Handbuch der praktischen Genealogie/382: Unterschied zwischen den Versionen
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''Vorganges in so und so viel individuellen Fällen vollzieht''. Das kann die bloße Statistik nie und nimmer veranschaulichen, weil sie nur in der Lage ist, solche soziale Veränderungen zu erfassen, die innerhalb ''eines'' Lebens vor sich gehen, aber nicht diejenigen, die sich innerhalb zwei bis drei Generationen vollziehen, mit einem Worte, weil sie immer nur die ''Personen'' und nicht die ''Familien'' als die letzte soziale Einheit zu begreifen vermag. Da kann nur die individuelle Betrachtung ganzer Familien und ihrer Zweige ergänzend und erklärend wirken. | |||
{{NE}}Gilt das schon für die Zeit bis 1800, da die Absonderung der Stände noch zu Recht bestand, so noch viel mehr für das 19. Jahrh., in dem die ständischen Unterscheidungen tatsächlich und rechtlich untergingen und eine neue gesellschaftliche Schichtung entstand. Ihre Kennzeichen sind die so sogenannten „Klassen", deren Zahl jedoch nicht ohne weiteres feststeht; zweckmäßiger Weise unterscheidet man auch ihrer drei. | |||
{{randtextre|Das Bürgertum.}}{{NE}}Als die alten Standesvorrechte des niederen Adels schwanden, so daß es nun für ihn ein Problem der ''Ebenbürtigkeit'' nicht mehr gab, vermischte er sich alsbald ziemlich stark dem ''Blute'' und dem ''Berufe'' nach mit städtisch-bürgerlichen Elementen, so daß sich nunmehr die gesellschaftliche Schicht, aus der sich Offiziere, höhere Staatsbeamte und Rittergutsbesitzer rekrutierten, verbreiterte und an Exklusivität verlor. War im 17. und 18. Jahrh. die Aufnahme der in dem einen Stande Geborenen in den höheren ziemlich häufig gewesen — zugleich eine Anbahnung des modernen Zustandes —, so verschwand nun der Standesunterschied als solcher, und die ''geistige Ausbildung<ref>Das Merkmal ist der Besitz des Reifezeugnisses mit nachfolgendem Universitätsstudium oder sonstiger höherer Fachbildung.</ref>'', die sich ohne Lebenshaltung von gewisser Höhe nicht denken läßt, wurde nunmehr maßgebend für die Zugehörigkeit zu der neuen Oberschicht. Diese entstand aller Theorie von der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz zum Trotz und wird gegenwärtig nach dem Vorgange der Sozialisten „Bürgertum", „Bourgeoisie" genannt. Der Name ist vom alten Städtebürgertum entlehnt, und dieses hat der neuen Klasse ''wirtschaftlich'' den Stempel aufgedrückt, insofern sich der Geist des Unternehmertums auf sie übertrug. Aber in Lebensgewohnheit und sittlicher Anschauung (Reserveoffiziere) sind die Einflüsse des Adels und des höheren Beamtentums trotzdem nicht zu verkennen. Nachdem nun die Verschmelzung drei bis vier Generationen angedauert hat, ist die gesellschaftliche Einheit durch die mannigfaltigsten, nicht mehr an Landes- oder Provinzgrenzen gebundenen Familienverbindungen so weit gediehen, daß wir eine relativ einheitliche gesellschaftliche Oberschicht besitzen, an der ''alle'' deutschen Landschaften, und zwar Stadt und Land gleichmäßig, Teil haben und deren Glieder sich trotz großer räumlicher Entfernungen als zusammengehörig fühlen. Mögen die beruflichen Interessen — wie Landwirtschaft und Industrie und die Kosenamen „Krautjunker" und „Schlotbarone" — diese Kreise noch so sehr in feindliche Lager spalten, ''gesellschaftlich'' gehören sie trotzdem zusammen, und es kommt nicht selten vor, daß zwei Brüder (die beiden Reichstagsabgeordneten ''Richard'' und ''Gustav Rösicke'' dienen als klassisches Beispiel) eine durch ihre wirtschaftlichen Interessen bestimmte gegensätzliche <noinclude> | |||
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Aktuelle Version vom 11. Oktober 2012, 10:44 Uhr
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Band 2 Tafel: I • II • III • IV • V • VI • VII • VIII • IX • X • XI | |
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Vorganges in so und so viel individuellen Fällen vollzieht. Das kann die bloße Statistik nie und nimmer veranschaulichen, weil sie nur in der Lage ist, solche soziale Veränderungen zu erfassen, die innerhalb eines Lebens vor sich gehen, aber nicht diejenigen, die sich innerhalb zwei bis drei Generationen vollziehen, mit einem Worte, weil sie immer nur die Personen und nicht die Familien als die letzte soziale Einheit zu begreifen vermag. Da kann nur die individuelle Betrachtung ganzer Familien und ihrer Zweige ergänzend und erklärend wirken.
Gilt das schon für die Zeit bis 1800, da die Absonderung der Stände noch zu Recht bestand, so noch viel mehr für das 19. Jahrh., in dem die ständischen Unterscheidungen tatsächlich und rechtlich untergingen und eine neue gesellschaftliche Schichtung entstand. Ihre Kennzeichen sind die so sogenannten „Klassen", deren Zahl jedoch nicht ohne weiteres feststeht; zweckmäßiger Weise unterscheidet man auch ihrer drei.
Das Bürgertum. Als die alten Standesvorrechte des niederen Adels schwanden, so daß es nun für ihn ein Problem der Ebenbürtigkeit nicht mehr gab, vermischte er sich alsbald ziemlich stark dem Blute und dem Berufe nach mit städtisch-bürgerlichen Elementen, so daß sich nunmehr die gesellschaftliche Schicht, aus der sich Offiziere, höhere Staatsbeamte und Rittergutsbesitzer rekrutierten, verbreiterte und an Exklusivität verlor. War im 17. und 18. Jahrh. die Aufnahme der in dem einen Stande Geborenen in den höheren ziemlich häufig gewesen — zugleich eine Anbahnung des modernen Zustandes —, so verschwand nun der Standesunterschied als solcher, und die geistige Ausbildung[1], die sich ohne Lebenshaltung von gewisser Höhe nicht denken läßt, wurde nunmehr maßgebend für die Zugehörigkeit zu der neuen Oberschicht. Diese entstand aller Theorie von der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz zum Trotz und wird gegenwärtig nach dem Vorgange der Sozialisten „Bürgertum", „Bourgeoisie" genannt. Der Name ist vom alten Städtebürgertum entlehnt, und dieses hat der neuen Klasse wirtschaftlich den Stempel aufgedrückt, insofern sich der Geist des Unternehmertums auf sie übertrug. Aber in Lebensgewohnheit und sittlicher Anschauung (Reserveoffiziere) sind die Einflüsse des Adels und des höheren Beamtentums trotzdem nicht zu verkennen. Nachdem nun die Verschmelzung drei bis vier Generationen angedauert hat, ist die gesellschaftliche Einheit durch die mannigfaltigsten, nicht mehr an Landes- oder Provinzgrenzen gebundenen Familienverbindungen so weit gediehen, daß wir eine relativ einheitliche gesellschaftliche Oberschicht besitzen, an der alle deutschen Landschaften, und zwar Stadt und Land gleichmäßig, Teil haben und deren Glieder sich trotz großer räumlicher Entfernungen als zusammengehörig fühlen. Mögen die beruflichen Interessen — wie Landwirtschaft und Industrie und die Kosenamen „Krautjunker" und „Schlotbarone" — diese Kreise noch so sehr in feindliche Lager spalten, gesellschaftlich gehören sie trotzdem zusammen, und es kommt nicht selten vor, daß zwei Brüder (die beiden Reichstagsabgeordneten Richard und Gustav Rösicke dienen als klassisches Beispiel) eine durch ihre wirtschaftlichen Interessen bestimmte gegensätzliche
- ↑ Das Merkmal ist der Besitz des Reifezeugnisses mit nachfolgendem Universitätsstudium oder sonstiger höherer Fachbildung.