Erziehung im XX. Jahrhundert/004: Unterschied zwischen den Versionen

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Voraussetzung jeder Erziehung ist die Möglichkeit einer Einwirkung auf die
Natur des Zöglings von seiten des Erziehers. Ueber die Grenzen dieser Möglich-
keit aber gehen die Ansichten weit auseinander. Der eine sagt mit der Bibel:
»Des Menschen Herz ist böse von Jugend auf«, und in demselben Sinne schrieb
der grosse preussische König, der nicht nur ein Philosoph, sondern auch ein
Erzieher seines Volkes war: »Wer die Menschen für gut hält, der kennt die
Rasse nicht. Denn die menschliche Gattung, sich selbst überlassen, ist brutal, bloss
die Erziehung vermag etwas«.
 
Auf ganz entgegengesetztem Standpunkte steht Rousseau, der sein berühmtes
Erziehungsbuch »Emile« mit dem Satze anfängt, »dass alles gut aus der Hand des
Schöpfers hervorgehe und erst unter der Hand des Menschen entarte«. In ge-
wissem Sinne haben die Anhänger beider ganz entgegengesetzter Meinungen
Recht und Unrecht. Jedes Kind hat Anlagen zum Guten und zum Bösen, bei
dem einen geht die Beanlagung mehr nach der einen, bei dem andern mehr nach
der  andern  Seite  hin,  und  in  der Regel  dürfte  es  kaum    zu  entscheiden  sein,
was  bei  der  weiteren  Entwicklung      auf
Kosten  der  Veranlagung      (»Vererbung«) oder was
auf Rechnung der erziehlichen    Einwirkungen      zu
setzen        ist. Selbst Kinder,
die von gleichen Eltern    abstammen, als Zwillinge
zu    gleicher  Zeit    geboren
wurden und  unter  völlig  gleichen
Verhältnissen aufwuchsen,  entwickeln sich oft
körperlich und geistig in ganz verschiedener
Weise.    Das eine ist gesund, begabt und
zeigt    die  besten  Charaktereigenschaften,
bleibt schwächlich, zeigt sich
weniger begabt
und mit Charakter-
fehlern behaftet.
Es scheint also
festzustehen, dass
sich gewisse Grund-
anlagen nicht aus-
rotten oder um-
formen  lassen,
eine Tatsache,
die schon das
bekannte
Sprichwort
bekräftigt, dass der
Apfel nicht  weit vom
Stamme fällt.    In schöner und
poetischer Weise  hat diese Er-
kenntnis Goethe in  »Hermann
und Dorothea« ausgesprochen, wo er Hermanns Mutter die Worte in den Mund legt:
 
::''»Wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;''
::''So wie Gott sie uns gab,  so muss man sie haben und lieben,''
::''Sie  erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.''
::''Denn der eine hat die,  die anderen andere Gaben;''
::''Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise''
::''Gut und glücklich.«''
 
Unbeschadet der Wahrheit dieser Worte kann die Erziehung eine grosse Macht
ausüben, aber sie muss früh beginnen, und in gewisser Hinsicht hat sie schon
aufgehört, ehe sie nach der Meinung der meisten Eltern überhaupt begonnen
hat; sie fällt in die ersten Lebensjahre des Kindes, ja, beinahe kann man sagen:
in  das  erste Lebensjahr.
 
Der Ausspruch, dass ein Kind im ersten Lebensjahre mehr lernt, als während
der ganzen übrigen Zeit seines Lebens, klingt paradox, ist aber in gewissem Sinne
durchaus wahr. Ebenso berechtigt ist es, zu sagen, dass ein Mensch viel mehr in
den ersten Lebensjahren erzogen wird, als während seiner ganzen übrigen Lebenszeit.

Aktuelle Version vom 25. Mai 2008, 09:28 Uhr

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Voraussetzung jeder Erziehung ist die Möglichkeit einer Einwirkung auf die Natur des Zöglings von seiten des Erziehers. Ueber die Grenzen dieser Möglich- keit aber gehen die Ansichten weit auseinander. Der eine sagt mit der Bibel: »Des Menschen Herz ist böse von Jugend auf«, und in demselben Sinne schrieb der grosse preussische König, der nicht nur ein Philosoph, sondern auch ein Erzieher seines Volkes war: »Wer die Menschen für gut hält, der kennt die Rasse nicht. Denn die menschliche Gattung, sich selbst überlassen, ist brutal, bloss die Erziehung vermag etwas«.

Auf ganz entgegengesetztem Standpunkte steht Rousseau, der sein berühmtes Erziehungsbuch »Emile« mit dem Satze anfängt, »dass alles gut aus der Hand des Schöpfers hervorgehe und erst unter der Hand des Menschen entarte«. In ge- wissem Sinne haben die Anhänger beider ganz entgegengesetzter Meinungen Recht und Unrecht. Jedes Kind hat Anlagen zum Guten und zum Bösen, bei dem einen geht die Beanlagung mehr nach der einen, bei dem andern mehr nach der andern Seite hin, und in der Regel dürfte es kaum zu entscheiden sein, was bei der weiteren Entwicklung auf Kosten der Veranlagung (»Vererbung«) oder was auf Rechnung der erziehlichen Einwirkungen zu setzen ist. Selbst Kinder, die von gleichen Eltern abstammen, als Zwillinge zu gleicher Zeit geboren wurden und unter völlig gleichen Verhältnissen aufwuchsen, entwickeln sich oft körperlich und geistig in ganz verschiedener Weise. Das eine ist gesund, begabt und zeigt die besten Charaktereigenschaften, bleibt schwächlich, zeigt sich weniger begabt und mit Charakter- fehlern behaftet. Es scheint also festzustehen, dass sich gewisse Grund- anlagen nicht aus- rotten oder um- formen lassen, eine Tatsache, die schon das bekannte Sprichwort bekräftigt, dass der Apfel nicht weit vom Stamme fällt. In schöner und poetischer Weise hat diese Er- kenntnis Goethe in »Hermann und Dorothea« ausgesprochen, wo er Hermanns Mutter die Worte in den Mund legt:

»Wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;
So wie Gott sie uns gab, so muss man sie haben und lieben,
Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben;
Jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise
Gut und glücklich.«

Unbeschadet der Wahrheit dieser Worte kann die Erziehung eine grosse Macht ausüben, aber sie muss früh beginnen, und in gewisser Hinsicht hat sie schon aufgehört, ehe sie nach der Meinung der meisten Eltern überhaupt begonnen hat; sie fällt in die ersten Lebensjahre des Kindes, ja, beinahe kann man sagen: in das erste Lebensjahr.

Der Ausspruch, dass ein Kind im ersten Lebensjahre mehr lernt, als während der ganzen übrigen Zeit seines Lebens, klingt paradox, ist aber in gewissem Sinne durchaus wahr. Ebenso berechtigt ist es, zu sagen, dass ein Mensch viel mehr in den ersten Lebensjahren erzogen wird, als während seiner ganzen übrigen Lebenszeit.