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Die Tasche  
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Version vom 14. August 2009, 19:33 Uhr

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Die Tasche

Von Gerhard Krosien

Vater muss 1941 an die Front - der Gestellungsbefehl für den Russlandfeldzug ist da. Vor seiner Abreise besorgen er und Mutter „in der Stadt“ (so pflegten wir Schmelzer früher Memel zu nennen) noch rasch so einiges. Ein größerer Streifen naturfarbener, fester Leinenstoff, ein Stück derbes Leder und einige lange, riemenartige Lederstreifen sind dabei. „Wofür das wohl alles sein mag?“, fragen wir Kinder uns.

Am Abend sehen wir Mutter auf dem großen Lederstück Striche ziehen und ihr „Zeichenwerk“ dann mit einem Messer ausschneiden. Es sind ein etwa ein Meter langes, breites Stück, von dessen einem Ende sie die Ecken abschneidet, und zwei etwa 10 Zentimeter breite und 30 Zentimeter lange Lederstreifen. Anschließend glättet sie das Leinentuch auf dem Tisch und legt die Lederstücke darauf. Mit einem Kopierstift zeichnet sie deren Konturen nach, wobei sie an allen Seiten ein bisschen zugibt. Schon hat sie eine Schusterahle in der Hand und sticht Löcher - mit ein wenig Abstand vom Rand - in die Lederstücke. Mit einer dicken Stopfnadel und weißem, doppelten Sternzwirn näht sie die Leinenstücke auf die zugeschnittenen Lederteile. Diese werden nun - vom rechtwinkligen Ende des großen Teils beginnend - mit festem Hanfband an einander genäht. Dann werden die Lederriemen in gewünschter Länge zugeschnitten und mit der Schnur fest an die Seitenteile des „Machwerks“ genäht. Zum Schluss kommt an die Vorderseite ein dicker Knopf, und in das überstehende, eckenlose Leder-/Leinenstück wird ein passendes Knopfloch geschnitten und umsäumt. Fertig! Mutter betrachtet mit offensichtlicher Zufriedenheit ihr Werk. Wir Kinder machen große Augen. Eine Tragetasche ist's geworden! Und was für eine!

Gleich darauf geht's dann los. Aus Schränken, Kommoden, Heftern und Ordnern legen Vater und Mutter mehr oder weniger vergilbte Papier- und Pappblätter in die Tragetasche. Alles offenbar Wichtiges: Das Familienbuch, die Ahnenpässe, Geburts-, Heirats- und Sterbenachweise von Vorfahren, Verträge, Grundstückszeichnungen, Grundbuchauszüge, Gehaltsbescheinigungen, ein Fotoalbum mit Familienbildern und wer weiß was noch. Die Tragetasche ist schließlich prall gefüllt - und schwer; denn Mutter ächzt ganz schön beim Hochheben.

Die so gepackte Tasche bekommt von nun an einen festen Platz im Haus: Im massiven Dielenschrank neben der Eingangstür! Bei jedem Fliegeralarm greift Mutter sie sich, bevor es mit uns Kindern in den Luftschutzbunker am Rande der Kiesgrube hinter unserem Kirschgarten oder auf dem Gelände der Zellulosefabrik geht. 1944 hängt Mutter sie sich um, als sie mit uns die Heimat verlässt. Die Tasche flieht mit nach Osterode/Ostpreußen und nach Pommern. Sie hängt an Mutters Körper, als sie und wir vier Kinder sowie die alte Großmutter und Tante Elsa im März 1945 von deutschen Soldaten hastig auf einen Munitionstransporter geschoben werden. Die Rote Armee war nämlich schon ganz nahe herangekommen, und Eile war geboten. Schließlich erreicht die Tasche unsere Endstation, unsere neue Heimat: Bremervörde.

Wie wertvoll diese Tragetasche für uns werden sollte, erfuhren wir schon bald. Die eingepackten Urkunden über Vaters Beruf und Einkommen verschaffen der nun mittellosen Familie zunächst mal Geld zum Überleben. Mutter bekommt nämlich gegen Vorlage der Gehaltsbescheinigung von der Stadtverwaltung Bremervörde das Gehalt ihres irgendwo an der Ostfront weilenden Mannes ausgezahlt, der vor seiner Militärzeit ja Mitarbeiter der Stadtverwaltung Memel gewesen war. Was für ein Segen!

Später, als Vater aus Krieg und sowjetischer Kriegsgefangenschaft zur Familie stößt, kann er anhand verschiedener Urkunden bei den Lastenausgleichs-Verfahren seine Ansprüche nachweisen. Beim Betrachten der Fotos können Mann und Frau in stillen Stunden vom Leben in der verlorenen Heimat träumen. Schließlich leisten die so geretteten Urkunden und Nachweise später noch gute Dienste bei meinen genealogischen Aktivitäten. Denn die Ahnenforschung gerade in den ehemals deutschen Ostgebieten ist hier nicht ganz leicht!

Und wo ist die Tragetasche heute? Vater und Mutter ruhen schon lange in neuer Heimaterde. Die Tasche gibt es aber noch! Sie hat jetzt - obwohl alt und nicht mehr zeitgemäß - einen Ehrenplatz im Wohnzimmerschrank des ältesten Sohnes bekommen, wo jeder sie betrachten kann. Eines Tages übernimmt sie ein anderer Nachkomme bestimmt. Der „Lebensretter“ von einst wird also weitergegeben. Auch seine „Lebensgeschichte“!