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Zufälle gibt`s !
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Von Gerhard Krosien
Von Gerhard Krosien


Wir schreiben das Jahr 1941 im fernen Memel. Auf dem Hof sitzt der alte Großvater auf einem Hocker. Er sitzt vor der Voliere, in der Memeler Hochflieger, die heimische Taubenrasse, seines Militärdienst leistenden Sohnes hin- und herflattern. Er hat als zugelassener Fischer auf dem Kurischen Haff ein kleines zerrissenes Fischernetz zu seiner Rechten an dem Maschendraht der Voliere befestigt und flickt die schadhaften Stellen. Auf seinem linken Oberschenkel sitze ich, sein damals etwa sechsjähriger Enkel. Mir erzählt Großvater, während er die Maschen des Netzes repariert, von seinen Erlebnissen in der Fremde, als er einst freigeschriebener Seilergeselle gewesen war. „Du musst nämlich wissen, alle meine Vorfahren waren Seiler in unserem Heimatort Russ (heute Rusne) am Memelstrom, und so wurde ich es aus Familientradition auch. Als es dort mit Handel und Wandel bergab ging und man als Seiler nicht mehr das tägliche Brot für seine Familie verdienen konnte, zog unsere Familie nach Memel-Schmelz um. Schließlich konnte man in der See- und Handelsstadt Memel sein Glück machen.“  
Wir schreiben das Jahr 1941 im fernen Memel. Auf dem Hof sitzt der alte Großvater auf einem Hocker. Er sitzt vor der Voliere, in der Memeler Hochflieger, die heimische Taubenrasse, seines Militärdienst leistenden Sohnes hin- und herflattern. Er hat als zugelassener Fischer auf dem Kurischen Haff ein kleines zerrissenes Fischernetz zu seiner Rechten an dem Maschendraht der Voliere befestigt und flickt die schadhaften Stellen. Auf seinem linken Oberschenkel sitze ich, sein damals etwa sechsjähriger Enkel. Mir erzählt Großvater, während er die Maschen des Netzes repariert, von seinen Erlebnissen in der Fremde, als er einst freigeschriebener Seilergeselle gewesen war. „Du musst nämlich wissen, alle meine Vorfahren waren Seiler in unserem Heimatort Russ (heute Rusne) am Memelstrom, und so wurde ich es aus Familientradition auch. Als es dort mit Handel und Wandel bergab ging und man als Seiler nicht mehr das tägliche Brot für seine Familie verdienen konnte, zog unsere Familie nach Memel-Schmelz um. Schließlich konnte man in der See- und Handelsstadt Memel sein Glück machen.“  
 
[[Bild:Bild_Schmelz_KrosienGroßvater_und_Enkel_im_Gespräch.jpg|thumb|280px|left|Großvater und Enkel im Gespräch]]
In Schmelz richtete Großvater den lang gestreckten Hof seines Anwesens mit allem für die Seilherstellung Notwendigen ein, wie diversen Haken und Ösen an den Endmauern, Kurbeln, Feuerstellen, Lagerschuppen und sonstigen Einrichtungen und Geräten. Immer wieder duftete es auf dem Hof nach Holzkohlenteer, mit dem die Seile imprägniert wurden, nach Hanf und anderem Fasermaterial. Als stets neugierigen Bowke ließ Großvater mich öfter als einmal unter seiner gestrengen Anleitung selbst Seile drehen. So entwickelte ich mich schließlich zu „seinem fachkundigen Gehilfen“, dem in Sachen Seilherstellung so leicht keiner etwas vormachen konnte.
In Schmelz richtete Großvater den lang gestreckten Hof seines Anwesens mit allem für die Seilherstellung Notwendigen ein, wie diversen Haken und Ösen an den Endmauern, Kurbeln, Feuerstellen, Lagerschuppen und sonstigen Einrichtungen und Geräten. Immer wieder duftete es auf dem Hof nach Holzkohlenteer, mit dem die Seile imprägniert wurden, nach Hanf und anderem Fasermaterial. Als stets neugierigen Bowke ließ Großvater mich öfter als einmal unter seiner gestrengen Anleitung selbst Seile drehen. So entwickelte ich mich schließlich zu „seinem fachkundigen Gehilfen“, dem in Sachen Seilherstellung so leicht keiner etwas vormachen konnte.


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Übrigens: Die alte Seilerei am Main gibt es nicht mehr. Sie konnte dem Konkurrenzdruck der effektiveren Seilindustrie nicht standhalten. Der alte Seiler schloss seine Seilerwerkstatt kurzerhand und verabschiedete sich mit seinem Konterfei in der örtlichen Presse von seinen Kunden. Einen Seilerbetrieb von anderswoher und in „Aktion“ kann man heute nur noch im Hessenpark besichtigen. Ansonsten ist das Seilerhandwerk überall nahezu ausgestorben.
Übrigens: Die alte Seilerei am Main gibt es nicht mehr. Sie konnte dem Konkurrenzdruck der effektiveren Seilindustrie nicht standhalten. Der alte Seiler schloss seine Seilerwerkstatt kurzerhand und verabschiedete sich mit seinem Konterfei in der örtlichen Presse von seinen Kunden. Einen Seilerbetrieb von anderswoher und in „Aktion“ kann man heute nur noch im Hessenpark besichtigen. Ansonsten ist das Seilerhandwerk überall nahezu ausgestorben.
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Aktuelle Version vom 13. September 2009, 08:22 Uhr

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Zufälle gibt`s !

Von Gerhard Krosien

Wir schreiben das Jahr 1941 im fernen Memel. Auf dem Hof sitzt der alte Großvater auf einem Hocker. Er sitzt vor der Voliere, in der Memeler Hochflieger, die heimische Taubenrasse, seines Militärdienst leistenden Sohnes hin- und herflattern. Er hat als zugelassener Fischer auf dem Kurischen Haff ein kleines zerrissenes Fischernetz zu seiner Rechten an dem Maschendraht der Voliere befestigt und flickt die schadhaften Stellen. Auf seinem linken Oberschenkel sitze ich, sein damals etwa sechsjähriger Enkel. Mir erzählt Großvater, während er die Maschen des Netzes repariert, von seinen Erlebnissen in der Fremde, als er einst freigeschriebener Seilergeselle gewesen war. „Du musst nämlich wissen, alle meine Vorfahren waren Seiler in unserem Heimatort Russ (heute Rusne) am Memelstrom, und so wurde ich es aus Familientradition auch. Als es dort mit Handel und Wandel bergab ging und man als Seiler nicht mehr das tägliche Brot für seine Familie verdienen konnte, zog unsere Familie nach Memel-Schmelz um. Schließlich konnte man in der See- und Handelsstadt Memel sein Glück machen.“

Großvater und Enkel im Gespräch

In Schmelz richtete Großvater den lang gestreckten Hof seines Anwesens mit allem für die Seilherstellung Notwendigen ein, wie diversen Haken und Ösen an den Endmauern, Kurbeln, Feuerstellen, Lagerschuppen und sonstigen Einrichtungen und Geräten. Immer wieder duftete es auf dem Hof nach Holzkohlenteer, mit dem die Seile imprägniert wurden, nach Hanf und anderem Fasermaterial. Als stets neugierigen Bowke ließ Großvater mich öfter als einmal unter seiner gestrengen Anleitung selbst Seile drehen. So entwickelte ich mich schließlich zu „seinem fachkundigen Gehilfen“, dem in Sachen Seilherstellung so leicht keiner etwas vormachen konnte.

Bei Großvaters Erzählung fielen Städtenamen, wie Venedig, Genua, Friedrichshafen, Frankfurt am Main und andere. Ich wusste damals nicht viel mit alledem anzufangen. Aber Großvater muss wohl in der ganzen großen Welt gewesen sein! Und seine Geschichten waren immer so spannend und lehrreich!

Nun hatten wir 1976. Großvater ist schon lange tot. Ich bin herangewachsen, das Leben hat mich nach Frankfurt am Main verschlagen. Eines Tages erinnere ich mich an die Unterhaltung von damals: Da war doch die Rede vom Fluss Main, vom Eisernen Steg über den Main, vom Römer, vom Dom...! Alles ganz in der Nähe von Großvaters Arbeitsstelle am Main.

Als Neufrankfurter habe ich mich einmal dort umgesehen. Umso erstaunter war ich, dass es ganz in der Nähe meiner jetzigen Arbeitsstelle und ziemlich nahe bei Römer und Main ein altes Seilerfachgeschäft gibt. Eines Tages fasse ich Mut und frage den Geschäftsinhaber, ob mein Großvater wohl mal als freigeschriebener Geselle in dieser Seilerei gearbeitet haben könnte.

„Das kann schon sein. Wir sind als bedeutendster Seilereibetrieb seit Generationen in Frankfurt, und zwar hier am Main, ansässig. Wenn Ihr Großvater in Frankfurt gewesen ist, dann muss er als Wandergeselle eigentlich bei uns gearbeitet haben! Das können wir heute aber leider nicht mehr nachweisen; denn alle unsere Unterlagen sind während der Bombardierung unserer Stadt, vor allem der Altstadt, im Krieg verbrannt“, sagt der alte, grauhaarige Ladenbesitzer bedauernd. Der Holzkohlenteer- und Hanfgeruch im Laden erinnern mich an alte Zeiten, ebenso die verschiedenen Gerätschaften, die der Seilherstellung dienen. Meine Bitte, mich nach so langer Zeit mal wieder an dem Drehen eines kleinen Seils zu versuchen, wie ich das so oft mit Großvater getan habe, erfüllt mir der alte Seiler mit offensichtlicher Freude und mit Stolz auf seinen Beruf. Noch oft haben wir uns in der folgenden Zeit ausgetauscht. Ein Glücksfall!

Immer wieder denke ich: „Wie klein ist doch unsere Welt! Und wie oft spielt Kommissar Zufall im Leben eine Rolle! Wie hätte ich 1941, also vor so vielen, vielen Jahren und mit derart geringer Lebenserfahrung daran denken können, dass ich 1976 in Frankfurt am Main wohnen und arbeiten würde? In einer Stadt, von der ich schon als kleiner Bub gehört hatte - und die für mich damals irgendwo in der weiten Welt lag! Aber, so ist das Leben halt!“

Übrigens: Die alte Seilerei am Main gibt es nicht mehr. Sie konnte dem Konkurrenzdruck der effektiveren Seilindustrie nicht standhalten. Der alte Seiler schloss seine Seilerwerkstatt kurzerhand und verabschiedete sich mit seinem Konterfei in der örtlichen Presse von seinen Kunden. Einen Seilerbetrieb von anderswoher und in „Aktion“ kann man heute nur noch im Hessenpark besichtigen. Ansonsten ist das Seilerhandwerk überall nahezu ausgestorben.