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Aktuelle Version vom 1. September 2009, 07:18 Uhr
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Der Dorfschulmeister
Von Gerhard Krosien
„Halt, halt, halt! Hier ist es doch!“, ruft der vorne rechts neben dem litauischen Fahrer des alten, weißen Mercedes sitzende Memellandbesucher aus. Sein Sohn Ingo und die hübsche litauische Dolmetscherin sitzen hinten auf dem Rücksitz. Beide - Vater und Sohn - sind „auf Spurensuche“ im Memelland langsam durch Drawöhnen - jetzt Dreverna - gefahren. Dabei wurde das rote Ziegelhaus mit der braunen Eingangstür und der Weißdornhecke entlang der Straßenfront entdeckt, vor dem sie nun halten. „Das ist die alte Drawöhner Schule, wo Onkel Bruno Dorfschullehrer gewesen ist und Tante Trude die Poststelle geführt hat. Die Hecke ist inzwischen viel höher geworden. Auch das Dach ist mit rötlichen Eternitplatten neu gedeckt worden. Aber das war Onkel Brunos Schule!“, behauptet der Vater sicher. „Also, gehen wir doch einfach mal hinein und unterhalten uns mit den jetzigen Bewohnern“, schlägt die Dolmetscherin vor.
Die vordere Tür ist verschlossen. Also betritt die Vierergruppe das Haus vom Hof aus. Im Erdgeschoss meldet sich auf Anruf niemand. Erst im Obergeschoss bemerken sie, dass das Haus im rechten Winkel einen Anbau mit Klassenräumen hat. Vorsichtig öffnen sie eine Tür. Da sitzt still und artig eine Schar Kinder in den Bänken. Die Dolmetscherin fragt auf Litauisch nach dem „Direktor“. Alle vier Personen werden von einem der Mädchen zu einer Tür im alten Gebäudeteil geführt.
Dort wird angeklopft. Von drinnen antwortet eine Männerstimme. Alle vier treten ein. Die Dolmetscherin erläutert kurz den Zweck des Besuchs. Der Schuldirektor, ein kleiner, rundlicher, rotwangiger, grauhaariger Mann in grauem Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte, scheint nur Litauisch zu sprechen, aber Deutsch leidlich zu verstehen. Nein, den Namen seines deutschen Vorgängers, nämlich von Onkel Bruno, habe er nie gehört. Er sei ja auch erst 12 Jahre Leiter dieser Schule, erklärt er.
Dann führt er alle auf Wunsch durch das alte Gebäude. Der Vater lässt dem Direktor übersetzen, dass er 1941 als Kind mit seiner gesamten Familie für längere Zeit in diesem Haus gelebt habe. Als sie schon einmal wegen der Russen aus Memel evakuiert worden seien. Oben - wo jetzt dessen Dienstraum und andere Verwaltungsräume eingerichtet sind - haben sie damals gewohnt.
Die hölzerne Haustür mit dem mächtigen Schlüssel im Schloss stammt noch von damals, sie ist nur frisch angestrichen worden. „Die ist viel stabiler als eine neue Tür. Darum ist sie beim Umbau auch dringeblieben!“, lacht der Direktor.
Der früher einzige Klassenraum ist heute nur durch eine spanische Wand zweigeteilt. Ansonsten ist alles so wie früher: die Dielen, die Doppelfenster mit den Haken, der große Tisch. Dieser hat eine verschiebbare Platte. Dies weiß der Vater noch und verschiebt sie auch sogleich. Darunter kommen eine künstliche Landschaft aus Kies und bunte Zinnsoldaten in bestimmter Anordnung zum Vorschein. Der Direktor lacht bei solchem Tun lauthals los. Er weiß warum! „Ja, Onkel Bruno war Major und ist im Zweiten Weltkrieg früh gefallen. Er war Offizier durch und durch! Während er früher die Schüler mit Lernen beschäftigte, spielte er hier in dieser „Landschaft“ - und gewann verlorene Schlachten nachträglich“, erläutert der Vater kurz. Alles ist für ihn so wie früher!
Nein, nicht alles! In den übrigen Räumen fehlen Tante Trudes Möbel. Hier ist jetzt die spartanisch karge Behausung des Schuldirektors. Statt dunkel gebeizter Eichenmöbel jetzt nur ein paar wackelige Stühle, ein Tisch, ein bunter Wandteppich in diesem Raum, ein Doppelbett, ein Schrank da, ein Herd, ein Tisch mit zwei Holzstühlen dort. Sauberheit überall, aber Armut, Armut, Armut!
Draußen nimmt eine kleine, verarbeitete Frau in rotweißer Kittelschürze und roten Hausschuhen aus Stoff die Gruppe in Empfang: „Ach, ist das schön, einmal nach langer Zeit wieder mit jemand deutsch zu sprechen. Ich bin Deutsche!“, ist ihre erste Bemerkung. Der Hof, der Keller neben dem Haus, der Garten, der alte Ziehbrunnen : alles genau so wie damals! Nur die alten Kastanienbäume sind inzwischen noch dicker geworden. Und da ist der alte Stall, in dem Amanda, die litauische Magd, den Jungen von damals Eier im Schweinefutter gargekocht hatte. Und die Tante hatte sich darüber gewundert, dass ihre Hühner so wenig Eier legten! Der Stall hat nun einen Anbau erhalten mit einem grünen, hölzernen Garagentor. Ein Lada steht mitten im Hof.
„Meine beiden Töchter sind im Westen. Ich wäre auch schon dort. Aber wegen dem da (und sie weist mit dem Kopf in Richtung Direktor) bleibe ich hier. Das Leben wird hier von Jahr zu Jahr schlechter. Mein Mann bekommt nur ein kleines Gehalt vom Staat. Davon können wir nur ganz bescheiden leben. Wir essen bloß noch Kartoffeln und Brot, auf das wir hin und wieder mal ganz dünn etwas Margarine kratzen“, klagt die Frau im Hof, „außerdem haben wir jetzt das alte Gebäude vom Staat gekauft. Und die Abzahlung dafür wird uns beide wohl überleben - und schon zu Lebzeiten noch ärmer machen!“
Der Acker des Onkels gegenüber der Schule ist zum Mehrzwecksportplatz der Schule umfunktioniert worden. Auf ihm sind verschiedene Sportgeräte aufgebaut, die jedoch zu dieser Zeit nicht benutzt werden. Hier hat früher Onkel Bruno - den Fuchs angespannt - Rüben und Kartoffeln angebaut, manchmal auch Korn. Und die Perlhühner des Nachbarn sind mit lautem Geschrei darüber hinweggestrichen, erinnert sich der Vater.
Die alte, gewundene Dorfstraße aus Kopfsteinen und Sand hat in der Zwischenzeit einen rötlichen Asphaltbelag erhalten und verläuft nun schnurgerade am Haus vorbei. Junge Bäume wachsen wie ausgerichtet an jeder Seite. Das ist alles anders als früher!
Die Abfahrt ist genau wie in Deutschland: Winken von der Straße aus, Winken aus dem Auto heraus. Abschied!
Ja, alles ist im Gedächtnis des Vaters geblieben, vieles auch in Wirklichkeit. Und dennoch - so jedenfalls empfindet er -: die Heimat ist das nicht mehr! Irgendwie fehlt etwas: wohl die Menschen von damals.