ihm auch nicht helfen konnte, brachte er stolz das leere Tabellen-Formular und den Bleistift mit nach Hause, um sie von der Familie bestaunen zu lassen. Das Formular ist im Krieg verloren gegangen. Der Vorschlag zu Hause Zeit zu messen und aufzuschreiben, ging in Gelächter unter.

Bei Anbahnungen von Heiraten und Bekanntschaften gingen die Aktionsräume der Dorfbewohner von Willschicken gewöhnlich nicht über einen Radius von 20 km kaum hinaus. Die 40 km Wege-Distanz für den Hin- und Rückweg konnte man früher an einem Tag in etwa 10 h Fußweg zurücklegen. Der Radius war bezogen auf die "alten" Verkehrsmittel zu Fuß gehen (4 km/h) oder mit dem Pferdewagen (10 km/h) oder dem Rad fahren (15 km/h), den Zustand der Straßen und Wege und die Jahreszeit. Im Winter engte sich Aktionsraum auf den eigenen Hof ein. Der Autoverkehr spielte im Landkreis Insterburg bis zum Kriegsende kaum eine Rolle. Dies galt auch, wenn vorhanden, für das Aufsuchen von Ausbildungs- und Arbeitsstellen. Ausnahmen bildeten die Distanzen, die für das Erreichen des Militärdiensts oder die weiterführende Ausbildung zurückgelegt werden mussten. Hier kam schon die Kleinbahn ab Aulenbach in Spiel. Die Aktivitäten der Tuttlies in der Heimat-Gemeinde nahmen einen großen Zeit-Anteil ein. Aber nicht alles konnte zu Hause erledigt werden. So mussten häufig auch die Nachbargemeinden aufgesucht werden, da es nur hier die entsprechenden Gelegenheiten gab.

Zu den speziellen Aktivitäten musste man sogar in die Kreisstadt Insterburg per Kleinbahn fahren.

Die Gemeinde Willschicken war von folgenden Nachbargemeinden umgeben:

Die nebenstehende Tabelle versucht, eine ungefähre Übersicht der routinierten Aktivitätsarten und der bekannten Aktivitätsorte (Gemeinden) der Tuttliesen zu geben.

Es fällt auf, dass sich die Tuttliesen in ihren sozialen Aktivitäten stark zu ihren Nachbargemeinden Lindenhöhe und Paducken hin orientiert haben. Sie lagen auch räumlich näher zum Hof der Tuttliesen. Diese tatsächlichen Aktionsorte in Lindenhöhe und Paducken hatten demnach eine höhere Attraktivität als die möglichen Orte in Wilkental. Zur Nachbargemeinde Keppurlauken später Birkenhof gab es bis auf sporadische Mauerarbeiten von Ferdinand Tuttlies kaum Kontakte, was sicherlich auch an der relativ in sich geschlossenen Sozialgemeinschaft des dortigen Gesindes der Güter lag, die dort auch eine eigene Schule besaßen, so dass die dortigen Kinder zu anderen Nachbargemeinden kaum Kontakt hatten. Im Allgemeinen war die Schule eine großer "Kontakt-Anbahner" zwischen den Bewohnern in den verschiedenen Gemeinden. Hier lernte man sich zuerst kennen. Diese Gemeinde besaß auch die größte räumliche Distanz zum Tuttliesen-Hof.

Die Tabelle soll zeigen, dass die Tuttliesen auf dem Lande in einer relativ abgeschlossenen und überschaubaren Welt lebten. Wer in dieser kleinen Welt keinen Arbeitsplatz gefunden hatte, musste seine Heimat aber verlassen, um woanders unterzukommen. Die eingetragenen Nennungen in der Tabelle stammen aus der Erinnerung von Hildegard Tuttlies, verh. Kiehl. Sie sind rein subjektiv und enthalten keine Häufigkeiten und Zeitdauer. Ebenfalls ist nicht angegeben, für welche Familienmitglieder die Erinnerungen gelten. Auch ein genauerer Ortsbezug innerhalb der Gemeinden wäre zwar wünschbar, war aber nicht zu leisten. Es wird aber dabei geschätzt, dass durch die Tabelle der größte Zeit-Anteil der täglichen Routinen der Tuttliesen abgedeckt wurde. Ausnahmen wie Ferien, Krankheiten oder Aufmärsche wurden nicht berücksichtigt.


Willschicken und seine Nachbargemeinden

Familie Tuttlies und Pillwogallen / Lindenhöhe

Verzeichnis der Hofbesitzer/Pächter Gemeinde Lindenhöhe
(Bitte mehrmals auf den Plan klicken, um ihn zu vergrößern)

In Pillwogallen lernte Hildegard Tuttlies ihren Mann Gerhard Kiehl kennen und ging dort zur Schule. In Geschäft von Fritz Lerdon wurde der tägliche Bedarf eingekauft. Es wurden auch die angeschlossene Gaststätte und die Tanzvergnügen besucht. Hier hatte auch der Posthalter Link seine Poststelle. Die Hebamme, die Berta Tuttlies bei den Geburten half, wohnte hinter dem Gasthof. Die Eltern von Ursel Weihnowski, der Schulfreundin von Hildegard Kiehl, hatten in Lindenhöhe ihren Hof.

Pillwogallen später Lindenhöhe grenzte nord-westlich an Willschicken. Die unmittelbare Nachbargemeinde von Wilkental hatte 1939 ge­zählte 187 Einwohner auf 32 Höfen, 8 davon bildeten den alten Dorfkern - an der Grünheider - Aulowöhner Chaussee. Sie verläuft in der oberen Kartenhälfe von Osten nach Westen. Hier lag auch das Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft mit kleinem Saalbetrieb der Familie Lerdon.

Das folgende Messtischblatt zeigt die Gemeine Lindenhöhe. Der Dorfkern liegt an der Kreuzung der Überland-Straßen. Auf der Lindenhöher Karte sind auch acht Höfe des alten Dorfkerns von Lindenhöhe und das Kreis­haus eingetragen. Darunter befindet sich das Gasthaus von Fritz Lerdon (frü­her Hedwig Kiehl). Fritz Lerdon, er stammt aus der Nachbargemeinde Paducken, hat 1928 die Witwe Hedwig Kiehl geb. Padeffke geheiratet. Ihr erster Mann Max Kiehl war 1921 verstorben. Gerhard Kiehl, eines der vier Kinder aus der ersten Ehe, wird 1943 der spätere Ehemann von Hildegard Tuttlies. Räumlich waren die Tuttliesen eher auf Lindenhöhe als auf Wilkental orientiert.

Fritz Lerdon besaß 1931 das erste Auto in Lindenhöhe, war Jagdpächter und hatte zwei Höfe in Lindenhöhe gepachtet. Hier lag auch sein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb der Familie Kiehl, später Lerdon. Rechts hinter und neben der Gasstätte hatte die Hebamme Mikuteit und der Chaussee-Auf­seher Kuhnke ihre Höfe, die sie als Nebenerwerbslandwirte betrieben. Wendel (Altenteil) und Link (Poststelle) waren weitere Bauernhöfe im alten Dorfkern, links neben dem Gasthof, deren Land von Lerdon gepachtet war. Dazu gab es noch auf der anderen Straßenseite den Schmied Sanowitz, vier weitere Höfe und das Kreishaus von Franzdorf, der früheren Gemeinde Schruben. 1929 erfolgte die Eingliederung der Landgemeinde Schruben aus dem Amtsbezirk Keppurlauken in die Landgemeinde Pillwogallen. In Lindenhöhe lag - nahe dem Dorfkern - auch die Schule, die Hildegard Tuttlies mit ihrer Freundin Gerda Weinowski besuchten.

Die Gaststätte Lerdon und der Laden waren auch das "soziale Zent­rum" vom östlichen Wilkental. Hier gab es u.a. Mehl, Zucker, Bonbons, Schmalz, Bier, Wein, Schnaps, Salzheringe, Nägel, Schrauben, Holzschlorren, Holzklumpen, Wagenschmiere, Kuhketten, Petroleum und das Neueste aus den umliegenden Dörfern.

Zur Gemeinde Lindenhöhe gibt es leider kaum GenWiki Einträge.


Die Konfirmandin
Hildegard Tuttlies - (1934)
Der Konfirmand
Gerhard Kiehl - (1928)
Das Hochzeitspaar
Hildegard Tuttlies & Gerhard Kiehl - (1943)



Familie Tuttlies und Paducken / Padau

Verzeichnis der Hofbesitzer
der Gemeinde Paducken (1944)

Aus Paducken stammten die Eltern von Berta Tuttlies , der Vater von Fritz Lerdon und die Schneiderin, die Fritz Tuttlies angelernt hat und dort hatten die Tuttliesen überwiegend ihren Landbesitz, hier wurde auch ihr Getreide gedroschen und ihre Kartoffeln geerntet.

Paducken später Padau grenzte südlich an Willschicken und hatte 1933 gezählte 77 Einwohner. Paducken wird u.a. in Meyer´s Ortsverzeichnus beschrieben: Paducken war ein Scharwerks-, Bauerndorf und Gemeinde im Kirchspiel Aulowönen. Es gab folgende Einrichtungen in den Nachbargemeinden: die Schule in Pillwogallen / Lindenhöhe, das Kreis-Amt Groß Franzdorf, das Standesamt und die Gendarmerie in Aulowönen / Aulenbach. Am 16.07.1938 als Ortsteil in die Gemeinde Klein Schunkern eingegliedert, gleichzeitig Umbenennung in Padau.

Folgende Einwohner waren 1927 im Ortschafts- und Adreßverzeichnis des Landkreises Insterburg unter Paducken aufgeführt:

  • Besitzer : Albert Burba, Friedr.(ich) Burba, Herm.(an) Donner, Gust.(av) Erdmann, Wilh.(elm) Lerdon, Franz Mett, Gust.(av) Neumann, Friedr.(ich) Naties, Franz Onußeit, Karl Pallapies, Ewald Pohl, Amalie Rieser, Franz Rieser, Lina Schellwat
  • Altsitzer : Wilh.(elm) Statschus, Aug.(ust) Brandstäter, Karoline Onußeit, Friedr.(ich) Rimkis, Henriette Ennulat
  • Schneider : George Bundel, (Gertrud Kianka)
  • Meierist: Fritz Naujoks
  • Kätner : Wilhelm Genee
  • Arbeiter : Karl Cohn, Julius Weinowski

Auf Basis der Einwohnerliste sowie der nebenstehenden Karte der Hofbesitzer/Pächter der Gemeinde Padau (Paducken) konnte sich Hildegard Kiehl geb. Tuttlies an die folgenden sechs Namenszuordnungen erinnern:

(6) Schellwat, Franz, Großbauer, (10) Berend, Besitzer (Lage Nähe zum Friedhof), (11) Burba, August, Großbauer - Vater von Berta Tuttlies, geb. Burba (siehe Tuttlies in Willschicken/Wilkental). Die Hofstellen Burba und Tuttliesen lagen in Sichtweite (nähere Informationen zum Familienstammbaun der Tuttliesen siehe oben) . (12) Kianka, Gertrud , Schneiderin und Bundel Georg. Frau Kianka hat eng mit Ferdinand Tuttlies im Rahmen der Schneiderei zusammengearbeitet. Die Hofstellen Kianka und Tuttliesen lagen in Sichtweite, (13) Rieser, Franz , Bauer, Altsitzer - nach Hildegard Tuttlies war er als "Kinderscheucher" sehr bekannt. (14) Lerdon, Wilhelm, Bauer und Altsitzer, Vater von Fritz Lerdon, dieser war verheiratet mit Hedwig Lerdon, verw. Kiehl, geb. Podewski in Lindenhöhe (nähere Informationen zum Familienstammbaun der Kiehls siehe oben). Der Hof von Ferdinand Tuttlies in Willschicken (No. 24) ist auf der Höfekarte von Willschicken (s.o.) sichtbar.

Die Gemeinde Paducken wurde am 16.07.1938 als Ortsteil in die Gemeinde Klein Schunkern eingegliedert und gleichzeitig in Padau umbenannt.


Familie Tuttlies und Aulowönen / Aulenbach

Orte Aulenbach - Alt Lappönen - Willschicken (1893)

In Aulowönen kauften die Tuttliesen ihren höheren Bedarf ein und brachten ihr Getreide zur Verkaufsgenossenschaft. Außerdem gab es hier einen Arzt und eine Apotheke. Aulenbach besaß einen Bahnhof zur Eisenbahn-Fahrt nach Insterburg. Die Tuttliesen besuchten alle zwei Wochen fein herausgeputzt die evangelische Kirche. Hildegard Kiehl besuchte hier die Konfirmandenstunde.

Aulowönen später Aulenbach grenzte östlich an Willschicken. Aulowönen war wirtschaftlicher Mittelpunkt des gleichnamigen Kirchspiels. Es hatte 1939 gezählte 1049 Einwohner. Das Gut Alt Lappönen wurde 1925 als Wohnplatz der Gemeinde Aulowönen zugeschlagen Die nächsten größeren Einkaufsmöglichkeiten für die Willschicker lagen es in dieser Nachbargemeinde, die etwa 5 km westlich entfernt lag. Wenn etwas nicht sofort vorrätig war, wurde es in der Regel bestellt.

Es gab Einzelhändler, Schlachter, Friseure, Schuster, Konfektionsgeschäfte, den Arzt Dr. Epha, den Tierarzt Jaeckel und den Zahnarzt (Dentist) Quidor. Folgende Firmen boten ihre Produkte an: die Adler Apotheke, die Dampfziegelei Ewald Guddadt; die Gastwirtschaft August Rautenberg, die Dampfmühle Otto Schiemann und die Ziegelei Emma Teufel, die Landmaschinenreparatur u. Pflugfabrik Karl Hertzigkeit , die Autoreparatur u. Handel Schwarznecker u. Reck und die Buchdruckerei Curt Stamm, außerdem befand sich dort die Molkereigenossenschaft, die An- und Verkaufsgenossenschaft, die Raiffeisenkasse und die Volksbank Insterburg (Nebenstelle).

Neben einer öffentlichen Schule gab es in Aulenbach auch eine 1913 gegründete Privatschule. Zur evangelischen und aber auch zur neuapostolischen Kirche kamen viele Einwohner aus den nahliegenden Ortschaften und die Gottesdienste waren stets gut besucht. Als Behörden waren vertreten das Kreis-Amt, die Gendarmerie, die Poststelle und das Standesamt. Es wurden regelmäßig Wochenmärkte abgehalten, zwei Mal im Jahr ein Pferde- (Remonten)- und Viehmarkt mit Krammarkt. Den Güter- und Personenverkehr, vor allem zur Kreisstadt Insterburg, versah überwiegend die Insterburger Kleinbahn (IKB), die hier einen größeren Haltepunkt mit Verladegleisen hatte.

In Aulenbach bei der Firma Schwarznecker u. Reck absolvierte Gerhard Kiehl eine Lehre als Maschinen-Schlosser. „Seit ca. 1926 betrieben Franz Schwarznecker und Emil Reck in Aulowönen die örtliche Kfz-Werkstatt incl. Tankstellenbetrieb. Später verkaufte sie Kraftfahrzeuge der Marken DKW und Mercedes, Landmaschinen, Fahrräder und Waschmaschinen der Marke Miele.“ Gerhard Kiehl arbeitete nach seiner Lehre noch zwei Jahre als Geselle bei der Firma Schwarznecker u. Reck. Er wurde am 01.10.1935 zur Wehrmacht eingezogen.


Verkaufsraum und Tankstelle
Fa. Schwarznecker u. Reck - (1932)
Lehrzeugnis Gerhard Kiehl
Fa. Schwarznecker & Reck (1945)


Familie Tuttlies und Keppurlauken

Orte Aulenbach - Alt Lappönen - Willschicken (1893)

In Gut Keppurlauken kaufte Ferdinand Tuttlies sein treues Pferd die "Rieke" und arbeitet kurzfristig beim Innenausbau der Gesindehäuser auf dem Gut.

Die Gemeinde Birkenhof (Ostp.) war 1928 durch den Zusammenschluss von Gut Keppurlauken, Gut Neu Lappönen und dem Ort Berszienen entstanden. Die Güter lagen nord-östlich von Wilkental in ”Klein Litauen (Lithuania minor)" oder ”Preußisch Litauen”, dem nordöstlichen Teil des alten Ostpreußens, im Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.). Es gab eine Schule am Ort, das Kreis-Amt lag in Birkenhof selbst, das Standesamt und Gendarmerie in Aulenbach. Die Post bekam über Szillen.Keppurlauken zählte 1925 199 Einwohner, im Ortschafts- und Adreßverzeichnis des Landkreises Insterburg (1927) waren unter anderem folgende Einwohner vermerkt:

Gut Birkenhof gehörte dem Eigentümer Hans Regge. Es umfasste 86 ha, davon 57 ha Acker, 25 ha Weiden, 4 ha Hofstelle, 10 Pferde, 43 Rinder, davon 16 Kühe, 7 Schafe, 5 Schweine

Gut Keppurlauken gehörte dem Eigentümer Bernhard Tinschmann. Es umfasste. E117,1 ha, mit folgendem Gesinde: Schweizer: Franz Schmidt, Deputant: Eduard Krietzan, Karl Lempke, Friedrich Goerke, Gustav Maeding Kutscher: Franz Dumluck

Gut Neu Lappönen gehörte dem Eigentümer Erich Lengnik. Es umfasste 392 ha, davon 221 ha Acker, 25 ha Wiesen, 130 ha Weiden, 13 ha Holzungen, 2 ha Hofstelle, 1 ha Wasser, 55 Pferde, 240 Rinder, davon 50 Kühe, 130 Schweine, Herdbuchvieh und eine Meierei. Im Jahre 1910 lebten auf dem Gut Neu Lappönen 80 Einwohner. Es waren Gesinde, Deputanten, Schweizer und Kutscher. Am 30. September 1928 verlor das Gut Neu Lappönen seine Eigenständigkeit und wurde als Ortsteil in die Landgemeinde Berszienen, Kirchspiel Aulowönen / Aulenbach (Ostp.) eingegliedert, die zum gleichen Zeitpunkt in „ Birkenhof (Ostp.)“ umbenannt wurde.

Der Sohn von Erich Lengnik , der Züchter Oskar Lengnik, führte hier ein Privatgestüt, dass sich vornehmlich aus besonders hoch im Blut stehenden Mutterstuten zusammensetzte. Die Stute Herold wurde im Jahre 1925 in Neu Lappönen im Kreis Insterburg geboren. Herold wuchs in ihrer Geburtsstätte auf und wurde von seinem Züchter erfolgreich in Flach- und Hindernisrennen der Provinz vorgestellt. Pferd und Reiter, gleichzeitig auch sein Züchter, brachten zahlreiche Schleifen und Ehrenpreisen von diesen Einsätzen heim. Die Krönung aller Erfolge waren jedoch die Starts bei der Pardubitzer Steeplechase, dem schwersten Hindernisrennen des Kontinents. Von beiden Rennen kehrte Herold als Sieger zurück. Die Velká Pardubická oder Steeplechase von Pardubice ist ein traditionelles Pferderennen über 6.900 m, das auf der Rennbahn im ostböhmischen Pardubice in Tschechien stattfindet. Das Hindernisrennen gilt als eines der weltweit härtesten Rennen und wird seit 1874 veranstaltet, nunmehr jeweils am 2. Sonntag im Oktober. Der Parcours ist berüchtigt für die Größe der Hindernisse, nur ein geringer Teil der startenden Pferde erreicht überhaupt das Ziel.

Beim ersten Sieg im Jahre 1935 schrieb Gustav Rau:

"Es steigert sich das Bild zu einer geradezu phantastischen Leistung der ostpreußischen Pferdezucht, vor der alle anderen Turniererfolge verblassen, zumal die ostpreußischen Pferde auch alle anderen Militarys in diesem Jahre gewonnen haben."

Und im Jahre 1936 berichtete Reitsportzeitschrift St. Georg anlässlich Herolds Folgesieg zur Pferdezucht auch dem Gut Neu Lappönen:

"Jede Rennbahn verlangt ihre besonderen Pferde; Pardubitz braucht neben gewaltigem Springvermögen Pferde, die in jedem Boden zu gehen vermögen, und Pferde mit einer außerordentlichen Ausdauer. Die Strecke beträgt 6.900 m. Der Boden wechselt zwischen Rennbahngeläuf, Heide, abgeerntetem Feld und Sturzacker, verlangt also Pferde, die immer wieder kommen und ihre Aktion behalten….Es ist geradezu phantastisch, was die ostpreußische Zucht für die Große Pardubitzer seit 1923 an Siegern hergegeben hat … Diese gehäuften Siege ostpreußischen Blutes in einem Rennen wie der Großen Pardubitzer sind wohl das Bemerkenswerteste, was die ostpreußische Zucht an großen Leistungen aufzuweisen hat." So wurde Herold zum strahlenden Botschafter einer weltweit berühmten Leistungszucht der ostpreußischen Warmblutzucht Trakehner Abstammung. Von der wertvollen Neu Lappönen Zucht hat nur wenig das Kriegsende überstanden: Paloma von Hendrik (von Nana Sahib x), Pandura von Damian und ihre Tochter Palme von Port Arthur sowie Luckchen von Cornelius mit ihrer Tochter Luci von Löbau kamen auf dem Treckwege nach Westdeutschland. Ihre Stämme bewegten sich immer auf sehr schmalem Grat und tun es noch."

Die Stute "Rieke" auf dem Tuttlieser Hof stammte auch von einer "Nebenlinie" der Neu Lappönener Zucht ab. Sie war bei einer Remonte-Prüfung auf dem Gut ausgemustert worden und konnte so dort von Ferdinand Tuttlies als "Dreijährige" preiswert erworben werden. Zu Hause galt sie als treu und leistete hervorragende Dienste. Trotzdem waren durchreisende Pferdehändler an "Riecke" sehr interessiert. "Sie ist doch noch für eine Privatzucht hervorragend" . Ferdinand Tuttlies hatte später kurzfristig beim Innenausbau der Gesindehäuser auf dem Gut gearbeitet.


Stute Herold (aus der Zucht Erich Lengnik - Neu Lappönen) Quelle: [[8]]
Hildegard Tuttlies mit den Enkeln Manfred und Carlhorst und der Trakener Hof-Stute Rieke


Platt im Willschicken: Kupst und Kaddig

Deutsche Dialekt (1910)- Hochpreußisch [9]

Die zwei Millionen Ostpreußen brachten ihre Traditionen in vielfältiger Form im Fluchtgepäck in die BRD und DDR mit. Das gesprochene ostpreußische Platt ist heute 2023 nahezu ausgestorben. Auf alten Tonträgern und im Internet lassen sich noch winzige Sprachinseln entdecken. In der Literatur sind noch einige Erinnerungen zu finden.

In Willschicken wie in weiten Teilen von Ostpreußen sprachen die ländlichen Bewohner platt. Das Platt war mit litauischen Sprachteilen durchsetzt

Von den übrigen ostniederdeutschen Dialekten unterscheidet sich das Niederpreußische in Ostpreußen vor allem durch viele Gemeinsamkeiten in Phonetik, Grammatik und Wortschatz mit dem Hochpreußischen. Einige wichtigen Merkmale des Ostniederpreußische sind nach W. Ziesemer [10] und dem Preußischen Wörterbuch [11] :

  • Die plattdeutschen Infinitive haben meist ein (n); dieses gilt für die Aussprache in Westpreußen, während in Ostpreußen das Schluss-n weggelassen wird (Sie will gehen - Sö wil goh)
  • Beibehaltung des ge- im Mittelwort (Hei is lopen; dagegen Ostniederdeutsch: He is jelope)
  • Entrundung (Kenig, Brieder, Fraide, Kraiter für Standarddeutsch Könige, Brüder, Freude, Kräuter)
  • Doppellaut mit Dehnung ai statt ei, eu, äu
  • Vorliebe für Verkleinerungssilben (De lewe Gottke und hochpreußisch kommche, duche, Briefchedräger) – umlautlose Verkleinerungsformen (Hundche, Katzche, Mutterche)
  • „nuscht“ für Standarddeutsch „nichts“ (Färe Dittke nuscht - für einen Groschen nichts)


Es folgt ein Auszug aus: Lituanismen im Ostpreußischen – Sprache und Alltag in Nord-Ostpreußen. [12]

Analysiert wird im Folgenden eine Auswahl von Texten, die nach 1945 in Form deutschsprachiger Buchpublikationen erschienen sind. Es mag erstaunen, dass auch noch nach über 50 Jahren - im Jahr 2000 nach Vertreibung und Flucht der Bevölkerung das ostpreußische Spracherbe, niederdeutsches Platt, in der Mundartforschung auch als niederpreußisch bezeichnet, in dieser Lebendigkeit in den Texten vorliegt.

Bei nicht seltenen deutsch-litauischen Missverständnissen ist oft zu hören: "Ei, was is dat? Ich versteh nich Litauisch. Mußt Daitsch mit mich kalbeken."

Um es vorwegzunehmen: der in Ostpreußen wohl am häufigsten verwendete Lituanismus, alltagssprachlich, wie auch im Schrifttum, ist die Bezeichnung Margell, Marjellchen, Jungensmargell, Burmargel (pltd.), u. ä. Wenn es darum geht, die äußere Erscheinung und bestimmte Eigenschaften von Mädchen allgemein und von Dienstmädchen zu charakterisieren, kann der ostpreußische Sprachschatz aus dem Vollen schöpfen “Dat es e abjefeimte (oppjeplusterte, fijuchlige, filistrije, freche, jedreiste, krätsche) Marjell“ . Ist ein Mädchen grasze (rundlich, schön genährt), dann gilt sie als besonders angriepsch .  Typisch ostpreußisch klingt der Satz „Margell, bring e Kodder, eck häbb Schmand verschmaddert“ . Ähnlicher Beliebtheit erfreut sich das Lieblingsschimpfwort der Ostpreußen, die Bezeichnung Lorbas, kurz gesagt, Lümmel. Fast durchgehend findet man in den Texten die litauischen Nationalspeisen Schuppnis und Kissehl und auch die Schaltnoosen genannt, die in Ostpreußen auch unter der deutschsprechenden Bevölkerung verbreitet waren. Die meisten Begriffe werden im Zusammenhang mit Gegenständen des Alltags, bestimmten Tätigkeiten, sozialen Handlungen und allgemeinen Lebensumständen verwendet.

Da ist zunächst der Turgus , der Wochenmarkt (in Aulowönen), in der weitgehend von agrarischen Lebensverhältnissen bestimmten Umwelt, ein Zentrum der Kommunikation und des Austausches von Waren, Kontakten und Nachrichten, zu nennen. Auf den Wochenmärkten spielt sich das Leben ab, es sind kleine Volksfeste, alles war auf den Beinen. Und hier trafen sie sich, der fast nur litauisch sprechende Bauer mit dem jüdischen Händler und dem deutschen Handwerker. Vielleicht gesellte sich auch noch ein polnischer Tagelöhner dazu. In dem mehr oder weniger direkten Kommunikationsprozess spiegeln sich verschiedene Ethnien und die ostpreußische Sprachenlandschaft wider: der freche Lorbas , der schwachköpfige Glumskopf und der muntere Bocher , bilden eine Gruppe von Gerkgesellen , deren Geseier und Gejacher über den ganzen Markt erschallt.

Neben dem Wochenmarkt und der Kirche war auch der Krug (Gasthofas) häufig mit Kolonialwaren Geschäft, das soziale Zentrum der Dorfbewohnen, wo sich die Männer nach Erledigung ihrer Arbeit zu treffen pflegten, um dort in geselliger Herrenrund a Tulpche Bier oder a Konus zu trinken und sich untereinander auszutauschen. Nun, bei nur einem Schnaps oder einem Glas Bier ist es selten geblieben, denn sobald einer der Herren eine Tischrunde „schmiss“ (ausgab), war es für die anderen doch Ehrensache, es ihm gleichzutun!

Zum Turgus eilten auch Frauen mit dem Kreppsch (Korb) oder Turguskorw in den Händen. Dabei achteten sie besonders auf den Inhalt ihrer Kischenne (Geldtasche), die sie mit dem Dirschas (Riemen, Gürtel) unter der Marginne , dem zweiteiligen Rock, befestigten. Ihre Kicke (Kopfbedeckung verheirateter Frauen), die schon ganz aus der Mode geraten waren, ließen sie zu Hause. Unterwegs wurden sie von einem Schwauksch (Regenschauer) überrascht. Auch die Tochter wollte zum Markt (... „palauk man bißke“... ); sie wollte sich nur noch die Parreskes anziehen. Die Mutter war in Eile (... „nu paspek man bißke“... ). Sie gab der Tochter gleich den Rat mit auf dem Weg, sie möge ihren Bambas (Nabel) nicht herausspeilen, sonst würden ständig die Bowkes auf sie glupen.

Über den Marktplatz verteilt standen Buden, kleine Häuschen, in denen gewöhnlich Handel getrieben wurde, oder es wurde direkt von den unzähligen Pferdewagen aus gehandelt. Zum Transport mag der Dwirratsch gute Dienste geleistet haben, ein dem Bauern nützlicher zweirädriger Einspänner, der so leicht war, daß er auch von Menschen gezogen werden konnte. Es handelt sich um einen leichtgängigen Wagen mit verhältnismäßig großen Rädern, die auch bei schlechter Straße und unwegsamen Gelände ihren Dienst nicht versagten. Beim Transport kleiner Güter über kurze Entfernungen war dieses Gefährt unentbehrlich.

Gehandelt wurde mit allem: unter den Tieren sind es die Ante (Ente), Trusch (Kaninchen), Kujjel (Eber), Ramunde (Pferd), und die störrische Zibb (Ziege), die den Vorbeigehenden einen Stums (Stoss) gab. Aus Fässern wurden Zillkes (Heringe) und der Kapustes (Kohl), den man bald nicht mehr riechen konnte angeboten, nicht zu vergessen den litauischen Suris (Käse). Auch Kruschkes (Birnen) waren genug da.

Der Fischhändler hatte sicher auch den Puke (Kaulbarsch) im Angebot. Man musste aufpassen, denn das war ein echter Kupschus (Händler - negativ). Wurde man unter Männern handelseinig - besonders nach abgeschlossenem Vieh- oder Pferdekauf - dann traf man sich zum Margrietschtrinken . Hier wurde so mancher des anderen Draugs (Freund), über den man nichts mehr kommen ließ. Bei diesem Umtrunk, mit dem man das Geschäft besiegelte, blieb es nur selten bei einem Glas. Umzech (Umzechen) hieß das Trinken „der Reihe nach“, sozusagen im Kreise herum. Das übliche Maß war der Puske , die Hälfte der Halbliterflasche. Bummchen (auch Bommchen) hieß ein altes Branntweinmaß an der Theke. Es mangelte nicht an verschiedenen Schnapsarten: Degtinnis, Brantewin, Kornus, Peperinnis, Pfefferschnaps, auch Pipirskis genannt, Skaidrojis , reiner, klarer aus Roggen oder Kartoffeln gebrannter Schnaps mit 56 Volumenprozenten („Dat öss dat reine Wort Gottes“ ) und - nicht zu vergessen - der Meschkines , auf Deutsch Bärenfang (pltd. Boarefang)

Den Stellenwert des Schnapses im Bewußtsein und wohl auch im Alltag der ostpreußischen Bevölkerung zeichnen zwei verbreitete Sprüche: „Schnapske mott sön, Brotke, wenn sön kann“, „Vor’m Schnaps e Schnaps und nach’m Schnaps e Schnaps“. Die Geräuschkulisse - ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr in den verschiedensten Sprachen und Dialekten, noch verstärkt durch das laute Rufen der Händler, und das Rauloken (Brüllen) des Viehs - bildet jenen Hintergrund, in dem von kalbeken die Rede ist, was nicht nur viel und laut reden, sondern auch dumm und weitschweifig streiten und zanken bedeuten kann, echtes Jebroasch (pltd.) Der Kalbeker und die Kalbekersche gelten allgemein als geschwätzige und zänkische Personen. So mancher hatte die Kalbekerei all satt , da viele sich eh nur halbwortsch (pltd.) verständlich machen konnten.

Die gemeinsamen Angelegenheiten (...“Wenn nu wat em Därp to beräde un to beschlute weer“... ) regelten die Bauern auf der Dorf - oder Gemeindeversammlung, Krawuhl oder Pulkus . Der Dorfschulze oder Bürgermeister ließ in manchen Gegenden die Krebulle oder Kriwulstock mit dem Krawuhlzeddel , auf dem Ort und Zeit der Versammlung vermerkt waren, von Hof zu Hof tragen. Hier handelt es sich um eine traditionelle Form der Kommunikation innerhalb der dörflichen Selbstverwaltung. (Diese Möglichkeiten der Landgemeindeordnung wurden 1927 durch das Gemeindereformgesetz abgelöst.)

Auch die geselligen Treffen der Jugend wurden Krawuhl genannt, doch gewöhnlich hießen solche Zusammenkünfte mit Tanzvergnügen Wakarelis (geselliger Abend). Neben der Ziehharmonika und dem Trubas als Begleitinstrumente, erklangen hier nicht selten litauische Dainos . Dieser Art von Lustbarkeit des litauischen Gesindes, bei dem auch der Schnaps nicht fehlte -genannt Schwentadene -, galt der deutsch-litauische Spottvers: „Huste-pruste, Heiserkeit! –Dewe dok verjniechtes Leben“ . Hier fand auch der Jurrai , der jeden Abend mit einem anderen Marjell erschien, sein Betätigungsfeld, wofür sie ihn Herzensbrecher, Landbeschäler, Deckhengst schimpften. Den dörflichen Don Juan nannte man Jemeideerpel . Für einen Butsch mußte man erst ein Mädchen finden und beim Streit unter jungen Männern wechselte so manche Dauksche (Ohrfeige) die Seite.

Doch das Leben bestand nicht nur aus Feiern und geselligem Beisammensein, im Vordergrund stand oft harte Arbeit. Verbreitet war die Talka die freiwillige, gelegentlich auch erbetene Hilfe unter den Nachbarn. Eine Talka fand zu verschiedenen Anlässen statt: während der wichtigsten Feld- und Erntearbeiten, wie Heu- und Getreideernte, der meist intensiven nächtlichen Flachsarbeit in der Jauje (Dreschtenne) oder Pirte (Badstube) und zu kleineren Anlässen, wie bei der gemeinsamen Schlachtung, genannt Skerstuwiß. Skerstuwiß bedeutet zweierlei: die Schlachtung selbst und der darauffolgende Schmaus der Beteiligten und auch der Nachbarn.

Die Talka half so manchem Bauern eine Notlage zu überbrücken; wenn z.B. eiligst das Getreide eingefahren mußte, aber gerade im Moment wegen Krankheit „Not am Mann“ war, nahm der Nachbar seinen Dwiszak (hölzerne Forke) in die Hand und eilte dem Nachbarn zu Hilfe. Größere Vorhaben, wie Hausbau, war ohne Hilfe von außen nicht zu leisten. Bei der Talka war eine Bezahlung in Form von Geld nicht üblich und wurde auch nicht erwartet, daher stand die Abschlussfeier mit großzügiger Beköstigung und reichlich Schnaps im Vordergrund.

Für die Bewirtung war die Frau des Hauses, vom Gesinde auch Herzmutter oder Herzfrauchen genannt, zuständig. Von Jurgin (23.April) bis Micheel (29. September) wurde das Vesper gereicht. Zu Essen - zum Launagies (Vesper) oder Becktuwes, Pabaigtuvis (Abschlussfeier) - gab es reichlich: weder das gute Stück, der Kampen, Schwarzbrot, noch die beliebte Bartschsuppe (pltd.Boartscht), im Sommer auch kalt mit dem Scheppkausch serviert, durfte fehlen. Der Druskus (Salz) zum Abschmecken lag immer bereit. Bei guter Arbeit nahm die Wirtin den Skilandis (Schwartenmagen) vom Lentin, dem sie mit dem Peilas (Messer) zu Leibe rückte. Die Wirtin war ständig in Bewegung, mal eilte sie zur Klete (Speicher), um einige Pagels (Holzscheite) zu holen, damit die Pliete (Kochherd) nicht kalt wurde, mal rannte sie mit dem Peed (Wassertrage) zum Brunnen, um frisches Wasser zu besorgen. Nach dem reichlichen Essen und einigen Schnäpsen lehnte sich so mancher zurück zum behaglichen Rangieken (krümmen).

Für die Frau des Hauses war hierfür keine Zeit. Die Sorge um Haushalt und Tiere nahm sie voll in Anspruch: das Schweinefutter mußte mit dem Mentas (Rührholz) gerührt, die Edzs (Futterraufe) mit Futter gefüllt werden. Und dann noch der Ärger mit der Rankin (Griff) am Brunnen, die ständig herabfiel und dem Nachbarn, der vergaß den Karnelis (Handkarre) zurückzubringen. Selbst feiertags hatten sie keine Zeit zum Ausruhen, mußte ständig irgendwas Krapschtieken (wühlen, kramen, herummurksen) und Krausticken (umräumen). Kein Wunder, dass ihr nach all dem Ungemach ein Dokschpakajus (gib Ruhe!) über die Lippen kam. Zum Glück spielte ihr der Kauks kein Schabernack und auch vom Perkun (Donner) blieb das Haus verschont.

Begräbnisse gehörten zu den Ereignissen, an denen die ganze Dorfgemeinschaft beteiligt war. Zum Zarm (Leichenschmaus) wurde ordentlich aufgefahren, denn meistens wurde eine standesgemäße Bewirtung der Trauergemeinde erwartet. Jede Gemeinde hatte ihren eigenen Friedhof. - so auch Willschicken. Die Gräber ( Kapas ) waren gepflegt, die Bepflanzung natürlich dem Klima entsprechend, d.h. für den Sommer setzte man Blumen, doch für den Winter deckte man die Grabstellen nur mit Tannengrün und einem Grabgesteck ab. Während der warmen Jahreszeit ging man an jedem Samstag auf den Friedhof, ( Kapinės ) brachte einen frischen Blumenstrauß hin und harkte den Boden um das Grab herum. Die alteingesessenen Einwohner nannten ganze Grabreihen ihr Eigen, die für sie auch immer reserviert blieben. Manche waren durch kunstvoll geschmiedete Zäune wie eine kleine Oase vom übrigen Teil abgegrenzt. Ganz alte Gräber dagegen hatten noch keine Grabeinfassung. Da wurden die Grabhügel nur durch immergrüne Bodendecker gehalten.

Die ostpreußische Kultur- und Sprachenlandschaft erinnert an einen bunten Flickenteppich auf dem sich in historischer, geographischer und sozialer Dimension verschiedene Ethnien, Deutsche, Litauer, Polen und Juden, in einem mehr oder weniger direktem Kommunikationsprozess, dem Land jene Farbe gaben, durch das es sich auszeichnet. Selbst unter der deutschsprechenden Bevölkerung gab es, was die Verwendung von Sprache betrifft, einen Riss: platt (ostpreußisches Niederdeutsch) sprach das Volk, hochdeutsch die „feinen Leute (Ärzte, Pfarrer, Lehrer)"

Auch die weiteren Texte von Gerhard Bauer in den Annaberger-Analen über Preußisch Litauen sind sehr lesenswert (Jahrgang 11, 13-15, 17, 18, 20 und 21). Die Annaberger-Analen sind nach 30 Jahren 2022 leider eingestellt worden. [24]

Etwa 13 Hofbesitzer im Willschicken trugen Namen mit litauischem Ursprung. Bis auf einen Gutsbesitzer und zwei Großbauern, die jeweils zugezogen waren, sprachen alle Dorfbewohner Platt. Nur wer sich in der Öffentlichkeit besonders hervortun wollte, verfiel zeitweise ins Hochdeutsche. Die ältere Generation hatte zum Teil noch den litauischen Konfirmationsunterricht in Aulenbach (Ostp.) besucht. Ab 1900 nahm der litauische Sprachgebrauch in Ostpreußen aber deutlich ab. Bis dahin wurde in einigen Dorfschulen in der Pilkaller und Gumbinner Gegend auch noch Litauisch gelernt. In der Dorfschule sollte nach den Schulkonferenzen in Preußen 1890 und 1900 in ganz Ostpreußen grundsätzlich Hochdeutsch gesprochen werden. Doch in manchen Alltagssituationen fielen gerade die kleinen Schüler wieder in ihr von zu Hause gewöhntes Platt zurück.

In der Lindenhöher Dorfschule wurde ab der 1. Klasse Hochdeutsch als Schriftsprache auf der Tafel mit einem Griffel geübt. Edeltraut Tauchmann geb. Schlack berichtet aus der Nachbargemeinde von Waldfrieden (Ostp.):

Zu den Utensilien eines ABC-Schützen gehörten neben Fibel und Rechenbuch eine Schiefertafel mit Schreiblinien auf der einen und Rechenkaros auf der anderen Seite. Seitlich waren an zwei langen Bändern ein Schwämmchen und ein Lappen befestigt oder aus Kostenersparnis auch nur zwei Lappen. Auf jeden Fall hatte eines der beiden immer feucht zu sein, um damit das Geschriebene fortwischen zu können. Mit dem anderen schnell trockengewischt, war die Tafel dann gleich wieder einsatzbereit. Der Lehrer überprüfte hin und wieder die Feuchtigkeit des Schwammes/Lappens, aber wenn er nicht hinsah, tat's auch Spucke, und bei einem einzelnen Buchstaben war der schnell im Mund nass gemachte Finger sowieso präziser einzusetzen. Außerdem fingen die feuchten Wischer bald an zu stinken - eine wirklich unhygienische Sache! - und mussten durch neue ersetzt werde. Geschrieben wurde mit einem Griffel aus Schiefer. Er war etwa so lang wie ein Bleistift, aber dünner, und da er keine Holzummantelung besaß, war er leider nicht bruchsicher. Angespitzt wurde er mit einem scharfen Messer, aber verständlicherweise nur von Erwachsenen. Deshalb war es ratsam, morgens gleich mehrere gut angespitzte Griffel in seinem hölzernen Griffelkasten zu haben, die dann beim Laufen vernehmlich im Tornister (Schulranzen) klapperten, während die beiden seitlich heraushängenden Läppchen - oft im Verein mit den Zöpfen - lustig hinterher flogen. In der zweiten Klasse begannen wir, Bleistift und Hefte zu benutzen, in der dritten Federhalter und Tinte. [25]

Berta und Ferdinand Tuttlies sprachen in Willschicken mit ihren Eltern noch fließend Litauisch - die Kinder - wie Hildegard Tuttlies - verstanden noch Teile, sprachen es aber nicht mehr selber - Platt dagegen sprach noch die gesamte Familie. Siehe auch den Text von Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang. Der litauische Name Tuttlies heißt übersetzt Wiedehopf.

Aufgeschrieben von Klaus Kiehl, Hamburg, 2023


Das Soldatengrab aus dem 1. Weltkrieg

Frontverlauf der Ostfront im August 1914
Das Soldatengrab vor dem Wohnhaus der Familie Tuttlies 1915 zunächst noch ohne Zaun innerhalb der aufgestellten Pfosten. Bei genauerem Hinsehen ist aber das Kreuz erkennbar

Bereits 2 Wochen nach Beginn 1. Weltkrieges am 01. August 1914, fiel Russland schneller als erwartet in Ostpreussen ein. Vom August 1914 bis zum Februar 1915 waren bis zu zwei Drittel Ostpreußens zeitweise russisch besetzt. Die zweimal durch Ostpreußen ziehende Frontlinie hinterließ durch die Kampfhandlungen ein zerstörtes Land. Traurige Höhepunkte waren die Schlachten bei Stallupönen (17. August 1914, Gumbinnen 19.-20. August 1914), Tannenberg (23.-31. August 1914) und Masuren (07.-16. Februar 1915).

In der kaisertreuen Presse wurde Paul von Hindenburg als Sieger von Tannenberg und Befreier von Ostpreußen gefeiert, im Volk gewann er eine hohe Popularität. Im Ersten Weltkrieg übte die von ihm geführte Oberste Heeresleitung nach diesem Erfolg von 1916 bis 1918 praktisch eine diktatorische Regierungsgewalt aus, der sich der Kaiser unterordnete. Die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg begründete er später mit der sogenannten [Dolchstoßlegende].

Bereits 1914 setzte man eine Kommission ein, welche die Verluste in Ostpreußen protokollieren sollte. Für die Gesamtprovinz belief sich der Schaden auf 1,5 Milliarden Mark. Etwa 1.500 Zivilisten waren der Besatzung zum Opfer gefallen. Insgesamt kamen während der Kämpfe 1914/15 über 61.000 Soldaten ums Leben – 27.860 Deutsche, 1.100 Österreicher sowie 32.540 Russen. Dramatische Auswirkungen zeigte der Verlust an Vieh und Pferden, der die Versorgung ernsthaft gefährdete. Viele Menschen hatten wärend der russischen Besetzung in ihren Dörfern ausgeharrt oder waren auf der Flucht von russischen Truppen überrascht worden. Auf ‚Spionageverdacht‘ hatten die Besatzer gnadenlos reagiert, es war zu zahlreichen Exekutionen gekommen. … Insgesamt wurden bis zu 13.000 Zivilisten nach Russland deportiert.[13]

Mutter Berta Tuttlies blieb 1914/15 mit vier Kindern zu Hause. Hildegard Tuttlies spätere verh. Kiehl wurde erst 1920 geboren. In Willschicken stand im August 1914 die russische Militärverwaltung vor der Tür von Mutter Tuttlies und suchte Unterkünfte für verwundete russische Soldaten in der Umgebung. Das Wohnhaus musste geräumt werden und Mutter Tuttlies und ihre vier Kinder zogen zuerst in die Scheune, nach zwei Wochen auf den Dachboden des Wohnhauses. Die Küche durfte nach Absprache weiter benutzt werden. Anfang September 1914 wurde ein schwerverwundeter russischer Soldat in das Wohnhaus gebracht, der bald darauf verstarb. Beim Abräumen des Sterbelagers durch Mutter Tuttlies standen plötzlich zwei russische Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag vor ihr. Erst die Rufe von anderen Verwundeten „Rotes Kreuz Haus, Rotes Kreuz Haus“ bewegte die Soldaten, sich zu entfernen. Angeblich waren sie „dienstlich“ unterwegs. Der verstorbene Soldat wurde von der russische Militärverwaltung etwa 20 Meter vom Wohnhaus entfernt beerdigt, am Rand des Grabens der Grünheider Straße. Am Ende des 1. Weltkriegs kam Vater Tuttlies gesund nach Hause. Das Soldatengrab wurde nach Abzug der Russen 1915 durch die Familie gepflegt. Es erhielt ein kleines Holzkreuz mit der Inschrift: „Hier ruht ein unbekannter russischer Soldat“ und einen Staketenzaun mit einer gezimmerten Tür. Zunächst wurde das Grab durch vier hohe Pfosten gesichert. Die Kinder waren für das Unkraut verantwortlich.

Ein besonderer Dank gilt Herrn und Frau Mattulat. Sie haben dankenswerterweise wichtige Eigenarbeiten zur Verfügung gestellt. Zu den Quellen siehe auch den folgenden Text "Ländliche Entwicklungen in Ostpreußen, dargestellt am Beispiel von Willschicken", Text von Klaus Kiehl. In der Hoffnung, dass alle Angaben und Quellen richtig eingeordnet sind, sind Berichtigungen und neue Informationen herzlich willkommen. Bitte senden Sie diese an info@kirchspiel-aulenbach.de
Aufgeschrieben von Klaus Kiehl, Hamburg, 2023


Willschicken - Erinnerungen, Flucht und Neuanfang

Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies, wurde am 21. März 1920 in Willschicken in Ostpreußen geboren und ist am 19.06.2021 in Hamburg verstorben. Das langjährige Mitglied der Insterburger Heimatgruppe Hamburg hatte bei den Treffen immer viel aus der Jugend zu erzählen. Auch ihre Enkel waren gespannte Zuhörer, für diese schrieb sie den nachfolgenden Text im Alter von 100 Jahren, im Herbst 2020 auf.

Zu Hause

Familie Tuttlies in Ihrem Garten
2. v. li. Hildegard mit ihrem Freund dem Ziegenbock Mäck
(ca. 1925) Willschicken, Ksp. Aulenbach
Im März 2020 wurde ich 100 Jahre und genau vor 100 Jahren in Willschicken geboren. Aufgewachsen bin ich auf dem Lande in einem warmen Nest; in keinem Heuhaufen, sondern auf einem Bauernhof, mit zwei Brüdern und einer Schwester. (Max, Friedel und Erich - der jüngste Bruder Otto ist schon mit 3 Jahren verstorben).
Unsere Eltern haben uns mit viel Liebe und Fürsorge erzogen. Meine Spielgefährten waren alle Tiere, die ein Bauernhof besitzt. Meinen kleinen Ziegenbock, meinen Mäck, darf ich nicht vergessen. Er folgte mir auf Schritt und Tritt und ich tobte mit ihm um die Wette — besonders im Blumengarten, wenn dieser sauber hergerichtet war. Zur Freude meiner Mutter!! Ich war damals noch keine 5 Jahre alt, mein Mäck höchstens ein halbes Jahr alt. Für meine älteren Geschwister war ich stets die Kleine, sie behielten mich immer am Auge, soweit es ging. Nur wenn ich bei Lux, unserem Hofhund in seiner Hütte saß und mich nicht meldete, wenn ich gerufen wurde, waren sie etwas besorgt.
Knappe 10 Minuten Fußweg von uns entfernt war mein Ehemann (Gerhard Kiehl) daheim. Seine Eltern besaßen ein Kolonialwarengeschäft mit Gastwirtschaft und einen kleinen Saalbetrieb. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich einmal dazu gehören werde! Aber mein Vater ging gerne dort hin. Überhaupt, wenn ein großes Treffen der bekannten Bauern aus der Umgebung war, am Tage der Schweineablieferung in Grünheide auf dem Bahnhof. Alle Bauern kehrten dann ( ...die Fuppen voller Geld, es war der Erlös für die Schweine) zum Umtrunk bei meinen Schwiegereltern in Pillwogallen ein.
Lux - zu ihm kroch ich oft in die Hütte und niemand hat mich gefunden
Pillwogallen kommt aus dem Litauischen und heißt deutsch: „Bauchende". Das gefiel den Einwohnern schon lange nicht. Auf Sondergenehmigung des Landrates Insterburg wurde der Name schon 1928 in „Lindenhöhe" unbenannt! Dort wurde der Insterburger Reiterschnaps ausgeschenkt. Ein Stück Würfelzucker und zwei ganze Kaffeebohnen wurden zerkaut und mit einem Korn nachgespült. Oder es gab einen Pillkaller. Wieder ein Gläschen Korn mit einer Scheibe deftiger Leberwurst mit einem Klacks Mostrich drauf! Vater kam dann reichlich verspätet nach Hause — aber stets lustig!
Opas (Gerhard Kiehl) zuhause war ein Kolonialwaren Geschäft mit Gastwirtschaft (später bekannt als Gasthof Fritz Lerdon, Lindenhöhe), und dort kauften alle Bewohner im weiten Umkreis ein. Es gab fast alles, was das Herz begehrte. Mehl, Zucker, Bonbons, Schmalz, Kuhketten, Holzschlorren, Klumpen, Bier , Wein, Alkohol, Wagenschmieren und Salzheringe. Sie lagen in einem großen Fass in Salzlake. Das Holzfass stand gleich hinter der Ladentür, darüber ein großer Stapel Packpapier als Einwickelpapier.
Fam. Tuttlies vor ihrem Wohnhaus mit Nachbarin 1925 (Willschicken) Ksp. Aulenbach
Nun benötigte meine Mutter (Berta Tuttlies geb. Burba), eure Uroma Salzheringe. Sie wurden gewässert und dann eingelegt. Also machte sich mein Vater (Ferdinand Tuttlies), Euer Urgroßvater auf die Beine, um 10 Salzheringe zu holen. Bis Lindenhöhe waren es keine 10 Min. Fußweg auf einer glatten Straße. Für  meinen Vater ein schöner Spaziergang am frühen Vormittag. „Öck kom bol wedder“ sagte mein Vater zu meiner Mutter, nahm seinen Krückstock vom Haken, setzte seine „Schlippkemütze“ auf und marschierte dann los! Doch vom baldigen Nachhausekommen wurde nichts. Ich entsinne mich noch, wie meine Mutter immer unruhiger wurde. Die Stunden vergingen un meine Mutter wurde auf Vater sehr böse. Das Mittagessen war fertig und wieder vom Tisch abgeräumt, die Schweine versorgt, die Kühe gemolken und immer noch kein Gebein von Vater. Ich weiß nicht mehr, wann er wirklich kam. Ich habe in Erinnerung, wie er frohen Mutes ins Haus reinkam und vorsichtig das Päckchen mit den Salzheringen auf den Küchentisch legte. Vater hatte zuvor viel zu erzählen, wen er alles im Krug in Lindenhöhe getroffen hatte, alles alte Bekannte und alle geben eine Korn nach dem anderen aus. Ein Korn kostete damals 10 Pf. und er, der Nante Tuttlies, musste tüchtig mithalten – und deshalb ist es auch etwas später geworden.
Meine schweigsame Mutter hatte inzwischen das Päckchen mit den Heringen aufgemacht – darin lag nur noch ein einziger Salzhering! Auch meinem Vater blieb die Spucke weg. „Ei der Dausend, wo sön de andere geblewe? Bestennt söb se miet ut de natte Papier underweges rutgerutscht!“ Und so war es. Sie hatten ja schon einige Stunde im Packpapier gelegen und es aufgeweicht. Vater nahm darauf stillschweigend seine Schlafdecke und ein Sofakissen unter den Arm, ging über den Hof zum Stall, stieg die Leiter hoch und verschwand durch die Luke auf seinen geliebten Schlafplatz im Heu. Ja und dann? Ich war damals 5 Jahre alt und wurde von meiner Mutter mit einer Schüssel losgescheucht, vielleicht noch einige Heringe am Straßenrand zu finden. Ein Hering kostete 10 Pf. und die 10 Stück 1,-- Reichsmarkt und das war Geld. Und was glaubt Ihr? Ich hatte Glück und brachte alle Neune meiner Mutter heim. Sie lagen meistens verstreut im Gras am Straßenrand. Die „Unglücks-Heringe“ wurden gut gewaschen, gut gewässert und dann sauer eingelegt. Euer Uropa hatte bald seinen Rausch ausgeschlafen, Eure Uroma ihren Ärger vergessen, denn die kleine Marjell, die Hills, hatte ja alles wiedergefunden. Es wurde noch viel darüber gelacht.


Der Gasthof Fritz Lerdon früher Hedwig Kiehl (1930)
Foto rechts : Innenansicht der Gastwirtschaft Lerdon (1931)
1.v.re: Hedwig Lerdon verwitw. Kiehl, geb. Padefke 4.v.re: Fritz Lerdon (im Hintergrund), li. Walter Kiehl, gefallen 1944


Anfang April 1926 wurde ich in ein Matrosenkleid gesteckt, die langen Strümpfe hatte Mutter selbst aus Schafswolle gestrickt (kratzten fürchterlich). Meine schwarzen Spangenschuhe wurden gewienert und einen Tornister bekam ich aufgehubbelt! An Mutters Hand ging es in die zweitklassige Schule nach Pillwogallen. Ich war sehr neugierig auf sie. Als ich dann einige Tage artig auf meinem Platz gesessen und mir alles angesehen hatte, fiel mir ein, dass gerade unsere Küken aus den Eiern zu der Zeit rausgekrabbelten, und ich musste dabei sein! Also ließ ich meinen Ranzen in der Bank liegen und ging nach Hause. Doch ich kam nicht weit. Lehrer Wiederhöft holte mich ein, fasste mich am Schlafittchen und meinte: „Ille (so nannte er mich) Du gehörst in die Schule!" Gefiel mir gar nicht. Viel schöner war es Zuhause, bei meinem Ziegenbock!


Auf dem ehemaligen Schulweg
Hildegard Tuttlies und Ursel Weinowski.
Im Hintergrund links, ist die Schule erkennbar
Der Weg zur Schule in Pillwogallen (1982)


Das linke Foto zeigen die Straße von uns nach Lindenhöhe. Hinter dem Gehöft auf der rechten Straßenseite kam gleich der Dorfteich und dann anschließend, ebenfalls an der Straße gelegen, Opas (Gerhard Kiehl) zuhause. Auf der linken Straßenseite des Bildes ist im Hintergrund ein größeres helles Haus zu sehen. Es war unsere Volksschule. Opa ging hier vier Jahre und anschließend zur Oberschule in Insterburg und Gumbinnen. Ich hielt es acht Jahre aus, ging aber dann noch anschließend zur Handelsschule in Insterburg. Auf dem Foto geht Oma mit ihrer Freundin spazieren. Das rechte Foto zeigen die Straße von uns nach Lindenhöhe im Jahr 1982.


Schule in Pillwogallen (um 1930)
Foto rechts : Schüler der Schule im Pillwogallen (1931)
Re.: Lehrer Wiederhöft ohne Kopf, 2.v.r. stehend: Hildegard Tuttlies daneben sitzend Ursel Weinowski


Anbei noch einmal unsere liebe alte Schule. Rechts und links je ein Klassenraum, vor dem Haus war ein Spielplatz,  hier haben wir in den Pausen Völkerball gespielt oder aber auch Singspiele waren damals an der Tagesordnung, natürlich ohne die „frechen Jungen“. Durch die Haustür kam man in einen kleinen Flur, dort stand ein hohes Schuhregal, worin wir im Winter unsere „Holzschlorren“ hineinstellten, denn fast alle Kinder trugen sie der Kälte wegen mit selbst gestrickten dicken Strümpfen aus Schafswolle. Ein jeder hatte aber warme Hausschuhe für die Schulstube im Ranzen. Auf dem Schulweg kamen wir an der „Haus-Schmiede" vorbei. Sie war tipp topp und er ein guter Schmied. Er hatte schon die dritte Frau am Haken und 12 Kinder und ein sehr baufälliges Wohnhaus, in das es reinregnete. War es des Nachts, wenn sie schon im Bett lagen, sagte sie zu ihm: „Papake, spann dem Scherm op! On et wer wi im Himmel!" In der Schule saßen hinter mir zwei Lautze von der Sorte. Ich hatte lange Zöpfe und die steckten sie mir ins Tintenfass, das hinter mir stand. Und ich hatte ein weißes besticktes Nesselkleid an. Worüber sich Mutter wieder sehr freute! Auch Martha gehörte zur Familie. Sie war eine drugglige Merjell und plinste oft, wenn sie in der Schule nicht weiterwusste.
Viele Jahre lebten wir in guter Nachbarschaft mit Hermann Weinowski. Er war der Opa von unserem „Heinz Weinowski", der 2001 mit seiner Ursel zu unserer Heimatgruppe kam, und wir wussten beide nicht, wer wir waren! Die Überraschung war groß!
Die Jahre vergingen und ich durfte schon mal auf den Schwoof gehen. Am schönsten waren die Manöverbälle bei meinen Schwiegereltern im Garten, auch dort war eine Tanzfläche aus Holz vorhanden. Mein Vater hatte meiner Schwester und mir vor dem Gehen zur Aufgabe gemacht, jede noch zwei Kühe zu melken. Meine „Muschekühe" waren artig, ich erzählte mich oft mit ihnen und streichelte sie auch. Aber bei meiner Schwester war es anders. Sie bedeckelte sie oft mit dem Melkschemel — und dann tanzten sie im Ross-garten Polka, zur Soldatenkapelle, die wir schon spielen hörten!
Fasching von Handelsschülern in Insterburg 1938, bei Max Tuttlies zu Hause, in der Albrechtstraße 15, oberste Reihe, zweite von rechts, Hildegard Tuttlies, unten von rechts Manfred, Max und Gertrud Tuttlies
Und wieder verging die Zeit – und ich hatte meinen Gerhard geangelt, oder er mich? Wir wollen meinen 18. Geburtstag gebührend feiern. Nicht daheim, sondern in Insterburg im Kaffee Alt-Wien! Mein Mann war damals in Insterburg als Berufssoldat stationiert. Ich hatte meine Bleibe bei meinem ältesten Bruder und seiner Familie in der Albrechtstraße 15, dem großen Eckhaus, das heute noch steht. Ich ging in Insterburg zur Handelsschule.
Alles war vorbereitet und wir saßen mit unseren geladenen Gästen im Kaffee Alt-Wien. Die Musik spielte die schönsten Weisen von „Waldeslust" und „Es war einmal ein treuer Husar...". Der Wein mundete hervorragend und wir waren sehr lustig und vergnügt! Bis ich beim Tanzen plötzlich auf meinem Rücken einen leichten „Schurrr..." vernahm. Ob mich der Gerhard zu sehr an sich gedrückt hatte 9 Ich wollte es wissen und ging zur Garderobenfrau. „Freileinchen — Sie sind aufgeplatzt...!" rief sie. Der ganze Rücken meines schwarzen Taftkleides vom Ausschnitt bis zum Gürtel war bloß...! Und nun stand das aufgeplatzte „Freileinchen" da — was war zu machen? Es war ein Kleid aus Mutters Beständen, das uralt war und für mich umgearbeitet worden war. Die Musik spielte, und ich feierte meinen 18. Geburtstag. Heute wäre ein bloßer Rücken (und noch etwas Nacktes) in Mode gewesen; aber damals? Aber Dank Mutters Fürsorge hatte ich meine lange selbstgestrickte Jacke aus Schafswolle unter dem Mantel an. Sie zog ich über, ging zurück zum Tisch und tanzte und schwitzte mit allen Gästen und meinem Gerhard als „aufgeplatzte Braut"... Das Taftkleid war lange Jahre unbenutzt, es hing gut aufgehoben auf der Lucht in dem großen Schrank, hinter Vaters „Schößchenrock". Taft verschleißt nach Jahren, und das war der Fall.


Kornaust, Kruschkemus und Wrukensuppe

Hildegard mit ihren stolzen Zöpfen, die in der Schule einmal von einem frechen Jungen in ein Tintenfass getaucht wurden
Hildegard Tuttlies mit ihrer Puppe, die nur Sonntag hervorkam
Nun ist es über 75 Jahren her, dass wir aus unserer geliebten Heimat vertrieben wurden. Fast nichts konnten wir mitnehmen, aber wir sind voll mit unserem Ostpreußen verbunden und verstehen die alten Ausdrücke, mit denen wir aufgewachsen sind. Wer weiß, was ein „Pomuchelskoopp" ist? (ein dicker, großer Fisch — oder auch ein Schimpfwort „Du Dammliger....!") oder was auch ein „Kalabräser" ist?
Die Sonntagspuppe, Gerda Weinowski, Hildegard Tuttlies
Ich konnte nicht stillsitzen und war immer neugierig. Wenn unsere lieben Nachbarn Onkel Hermann & Tante Auguste Weinowski zu uns in die „Uhleflucht" zum „kadreiern" (erzählen) kamen, war es für mich ein Ereignis! Vater saß dann mit Onkel Hermann auf der Bank vor der Haustüre. „Mien Mutterke" aber mit Tante Auguste im Garten; und ich sauste von einem zum anderen, um viel mitzubekommen! Die lieben Nachbarn waren die Großeltern von unserem Heinz Weinowski, der 2001 mit seiner Ursula zu uns in die „Heimatgruppe Insterburg / Sensburg" kam. Bis dahin wussten wir aber noch nichts voneinander. Die schönsten Zeiten waren für mich im Sommer die „Kornaust" und im Winter das „Federreißen" am warmen Kachelofen. Herrlich war es, wenn es draußen schneite oder gar „stiemte"! Wir saßen ja im Geborgenen. Da durften wir Kinder keine „Flunsch" ziehen, wenn uns die Arbeit nicht passte! Wurden wir noch „oppstornosch", gab es von Vater einen kleinen „Mutzkopp", ab und zu „plinsten" wir uns noch aus und wir waren dann nicht mehr „gluppsch", vielleicht noch ein wenig „dreibastig"... (frech)!
Mutter hat immer gut für Essen und Trinken gesorgt! Von „Klunkermus" mit Farin gesüßt, „Keilchen", „Pierag", selbstgemachte „Glumse" mit selbst gekochter Kirschkreide im großen Waschkessel in der Waschküche unter ständigem Rühren mit Zucker einige Stunden gekocht. „Brennsuppe", „Wrukensuppe", „Kruschkemus", „Kissehl", „Königsberger Fleck" mit 6 Gewürzen, gebackene Stinte — und meine „Spirgel", die ich heute noch gerne esse! Einige Leute daheim waren „Gniefke" (Geizhälse). Sie saßen auf ihren „Dittchen". Selten, daß sie einen „Kornus" geschweige einen „Pillkaller" ausgaben; und zum „Barbutz" gingen sie auch nicht. Dann kam ein „Bowke", er musste aber schon älter sein aus der Nachbarschaft und schnitt ihnen die Mähne mit der Schere. Zuhause wurden von Männern viel „Klumpen" und von Frauen „Schlorren" getragen. Prima waren sie zum „Schorren" auf dem Eis. Es ging aber auch ohne sie — auf selbstgestrickten dicken Socken aus Schafswolle! Im Hause schlüpfte man in warme „Wutschen", die oft per Hand hergestellt waren. Erläuterungen dieser ostpreußischen Ausdrücke unter : Begriffe: "Der ostpreußische Dialekt"
Gingen wir aber zum „Schwoofen", wurden die Sonntagsschuhe angezogen. Während des „Schwoofens" bekam man auch ab und zu mal einen „Bärenfang" spendiert und zum "Verzählchen" eingeladen. Die Männer tranken gerne „e Tulpche Bier", aber nicht zu viel, dass man sich nicht de „Tuntel" begoss! Auch wenn derjenige seine Spendierhosen anhatte, und noch gerne einen ausgegeben hätte! Aber auf dem Nachhauseweg hätte man sich leicht „verbiestern" können! Schlimm war es, wenn ich als kleine „Marjell" einer „Ziegahnsche" oder einem „Pracher" begegnete. Dann nahm das Betteln kein Ende. Hatte ich für sie etwas inne „Fupp", einen „Knasterbombom" oder einen Dittchen, war ich sie los! Mein Vater war wütend, wenn der „Koppschäller" (Pferdehändler) immer wieder zu uns kam. Dieser hatte es auf unsere „Rieke" abgesehen. Sie kam aus Neu Lappönen und war eine Trakehner Stute, Vater hat dann immer überlegt, wie er den Kerl auf Nimmerwiedersehen loswürde!
Aus der Gegend Friedrichsdorf und Große Friedrichsdorf kamen häufig auch die Zwiebelfahrer. Sie kamen zu uns mit Pferd und Wagen und riefe: „Zippeln, Zippeln“.  Sie tauschten Zwiebeln gegen Roggen. Gemessen wurde nach Scheffel, ein hölzernes Hohlmaß ca. 40 Inhalt.
Zu unserer Nachbarschaft gehörte auch die Familie Baltruweit. Sie saßen auch auf einem Bauernhof, Vater, Mutter, Opa, Oma und vier „Marjellens". Opa und Oma waren auf dem Altenteil. Diese bewohnten die kleinste Stube, nur dass sie zur Nacht eine Bleibe hatten. Am Tage waren sie immer noch mit leichter Arbeit in Haus und Hof beschäftigt. Nun hatte Opa Baltruweit in der Nacht oft Nacken- und Kopfschmerzen. Also stand er wieder mal im Halbdunkel auf, tastete sich an sein Regal mit dem verschiedenen Einreibemittel in Fläschchen. Das Mittel wirkte Wunder, dachte er, er konnte schlafen und kam am anderen Morgen munter in die Küche. Doch „o Schreck" — Opa war blau im Gesicht, an den Händen, am Nacken! Ja, das war das Ende vom Lied — Opa hatte im Dämmerlicht de Tintenflasche erwischt; die in Reserve im Regal stand! Vater gab aber Opa den guten Rat: Bloß nicht mit Tinte de Kopke önriewe, dat helpt nich...!
Eine der vier Marjellens ist meine liebe Gerda. Mit ihr bin ich zusammen zur Schule gegangen, sie ist genau so alt wie ich. Sie wohnt in Bielefeld. Wir stehen bis zum heutigen Tage noch immer in Verbindung und sind dick befreundet. Wir telefonieren oft miteinander und tauschen unsere Erinnerungen aus — meistens auf platt! Auch unsere liebe Heimatgruppe ist immer im Gespräch... Ja, das war mein Zuhause, mein warmes Nest!


Kindheit in Willschicken

Es war für uns Kinder zu Winterzeit eine Freude, auf blanken Eisflächen auf Schlorren zu rutschen – „schorren“ sagten wir. Noch besser aber   ging es auf den dicken Strümpfen, also ohne Schlorren. Und das schönste war, meine Mutter hat nie geschimpft, wenn ich nass nach Hause kam „De Kinderdes motte sich uttobe“ sagte sie.
Ich wollte gerne unserem Hofhund beibringen, mich auf meinem kleinen Rodelschlitten zu ziehen. Leider ist es mir nie gelungen. Gewiss lag es daran, dass er nur mit einer Schnur am Schlitten festgebunden war. Opa hatte darin mit seinem großen Hund mehr Glück, der Hund gehorchte ihm, er war ja mit einem richtigen Geschirr vor den Schlitten gespannt. Leider, leider hat Opa damals eure Oma noch gar nicht angeguckt, vielleicht hätte er mich dann einmal mitgenommen bei seine Hundeschlittenfahrten.
Schön waren die Rodelschlittenfahrten über weite Strecken zur Schulzeit. Die Väter der Bauernkinder kamen dann mit Pferden auf einem stabilen Schlitten an der Schule vorgefahren und daran waren unsere Rodelschlitten hintereinander angehängt. Meist fuhren auch mehrere Gespanne mit Schellengeläut die Kinderschlitten im Anhang und viel Frohsinn zum nahen Wald und wie oft sind wir dann da runtergepurzelt. Wenn aber in meinem Zuhause im Winter mit dem großen Schlitten und zwei Pferden spazieren gefahren wurde, kam in die große Pelzdecke, die den Schlitten ausfüllte, ein warmer Ziegelstein. Er war im Bratofen aufgeheizt und blieb sehr lange warm. Ich durfte zwischen meinen Eltern sitzen und war so warm verpackt, dass nur die Augen rausschauten. Meistens ging es auch in den Wald. Vater nahm dort die Schlittenglocken von den Pferden ab. Er meint: „Wir wollen die Stille nicht stören“. Es wurde auch nicht viel gesprochen.
Ja – unsere Winter in Ostpreußen waren einmalig! Viel Schnee mit viel Sonne und klarem blauen Himmel. Dazu strenger Frost um die 20 Grad minus. Der Winter war sehr lange, mitunter fuhren wir zu Ostern noch mit dem Schlitten. Vor Weihnachten, in der Adventszeit, gab es dicken Raureif. Das war für mich immer eine Märchenwelt. Nicht zu vergessen waren die meterhohen Schneewehen bei „Stümwetter“ – trockener Pulverschnee vom Sturm zusammengeweht. Bei schlimmem Sturm mit eisiger Kälte wurden Straßen und Höfe, Zäune und Gebüsch wurden zu hohen Schneeflächen. Es fuhr kein Schlitten, niemand wagte sich aus dem Haus. Die Schule fiel aus und wir bliebe allem im warmen Zuhause. Wenn der „Spuk“ vorbei war, wurde Schnee geschippt. Ich habe mir in den hohen Schneewehren Höhlen gebaut. Für warme Winterbekleidung hat mein Vater für uns gesorgt. Er war auch Schneider und hat für Mutter und uns Kinder Mäntel und Jacken mit Pelz abgefüttert genäht. Wir haben nie gefroren, obwohl lange Hosen damals von Mädchen noch nicht getragen wurden. Dafür hat dann aber meine Mutter Strümpfe und Unterwäsche auf Schafwolle gestrickt. Die kratzten fürchterlich.
Der Monat Dezember war mit viel Arbeit ausgefüllt. Zu Anfang wurden zwei dicke Schweine geschlachtet. Daraus wurden auch herrliche Würste gemacht, Dauerwurst, Leberwurst, Blutwurst und meine Grützwurst. Viel Fleisch wurde in Gläsern eingeweckt, Schinken und die Speckseiten kamen in Holzfässern zum Pökeln in Salzlauge. Nach vier Wochen kamen sie in die Räucherkammer, die am Schornstein angebaut war. Meine Schwester musste die Kochwürste kochen. Dabei durfte sie nach altem Brauch nicht sprechen – sonst platzen sie. Alle Nachbaren erhielten zur Probe eine Schüssel volle „ganzer“ Kochwürste. Nach dem Schweineschlachtfest mussten die Gänse daran glauben. So 10 oder 12 Stück waren es in jedem Jahr. Es begann in aller Frühe das Gänserupfen. Dazu wurde eine große ovale Zinkwanne in der Küchenmitte gesteilt und wir saßen alle auf Stühlen drum herum. Jeder hatte eine Ganz auf dem Schoß und musste die fein und sauber abrupfen, getrennt nach Federn mit Posten und Daunen. Wir alle hatten zu Schluss – es dauerte mehrere Stunden bis wir fertig waren überall Federn sitzen. Mein Vater hatte sie im Bart, Mutter in den Haaren, Onkel Erich steckte sich meiste die großen Flügelfedern hinter beide Ohren, Tante Friedel hatte sie auch in ihrem krausen Haar und mir krochen die Daunen stets in die Nase und beim Niesen wirbelten sie in der Wanne hoch. Es wurde viel gelacht, denn im Grunde lachte uns schon der leckere Gänsebraten entgegen. Nach dem Schlachtfest wurden Plätzchen gebacken. Der Teig dafür war schon einige Woche fertig. Er stand in einer großen gut zugedeckten Schüssel in der großen Stube im Kalten, denn diese Stube wurde im Winter – bis auch Weihnachten und Sylvester -  nicht benutzt. Das Backen der Pfefferkuchen ging schnell vor sich. Vier Bleche auf einmal konnten in den großen Backofen, der mit Holz geheizt wurde, geschoben werden. Da musste schnell ausgerollt und schnell ausgestochen werden. Und wieder war die ganze Familie der Tuttliesen dabei, selbst Onkel Erich ließ sich erweichen, er und euer Uropa verkrümelten sich aber bald.
Tante Anneliese Kiehl mit Jagd- und Hofhund auf dem Hof des Gasthauses
Die Vorfreude auf Weihnachten wurde noch durch unser Weihnachtsfest in der Schule verschönt. Es wurden Theaterstücke, Lieder und Gedichte eingeübt und die Kostüme wurden auch selber genäht. Das war ein Spaß. Sogar eine Bühne wurde gebaut. Es klappte alles prima. Zum Schluss kam ein großer Weihnachtsbaum ins Schulzimmer; dann wurden die großen Schiebetüren, die die beiden Klassenräume verbanden, aufgemacht – und die Lindehöher Schule hatten den schönsten Theater-Raum.
Hedwig Lerdon mit erlegtem Hasen
im kleinen Saal ihres Gasthauses in Lindenhöhe
Das Gasthaus der Familie
Fritz Lerdon / Hedwig verwitwete Kiehl, geb. Padefke (1940)
Unseren eigenen Weihnachtsbaum hat mein Vater stets besorgt, woher er ihn hatte, wurde nie verraten. „Vom Weihnachtsmann“ sagte er lachend. Das Weihnachtsfest selbst war eine riesige Freude in meinem Elternhaus. Es gab nicht viele Geschenke. Meine heißgeliebte Puppe begab sich immer in der Adventszeit auf eine Winterreise, sie kam aber dann stets am Heiligen Abend mit neuen Kleidern wieder zurück. Aber da stand der prächtige Tannenbau, der uns allein schon in festliche Stimmung versetzte. Dann begann Eure Uroma „Stille Nacht, heilige Nacht“ leise zu singen und wir alle stimmten fröhlich mit ein. Wir saßen am warmen Kachelofen, draußen war tiefer Winter. Es duftete nach Weihnachten in der großen Stube und in der Küche brutzelte der Gänsebraten.  Euer Uropa saß in seinem Stuhl, hatte die Hände gefaltet und sagte nur „Kinder, sön dat wedder scheene Wiehnachte“.
Es war Herbstzeit und wieder einmal hatte Euer Uropa Fritz Hasen geschossen. Eure Uroma Hedwig Kiehl - Lerdon hat auf einem Foto einen dicken erlegten Hasen auf dem Arm. Sie steht vor der Verandatür auf der Hofseite. Uropa Fritz war zuhause Jagdpächter und durfte im Herbst und im Winter Wild schießen. Es wurden zur Jagd Freunde und Verwandte eingeladen. Eine große Gesellschaft machte sich auf die Beine. Auf dem Foto links ist Tante Anneliese (Kiehl) auf dem Hof zu sehen mit Uropas Jagdhund „Arac“. Dahinter steht der Hofhund „Lord“. Zu jeder Jagd gehören auch Treiber. Es waren junge Leute aus dem Dorf. Sie haben zusammen mit den Hunden die Hasen aufgestöbert und sie den Jägern zugetrieben, denn die Hasen hatten sich in Hecken und Büschen verkrochen. Das geschah mit großem Lärm. Der Ausklang solcher Jagdtage war ein großes Essen bei Eurem Großvater in der Gastwirtschaft Eure Uroma Hedwig hatte mit den Frauen aus der Nachbarschaft alles bestens vorbereitet. Es ging lustig zu. Es wurde gut gegessen und dazu ordentlich getrunken, viel erzählt, viel gelacht und zuletzt ordentlich gesungen. Uropa Fritz begleitete auf dem Klavier. Die geschossenen Hasen hatte inzwischen der Kutscher mit dem Pferdefuhrwerk nach Hause geholt und auf dem Dachboden zum Abhängen aufgereiht.
In der Gaststätte wurde im Allgemeinen kein Essen angeboten, da die Gäste in der Regel vor oder nach dem Besuch schon zu Hause aßen. Es gab aber Kleinigkeiten wie Soleier, Halben Hering oder eingelegten Zwiebeln oder Sure Gurken und für die "Damen" Schokolade oder Bomche. Wurde bei großen Festen dennoch ein Essen eingeplant, so gab Hilfe aus dem Dorf und in einem Nebengebäude - das auch als Waschküche diente - wurde der lange Schamott-Herd zum Kochen, Braten und Warmhalten angeworfen und der große Geschirrschrank aufgeschlossen. Das Besteck stammte zum Teil noch aus einem russischen Offizierskasino aus dem 1. Weltkrieg. In der Regel fanden aber alle Familienfeste zu Hause statt. In Opas Zuhause (Gasthof Lerdon) fanden im Sommer an Wochenenden die Tanzvergnügungen im Freien statt – falls es nicht regnete. Es war im Garten eine Tanzfläche mit Holzdielen vorhanden. Die Dielen wurden vorher extra gebohnert. An der Theke bediente Onkel Walter zusammen mit Nachbarinnen aus dem Dorf. Flotte Weisen spielten zwei Dorfmuskanten zusammen mit Uropa Fritz auf. Uroma Hedwig überwachte die Kasse. Auch unsere Sommerschulfeste wurden hier gefeiert mit Volkstänzen, Liedern und Gedichten. „Sommer o Sommer du fröhliche Zeit“ sangen wir hier bei unserem Umzug von der Schule durch das Dorf zu Opas Garten. Alle Kinder waren festlich herausgeputzt. Selbst der „Rüpel“ Otto Schützler, der mal meine Zöpfe ins Tintenfass gesteckt hatte, sah richtig schick aus, sein Haarschopf hatte einen geraden Scheitel. Wir Mädchen trugen zum Umzug halbrund Holzbügel, die mit Blumen umflochten waren, in den Händen. Unsere beiden Lehrer gingen voran – und so hielten wir den Einzug in den Festgarten, wo schon alle auf uns warteten. Jedesmal waren wir froh, wenn Petrus für uns die Sonne scheinen lies.
In der Gastwirtschaft geschah allerlei. Viele Dörfler trafen sich hier. Alle kamen sie mit Pferd und Wagen, im Winter mit Schlitten. War das Wetter kalt, wurden die Pferde gut eingedeckt.- oder sie kamen in die „Einfahrt“ – ein großer Stall, der für die Pferde der Gäste gebaut worden war. Alle Gäste – zogen, bevor sie die Gaststube betraten, ihre Holzklumpen aus. So ging einmal ein Bauer aus Bessen nach seinen Pferden sehen und war überrascht – seine Holzklumpen waren angenagelt – er hatte seine Schulden nicht gezahlt.
Johann Scharfetter Gutsbesitzer und sehr erfolgreicher Rinder- und Pferdezüchter (ca. 1930)
Oft kam auch der Gutsbesitzer und sehr erfolgreiche Rinder- und Pferdezüchter Johann Scharfetter im Sommer zu einem Rotwein oder im Winter zu einem Grog mit seinem Spazierwagen in die Gaststätte. Im Wagen saßen er und sein großer treuer Hund. Scharfetter steuerte dann alleine in „seine“ Ecke in der Gaststube, zu Füßen sein Hund und auf dem Tisch div. Flaschen - im Sommer Rotwein oder Rum im Winter. So saß er sehr lange und schlief ein und er und sein Hund fingen an zu schnarchen. Uropa Fritz (Lerdon) hat dann die Petroleumlampe auf Sparflamme gestellt und ist ins Bett gegangen. In der Nacht ist Herr Scharfetter aufgewacht, fand in der Regel mit Hilfe des Hundes zum Spazierwagen und schlief, so wurde beobachtet, im Wagen wieder ein. Sein treues Pferd fand den Weg nach Hause alleine – zu jener Zeit fuhren ganz selten Autos nachts auf den Straßen.
Als Uropa Fritz – auch nachts mit seinem neuen Mercedes die Straßen unsicher machte – war das eine Sensation. Zeugen bekundeten, dass er das "nur" tue, um Gäste nach Hause zu fahren. Besonders zwei unerschrocken nach Ostpreußen versetzte Lehrerinnen aus Köln benutzte zusammen diesen Service - so dass es schon zu besorgte Nachfragen des Schulrates kam, die aber grundlos waren. Der Besuch von Gasthäusern von alleinstehenden Lehrerinnen war den Dorfbewohner suspekt. Die beiden verkündeten aber „ … der rheinische Frohsinn ist hier noch nicht angekommen" und wurden langsam in der Gaststätte akzeptiert.
Hedwig Lerdon führte nach 1941 den Laden an 2 Tagen in der Woche fort, sofern es die Versorgungslage zu ließ, bis zur Flucht im November 1944 allein weiter. Die Ladenöffnung war auch für die Einlösung der Lebensmittelkarten und Bezugsscheine wie z. B. von Petroleum von großer Wichtigkeit. Fritz Lerdon war einberufen war und nur während des Soldatenurlaubs zu Hause. Die Gaststätte wurden nur für amtlichen Zusammenkünfte und für "Privat-Kunden" geöffnet. Nach und nach blieben aber alle wehrpflichtigen Männer weg, da sie eingezogen wurden. Später wurde Köln, nach einer Zwischenstation in Mirow, für die Familien Lerdon das Ziel der Flucht aus Ostpreußen.
Im Jahre 1934 wurde Lindenhöhe mit elektrischem Strom versorgt. Uropa war einer der ersten im Ort, denn ein Anschluss war damals sehr, sehr teuer und nicht jeder konnte ihn sich leisten. Jedenfalls hat es geklappt und Euer Uropa hat aus diesem Grund ein Lichtfest veranstaltet. Dabei wurden die größten seiner Petroleumlampen mit großem Gefolge und Musik im Dorfteich versenkt. Umwelt war damals ein unbekanntes Fremdwort. Ich habe das Petroleumlicht gerne gemocht – aber wehe, wenn die Petroleumkanne leer war. Dann hatten wir kein Licht, dann dauerte unsere „Uhlenflucht“ bis zum Schlafengehen. Im Sommer brauchten wir kaum Licht, dafür im Winter umso mehr. Die „Uhlenflucht“ fand bei uns im Sommer auf der Hausbank vor der Tür draußen statt, im Winter war die Bank vor dem warmen Kachelofen der Versammlungsplatz. Dann haben meine Eltern aus ihrer Kinderzeit und ihrem Zuhause erzählt. So hatte meine Mutter schon mit 6 Jahren Strümpfe stricken müssen. Mein Vater hatte vor der Schule schon Vieh und Gänse hüten müssen.  Als Schuljunge erhielt er eine besondere Genehmigung, die ihn als Hütejunge zwei Tage in der Woche von der Schule freistellte. In meinem Zuhause sollten erst 1939 elektrischer Strom gelegt werden. Zunächst gab es auch nur vier Lampen und eine Steckdose. Im selben Jahr brach auch der 2. Weltkrieg aus und wir haben unsere Petroleumlampen behalten. Euer Opa hatte als Junge eine Vorliebe für den Heuboden. An langweiligen Sonntag-Nachmittagen klemmte er sich ein Karl May Buch unter den Arm – es gab vier verschiedene Bände – und stieg die Leiter hinauf und entschwand durch die Luke im Heu. Vor hier konnte er auch alles prima überblicken, wurde er gerufen, hat er sich nie gemeldet, denn das Versteck war sein Geheimnis – und er hat es auch keinem verraten. Als ältester seiner vier Geschwister wurde er regelmäßig zu deren  Aufsicht eingeteilt. Der Autor Karl May veröffentlichte bis 1914 bereits 1,6 Millionen Bände. Seine Schriftstellerkollegin Hedwig Courths-Mahler kam bis 1914 mit ihren Romanen der "Schicksalsergebenheiten" und dem Vorbild des traditionellen Rollenverhalten von Frauen aber bereits auf 14 Millionen verkaufte Bände.
Unser Leben auf dem Lande war aber nicht langweilig – eben bis auf die Nachmittags-Sonntage. Ich bin dann meistens viel mit dem Rad gefahren. Mit 12 Jahren erhielt ich mein erstes Fahrrad, mit 14 Jahren zur Konfirmation die erste Armbanduhr und mein erstes Buch - es war ein Gesangsbuch.
Ein Radio hatten wir dann später auch schon. Leider wurde es ganz selten angemacht. Weil wir noch keinen Strom hatten, war das Radio an Anoden und Akkumulatoren angeschlossen, und diese Batterien wurden schnell leer und mussten dann zum Aufladen weggebracht werden, was immer einige Tage dauerte, bis man sie wieder abholen konnte. Nun hörte aber meine Mutter und natürlich auch die Kinder sehr gerne Radio, aber mein Vater schimpfte dann – es wäre zu teuer. Er ist dann aber zeitig zu Bett gegangen und wenn er anfing zu schnarchen, war es so weit, dass wir das Radio wieder anstellen konnten. Gehört haben wir den Reichssender Königsberg. Im Winter waren die Abende oft mit Radiosendungen ausgefüllt. Wenn wir keine Arbeit vorhatten, Stricken, Stopfen, Nähen und ähnliches, saßen wir am warmen Kachelofen, draußen war dichter Schnee und der Mond schaute zum Fenster rein, dazu viele Sterne am wolkenlosen Himmel und wir hörten eine Stunde Radio. Meine alte Katze saß auf meinem Schoß, sie wurde dann aber vor dem Schlafengehen von mir in den Stall gebracht.
Eine Sensation waren zuhause die Zigeuner. Sie fuhren in ihren Planwagen oft über Land. Woher sie kamen und wohin sie wollten wusste niemand. Ein Planwagen war ein einfacher Wagen- überspannt mit starken Weidenruten und darüber ein Tuch als Plane gezogen, zum Schutz gegen Wind, Sonne aber auch Regen. An der Außenwand des Wagens baumelten verbeulte Kochtöpfe, Bratpfannen oder Eimer, in dem Wagen unter der Plane saßen die Frauen mit den Kindern auf Stroh. Der Zigeunervater saß vorne im Wagen und lenkte ein müdes Pferd. Oft aber schwärmten alle aus, um mitzunehmen was nicht niet-oder nagelfest war. Weil das Land zuhause flach war, sahen wir sie schon von weiten auf der Straße ankommen, immer mehrere Fuhrwerke auf einmal. Dann kam unser Vater in Haus gestürmt und rief: „Kinder, de Ziegäner kome“. Falls Wäsche auf der Leine hing, wurde sie schnell abgenommen, die Hühner, Gänse und Schweine in den Stall gescheucht, das Hoftor und alle Türen und Fenster fest verschlossen und der Hofhund Lux wurde losgemacht. Nichts war vor ihnen sicher. Mein Vater stand irgendwo versteckt auf dem Hof und passte auf, wenn sie zum Betteln anrückten. Mir war eine solche Sippe immer interessant, gab doch viele, viele Kinder zu bestaunen, die neben den Wagen liefen und so vor den Hof erst zu singen und dann zu betteln anfingen. Die ein freies Leben führten – ohne Schule!


Der Zweite Weltkrieg

Zeugnis der Baumschule Wenk für Hildegard
Tuttlies, ausgestellt Inhaber vom Bruno Wenk
Mitarbeiterinnen der Baumschule Bruno Wenk, Hildegard Tuttlies zweite von rechts (ca. 1940)
Am 1. September 1939 war der Krieg ausgebrochen — aber wir fühlten uns in unserem Ostpreußen in Sicherheit. Wir waren ja weit weg vom Schuss, vom großen Deutschen Reich und hatten reichlich zu essen und zu trinken, und wir waren ja die Kornkammer Deutschlands!
„Denn heute gehört uns Deutschland", sang die Jugend vor Begeisterung! Ich war 19 Jahre alt und hatte mir nach der Handelsschule eine Stelle im Büro auf dem Lande, im herrlichen Masuren in Pristanien / Paßdorf bei Angerburg gesucht.Es war die große Baumschule „ Bruno Wenk " mit 12 Angestellten, vom Obergärtner bis zu den Lehrlingen; dazu war mein Chef „Bürgermeister" und die Postagentur gehörte auch da hinein. Im Büro waren wir zwei Angestellte, also gab es reichlich zu tun. Aber trotzdem war ich viel am Mauersee, der ganz in unserer Nähe lag. Die Bunkern des Hauptquartiers des Oberkommandos der Wehrmacht lagen beim Dorf Mauerwald am Mauersee, das spätere Führerhauptquartier, die „Wolfsschanze" wurde bei Rastenburg gebaut.
Wir hatten ein weibliches Arbeitsdienstlager mit über 100 Maiden in unserem Bezirk (Kreis Rastenburg). Sie waren im „Reich" beheimatet und bekamen viel Post, die sie sich selbst abholten.
Mauersee und Pristanien (Paßdorf) mit Baumschule Wenk und den Bunkern des Hauptquartiers des Oberkommandos der Wehrmacht nahe dem Dorf Mauerwald

Der folgende Text wurde eingefügt:

Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes (RAD). Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.”

Neben dem männlichen Arbeitsdienst war mit dem Reichsarbeitsdienstgesetz auch der weibliche Arbeitsdienst (RADwJ) für junge Mädchen (Arbeitsmaiden) im Alter von 18 bis 21 Jahren eingeführt worden. Ab dem Jahr 1938 entstanden überall im damaligen Deutschen Reich 327 Lager des weiblichen Arbeitsdienstes, von denen 108 als Bauernlager, 116 als Siedler- und 108 als NSV-Lager (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) anzusprechen waren. Damit zeigte sich bereits die Einsatzart der weiblichen Arbeitsdienstangehörigen. Sie wurden entsprechend auf Bauerhöfen als Hilfskräfte (Mägde) eingesetzt oder in landwirtschaftlichen Siedlungen als Kindermädchen, Säuglingsschwestern, Lehrerinnen oder als eine Art von Sanitätspersonal.“ [14]

Hildegard Kiehl fährt fort:

Auch ich bekam viel Post von Opa! (d.h. ihrem späteren Ehemann. red.) Zuerst aus Insterburg, später kamen dann Feldpostbriefe von der Front. Auch besucht hat er mich oft in Masuren. Die Zeit lief dahin. Ich war dort von 1939 bis 1942, drei Jahre — und dann kam der grausame Krieg immer näher an unsere Heimat. Mein Bruder Erich (Tuttlies) , der auf dem Hof bei meinen Eltern lebte, wurde zur Front eingezogen. Als Sanitäter arbeitete er meistens in Lazaretten. Für ihn erhielten Uropa und -Oma einen Weißrussen, Michael, als Arbeitskraft. Er war ein anständiger und fleißiger junger Mann, er war gerne bei uns.
Dann erkrankte mein Vater am Herzen, meine Mutter schaffte es auch nicht mehr, und so ging ich dann nach Hause. Ich wäre auch gerne dortgeblieben. Ich hatte großen Spaß an der vielseitigen interessanten Arbeit. Zwar waren fast alle deutschen Baumschulangestellten zur Wehrmacht eingezogen. Aber an ihrer Stelle kamen 20 polnische Hilfsarbeiter, die kaum deutsch sprachen mit einem deutschen Wachmann, der stets eine Pistole bei sich trug, es war grausam! Doch der Versand der vielen Obstbäume, der Nadelhölzer, der Nutz- und Ziersträucher musste ja weitergehen. Am 15.05.1942 verließ ich das Büro der Baumschule Bruno Wenk in Paßdorf um zu Hause, den kranken Vater Ferdinand Tuttlies zu unterstützen. So war ich dann wieder zuhause. Opa kam ab und zu mal von der Front in Urlaub. Die Rückfahrt zur Front war dann immer am schlimmsten. Im Oktober 1943 haben wir geheiratet. Ich blieb aber in Wilkental wohnen. Die Front rückte immer näher. Nachdem die Wehrmacht in Polen besiegt war, rückte Russland weiter vor.
von links: Vor Ihrem Kolonialwaren: Max mit Ehefrau
Gertrud, Hildegard und Friedel Tuttlies, Insterburg
Einblick in den Kolonialladen. Von links: Gertrud und Max
Tuttlies, Erich Tuttlies und Friedel Tuttlies
Die größten Städte in Ostpreußen wurden schon bombardiert. Im Sommer 1944 musste nach Königsberg auch Insterburg daran glauben. Es war sehr schlimm; denn mein ältester Bruder Max (Tuttlies) wohnte in der Albrechtstraße Nr. 15 mit seiner Familie dort. Es blieben alle verschont und wurden nach Kroslitz bei Leipzig evakuiert.

Einschub: " Zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs war Insterburg aber eine wichtige Garnisonsstadt der preußischen Armee. Im Osten der Stadt entstand ein großes Kasernenviertel. In Insterburg standen 1914 das Kommando der 2. Division mit zwei Brigadekommandos und mehreren Verbänden der Infanterie, Kavallerie und Feldartillerie (darunter zwei Bataillone des Infanterie-Regiments 45), insgesamt über 2000 Soldaten. 1902 schied die Stadt Insterburg aus dem Landkreis Insterburg aus und bildete einen eigenen Stadtkreis. 1913 wurde ein Bismarckturm errichtet. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs war die Stadt infolge der Schlacht bei Gumbinnen vom 24. August bis 11. September von der russischen Armee besetzt und wurde danach Hauptquartier von Paul von Hindenburg.

In der Zeit der Weimarer Republik war Insterburg Sitz des Landratsamtes, eines Amts-, eines Land- und eines Arbeitsgerichtes, eines Finanz- und eines Zollamtes, einer Reichsbank-Nebenstelle sowie einer Industrie- und Handelskammer. Die Wirtschaft hatte sich mit der Ansiedlung von Ziegeleien sowie von Unternehmen zur Herstellung von Zuckerwaren, Essig und Mostrich, Chemikalien und Lederwaren weiter diversifiziert. 1926 wurde nach Fertigstellung des Pregelseitenkanals der Hafen Insterburg eingeweiht. Nachdem die Stadt zur Zeit der Reichswehr ihre Garnison behalten konnte, erfolgte von 1935 bis 1937 der Bau eines großen Flugplatzes und von Kasernen für die Wehrmacht. 1939 wurde mit der Restaurierung der Insterburg begonnen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerung auf 49.000 Einwohner angewachsen.

Am 27. Juli 1944 wurde Insterburg durch einen sowjetischen Bombenangriff erheblich zerstört. 120 Tote waren zu beklagen, obwohl der Kern der Altstadt mit besonders leicht brennbaren Häusern schon geräumt worden war. Von da an wurde die Stadt schrittweise weiter evakuiert, besonders ab dem zeitweisen Einbruch der Roten Armee bei Goldap im Oktober 1944 . Anfang Januar 1945 befanden sich noch 8.000 bis 10.000 Insterburger in der Stadt, vorwiegend solche mit Funktionen in noch nicht evakuierten Betrieben und Institutionen. Am 13. Januar 1945 begann die sowjetische Großoffensive in Ostpreußen. Einem schweren Luftangriff am 20. Januar fielen noch einmal 30 Zivilisten zum Opfer. Von da an lag die weitgehend geräumte Stadt unter ständigem Beschuss durch Tiefflieger und Artillerie. Der letzte Zug verließ Insterburg am 22. Januar 1945 um 0:30 Uhr. [15]

Hildegard Kiehl berichtet weiter:

Für mich war es immer eine Freude, wenn ich nach Insterburg zu meinem Bruder Max mit meiner Schwester fahren durfte. Er hatte ein Geschäft mit vielen, vielen Bonbons. Meine Schwester Friedel wohnte in Königsberg. Ihr Mann war an der Front und sie wurde nach Lugau im Erzgebirge evakuiert.
Eine wichtige Einnahmequelle für seinen Kolonialwarenladen zuhause, waren die wohlhabenden Schüler der nahe liegenden Schulen die regelmäßig versuchten, ganz viel Bomche für ganz wenig Dittchen zu erstehen. Als tüchtiger Kaufmann hatte mein Bruder Max (Tuttlies) zum Wechseln immer viel Kleingeld in der Ladenkasse. Angeblich versuchten einige Eltern, durch ein Ladenverbot die Kauflust Ihrer Sprösslinge in den Griff zu bekommen.
Im Herbst 1944 mussten auch große Teile der Landbevölkerung die Heimat verlassen. Sämtliche Kühe wurden zu großen Herden zusammengetrieben, und weiter in den Westen sollte es gehen; was wir aber nicht glaubten! Ich höre heute noch das verzweifelte Brüllen der Tiere und unsere älteste Kuh stand eines Tages vor dem Stall auf dem Hof. Sie war heimgekehrt, und wir haben sie behalten. Pferde durften bleiben; denn der Flüchtlingstreck ging mit Pferd und Wagen in den Kreis Mohrungen in Ostpreußen. Der größte Kastenwagen wurde mit einer Plane überspannt und mit Hab und Gut, so viel hineinging, beladen. Unser Termin war der 15. November 1944. Doch plötzlich wurde Vater wieder sehr krank. Er hätte wohl den langen Treck mit der großen Aufregung nicht überstanden. So beschlossen wir, noch etwas Daheim zu bleiben. Vom 21. 10. – 1. 11. 1944 wurde die Räumung des Kreisgebietes Insterburg (teilweise) von der Zivilbevölkerung angeordnet. Aufnahmekreis ist der Landkreis Mohrungen. Unser Michael war noch immer bei uns. Noch einmal, zum letzten Male in unserem Leben, haben wir Weihnachten zuhause erlebt, mit einem kleinen Weihnachtsbaum — es war sehr traurig. Michael versprach Vater, auf alles zu achten; denn er wollte in Wilkental wohnen bleiben. Feldpost kam auch nicht mehr. Unsere Wehrmacht war auf dem Rückmarsch. Mit der Bahn nach Königsberg, in die leerstehende Wohnung von Tante Friedel und weiter bis über die Weichsel ( ... denn es war eine Hoffnung, daß der Russe dort zum Stillstand käme!).


Dann in Gottes Namen!

Die Teilnahme von Michael Kitursko an der Flucht 1945 wurde ihm vom Bürgermeister in Willschicken untersagt,
Sein Name wurde von ihm auf der Reisegenehmigung durchgestrichen
So packten wir nur Handgepäck, soviel wir schleppen konnten. Alles wurde auf einen kleinen Kasten Wagen geladen, Michael spannte beide Pferde davor und fuhr am Wohnhaus vor. Vater und Mutter gingen noch einmal durchs Wohnhaus, Stall und Scheune, schlossen alles ab und stiegen zu Michael und mir in den Wagen. Die Schlüssel übergab Vater an Michael. Vater nahm Michael die Leine ab, sagte: „Dann in Gottes Namen.!" Vater trieb die Pferde an; und wir fuhren von unserem geliebten Hof und Grundstück zur Bahnstation Grünheide. Es war der 10 Januar 1945. Die Flucht begann. Wer nach Westen wollte, brauchte eine Reisegenehmigung, um Fahrkarten für einen der wenigen noch verkehrenden Züge zu erwerben.
Auf dem Bahnhof nahm Vater Michael in den Arm, uns allen liefen die Tränen; wir stiegen in den Zug in Richtung Insterburg und von hier aus ging es nach Königsberg weiter. In Königsberg kamen wir in der Wohnung meiner Schwester Friedel, trotz Fliegeralarm, etwas zur Ruhe. Das Zweifamilienhaus war Kasernengelände und vor der Stadt gelegen. Mein Schwager war Hausmeister in der Kaserne, zusammen mit einem zweiten, der in demselben Haus wohnte — und dieser war noch da, während mein Schwager an der Front war.
Der völlig verspätete Räumungsbefehl für Kreuzburg im Samland/Ostpreußen vom 29.01.1945,
Die Freude war groß — aber nicht zu lange! Einmal bin ich noch nach Hause gefahren. Michael war nicht mehr da. Auch Lisa und Mona, unsere treuen Kühe, war weg. In der Veranda lag unser Hofhund, aber erschlagen. Die Haustür aufgebrochen; aber das Haus war nicht ausgeräumt. Viele Einheiten von deutschen Soldaten hatten sich in der Umgebung niedergelassen, die auf dem Rückzug waren. Auch Opas Einheit war dabei, allerdings einige Kilometer entfernt. Sie alle schützten unser Hab und Gut vor Plünderungen, so gut es ging. Der Russe plante weitere Großangriffe, die kamen dann auch, es war ein bitterkalter Winter mit 20 Grad minus und mehr und viel Schnee.

Weitere Hintergrundinformation zur Evakuierung Ostpreussens : „Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder, [16]

Die Königsberger Bevölkerung war zunächst mit Eisenbahnzügen geflohen, bis der Zugverkehr nach dem Reich am 21. Januar aufhörte. Danach hatten sich große Teile nach Pillau begeben, um von dort aus entweder über die Nehrung nach Westen zu gelangen oder über See ins Reich abtransportiert zu werden. Als Ende Januar 1945 die Einschließung der Stadt vollendet war, wurden noch geringe Teile der Bevölkerung zu Schiff von Königsberg nach Pillau gebracht, und Mitte Februar, nachdem im Norden der Stadt die Verbindung nach dem Samland für einige Wochen wieder freigekämpft war, konnten noch weitere Teile der Zivilbevölkerung aus Königsberg ins Samland übergeführt werden. Dennoch blieben ca. 100 000 Menschen in Königsberg zurück. Viele von ihnen kamen den Räumungsaufforderungen der Partei absichtlich nicht nach, weil sie sich in der Stadt sicherer glaubten als im Samland oder auf dem gefahrvollen Fluchtweg über Pillau. Fortgesetzte Bombenabwürfe und Artilleriebeschuss auf Königsberg zerstörten während der Wochen der Einschließung einen großen Teil der ohnehin durch Luftangriffe schon früher schwer mitgenommenen Stadt und richteten unter der nur noch in Kellern lebenden Zivilbevölkerung hohe Verluste an. Als schließlich am 6. bis 9. April der Generalangriff der Roten Armee auf Königsberg erfolgte, wurden nochmals viele Zivilisten in die Kriegsereignisse hineingerissen. Ca. 25 Prozent der in Königsberg verbliebenen Bevölkerung waren im Laufe der Kampfhandlungen ums Leben gekommen, als am 9. April die Stadt an die Russen übergeben wurde.

Als letzte Bastion in Ostpreußen blieb nunmehr nur noch der Streifen entlang der Samlandküste und der Raum um Pillau—Fischhausen in deutscher Hand. Noch immer betrug die Zahl der aus Königsberg, dem Samland und aus weiter östlich gelegenen Kreisen in Pillau, Fischhausen, Palmnicken, Rauschen und Neukuhren untergebrachten Menschen viele Tausende, obwohl die Hauptmasse der Flüchtlinge bereits von Pillau aus über See abtransportiert worden war. Die ersten mit Flüchtlingen beladenen Schiffe hatten am 25. Januar Pillau verlassen, und am 15. Februar konnte in Pillau bereits registriert werden, daß 204.000 Flüchtlinge mit Schiffen abbefördert und weitere 50000 nach Neutief übergesetzt und im Treck oder Fußmarsch auf der Frischen Nehrung weitergeleitet worden waren. Aber noch immer strömten viele Tausende nach Pillau. Sie kamen nicht nur über Land, sondern auch von Neukuhren aus mit kleinen Schiffen an. Die Stadt beherbergte an manchen Tagen über 75.000 Menschen, unter denen die ständigen sowjetischen Fliegerangriffe hohe Verluste anrichteten. Allein in der Zeit von Anfang März bis Mitte April fanden 13 schwere Luftangriffe auf Pillau statt, während gleichzeitig auch sowjetische Artillerie Stadt und Hafen beschoss.

Vom 8. März an musste für ca. drei Wochen der Abtransport von Flüchtlingen aus Pillau eingestellt werden, weil aller zur Verfügung stehende Schiffsraum in dieser Zeit zum Abtransport der Flüchtlinge aus den Städten Danzig und Gdingen benötigt wurde, denen in Kürze die Einnahme durch sowjetische Truppen drohte. In dieser Zeit, als keine Schiffe von Pillau abfuhren, zogen viele Tausende nach Neutief herüber und die Nehrung entlang, denn von der Danziger Niederung aus verkehrten auch nach der Einnahme Danzigs noch Fährprähme nach Hela, von wo aus dann der Weitertransport ins Reich erfolgen konnte. Ab Ende März wurde der Schiffsverkehr von Pillau aus nach dem Westen wieder aufgenommen. [17]

Soldaten in Wilkental auf dem Hof
von Bürgermeister Mikuteit (1944)
Soldaten in Wilkental, Hof Tuttlies ?
(1944)

Die bekannteste Zahlenangabe in der Literatur zur Vertreibung besagt, dass rund zwei Millionen Deutsche insgesamt infolge der Vertreibung umgekommen seien. Hans-Ulrich Wehler schätzt, dass während der Flucht, Vertreibung oder Zwangsumsiedlung 1,71 Millionen Deutsche ums Leben kamen. Der Kirchliche Suchdienst und das Bundesarchiv kamen 1965 und 1974 unabhängig voneinander mit Einzelfallrecherchen auf 500.000 bis 600.000 bestätigte Toten in unmittelbarer Folge der Verbrechen im Zusammenhang mit der Vertreibung. Unter allen deutschen Ländern hatte Ostpreußen im Zweiten Weltkrieg die meisten Verluste erlitten: Von seinen fast 2,5 Mio. Einwohnern fielen 511.000 Menschen (darunter 311.000 Zivilisten) im Kampf, auf der Flucht, durch Verschleppung und Lagerinternierung sowie dem Hunger und der Kälte zum Opfer. [18]

Übersicht der Menschen auf der Flucht aus Ostpreußen, [17]

Auch der Gauleiter von Ostpreußen Erich Koch begab sich auf die Flucht. Erich Koch floh am 24. April 1945 mit einem Flugzeug von Pillau-Neutief auf die Halbinsel Hela, von wo er auf dem eigens für ihn extra bereitgehaltenen Hochsee-Eisbrecher "Ostpreußen" am 27. April 1945 vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee über die Ostsee entkommen konnte. Am 29. April 1945 erreichte er Saßnitz, das ebenfalls schon von der Roten Armee bedroht wurde, am 30. April 1945 Kopenhagen und am 5. Mai 1945 Flensburg. Dort nahm er eine neue Identität an, indem er sich falsche Papiere ausstellen ließ. Sein „ Hitlerbärtchen” rasierte er ab, zudem trug er nun zur Tarnung eine Brille.” 1949 wurde er verhaftet und an Polen ausgeliefert. 1986 starb er dort im Gefängnis. [19]

Hildegard Tuttlies berichtet weiter:
In Königsberg kam der Bescheid, dass die Stadt sofort von Zivilisten geräumt werden müsste. Dieses Mal sollte es per Schiff weitergehen. Unser Nachbar brachte uns zum Hafen. Hier lag ein Riesenschiff vor Anker (den Namen weiß ich nicht mehr...), im Begriff auszulaufen. Die Zugangsbrücke war schon eingefahren, aber an Strickleitern zogen sich Flüchtlinge noch eilig an Bord, und wir sollten auch hoch — aber Uropa und -Oma wehrten sich dagegen. Und das war unser Glück! Das so überladene Schiff bekam auf hoher See einen Volltreffer und ist mit Mann und Maus gesunken! Und nun kam der gefürchtete Fliegeralarm. Wir liefen in einen Bunker, es ging alles glimpflich ab. Plötzlich tauchten deutsche Soldaten auf. Sie trennten die Männer von ihren Familien, sie sollten zur Verteidigung der Stadt zurückbleiben, so auch mein Vater — und das mit 76 Jahren! Frauen und Kinder mussten geschwinde aus dem Bunker, wir wurden mit der Menschenmasse nach draußen gedrängt, Vater blieb fassungslos zurück!


Abschied von der Heimat!

In großen Militärtransportern ging es zum Nordbahnhof, von hier dann mit dem Zug nach Pillau, in den nächsten Seehafen; vom Bahnhof dann bis zum Hafen mit unserem schweren Gepäck zu Fuß. Ich hatte einen großen Koffer — mit Schinken und Speck und noch einen zweiten Koffer mit Bekleidung. Es war ja tiefer Winter... Ich packte beide Koffer übereinander, zurrte sie mit langen Riemen sehr fest und schleppte sie im Schnee und Eis hinter mir her. Mutter hatte einen Riesenmarmeladeneimer voller Schweineschmalz und eine große Tasche dazu gepackt. Bei Vater war ein Rucksack mit Würsten und eine Tasche mit Zeug zum Anziehen. Er hatte seinen großen Fahrpelz über seine Bekleidung gezogen, dazu Pelzmütze und Pelzhandschuhe, also frieren konnte er nicht! Auch Mutter hatte ihren Pelz an. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben eine lange Hose an, die Trainingshose von meinem Bruder.
Flucht über die Ostsee, 1945, [20]
In Pillau kamen wir auf kleine Seesicherungsboote, dicht gedrängt. Mutter saß auf dem Schmalzeimer, ich mit einer jungen Frau zusammen auf meinen Koffern. Die Reisestrecke war Pillau—Stettin.
Die Bahnfahrt im Güterzug hat fast acht Tage gedauert. Wir hatten oft Fliegerbeschuß, mussten dann ganz schnell aus dem Zug heraus, uns in Büschen und Gräben verstecken. Wenn die Gefahr vorbei war, pfiff der Zug — alles rannte wieder zum Zug — und weiter ging es. Des Nachts standen alle Räder still. Mich wunderte es nur, dass wir immer wieder unseren wertvollen Schmalzeimer und den Speckkoffer vorfanden. Aber wieder „Gott sei Dank..."! Es ging alles gut — und dann standen wir vor der Tür von Tante Friedel, es war früh an einem Morgen. Müde, dreckig, hungrig, alles verloren, ohne unseren Vater. Es war ein trauriges Wiedersehen.
Allmählich lebten wir uns ein; trotz der großen Flüchtlingszahl — und der sehr knappen Verpflegung auf Lebensmittelkarten, obwohl wir immer noch etwas aus unserem Mitbringsel zuzusetzen hatten. Es gab keinen Fliegeralarm, dafür sehr viele Russen als Besatzung; man ging ihnen aus dem Wege und so blieb man ungeschoren! So konnten wir wenigstens in der uns zugewiesenen Bodenkammer lange und ruhig schlafen, um vielleicht eine Mahlzeit einzusparen; denn unsere Vorräte wurden immer weniger. Dazu kam das bange Warten auf Nachricht von meinem lieben Gerhard, meinem Vater, meinem Bruder, meinem Schwager, dem Mann meiner lieben Schwester.
Wir waren sehr lange unterwegs. Gott sei Dank, wir kamen, trotz Fliegeralarm, heil in Stettin an. Ab hier ging es mit der Bahn quer durch Deutschland nach Chemnitz und weiter nach Lugau im Erzgebirge zu Tante Friedel und ihren Kindern. Das Ziel hatten wir uns schon zu Hause vorgenommen.



Hafen von Pillau (1930) [21]


Verladung in Pillau (1945)
(Bundesarchiv Bild 146-1989-033-33) [22]
Flucht über die Ostsee (1945)
(Bundesarchiv Bild 146-1972-092-05) [23]


Flucht im offenen Güterwagen (1945) [24]
Flüchtlinge im Zug von Stettin nach Lübeck (1945) [25]


Ankommende und Abfahrende am Bahnhof nach Kriegsende (1945) [26]


Neubeginn beim Zoll

In unserem gemeinsamen Leben ist aber alles gut gegangen. Mein Mann und ich hatten immer einen Schutzengel, und ich bin unserem Herrgott dankbar, dass wir fast 55 Ehejahre gemeinsam erleben durften. Nun hatte sich Euer Opa bei den örtlichen Behörden, die es noch gab, beworben.
Im Juni 1946 bekam er die Einberufung zum Zollgrenzschutz als Zollassistent nach Vennebrügge, Gemeinde Uelsen, Kr. Grafschaft Bentheim an der holländischen Grenze. Mit Dienstwohnung — was waren wir froh! Zwei Tage und eine Nacht waren wir von Trittau bis Neuenhaus, die letzte Bahnstation vor der Grenze, also Vennebrügge, unterwegs. Des Nachts standen alle Räder still.
Die letzten 12 km ging es per Anhalter — nur mit Pferdefuhrwerk — weiter! Die Welt war dort zu Ende und die Zeit wohl stehen geblieben! Es war ein winziges Grenzdorf mit drei holländischen Bauern ( Kampherbeek, Stegink, Schulding – auf der deutschen Seite) einem Arbeitshaus, ein bewirtschaftetes Zollhaus, d.h. Zollamt für den kleinen Grenzverkehr, vor dem Krieg neu erbaut und von zwei Zollbeamten mit Familien bewohnt, ein altes ausgeräubertes Zollamt, das wieder später als Dienstwohnung in Stand gesetzt wurde. Ein Beamter wohnte dort schon und empfing uns und hat uns in unsere Wohnung eingewiesen.


Unsere Wohnung hatte drei Zimmer, Stall — und Plumpsklo

Wir fingen an mit einem selbst gestopften Strohsack, einem Tisch aus alten Dielenbrettern, mit zwei Stühlen ohne Sitze, einer kleinen Hängelampe mit Petroleum. Keinen Herd, nur mit einem Kanonenofen und einem Kochgeschirr wurde gekocht! Das war unser neues Leben in unserer neuen Wohnung.
Sie hatte drei Zimmer, eine geräumige Küche und Stallungen für Schwein und Hühner und ein Plumpsklo! Ein Garten für Gemüse gehörte auch dazu. Aber keine Türen, kaum Fensterscheiben, kein Strom, kein Wasser, weder Herd noch Ofen, natürlich hatten wir auch keine Möbel! Aber zwei frischgestopfte Strohsäcke lagen für uns bereit. Euer Opa hatte zwei Decken und seinen dicken Wehrmachtsmantel aus dem Krieg mitgebracht. Dazu noch zwei Paar Knobelbecher, meine waren in der kleinen Größe, aber zu groß — also wir haben sie in der kalten Jahreszeit getragen. Das war der Anfang unseres gemeinsamen Lebens.
Der Pole war dort Besatzungsmacht und hat bei seinem Abzug alles „kurz und klein geschlagen", hieß es.
Die Emslandlager in Niedersachsen [10]

Die polnische Besatzungszone war von 1945 bis 1948 ein Sondergebiet innerhalb der britischen Besatzungszone im Nachkriegsdeutschland und befand sich im mittleren nördlichen Gebiet des heutigen Landkreises Emsland sowie in der Gegend von Oldenburg und Leer. Sie grenzte an die Niederlande und umfasste ein Gebiet von 6470 km². Die Zone mit einem Lager für Displaced Persons wurde von der polnischen Exilregierung verwaltet. Verwaltungszentrum dieser polnischen Zone war die Stadt Haren. Sie war während dieser Zeit als Maczków nach Stanisław Maczek benannte Besatzungszone. Weitere Orte, die von der deutschen Bevölkerung geräumt werden mussten, waren Teile von Papenburg und Friesoythe (der Ortsteil Neuvrees wurde in Kacperkowo umbenannt und weist aus dieser Zeit noch heute eine so genannte „Polenkirche“ auf). Das Straßendorf Völlen wurde nicht evakuiert. Hier erfolgte die Trennung der Bevölkerungsgruppen entlang der Straßenmitte: die deutschstämmige Einwohnerschaft wurde auf der östlichen Straßenseite konzentriert, während in die leer geräumten Häuser auf der westlichen Straßenseite Polen einzogen.

Displaced Persons bauen 1945 eine Kirche in Friesoythe [11]

Die neue polnischstämmige Bevölkerung setzte sich zusammen aus etwa 30.000 Displaced Persons, vor allem ehemaligen Häftlingen der Emslandlager – zu diesen gehörten auch Angehörige des Warschauer Aufstandes vom August 1944 – und 18.000 polnischen Soldaten.

Da die überwiegende Zahl aus den damaligen polnischen Woiwodschaften Lwów und Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, kamen, wurde die Stadt Haren zuerst in Lwów umbenannt. Die wichtigsten Straßen der Stadt erhielten polnische Namen dieser Orte. Bereits nach einem Monat wurde auf sowjetischen Druck der Name am 24. Juni 1945 erneut geändert.

Die Stadt wurde nunmehr nach dem polnischen General Maczek benannt, der mit seiner 1. Panzerdivision die umliegenden Gefangenenlager befreit hatte. Da sich ein großer Teil der in deutschen Lagern internierten polnischen Intelligenz hierauf in Maczków niederließ, entwickelte sich der Ort sehr dynamisch zum Zentrum des polnischen Verwaltungsgebietes, hinter dem die antikommunistische polnische Exilregierung stand.

Die polnische Exilregierung soll sogar darüber nachgedacht haben, die Enklave auf bis zu 200.000 Polen aufzubauen, um so indirekt Druck für freie Wahlen in Polen ausüben zu können. Die durch die polnische Exilregierung verwaltete polnische Besatzungszone im Emsland war für die Sowjetunion nicht tolerierbar, obwohl Winston Churchill diese Pläne zunächst begrüßte. Deshalb verlangte die Sowjetunion von den britischen Behörden, die polnische Zone aufzulösen, was auch geschah. [27]

In den 15 Emslandlagern der Nazis mußten die Häftlinge unter KZ-Bedingungen schwerste Moorarbeiten leisten. Displaced Persons „heimatlosen Ausländern“ wurden u.a. im Dorf Neuvrees, ein heutiger Stadtteil der Gemeinde Friesoythe - umbenannt in Kacperkowo, kurzfristig nach 1945 angesiedelt. Dort wurde 1945 sogar eine neue Kirche von Displaced Persons gebaut. Der polnischen Historiker Rydel hat als Erster die militärgeschichtlichen Quellen aufgearbeitet und den verwickelten politischen Entscheidungsprozess nachgezeichnet, der zu der Einrichtung einer polnischen Enklave im Emsland innerhalb der britischen Besatzungszone führte [28].

Hildegard Kiehl berichtet weiter:
In Vennebrügge kam aber alles wieder zurecht, Türen und Fenster zuallererst. Zwei eiserne Bettgestelle ohne Rahmen (da kamen einfach Dielenbretter aus dem alten Zollhaus hinein!), dann zwei neue Stühle, auch ohne Sitze, ein Herd und ein Kanonenofen ohne Rohre! Im nahen Wald lagen genug leere Konservenbüchsen, das wurden die Ofenrohre; die wahnsinnig räucherten! Machte nichts, wir waren glücklich in unserer Wohnung!
Euer Opa hat dann aus Dielenbrettern einen Tisch und ein kleines Regal gezimmert. Strom hatten wir immer noch nicht. Aber wir bekamen eine kleine Petroleum-Wandlampe von einer lieben Einheimischen geschenkt. Sie (die Lampe) war unser kostbarstes Stück, ohne Zylinder! Zwei große leere Benzinkanister aus dem Wald hat Euer Opa zu Wasserbehältern umgebaut, das Wasser mussten wir von den Bauern schleppen! Auch Waschbehälter entstanden daraus. Die Tage vergingen sehr schnell; denn wir hatten immer eine Beschäftigung. Ich half den Bauern viel auf den Feldern, gegen Naturalien. Wenn Euer Opa Zeit hatte, gingen wir gemeinsam hin, pro Tag gab es für beide 1 Zentner Kartoffeln, auch in der Getreideernte waren wir dabei.
Essen gaben uns die Bauern obendrein, leckere Bratkartoffeln und Milchsuppe zum Abend; am Nachmittag dicke Wurstschnitten und Kaffee - alles satt! Wir konnten ein Schwein versorgen, auch Hühner, sechs an der Zahl und einen Hahn. Dieser war zu unsere Nachbarin Frau Recke aus unserem Haus sehr böse! Sie durfte sich nicht in seiner Nähe blicken lassen, schon saß er ihr auf dem Rücken und teilte heftige Schnabelhiebe aus; darum wanderte er in den Kochtopf. Der dritte Nachbar war die Familie Panck, mit einem alten DKW-Motorrad – allerdings ohne Benzin, aber welch eine Sensation!


Ländliche Entwicklung in Ostpreußen am Beispiel des Dorfes Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)

In Ergänzung zu den vorgenannten Texten siehe auch den folgenden Hintergrundbericht: „Ländliche Entwicklung in Ostpreußen am Beispiel des Dorfes Willschicken (Ksp. Aulenbach Ostp.)“


  1. Meyers Orts- und Verkehrs-Lexikon des Deutschen Reiches, Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut (1912), 5. Auflage, Band II, Seite 1157
  2. Artikel Preußisch Litauen. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
  3. 3,00 3,01 3,02 3,03 3,04 3,05 3,06 3,07 3,08 3,09 3,10 3,11 3,12 3,13 3,14 3,15 3,16 3,17 3,18 3,19 3,20 Kurt Henning, Charlotte Henning: Der Landkreis Insterburg, Ostpreußen. Ein Ortsnamen-Lexikon. o. O. [Grasdorf-Laatzen] o. J. [1981]
  4. Wilschiken o. Wilkschicken o. Wilpischen auf der Schroetterkarte (1796-1802), Maßstab 1:50 000 © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
  5. Hans Bloech: Ostpreußens Landwirtschaft, Teil 1 - 3
  6. Nach den Angaben ehemaliger Einwohner von Wilkental (Hildegard Kiehl, geb. Tuttlies) - unter Zuhilfenahme des Einwohner- und Ortschaftsverzeichnisses (1935) des Ostpreußischen Tageblatts, Sturmverlag
  7. Was verdiente ein Arbeiter (www.was-war-wann.de)
  8. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschafts-Geschichte Band 2
  9. Jens Dangschat u.a.: Aktionsräume von Großstadtbewohnern
  10. W. Ziesemer: Die ostpreußischen Mundarten. In: Ostpreußen. Land und Leute in Wort und Bild. Mit 87 Abbildungen. Dritte Auflage, Gräfe und Unzer, Königsberg (Preußen) o. J. [um 1926]
  11. Preußisches Wörterbuch: Deutsche Mundarten Ost- und Westpreußens. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Begr. von Erhard Riemann. Fortgef. von Ulrich Tolksdorf. Hrsg. von Reinhard Goltz. 6 Bände. Wachholtz-Verlag Neumünster 1974–2005.
  12. Annaberger: Annalen: Jahrbuch über Litauen und deutsch-litauische Beziehungen. Nummer 11, 2003, ISSN 0949-3484, Gerhard Bauer, Quelle: AnnabergNr.11_Kap5.pdf (annaberger-annalen.de)
  13. Kossert: ZEIT 13.02.2014
  14. Reichsarbeitsdienst> [[26]]
  15. Quelle: Tschernjachowsk – Wikipedia [[27]]
  16. Herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Band I/1 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Band 1, Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1954.
  17. 17,0 17,1 Zentrum gegen Vertreibung: Die Flucht der ostpreußischen Bevölkerung
  18. Wikipedia: Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950
  19. Wikipedia: Gauleiter Erich Koch
  20. Die WELT-Geschichte: Flucht aus Ostpreußen: 62 Minuten dauerte der Todeskampf der „Gustloff“
  21. Karte Hafen von Pillau
  22. Wikipedia: Baltijsk / Pillau (Einschiffung von Flüchtlingen)
  23. Wikipedia: Baltijsk / Pillau (Einschiffung von Flüchtlingen)
  24. Bing Search: Flucht aus Ostpreußen
  25. Eisenbahnstiftung: Dokumentation der Flucht
  26. Eisenbahnstiftung: Dokumentation der Flucht
  27. Wikipedia - Polnische Besatzungszone (Abgerufen 04-2023)
  28. Jan_Rydel: Die polnische Besatzung im Emsland, fibre Verlag Osnabrück, 2023