Interpretation baltischer Familiennamen: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 19. April 2011, 19:16 Uhr
Eine besondere Gemengelage
Ostpreußische Familiennamen entstanden spät, denn in den Türkensteuerlisten von 1540 kam man noch weitgehend mit Vornamen aus. Als Nachnamen finden sich außer einigen alten Namen meist nur Berufsbezeichnungen und Spitznamen zur Unterscheidung.
Zur Zeit scheint es eine Mode zu geben, Namen des nördlichen Ostpreußen ausschließlich hochlitauisch abzuleiten. Dabei findet man hochlitauische (aukštaiče oder aukschtaitsche) Namen eher in der Region Pillkallen-Goldap, wobei man auch da nie sicher sein kann, ob es sich nicht um ursprünglich prußisch-sudauische Namen handelt, denn selbst der offizielle litauische Schulatlas geht mit deutschen Karten konform und weist Sudauen im 13. Jahrhundert links der Memel liegend und Litauen rechts der Memel liegend aus. Für das nordwestliche Ostpreußen, also das Memelland und die Elchniederung, sind zunächst prußische und nehrungskurisch-lettische, dann niederlitauische (zemaitisch und karschauisch), mittellitauische und schließlich auch wenige hochlitauische Einflüsse zu beachten. Deutsche Einflüsse spielen auf dem Lande so gut wie gar keine Rolle, außer Pastöre und Standesbeamte haben nach Gehör aufgeschrieben und verhunzt. Die Besonderheit der Namen die mit Sz beginnen, geht auf polnische Dolmetscher zurück. Bereits der Ritterorden hatte polnische Dolmetscher eingesetzt, weil er glaubte, dass diese als Nachbarn die baltischen Sprachen verstehen könnten. Da es jedoch den baltischen ž-Laut im Polnischen nicht gibt, setzte man das annähernd klingende sz ein.
Erheblich ist im nordwestlichen Ostpreußen der Einfluss zemaitischer Namen, die ihrerseits durch das Altkurische beeinflusst sind und sich deutlich von aukschtaitschen unterscheiden, was wohl am längeren Festhalten an der alten heidnischen Religion liegen mag, im Gegensatz zum polnisch-katholischen Hochlitauen. Zur Zeit als in Ostpreußen Familiennamen entstanden, war die litauische Sprache zugunsten der polnischen nahezu ausgestorben. Sie wurde mit Hilfe der prußischen Sprache quasi rekonstruiert und von Königsberg aus durch das Verteilen gedruckter Bücher in Litauen wieder reanimiert, mit der Folge, dass viele litauische Namen prußische Wurzeln haben.
Ostpreußisch-baltische Namen unterliegen (leicht aus der Geschichte heraus zu verstehen, so man sie denn nicht nachträglich umkrempeln will) einer anderen Dynamik als polnisch-litauische. Im eingangs erwähnten Modetrend wird behauptet „Endungen fallen durch deutschen Einfluss ab“ (-aitis, -eitis wird zu –ait, -eit oder –at). Für Ostpreußen trifft jedoch die archaische prußische Regel zu: Es fällt keine Endung ab sondern es kommt eine hinzu. Der Enkel hängt an die Sohnesendung (-at, -eit, -ait) ein „-is“ an, sobald er einen eigenen Mannesstamm gründet. Man kann also an einem „-ait, -eit, -at“ einen Sohn erkennen und an einem „-aitis, -eitis, -atis“ einen Enkel und findet so zu dem ursprünglichen Stammnamen.
Man sollte sich beim Deuten der Namen des nordwestlichen Ostpreußen vor Schnellschüssen hüten. Wer allein litauisch deutet und wer zudem aukschtaitsch mit zemaitisch gleichsetzt, vergibt viele Chancen. Gerade diese Gemengelage aus prußisch, kurisch, nehrungskurisch, lettisch, zemaitisch, litauisch und deutsch macht die Sache sehr spannend. Monokausales Denken ist bei der ostpreußischen Nameninterpretation wenig hilfreich. Das gilt ebenso für eine konstruierte Ableitung aus dem Deutschen, nur weil phonetische Ähnlichkeiten bestehen.
Ein weiteres Phänomen soll hier nicht verschwiegen werden. Für Prußen war es bereits zur Ordenszeit günstiger für das eigene Fortkommen und das seiner Nachkommen, eine deutsche Herkunft vorzugaukeln. Also wurden baltische Namen einfach ins Deutsche übersetzt oder lautsprachlich derart angepasst, dass sie für deutsche Pfarrer (und später für Standesbeamte) einen Sinn in deren Sprache machten. Zudem konnten die Einheimischen jahrhundertelang beobachten, dass Einwanderer aus dem europäischen Ausland stets priviligiert behandelt wurden und zogen daraus ihre Schlüsse. Nach dem 1. Weltkrieg und den daraus folgenden Konsequenzen des Versailler Abkommens und den damit verbundenen Volksabstimmungen zogen es viele Masuren vor, einen deutschen Namen zu wählen um ihre Zugehörigkeit zu Deutschland zu dokumentieren. Schließlich waren ihre Vorfahren vor der Willkür der polnischen Adelsherren ins freiere Recht Preußens geflohen. Dorthin wollte man nicht zurück, zumal bekannt war, dass sich das persönliche Auskommen rapide verschlechtern würde, sobald man zu Polen gehören würde. Eine nächste Welle von Namenänderungen ergab sich durch die Rassenpolitik des 3. Reiches. Viele Ost- und Westpreußen baltischer, masovischer, kaschubischer oder polnischer Herkunft änderten freiwillig ihre Namen, manchmal als Übersetzung, manchmal willkürlich. Es war nämlich durchgesickert, dass die baltischen Völker zwar als "lebenswerte Völker" eingestuft würden, sie fürchteten jedoch ebenso wie die Masuren und Polen zu "Sklaven des `Großdeutschen Reiches´" gemacht zu werden. In jedem Fall war eine deutsche Herkunft vorzuziehen.
So ist bei Ahnenforschern dieser Generationen oft das fast ängstliche Bemühen anzutreffen, ihre baltischen oder slawischen Namen zu verleugnen und irgendwie eine deutsche Ableitung zu begründen. In fast jeder ost- oder westpreußischen Familie existieren Legenden über eine angebliche Herkunft aus Salzburg oder der Schweiz oder über eine angebliche Abstammung von Hugenotten, Nordfranzosen, Schotten oder wenigstens Friesen oder Schweden.
Ortsname - Familienname/ Personenname - Ortsname
Es gibt zwei grundsätzliche Bildungen:
Aus Ortsnamen werden Familiennamen
Diese Namen sind in der Regel älter und weisen teilweise bis in die Steinzeit zurück. Sie beziehen sich auf natürliche Gegebenheiten:
- Lasdehnen/ Laxdenen: Haselnussstrauch (pr. lagzde, laxde, laxte; lit. lazdynas; lett. lagsda), eine wichtige Nahrungsquelle für damalige Menschen
- Lepalothen/ Liebken: Linde
- Berszienen/ Berzischken: Birke
- Purwienen/ Ballethen: Sumpf
- Gudwallen/ Guttstadt: Gebüsch, Buschwald
Als im 16. Jahrhundert Familiennamen zusätzlich zum Vornamen üblich wurden, erhielten alle Einwohner eines Ortes diesen Namen (außer sie hatten inzwischen eine eigene Berufsbezeichnung oder einen eigenen Spitznamen erworben). Es sind also Herkunftsnamen.
Aus Personennamen werden Ortsnamen
Als der Ritterorden die Prußen besiegt hatte und die Landschaft wüst geworden war, wurden zur Rekultivierung Locatoren eingesetzt, die ihrerseits das Land an Bauern unterverteilen mussten. Diese Ortsnamen erkennt man daran, dass sie sich auf die soziale Stellung, den Beruf, das Aussehen oder die Wesensart des Ortsgründers beziehen:
- Packmohren/ Waldaukadel/ Karakehmen: Friedensreiter/ Herrscher/ König
- Kanthen/ Kantweinen/ Getkandten: Musiker
- Margis/ Margen-Peter: sommersprossig
- Megusen/ Miggental: Langschläfer
- Qualiten: dumm, einfältig
Hier erhielten sämtliche Familiennmitglieder, das Gesinde des Clans sowie Zugezogene den Namen des Ortsgründers, selbst wenn sie gar nicht mit ihm blutsverwandt waren.
Betonung
Zweisilbige Namen werden in der Regel auf der zweiten Silbe, also auf der Endung betont:
- Rudat
- Kakys
- Tupat
- Sakuth
- Zwegat
Zweisilbige Namen mit -us/ -is/ -ius/ -io - Endungungen werden auf dem Wortstamm betont:
- Szillis
- Laurus
- Lacknius
- Brozio
Mehrsilbige Namen werden wie im Griechischen auf der drittletzten Silbe betont:
- Nattkischkies
- Lauruschat
- Kukullis
- Kellmischkatis
- Endruweitis
Der ž-Laut
Polnische Übersetzer schrieben baltisch ž als sz auf, weil ihnen dieser Laut unbekannt war. Das polnische sz entspricht dem deutschen sch, das wiederum im Baltischen als š dargestellt dargestellt wird. Aber auch hierfür setzten die Dolmetscher das sz ein, so dass es bei der Ableitung von Sz-Namen besonders wichtig ist die Wurzel zu finden. Der Laut ž wird weich-stimmhaft ausgesprochen wie das G in Gelee oder das J in Journal.
Typische Fehlinterpretationen
In Namenbüchern deutscher Autoren und bei sonstigen unkundigen Interpreten besteht eine allzu bequeme (aber falsche) Neigung einen baltischen Nachnamen einem deutschen Vornamen zuzuordnen. Selbst in Meyers Lexikon findet man Beispiele für Falschdeutungen.
- Annas, Annies (pr. einer von uns, einer aus unserer Gegend) von Anastasius oder Anna
- Aschmies (lett. hinter dem Wald) von Asmus
- Baltrusch (lit. weißes Kaninchen) von Balthasar oder Bartolomäus
- Bender (lit. Teilhaber) von Benedikt
- Dangel (kur. tief eingegraben und sich windend, auch Dreiecksfläche im Flussdelta) von Daniel
- Dawils (balt. Geschenk, Gabe) von David
- Dobrat (pruß. tiefe Stelle im Wald) von Tobias
- Dowidat (sanskrit kundig, gescheit) von David
- Gilge (balt. tief eingegraben) von Aegidius
- Kerstein (pruß. Holzfäller) von Christian
- Klawke (lett. Ahorn) von Klaus
- Korell, Carell (pruß. Bienenzüchter) von Karl oder Cornelius
- Kryszun, Kriszun, Krisch (balt. heidnischer Priester) von Christian
- Kundrat (lit. Färberröte) von Konrad
- Lukies (balt. Teichrose, Lauch) von Lukas
- Mattutat (balt. Landvermesser) von Matthias
- Moraut, Mauritis (pruß. Entenflott, Sumpfwiese) von Moritz, Mauritius
- Tobien (kur. tiefe Stelle) von Tobias
- Stanko (pruß. beengte Wohnlage) von Stanislaus
- Urbat (kur. Kunsthandwerker) von Urban
Ebenso typische Fehlinterpretationen passieren selbst renommierten Instituten, wenn angenommen wird, man könne einen baltischen Namen einem deutschen Satznamen oder einem Beruf zuordnen oder auf persönliche Eigenheiten schließen. Dabei wird stets von deutscher oder eventuell noch von slawischer Ableitung ausgegangen und ähnlich klingende baltische Begriffe werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Die Ursache mag darin zu sehen sein, dass es praktisch keine deutsche Universität mehr gibt, die Baltistik unterrichtet, so dass sich fast ausschließlich Germanisten und Slawisten an baltischen Namen versuchen:
- Anhut (pr. der Einsame) von dt. "ohne Hut"
- Arbeiter (pr. pflügt eigenes Land) von dt. "Arbeit"
- Dickhaut (pr.-lit. Dachdecker) von dt. "dickhäutig" (unsensibel)
- Eisenblätter (pr. Wehranlage am schnellen Fluss) von dt. "Eisenarbeiter/ Walzschmied"
- Fleischhut (pr. der Gastfreundliche) von dt. "Fleischer"
- Gutzeit (pr. im Buschwald lebend) von dt. "gute Zeit"
- Habedank (pr. hochgewachsen) von dt. "Hab Dank"
- Kahlweiß (pr. Schmied) von dt. "helles Aussehen"
- Packmor (pr. Friedensreiter) von dt. "Pack am Ohr" (als Synonym für einen Raufbold)
- Rauhut (pr. Heiler) von dt. "filziger Hut"
- Swars (pr. Berufsname; Waage) von dt. "Schwarz"
- Tolkien (balt. Makler, Übersetzer) von dt. "tollkühn"
- Trinkaus (pr. verstockt, bockig) von dt. "trink aus" (Säufer)
- Vierkant (pr. wilder Kämpfer) von dt. "vierschrötig oder Zimmermann"
- Weisgut (pr. tapferer Krieger) von dt. "Weißgerber"
- Weißhuhn (pr. Ort, Siedlung) von dt. "weißes Huhn"
Bibliographie
- Berneker, Erich: Die preussische Sprache, Texte, Grammatik, Etymologisches Wörterbuch, Verlag Karl J. Trübner, Strassburg 1896
- Bink, Karl Wilhelm: Ostpreussisches Niederdeutsch in Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg / Pr., Holzner- Verlag Kitzingen/ Main 1953 Bd. 3
- Fenzlau, Walter: Die deutschen Formen der litauischen Orts- und Personennamen des Memelgebiets, Halle a.d. Saale 1936. (154 S. In diesem Buch lässt sich eine große Anzahl memelländischer Familiennamen finden, deren Aussprache und Betonung auch in Lautschrift angegeben ist.)
- Gerullis, Georg.: Zur Sprache der Sudauer-Jadwinger, in Festschrift A. Bezzenberger, Göttingen 1927
- Karge, Paul: Die Litauerfrage in Altpreußen in geschichtlicher Beleuchtung, Königsberg 1925
- Lepa, Gerhard (Hrsg): Die Sudauer, in Tolkemita-Texte Nr. 55, Dieburg 1998
- Prellwitz, Walther: Lehnwörter im Preussischen und Lautlehre der deutschen Lehnwörter im Litauischen, Vandenhoeck & Ruprecht´s Verlag Göttingen 1891
- Salys, Anton: Die zemaitischen Mundarten, Teil 1: Geschichte des zemaitischen Sprachgebiets Tauta ir Zodis, Bd-VI Kaunas 1930 (= Diss.Leipzig 1930)
- Schmid, Wolfgang P.: Das Nehrungskurische, ein sprachhistorischer Überblick
- Schmid, Wolfgang P. (Hrg): Nehrungskurisch, Sprachhistorische und instrumentalphonetische Studien zu einem aussterbenden Dialekt, Stuttgart 1989